Akteneinsicht auf Grundlage der VO 1049/2001?
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Akteneinsicht auf Grundlage der VO 1049/2001?
Julius-Maximilians-Universität Würzburg Vortrag im Rahmen der Vorlesung von Prof. Dr. Florian Bien Spannungsfelder von öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung: Akteneinsicht in Kronzeugenaussagen und Settlement-Verfahren RA Dr. Ingo Brinker, Gleiss Lutz Würzburg, 22. Januar 2013 Einleitung • Öffentliche und private Durchsetzung des Kartellrechts = zwei Seiten der selben Medaille? • Unterschiedliche Rechtstraditionen in angelsächsisch geprägten und in kontinentaleuropäischen Jurisdiktionen • Voraussetzungen für hoheitliche Kartellrechtsdurchsetzung: klare Rechtsgrundlagen, Ermittlungsbefugnisse, ausreichende Ressourcen • Voraussetzungen für private Kartellrechtsdurchsetzung: geeigneter prozessualer Rahmen und klare materiell-rechtliche Kartellrechtsvorschriften • Divergierende Policy Goals? 2 Ziele der öffentlichen Durchsetzung • Fokussierung der Ressourcen auf Verfolgung von HardcoreKartellen seit dem Weißbuch der Kommission 1999 • Überwindung der Nachweisproblematik für Kartellverstöße, dargestellt am Beispiel des europäischen Zementkartellverfahrens in den 1990er Jahren • Rechtsgrundlagen und Organisation einer effizienten Informationsbeschaffung • Effiziente Ausgestaltung der Ermittlungsverfahren • Reduzierung der Zahl aufwändiger und langwieriger Rechtsschutzverfahren 3 Mittel der öffentlichen Durchsetzung (I): Kronzeugenregime • Was ist ein whistle blower? Welche Rechtsposition nimmt er ein? Welche Pflichten muss er erfüllen? • Langjährige Tradition in USA • Einführung einer Kronzeugenmitteilung in EU 1996 • Überarbeitung und Ergänzung durch Kronzeugenmitteilungen 2002 und 2006 • Vergleichbare Programme in Deutschland durch Bonusregelung 2000 und Bonusregelung 2006 • Effizienz und Erfolg der Kronzeugenprogramme: überwältigend! 4 Rechte und Pflichten des Kronzeugen • Differenzierung zwischen dem „eigentlichen“ Kronzeugen und den darüber hinaus Kooperierenden, die ebenfalls Kronzeugenantrag gestellt haben • Verpflichtung des Kronzeugen: aktive Mithilfe bei der Aufklärung und Informationsbeschaffung und kontinuierliche, uneingeschränkte Kooperation mit Kartellbehörde • Kronzeuge wird volle Immunität eingeräumt • Weitere Kooperierende können Reduktion der zu erwartenden Geldbuße bis zu 50% erwarten • Grundsätzlich keine Beschränkung des Rechtsschutzes (aber Klagen sind häufig unwahrscheinlich) 5 Mittel der öffentlichen Durchsetzung (II): Vergleichsverfahren • Europäische Kommission leidet unter Umfang, Dauer und Ressourcenintensität der Ermittlungsverfahren • Ressourcenbindung durch langjährige und aufwändige Rechtsschutzverfahren bei EuG und EuGH • Vergleichbare Situation im deutschen Kartellrecht: Mündlichkeitsprinzip des Einspruchverfahrens • Einführung von Vergleichsverfahren (settlement procedure) • Zweck: Verkürzung der Dauer von Ermittlungsverfahren, Reduktion von Komplexität, Verringerung der Anzahl der und Konzentration auf die wesentlichen Beweisdokumente, schnellere und effizientere Verfahrensbeendigung, kürzere Bußgeldentscheidungen, Reduzierung der Zahl von Rechtsschutzverfahren in Luxemburg 6 Sinn und Wesen von Vergleichsverfahren • Vergleichsverfahren ist weder plea bargaining i.S. des US-Kartellrechts noch Vergleich i.S.v. § 779 BGB • Vergleichsverfahren ist im Grunde ein vereinfachtes Verfahren (vor allem für die Kartellbehörde) • Vergleichsverfahren hat für die Kommission zahlreiche Vorteile: deutlich reduziertes Verfahren, Beschränkung des Umfangs von Beweisdokumenten, eingeschränkte Akteneinsicht, abgekürzte Beschwerdepunkte, Geständnis der Kartellbeteiligten, kürzere Bußgeldentscheidung • Rechtsschutz theoretisch nicht beschnitten, aber Wahrscheinlichkeit von Rechtsmitteln deutlich reduziert • Vorteil für Kartellbehörde: deutlich geringerer Aufwand, höhere Effizienz, weniger Rechtsschutzverfahren • Vorteil für Kartellanten: Reduktion der Geldbuße um 10%, frühere Einsicht in Kernbeweisdokumente, kürzere Bußgeldentscheidungen 7 Einige Fakten zur privaten Rechtsdurchsetzung • Genuine, originäre Klagen (ohne vorherige Befassung durch Kartellbehörde) sind der Ausnahmefall • Sog. Follow-on-Klagen sind dagegen der Regelfall (Ausnahme: Missbrauchsklagen gestützt auf § 20 GWB) • Prozessuale Rahmenbedingungen nach deutscher ZPO für Kläger nicht uneingeschränkt vorteilhaft: Beibringungsgrundsatz, Darlegungs-/Beweislastverteilung, § 287 ZPO • Aber: Verbesserung der Klägerposition durch § 33 GWB • Erste Grundsatzentscheidung des BGH (zwar noch zur alten Rechtslage, übertragbar jedoch auf § 33 GWB) 8 Spannungsverhältnisse zwischen öffentlicher und privater Rechtsdurchsetzung (I) • Interessen der Kartellbehörden: Effizientes Verfahren und rascher Verfahrensabschluss Möglichst umfassender Zugriff auf Beweise/Beweisdokumente; daher Schutz der Anreizwirkung von Kronzeugenprogrammen Möglichst geringe Anzahl von Rechtsschutzverfahren • Interessen des Klägers in Schadenersatzprozess: Möglichst umfassende Berufung auf ausführliche Bußgeldentscheidung Zugang zu Ermittlungsakten der Kartellbehörde, möglichst auch zu Kronzeugenanträgen und -unterlagen 9 Spannungsverhältnisse zwischen öffentlicher und privater Rechtsdurchsetzung (II) • Interessen des „Kartellsünders“/Beklagten: Schutz der Kooperation mit Kartellbehörden Insbesondere kein Zugang zu Kronzeugenanträgen und -dokumenten Möglichst kurze, unspezifische Bußgeldbescheide (ohne detaillierte Darlegung von Einzelverstößen) 10 Akteneinsicht in Kronzeugenanträge: nationale Ermittlungsverfahren EuGH-Urteil Pfleiderer Die kartellrechtlichen Bestimmungen der EU sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist. 11 Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil • Befürchtung divergierender Entscheidungen der Gerichte in den Mitgliedstaaten und innerhalb einer Jurisdiktion • Befürchtung, dass Unternehmen zukünftig keine Kartellabsprachen mehr anzeigen werden • Reduzierte Kooperationswilligkeit von Unternehmen • Auswirkungen in anderen Rechtsordnungen, insb. USA und Kanada? 12 Reaktionen auf das EuGH-Urteil • Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, fordert den Gesetzgeber zum Tätigwerden auf – entweder auf EU- oder auf nationaler Ebene • Joaquín Almunia, Kommissar für Wettbewerb, betont, dass er europäische Immunitäts-Programme verteidigen werde • Joaquín Almunia erklärt Mitgliedern des Europäischen Parlaments die Notwendigkeit, kartellrechtliche Schadensersatzklagen und die Akteneinsicht zu „regulieren“ • AG Bonn hat Zugang zu Kronzeugen-Dokumenten im Rahmen einer „generellen“ Abwägung abgelehnt; OLG Düsseldorf gewährt Zugang zu nur geringfügig redigierter Fassung der Bußgeldentscheidung (Kaffeeröster) 13 Klage National Grid (High Court in London) • Ausgangspunkt: Bußgeldentscheidung der Kommission im GIS-Kartell • Rechtsschutzverfahren beim EuGH noch anhängig (nicht jedoch für Kronzeuge ABB) • National Grid hat gleichwohl Klage beim High Court eingereicht und will Ausgang der Rechtsschutzverfahren beim EuGH nicht abwarten • Richter hat Verfahren nur hinsichtlich der Befassung mit der Sache selbst ausgesetzt, will jedoch über Disclosure bereits vor Ende der Rechtsschutzverfahren beim EuGH entscheiden • Zentrale Frage: Umfang der Vorlagepflicht von Leniency-Dokumenten • Richter Roth will Pfleiderer Entscheidung anwenden und im Hinblick auf jedes einzelne Dokument Abwägungen vornehmen 14 Klage National Grid (High Court in London) • Richter Roth verlangt Vorlage sämtlicher Leniency-Dokumente, die von Klägerseite hinsichtlich des Disclosure verlangt werden • Richter Roth will nach Durchsicht entscheiden, ob die Dokumente (ausschließlich) den Anwälten von National Grid im Rahmen eines sog. Confidentiality-Ring übergeben werden sollen • Kommission ist im Rahmen von Art. 15 der VO 1/2003 von Richter Roth kontaktiert worden und hat sehr zurückhaltend mit einem Schreiben von Ende Oktober 2011 geantwortet (starke Betonung der Effizienz von Leniency-Programmen) • Schreiben der Kommission hat Anordnung der Disclosure nicht verhindern können • aber: die einstweilige Anordnung des Präsidenten des EuG (Rs. T-164/12 R – Alstom)! 15 Einsicht in Akten der EU-Kommission • Keine Akteneinsicht für (möglicherweise) Verletzte auf Grundlage von Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003, Art. 15 VO 773/2004 – Einsichtsrechte nur für die Parteien • In der Regel sind (möglicherweise) Verletzte keine Beschwerdeführer gemäß Art. 7 VO 1/2003 ⇒ Beschwerdeführer können Akteneinsicht nur verlangen, wenn die Kommission beabsichtigt, die Beschwerde zurückzuweisen (Art. 8 VO 773/2004) ⇒ Keine Einsicht in Geschäftsgeheimnisse und sonstige vertrauliche Informationen der anderen Verfahrensbeteiligten 16 Akteneinsicht auf Grundlage der VO 1049/2001? Rechtlicher Hintergrund: • VO 1049/2001 gewährt grundsätzlich jedem EU-Bürger das Recht zur Einsichtnahme in Dokumente der europäischen Institutionen. • Ausnahmen: z.B., wenn durch die Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde (Art. 4 (2) VO 1049/2001): der Schutz von Gerichtsverfahren und Rechtsberatung, der Schutz von geschäftlichen Interessen, der Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungsund Audittätigkeiten. 17 Akteneinsicht auf Grundlage der VO 1049/2001? Offene Fragen: • Sind die kartellrechtlichen Regelungen zur Akteneinsicht lex speciales gegenüber der VO 1049/2001? • Gegebenenfalls: Sind die Ausnahmen anwendbar? Auffassung der Kommission: Eine öffentliche Verbreitung der von Kronzeugen übermittelten Unterlagen würde öffentliche und private Interessen gefährden, wie z.B. den Schutz des Zwecks von Inspektions- und Untersuchungstätigkeiten 18 Akteneinsicht auf Grundlage der VO 1049/2001? Ausblick: • Verschiedene Fälle sind vor den Europäischen Gerichten anhängig • • • EnBW ./. Kommission (T-344/08) - Gasisolierte Schaltanlagen Schenker ./. Kommission (T-534/11) – Luftfrachtkartell Urteil des EuG vom 15. Dezember 2011 CDC ./. Kommission – Wasserstoffperoxid Entscheidung der Kommission, mit der vollständiger Zugang zum Inhaltsverzeichnis der Akte verweigert wurde, wird für nichtig erklärt 19 Fazit • Zweifelhaft, ob sich öffentliche und private Kartellrechtsdurchsetzung wirklich ergänzen • Politikziele widersprechen sich teilweise • Schutz der Kronzeugenprogramme sollte für Kartellbehörden klar im Vordergrund stehen • Rechtsposition von Geschädigten / Klägern dadurch negativ betroffen (zumindest in Deutschland) • Forum Shopping als Ausweichlösung: Disclosure in Großbritannien • Legislative Proposal der Europäischen Kommission? 20 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 21 Ihr Ansprechpartner: Dr. Ingo Brinker Dr. Ingo Brinker, LL.M., Partner, Studium an den Universitäten Freiburg, Münster, München und University of Chicago. Master of Laws 1993. Dr. iur. 1994. Mitglied des Vorstands der Studienvereinigung Kartellrecht, Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht und der International Bar Association. Co-Schriftleiter der Zeitschrift „Europarecht“. Co-Chair der Working Group „Private Enforcement“ der IBA Antitrust Section. Dr. Ingo Brinker, LL.M. Karl-Scharnagl-Ring 6 D-80539 München Schwerpunkte Deutsches und EG-Kartellrecht, allg. Europarecht. Tel. +49 89 21667-212 Fax +49 89 21667-111 [email protected] www.gleisslutz.com Sprachen Deutsch, Englisch. „Einer der führenden Partner im Kartellrecht“ JUVE Handbuch 2010/2011 Veröffentlichungen (Auswahl) Bechtold/Bosch/Brinker, Kommentar zum EG-Kartellrecht, 3. Aufl. München 2012 (Mitautor); Schwarze, EU-Kommentar, Baden-Baden, 3. Aufl. 2012 (Mitautor); Europarecht, 2005. „brilliant“ (Antitrust) Legal 500, 2010 „Listed in Antitrust“ Best Lawyers, 2010 22 Berlin Gleiss Lutz Friedrichstraße 71 10117 Berlin Deutschland T +49 30 800979-0 F +49 30 800979-979 Hamburg Gleiss Lutz Hohe Bleichen 19 20354 Hamburg Deutschland T +49 40 460017-0 F +49 40 460017-28 Brüssel Gleiss Lutz Rue de Loxum 25 1000 Brüssel Belgien T +32 2 551-1020 F +32 2 551-1039 Prag Kooperationspartner: Kubánek & Nedelka v.o.s. nám. Republiky 1a 110 00 Prag 1 Tschechische Republik T +420 225 996-500 F +420 225 996-555 Düsseldorf Gleiss Lutz Bleichstraße 8-10 40211 Düsseldorf Deutschland T +49 211 54061-0 F +49 211 54061-111 München Gleiss Lutz Karl-Scharnagl-Ring 6 80539 München Deutschland T +49 89 21667-0 F +49 89 21667-111 Budapest Kooperationspartner: Bán, S. Szabó & Partners József nádor tér 5-6 1051 Budapest Ungarn T +36 1 266-3522 F +36 1 266-3523 Warschau Kooperationspartner: Cvak Sp. k. ul. 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