Migration in Europa - lehrerfortbildung

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Migration in Europa - lehrerfortbildung
Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte,
ISSN 1864-2942
Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
Heft 60 – 2010
Migration in Europa
DuE60_Ums.indd Ums1
27.10.10 11:31
Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,
Geographie, Kunst und Wirtschaft
DEUTSCHLAND & EUROPA
HEFT 60–2010
„Deutschland & Europa” wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg
herausgegeben.
DIREKTOR DER LANDESZENTRALE
Lothar Frick
REDAKTION
Jürgen Kalb, [email protected]
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, [email protected]
BEIRAT
Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH,
Stuttgart
Renzo Costantino, Studiendirektor, Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport
Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz
Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt
Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen /Neckar
Dr. Walter-Siegfried Kircher, Oberstudienrat i. R.,
Stuttgart
Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck
Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim
Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische
Bildung
Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für
politische Bildung
Der aus Mannheim stammende Comedian Bülent Ceylan (r), Botschafter der Schulaktion
»Alle Kids sind VIPs«, unterhält sich mit Schülerinnen und Schülern in der Repräsentanz der
Bertelsmann Stiftung in Berlin. Bei der Aktion waren Jugendliche aufgerufen, in eigenen
Projekten die Integration an ihrer Schule zu verbessern. Unterstützt wurde die Aktion durch
zahlreiche Prominente mit Migrationshintergrund.
© Arno Burgi, picture alliance, dpa
ANSCHRIFT DER REDAKTION
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43;
Fax: 0711.16 40 99-77
SATZ
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG
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DRUCK
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH
89079 Ulm
Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr.
Preis der Einzelnummer: 3,– EUR
Jahresbezugspreis: 6,– EUR
Auflage 18 000
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die
Meinung des Herausgebers und der Redaktion
wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte
übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für
Kultus, Jugend und Sport, der Robert Bosch Stiftung
sowie der Heidehof Stiftung.
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THEMA IM FOLGEHEFT 61 (APRIL 2011)
Energie- und Klimapolitik in Europa
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Inhalt
Inhalt
Migration in Europa
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
I.
DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
1. Migrations- und Integrationsprozesse als Herausforderung für Europa (Jürgen Kalb) . . . .
3
2. Migration aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen (Rainer Münz) . . . . . . . .
10
3. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Migration und ihre mediale Wahrnehmung
(Dirk Wentzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
4. Einwanderungspolitik in der EU – Kooperation und gemeinsame Gesetzgebung
(Petra Bendel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
5. EU-Grenzschutzagentur Frontex: »Bad Guy« europäischer Flüchtlingspolitik?
(Martin Große Hüttmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
6. »Europa – eine Wertegemeinschaft?« Migrationsprozesse als Herausforderung
(Jürgen Kalb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
1
II. INTEGRATIONSSTRATEGIEN IN DEN EU-MITGLIEDSLÄNDERN
7. Integrationsstrategien in Europa: Von der »alten« zur »neuen« Migration in Europa
(Uwe Berndt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
8. Kurswechsel in Großbritannien? Migrationspolitik der Regierung Cameron
(Georg Weinmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
9. Europas neue Einwanderungsländer – Migration in Spanien und Italien (Boris Kühn) . . . .
66
10. Emigration aus Polen – eine besondere Dynamik im letzten Jahrzehnt
(Andrzej Kaluza | Manfred Mack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
III. PLANSPIEL ZUR MIGRATION IN EUROPA
11. »Mobil in Europa?« – ein Planspiel zur Migration im EU-Binnenmarkt
(Holger-Michael Arndt | Markus W. Behne | Goce Peroski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
D&E
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»EU-Reflexionsgruppe Horizont 2020–30« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Islam und muslimisches Leben« – eine Wanderausstellung der LpB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
D&E Autorinnen und Autoren – Heft 60 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
Heft 60 · 2010
Inhalt
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2
Vorwort
des Herausgebers
Geleitwort
des Ministeriums
Wirtschaft und Politik, Öffentlichkeit und Massenmedien sind
sich inzwischen einig, dass es sich beim Thema »Migration« um
ein bedeutsames Thema handelt. Migrationsforscher, die sich
lange Zeit darüber beklagten, dass das Thema keine hinreichende
politische und öffentliche Beachtung finde, sehen sich mittlerweile von einer fast Schwindel erregenden öffentlichen Diskussion über Migration und Integration umgeben.
In Baden-Württemberg leben überdurchschnittlich viele Zuwanderer und Menschen mit Migrationshintergrund. Jeder vierte der
fast elf Millionen Menschen in Baden-Württemberg hat einen Migrationshintergrund. Bei den jungen Menschen unter 25 Jahren
zählt sogar mehr als jeder Dritte zu dieser Bevölkerungsgruppe.
Unter den Flächenländern ist Baden-Württemberg damit das
Bundesland mit dem höchsten Migrationsanteil.
Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg
hat sich dieser Thematik frühzeitig geöffnet. Nicht nur in ihren
Zeitschriften und Buchpublikationen, sondern auch mit Ausstellungen wie z. B. der Wanderausstellung »Islam und muslimisches
Leben« sowie der Ausstellung »... mehr als nur Gäste« hat sie sich
frühzeitig um eine sachliche Information und Auseinandersetzung mit der Thematik befasst. Im Rahmen des Integrationsprojekts »i-Punkt« der LpB wurden und werden nicht nur Lehr- und
Lernmaterialien für Integrationskurse erstellt, sondern es wird
nach wie vor die Professionalisierung von Lehrkräften für Integrations- und Orientierungskursen in Zusammenarbeit mit dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales geleistet. Gut qualifizierte Lehrkräfte sind die Voraussetzung für den Erfolg von Integrationskursen.
Die Zuwanderung von Menschen nach Deutschland und BadenWürttemberg bietet ein beachtliches Entwicklungspotenzial für
Wirtschaft und Gesellschaft. In seiner Rede »Vielfalt schätzen –
Zusammenhalt fördern« zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2010 hat Bundespräsident Christian Wulff es
so formuliert: »(…) die Zukunft (…) gehört den Nationen, die
offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem.« Wesentliche Voraussetzung dafür ist eine gelungene schulische und berufliche
Integration, insbesondere der jungen Menschen mit Migrationshintergrund.
Die aktuelle Ausgabe von D&E dokumentiert dabei nicht nur die
in Deutschland stattfindende Migrations- und Integrations-Diskussion, sondern weitet den Blick auch auf die gesamteuropäischen Entwicklungen. Traditionelle Auswanderungsländer wie
Italien und Spanien wurden plötzlich zu Einwanderungsländern,
während Länder wie Deutschland, die sich lange schwer taten,
sich als »Zuwanderungsland« zu bezeichnen, inzwischen mehr
Abwanderung als Zuwanderung zu verzeichnen haben. Und dennoch will die emotionalisierte Debatte nicht abebben.
Dabei ist die Diskussion stets eng mit der Frage nach den »Integrationsstrategien« und einer »Wertediskussion« verbunden. D&E
möchte mit dieser neuen Ausgabe hierzu mit unterschiedlichen
Fachartikeln sowie informativen und nach dem Kriterium der
Kontroversität ausgewählten Unterrichtsmaterialen zur Versachlichung der Diskussion beitragen.
Karl-Ulrich Templ
Stellvertretender Direktor
der Landeszentrale
für politische Bildung
in Baden-Württemberg
Vorwort & Geleit wort
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Jürgen Kalb, LpB,
Chefredakteur von
»Deutschland & Europa«
Alle Bundesländer haben bei der Förderung von jungen Migrantinnen und Migranten Nachholbedarf. Bundesweit verlassen
13 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund die
Schule ohne Schulabschluss; bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund liegt dieser Wert bei nur sieben Prozent. Zwar
schneiden junge Migrantinnen und Migranten aus Baden-Württemberg bei Schulleistungsvergleichen überdurchschnittlich gut
ab. Dennoch ist die Stärkung von Bildung und Erziehung dieser
jungen Menschen auch im Südwesten eine Zukunftsaufgabe.
Das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg hat deshalb die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu einem besonderen
Schwerpunkt der Bildungspolitik gemacht. Mit den Integrationsgipfeln, der Islamkonferenz und dem Nationalen Integrationsplan sind die Weichen auch bundespolitisch neu gestellt worden.
Der eingeschlagene Weg besteht darin, Integration nachhaltig zu
fördern, aber Integration auch zu fordern, mit klaren Regeln, auf
der Grundlage gemeinsamer Werte.
Renzo Costantino
Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport
in Baden-Württemberg
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I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
1. Migrations- und Integrationsprozesse
als Herausforderung für Europa
JÜRGEN KALB
S
eit Beginn der 1990er-Jahre sind insbeMigrationshintergrund der Gesamtbevölkerung: 82.135 Mio.
sondere die westlichen IndustriestaaDeutsche ohne eigene
Migrationserfahrung
ten das Ziel von Zuwanderung geworden
21,1 %
(| Abb. 2 |). Fast alle Staaten der Europäi(3.283 Mio.)
schen Union (EU-15) haben seit 1995 einen
Ausländer/-innen mit eigener
positiven Wanderungssaldo. Im Jahre 2009
Migrationserfahrung
Personen ohne
Personen
mit
lebten ca. 31,9 Millionen ausländische
36 %
Migrationshintergrund
Migrationshintergrund
(5.609 Mio.)
Staatsangehörige in den EU27-Mitglied81%
19%
(66.569 Mio.)
(15.566 Mio.)
Ausländer/-innen ohne eigene
staaten, von denen rund 12 Millionen
Migrationserfahrung
Staatsangehörige eines anderen EU27 Mit10,7 %
(1.661 Mio.)
gliedstaats waren. Die restlichen waren
Drittstaatenangehörige,
insbesondere
Deutsche mit eigener
Migrationserfahrung
Staatsangehörige anderer europäischer
32,2 %
Länder (7,2 Millionen) und Staatsangehö(5.014 Mio.)
rige afrikanischer (4,9 Millionen), asiatischer (4,0 Millionen) und amerikanischer
Abb. 1 Binnendifferenzierung der Bevölkerung nach Migrationserfahrung in Deutschland.
Länder (3,3 Millionen). Ausländische
© 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
Staatsangehörige machten damit 6,4 % der
und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland,
Gesamtbevölkerung der EU27 aus. Der AnJuni 2010, S. 39, Zahlen nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2008.
teil ausländischer Staatsangehöriger lag
dabei zwischen weniger als 1 % in Polen,
»Migrationsprozesse in Deutschland«
Rumänien und Bulgarien und z.B. 44 % in Luxemburg (Eurostat, Pressemitteilung, 7.9.2010). Allerdings haben sich die
In den 1960er-Jahren, insbesondere nachdem durch den »Bau der
Wanderungssaldi in den einzelnen EU27-Mitgliedstaaten in
Mauer« der Zustrom von Menschen aus der DDR jäh gestoppt
den letzten Jahren deutlich verändert (| Abb. 3 |). Im Jahre
wurde, warb die Bundesrepublik Deutschland in Abkommen mit
2008 fand z. B. in Deutschland gar eine stärkere Abwanderung
Ländern wie Griechenland, Spanien, Jugoslawien und der Türkei
als Zuwanderung statt (| Abb. 4 |).
noch gezielt sogenannten »Gastarbeiter« an. Deren Anteil am
westdeutschen Wirtschaftswunder scheint auch unumstritten.
Wenn in aktuellen Statistiken immer häufiger von »Menschen mit
Bereits 1973 kam es jedoch mit der ersten Ölkrise in Deutschland
Migrationshintergrund« bzw. »mit Migrationserfahrung« die
zu einem eine Anwerbestopp für die »Gastarbeiter« aus Nicht-EGRede ist (| Abb. 1 |), so handelt es sich dabei nicht einfach um eine
Staaten. Von den derzeit in Deutschland lebenden 7,35 Millionen
Modernisierung der Formel »Gastarbeiter/-innen« oder »auslänAusländern stellen die Türken mit 24,8 % die mit Abstand größte
dische Mitbürgerinnen und Mitbürger«, sondern diese BezeichGruppe (Stand Dezember 2009).
nung ist der Tatsache geschuldet, dass »migrationsbedingte ErVon 1991 bis 2008 wurden nach dem aktuellen »Migrationsbericht
fahrungen« längst zu einem wesentlichen Strukturmerkmal
2008« der Bundesregierung aus dem Jahre 2010 immerhin noch
moderner Gesellschaften geworden sind. In Deutschland besitzt
16,5 Millionen Zuzüge vom Ausland nach Deutschland registriert.
inzwischen rund jeder Fünfte direkte oder über seine Eltern verDiese Zuzugszahlen resultieren vor allem aus dem bis Mitte der
mittelte Migrationserfahrung. Viele dieser »Menschen mit Migra1990er-Jahren erhöhten Zuzug von Spätaussiedlern, der bis 1992
tionshintergrund (| Abb. 1 |) sind in Deutschland geboren oder
gestiegenen Zahl von Asylsuchenden, den seit 1991/92 aus dem
haben längst die deutsche Staatsbürgerschaft erworben.
ehemaligen Jugoslawien geflohenen Kriegs- und BürgerkriegsLudger Pries spricht in diesem Zusammenhang von einer » Transflüchtlingen sowie aus der gestiegenen, aber zeitlich begrenzten
nationalisierung der sozialen Welt«. Die EU bekennt sich in ihrer
Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten, insbesondere WerkverGrundrechtecharta ausdrücklich zur »Vielfalt der Kulturen und
trags- und Saisonarbeitnehmern. Dazu traten die nach dem
Traditionen der Völker Europas« und machte sich den Slogan »In
Grundgesetz möglichen Familienzusammenführungen. Mehr als
Vielfalt vereint« zum Motto. Migrationsprozesse scheinen zudem
50.000 Menschen wanderten im Jahre 2008 aus familiären Grünin einer zunehmend globalisierten Welt unumkehrbar, im Zeichen
den ein. Unter den Türken ist das immer noch der wichtigste
internationaler Arbeitsteilung und Mobilität, nicht zuletzt aber
Grund, nach Deutschland zu ziehen. Fast die Hälfte der eingeauch wegen des demografischen Strukturwandels in Europa auch
wanderten Türken sind dem Familiennachzug zuzurechnen.
mehrheitlich politisch gewollt. Allerdings gibt es über die »SteueNoch zu Zeiten der Großen Koalition wurden die Auflagen für den
rung« von Migrationsprozessen heftige Auseinandersetzungen.
Familiennachzug verschärft. So ist zum Beispiel jetzt vorgeschrieWie europaweite Untersuchungen ergaben, sehen große Teile der
ben, dass Sprachkenntnisse schon im Herkunftsland nachgewieBevölkerung in den EU27-Staaten insbesondere ihre muslimisen werden müssen. Zudem müssen Einwanderer, die ihre Frau
schen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit kritischen Augen, ja
nach Deutschland holen möchten, über ausreichenden Wohnwerten sie insgesamt reichlich pauschalisierend ab (www.uniraum verfügen. Sie müssen für deren Lebensunterhalt aufkombielefeld.de/ikg/zick). Dies zeigen z. B. erneut aktuelle Untersuchunmen, ohne öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen. Nachdem
gen der Universität Bielefeld (www.uni-bielefeld.de/ikg/zick/) sowie
solche Hemmnisse geschaffen wurden, verzeichneten die Ausländer Friedrich-Ebert-Stiftung (http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/07293.
derbehörden einen markanten Rückgang auch beim Familienpdf).
nachzug. Nach der Grundgesetzänderung des Asylparagrafen im
Grundgesetz (Art 16, im Jahre 1992) und der europaweiten Einfüh-
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JÜRGEN KALB
Abb. 2 Wanderungssaldo EU-27 (korrigiert), (in Tsd.), Frankreich bis 1997 nur Mutterland – für 2007 Zahlen vorläufig
4
rung der »Drittstaatenregelung« gingen in Deutschland auch die
Asylanträge dramatisch zurück. Im Jahre 2008 wurde sogar erstmals seit 1984 wieder ein negativer Gesamtwanderungssaldo
(| Abb. 4 |) registriert. 2008 waren es 175.000 Fortzüge von Deutschen. Bei der Zuwanderung ist zu berücksichtigen, dass die Zahl
der Spätaussiedler dramatisch zurückging ebenso die der Asylsuchenden. Viele der ehemaligen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem
ehemaligen Jugoslawien sind bzw. mussten inzwischen wieder in
ihre Heimatländer zurückkehren. Seit rund 5 Jahren hat Deutschland nach Ansicht vieler Experten eher ein Auswanderungs- als
ein Einwanderungsproblem. Die »New York Times« schrieb in diesem Zusammenhang, die Bundesrepublik leide gar an einem
»Brain Drain« – am Wegzug gut ausgebildeter Fachkräfte wie Mediziner, Ingenieure und Wissenschaftler. Die Wirtschaftsverbände forderten deshalb wegen des zunehmenden Fachkräftemangels jüngst erneut, den Zuzug qualifizierter Ausländer zu
erleichtern. Nach 2015 bräuchten die deutschen Unternehmen
jährlich rund 500.000 ausländische Arbeitskräfte, hat das »Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung« vorgerechnet. Dies betonten sie auch, als der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer im Oktober 2010 öffentlich Überlegung zur Begrenzung von
Zuwanderung aus muslimisch geprägten Ländern anstellte.
»Integration« statt »Assimiliation«
Die Diskussion um gelungene oder noch nicht vollzogene Integration in die Aufnahmegesellschaften bewegt sich europaweit
häufig zwischen den extremen Polen der »Assimilation« und »Segregation«, d. h. der unterstellten oder tatsächlichen Herausbildung von »Parallelgesellschaften« und wird nicht selten mit religiösen Fragen – insbesondere der des Islam – in von
Abb. 3 Wanderungssaldo in % der Gesamtbevölkerung, 2007 (korrigiert)
© Europa in Zahlen, Eurostat Jahrbuch 2009, S. 168
»jüdisch-christlichen Werten« geprägten Gesellschaften verbunden. Bundespräsident Christian Wulff hat zum zwanzigsten Jahrestag der Deutschen Einheit in seiner Rede dazu bemerkenswerte Worte gefunden. Seine Äußerung »… der Islam gehört
inzwischen auch zu Deutschland« (| M 2 |) stieß dabei auf medialen und politischen Widerstand (| M 4 |). Dabei hatte Wulff zwar
auch auf bisherige »Lebenslügen« in Deutschland im Umgang mit
Migration hingewiesen, aber doch deutlich auf die im Grundgesetz verankerten Werte, Rechte und Pflichten aller in Deutschland lebenden Menschen verwiesen. Zum Kernbereich gehöre, so
der inzwischen breite Konsens, natürlich auch die Beherrschung
der deutschen Sprache.
Inzwischen besteht kein Zweifel mehr: Deutschland ist ein Einwanderungsland. In den 1990 Jahren drehte sich die öffentliche
Migrationsdebatte noch vor allem um die Abwehr »unerwünschter« Zuwanderer und das Asylrecht. Heute dominiert dagegen die
Diskussion um die Integration von Migrantinnen und Migranten
(| M 5 |–| M 7 |), die in Deutschland z. B. im »Zuwanderungsgesetz« geregelt ist. Seit 2006 finden zu diesem Zweck im Bundeskanzleramt die auch international stark beachteten »Integrations- bzw. Islamkonferenzen« statt.
Eine wesentliche Ursache für den politischen Kurswechsel liegt in
der differenzierteren Beurteilung der Integrationsprobleme von
Zuwanderern als »interkulturelle Probleme«: Ethnische Konflikte,
die Verwahrlosung von Stadtteilen, Kriminalität und andere Erscheinungsformen der Desintegration tangieren immer mehr
auch die einheimische Bevölkerung.
© Europa in Zahlen, Eurostat Jahrbuch 2009, S. 169
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»Migration in Europa« – Einzelbeiträge für »D&E«
Der Wiener Bevölkerungswissenschaftler
Professor Dr. Rainer Münz beschreibt in seinem Beitrag »Migration aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen« einerseits die historische Dimension von
Migrationsprozessen, plädiert aber anderseits auch für die Förderung von Zuwanderung, nicht zuletzt wegen der demografischen Entwicklungen in Westeuropa. Der
Pforzheimer Volkswirtschaftsprofessor Dr.
Dirk Wentzel betrachtet dann im Folgenden
neben der volkswirtschaftlichen Bedeutung
von Migration deren mediale Wahrnehmung
und »Inszenierung«, insbesondere unter Berücksichtigung des »Medienhyps« um das
Sachbuch von Thilo Sarrazin mit dem polemischen Titel: »Deutschland schafft sich ab«.
Dr. Petra Bendel von der Universität Erlangen
zeigt in ihrem Beitrag » Einwanderungspolitik in der EU – Kooperation und gemeinsame
Gesetzgebung EU« die Möglichkeiten und
Grenzen der vergemeinschafteten EU-Politik
auf, während Dr. Große Hüttmann von der
Universität Tübingen sich in seinem Beitrag
insbesondere der EU-GrenzschutzorganisaAbb. 4 Zu- und Fortzüge nach und aus Deutschland im Jahre 2008 (Ausländer und Deutsche)
tion: »Frontex: »Bad Guy« europäischer
© Bundesministerium des Innern/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010):
Flüchtlingspolitik?» annimmt. Der Redakteur
Migrationsbericht 2008, Berlin, S. 20, Zahlen nach: Statistisches Bundesamt
von D&E untersucht schließlich mit Hilfe von
unterschiedlichen empirischen Untersuchungen die Akzeptanz der in der EU-Grundrechtecharta kodifizierten »europäischen
Literaturhinweise
Werte« in den Gesellschaften Europas.
Dr. Uwe Berndt, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck,
Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
beschreibt dann unterschiedliche Integrationsstrategien in ein(2010): Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in
zelnen Mitgliedstaaten der EU, während Dr. Georg Weinmann
Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/2400, http://dipbt.bunvom Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wertheim den Fokus auf
destag.de/dip21/btd/17/024/1702400.pdf
das Vereinigte Königreich und seine neue konservativ-liberale
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2010): Migrationsbericht
Regierung legt. Boris Kühn von der evangelischen Landeskirche
2008. Berlin. www.bmi.bund.de
Baden betrachtet sodann den Wandel Italiens und Spaniens von
Auswanderungs- zu Einwanderungsländern. Manfred Mack und
Europäische Kommission (Hrsg) (2010): Eurostat Jahrbuch 2010. Brüssel.
Andrezej Kaluza vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt widKalter, Frank (Hrsg.) (2008): Migration und Integration. Sonderheft der Kölmen sich schließlich den polnischen Besonderheiten: »Emigration
ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. VS Verlag. Wiesbaden.
aus Polen – eine besondere Dynamik im letzten Jahrzehnt«. Abschließend stellen die drei Autoren Holger-Michael Arndt, Markus
Lange, Dirk (2010): Migrationspolitische Bildung. Entwicklungen und PersW. Behne, Goce Peroski vom »Civic-Institut für internationale Bilpektiven. in: polis. 3/2010, S. 7–10
dung« ihr Planspiel »Mobil in Europa?« – zur Migration im EU-BinPries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialnenmarkt vor, das sie zudem zum kostenlosen Download auf der
räume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt/Main. Suhrkamp.
Website von D&E bereit stellen. Über die LpB steht das Planspiel
mit einem »Juniorteam Europa« auch als Veranstaltung für SchuSachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
len zur Verfügung.
(2010): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten mit IntegrationsDie Beiträge dieser Ausgabe von D&E eint die Frage nach der inbarometer. www.svr-migration.de
neren Verfasstheit und Partizipationsbereitschaft jener Gesellschaften, die man auch als Zuwanderungs- oder MigrationsgeInternetlinks
sellschaften typisieren könnte. Die Akzeptanz von Grund- und
Menschrechten sowie die der Normen des demokratischen
www.bpb.de/themen/8T2L6Z,0,0,Migration.html (Dossier der bpb zum
Rechtsstaats, ob nun mit direktem Bezug auf das Grundgesetz,
Thema Migration)
den Lissaboner Vertrag oder die EU-Grundrechtecharta, bleiben
dabei der unmittelbare und auch nicht verhandelbare Bezugwww.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ (Statistisches Bundesamt
punkt.
Deutschland)
5
http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/eurostat/home/
(Eurostat – Statistiken der EU-Kommission)
www.uni-bielefeld.de/ikg/zick (Europaweite Studie zu Einstellungen der
Bevölkerung zum Islam)
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Migr ations- und Integr ationspro ze s se al s Her ausf orderung f ür Europa
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6
MATERIALIEN
wanderung stattgefunden hat, auch wenn
wir uns lange nicht als Einwanderungsland
definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben
erkannt, dass multikulturelle Illusionen die
Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben. Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. Ich habe
die vielen hundert Briefe und E-Mails gelesen, die mich zu diesem Thema erreichten.
Mich beschäftigen die Sorgen und Ängste
der Bürgerinnen und Bürger sehr.
Und dennoch, wir sind weiter, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt: Es ist Konsens, dass man Deutsch lernen muss, wenn
man hier lebt. Es ist Konsens, dass in
Deutschland deutsches Recht und Gesetz zu
gelten haben. Für alle – wir sind ein Volk.
Es gibt Hunderttausende, die sich täglich für
bessere Integration einsetzen. Viele – zum
Beispiel als Integrationslotsen – freiwillig,
uneigennützig und ehrenamtlich. Unsere
Kommunen leisten Beträchtliches, wenn sich
Politik und Bürger zusammentun. Alle sollen
M 1 »20 Jahre Deutsche Einheit«
© Gerhard Mester, 4.10.2010
gemeinsam das Netz weben, das unsere Gesellschaft in aller Vielfalt und trotz aller Spannungen zusammenhält.
Auch wenn wir weiter sind, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt, sind wir ganz
M 2 Rede von Bundespräsident Christian Wulff anlässlich
offenkundig nicht weit genug. Ja, wir haben Nachholbedarf, ich
der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Deutschen
nenne nur als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse für die
Einheit
ganze Familie, mehr Unterrichtsangebote in den Muttersprachen, islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten
»Wir sind ein Volk«! Dieser Ruf der Einheit muss heute eine EinlaLehrern. Und ja, wir brauchen viel mehr Konsequenz bei der
dung sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht geDurchsetzung von Regeln und Pflichten – etwa bei Schulschwängründet ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land
zern. Das gilt übrigens für alle, die in unserem Land leben.
stark gemacht haben. Mit einem so verstandenen »wir« wird ZuZuallererst brauchen wir eine klare Haltung: Ein Verständnis von
sammenhalt gelingen – zwischen denen, die erst seit kurzem hier
Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familileben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass
engeschichte oder einen Glauben verengt. Das Christentum gemanche vergessen haben, dass auch ihre Vorfahren von auswärts
hört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelskamen. Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben:
frei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte.
»Sie sind unser Präsident« – dann antworte ich aus vollem HerAber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast
zen: Ja, natürlich bin ich Ihr Präsident! Und zwar mit der Leiden200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem »Westschaft und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menöstlichen Divan« zum Ausdruck gebracht:
schen bin, die hier in Deutschland leben. (…)
»Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: OriWir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Und weil diese Menent und Okzident sind nicht mehr zu trennen.«
schen mit ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht,
(…) »Deutschland, einig Vaterland« – zu Hause zu sein in diesem
dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. LeLand: das heißt, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebegendenbildungen, Zementierung von Vorurteilen und Ausgrennen Werte zu achten und zu schützen: Zuallererst die Würde eines
zungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem ureigenen
jeden Menschen, die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewisnationalen Interesse.
sensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an
Die Zukunft gehört den Nationen, die offen sind für kulturelle
unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben, zu
Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremakzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verden und Fremdem. Deutschland muss mit seinen Verbindungen
achtet, muss mit entschlossener Gegenwehr rechnen – das gilt für
in alle Welt offen sein gegenüber denen, die aus allen Teilen der
fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.
Welt zu uns kommen. Deutschland braucht sie! Im Wettbewerb
Wir erwarten zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten
um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen und anziehend
einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die
sein, damit die Besten bleiben. Meine eindringliche Bitte lautet:
Augen vor denjenigen, die unseren Gemeinsinn missbrauchen.
Lassen wir uns nicht in eine falsche Konfrontation treiben. Johan»Unser Sozialstaat ist kein Selbstbedienungsladen ohne Gegennes Rau hat bereits vor zehn Jahren klug und nachdenklich an uns
leistungsverpflichtung«, so schlicht und richtig hat es die Berliner
appelliert, »ohne Angst und ohne Träumereien« gemeinsam in
Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgedrückt. Und weiter: »Wenn
Deutschland zu leben.
die Menschen staatlich alimentiert werden, darf die GemeinWir haben von drei Lebenslügen längst Abschied genommen. Wir
schaft erwarten, dass die Kinder wenigstens in die Schule gehaben erkannt, dass Gastarbeiter nicht nur vorübergehend
schickt werden, damit sie einen anderen Weg einschlagen und in
kamen, sondern dauerhaft blieben. Wir haben erkannt, dass Einihrem späteren Leben auf eigenen Beinen stehen.«
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Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner Kultur. Es gibt die Ärztin, den Deutschlehrer, den Taxifahrer, die
Fernsehmoderatorin, den Gemüsehändler,
den Fußballspieler, den Filmemacher, die Ministerin und viele weitere Beispiele gelungener Integration.
Wir können stolz sein auf unsere kulturellen,
wissenschaftlichen und wirtschaftlichen
Leistungen. Vor allem auf das soziale Klima in
unserem Land, auf Toleranz, Kompromissfähigkeit und Solidarität. Das hat uns auch in
der Wirtschaftskrise geholfen. Gewerkschaften, Arbeitgeber, Beschäftigte – alle haben
gezeigt: Die Kraft zum Ausgleich, zum Verhandeln, zu einfallsreichen Lösungen, die
Kraft zum Zusammenhalt, die Kraft zum
Konsens – das ist Deutschland.
Neuer Zusammenhalt in der Gesellschaft ist
nur möglich, wenn sich kein Stärkerer entM 3 Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in Bremen
zieht und kein Schwächerer ausgegrenzt
am 3.10.2010
© picture alliance, dpa
wird. Wenn jeder in Verantwortung genommen wird und jeder verantwortlich sein kann.
Wer lange vergeblich nach Arbeit sucht, sich
von einem unsicheren Job zum nächsten hanM 4 »Wulffs Ringparabel«
geln muss, wer das Gefühl hat, nicht gebraucht zu werden und
keine Perspektive erhält, der wird sich enttäuscht von dieser GeEs gibt da ein berühmtes Gleichnis. Es stammt noch aus einer
sellschaft abwenden.
Zeit, als niemand auf die Idee gekommen wäre zu behaupten, der
Wer sich zur Elite zählt, zu den Verantwortungs- und EntscheiIslam gehöre zu Deutschland. Damals wirkte gewiss noch der
dungsträgern, und sich seinerseits in eine eigene abgehobene
Schrecken nach, den die Nachricht ausgelöst hatte, die Türken
Parallelwelt verabschiedet – auch der wendet sich von dieser Gestünden vor Wien. Heute leben viele Türken in Wien und auch in
sellschaft ab. Leider haben wir genau dies erlebt. Niemand sollte
Berlin, in Stuttgart – allerorten in Deutschland. Jenes Gleichnis
vergessen, was er auch dem Zufall seiner Geburt und unserem
also kündet von Toleranz und von der Überzeugung, dass die groLand zu verdanken hat – und er sollte es als seine Pflicht begreißen Weltreligionen letztlich eine gemeinsame Wurzel hätten –
fen, unserem Gemeinwesen etwas zurückzugeben.(…)
ein gemeinsames Wertefundament, um es in aktuelle PolitikerWie sieht eine Gesellschaft aus, in der sich niemand überflüssig
sprache zu übersetzen. Die Rede ist von der Ringparabel aus
fühlt und die niemanden überflüssig macht? Wie können die inteLessings Drama »Nathan der Weise«.
griert werden, die schon seit vielen Jahren keine Arbeit mehr
Bundespräsident Christian Wulff hat sich an einer Neuauflage der
haben? (…) Die erfolgreichste Art, den Zusammenhalt zu stärken,
Ringparabel versucht. Die Reaktionen auf seine Rede zeigen: so
ist, anderen zu vertrauen und ihnen etwas zuzutrauen. Menschen
tolerant wie der Aufklärer Lessing denken auch 231 Jahre später
können so vieles erreichen, wenn jemand an sie glaubt und sie
noch nicht alle in unserem Land. Wulff hat nichts anderes verkünunterstützt. (…) Wir müssen bei den Kindern anfangen. Wie viele
det, als dass er sich als Präsident auch den Muslimen verpflichtet
einst an die Einheit geglaubt haben, obwohl sie in weiter Ferne
fühle, die hier leben. Ebenso wie das Christentum und das Judenlag, müssen wir uns Ziele stecken, die weit entfernt scheinen,
tum, die unsere Geschichte prägten, gehöre nach seiner Ansicht
aber erreichbar sind: Kein Kind soll ohne gute Deutschkenntnisse
der Islam »inzwischen auch zu Deutschland«.
in die Schule kommen. Kein Kind soll die Schule ohne Abschluss
Gehört der Islam wirklich zu Deutschland? An dieser Frage scheiverlassen. Kein Kind soll ohne Berufschance bleiben. Es sind unden sich die Geister. (…) Der deutsche Islam, von dem schon der
sere Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht. Sie sind das
bekennende Konservative Wolfgang Schäuble gesprochen hat,
Wertvollste, was wir haben. (…)
bietet kein homogenes Bild. In der Köpfen der Wulff-Kritiker doMit der Europäischen Union haben wir ein wunderbares Modell
minieren die Schreckensbilder: ganze Schulen und Stadtviertel, in
dafür geschaffen, wie Kooperation gelingen kann. »In Vielfalt gedenen Deutsche in der Minderheit und Muslime fast unter sich
eint« ist zu Recht das europäische Motto, nach dem wir eine beisind; Parallelwelten, in denen die Scharia mehr gilt als demokratispiellose Integration von Nationalstaaten geschaffen haben. Es
sche Werte und rechtsstaatliche Gesetze; Zwangsehen, Ehrenzeigt der ganzen Welt: Wir Europäer haben aus der Geschichte
morde, fanatisierte Fundamentalisten, verschleierte Frauen,
gelernt! Die drängenden globalen Zukunftsfragen wie KlimaMädchen, die wegen einer archaischen Sexualmoral vom Schulschutz, Armutsbekämpfung, Terrorabwehr und Neuordnung der
sport ferngehalten werden. Auch diese Bilder gehören zu
Finanzmärkte müssen wir als Europäer gemeinsam angehen. Die
Deutschland. Der Präsident hat das nicht beschönigt. Doch seine
Welt verändert sich. Aufstrebende Länder nehmen die ihnen zueigentliche Absicht war es, ein Wunschbild zu zeichnen: die Integstehenden Plätze ein. Wir Europäer müssen an einer Weltordnung
ration des Islams. Es wird noch vieler Anstrengungen bedürfen,
mitarbeiten, in der wir uns auch dann noch wohlfühlen, wenn
das zu erreichen. Und die Ringparabel bleibt vorerst nur eine
unser relatives Gewicht abnimmt. Es gibt viel Kritik an Europa. Ich
schöne Geschichte.
werde nicht aufhören, mich für Europa einzusetzen.
© Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in
Bremen am 3.10.2010, www.bundespraesident.de
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Armin Käfer, Wulffs Ringbarabel, StZ 8.10.2010 S. 1
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JÜRGEN KALB
8
der Probleme unzugänglich bleibt. Ein solches Muster bei Sarrazin ist zum Beispiel
seine These von der erblichen Intelligenz, die
in der Oberschicht konzentriert ist. Die Unterschicht ist für ihn das Reich der weithin
Unintelligenten. Und weil sich die Unterschicht stärker vermehrt als die intelligente
Oberschicht, wird das deutsche Volk angeblich immer dümmer. Im Grunde ist das eine
nicht hochkonservative, sondern flach nationalistisch-elitäre Semantik, die in der deutschen Geschichte schon einmal zu fürchterlichen Konsequenzen geführt hat.
SPIEGEL ONLINE: Was taugen denn die statistischen Belege, die Sarrazin vorlegt?
Bade: Daten bieten immer nur Ausschnitte,
Einzelinformationen oder Aussagen unter
bestimmten Annahmen und dürfen deshalb
nicht verallgemeinert werden. So bieten Zahlen über Bildungserfolge ohne zureichende
Berücksichtigung der Soziallagen keine tragfähigen Informationen. Außerdem wird dabei
der Generationen übergreifende Bildungserfolg nicht berücksichtigt: Der Weg von einem
anatolischen Kleinlandwirt, der nicht lesen
M 5 »Die Botschaft des Thilo Sarrazin«
© Gerhard Mester, September 2010
und schreiben konnte, zu einem Enkel mit
deutschem Abitur ist bei weitem steiler als
derjenige von einem deutschen Industriearbeiter mit abgeschlossener Volksschulausbildung zum Enkel mit bestandener Reifeprüfung. Außerdem kennt Sarrazin selbst die
M 6 »Es gibt keine Integrationsmisere in Deutschland«
verfügbaren Zahlen nicht gut genug: Er weiß offensichtlich nicht,
dass die Italiener beim Bildungserfolg noch schlechter abschneiSind Muslime wirklich schlechter integriert als andere Migranten? Was
den als die Türken.
taugen Sarrazins Statistiken? Die Diskussion läuft völlig falsch, sagt ForSPIEGEL ONLINE: Und wie sind seine Daten zur Bevölkerungsentwickscher Klaus Bade. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt er, warum die
lung zu bewerten?
Integration in Deutschland viel erfolgreicher ist, als Kritiker es behaupBade: Sarrazin entgeht, dass Deutschland schon lange kein Einten.
wanderungsland im statischen Sinne mehr ist, sondern relativ
SPIEGEL ONLINE: Herr Sarrazin hat mit seinem Buch heftigen Protest
ausgeglichene Wanderungsbilanzen, neuerdings sogar deutliche
ausgelöst. Vereinfacht er in unzulässiger Weise?
Wanderungsverluste hat. Deswegen haben seine HochrechnunBade: Sarrazin versteht von Integration ungefähr so viel wie ich
gen in die Zukunft schon vom Start weg eine rasant zunehmende
von seiner Domäne, der Finanzpolitik: nämlich nur das, was manZielabweichung. Außerdem sind demografische Modellrechnunsich als Laie so anliest. Der Laie aber strebt oft nach möglichst
gen über hundert Jahre in die Zukunft abwegig. Wer vor hundert
überschaubaren Erklärungsmustern, weil ihm die Komplexität
Jahren, also im Jahr 1910, um hundert Jahre vorausrechnete,
wusste nichts von den gewaltigen Todesraten in zwei Weltkriegen, von
Gebietsverlusten im Osten, von
Flucht, Vertreibung, GastarbeiterzuAusländer
Deutsche
wanderung, Pille, demografischem
Wandel et cetera.
7,4 15 bis unter 25 Jahren 10,3
SPIEGEL ONLINE: Glaubt man Sarrazin,
dann sind muslimische Arbeitnehmer gar
25 bis unter 50 Jahren
73,1
60,7
nicht in der Lage, modernen betrieblichen
Anforderungen zu genügen. Hat er recht?
50 bis unter 65 Jahren
19,5
29,0
Bade: Nein, die Unterschiede haben
wesentlich mit sozialen Milieus, mit
Männer
54,4
54,9
Bildung beziehungsweise Ausbildung
und gar nichts mit der GlaubenszuFrauen
45,6
45,1
gehörigkeit zu tun. Bei Männern
ohne abgeschlossene
ohne Migrationshintergrund sind
75,6
36,0
Berufsausbildung
50,3 Prozent, bei Frauen 37,5 Prozent
länger als 12 Monate
erwerbstätig. Bei türkischen männli33,5
30,0
arbeitslos
chen Zuwanderern sind etwa 45,1
Prozent und bei Frauen 23,5 Prozent
Die Anteilsberechnungen basieren ausschließlich auf Daten aus dem IT-Fachverfahren der BA.
erwerbstätig. Hinzu kommt bei vielen kleinen Familienbetrieben eine
M 7 Arbeitslosigkeit von Ausländern und Deutschen nach Strukturmerkmalen – Dezember 2009: Anteile in %
hohe Zahl von mithelfenden Angehö© 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
rigen, die in der Statistik nicht erfasst
über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland,
werden. Die Muslime sind also geJuni 2010, S. 39, Zahlen nach: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2008. Daten nach: Bundesagentur für Arbeit
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nauso gut oder schlecht ins ArbeitsStaatsangehörigkeit
Hauptschule Realschle
Int. Gesamt- Gymnasium
Förderleben integriert wie andere EinwanZahlen in %
schule
schule
derer.
n = Anzahl der Erfassten
SPIEGEL ONLINE: Sarrazin behauptet
Deutsche
8,6
14,1
5,3
28,7
4,1
auch, die verschiedenen Migrantengrup(n = 8.217593)
pen integrierten sich unterschiedlich in
Türkei
23,4
14,5
10,4
9,3
6,9
die deutsche Gesellschaft. Lässt sich das
(n = 324.845)
tatsächlich beobachten?
Italien
23,7
13,8
6,9
9,9
8,6
Bade: Migrantengruppen als solche
(n = 50.892)
gibt es nicht. Vielmehr lassen sich inSerbien
11,4
9,4
5,6
8,0
12,7
nerhalb der verschiedenen Her(n = 32.729)
kunftsgruppen Milieus ausmachen,
Griechenland
21,8
14,7
6,1
15,6
6,1
die ebenfalls bei der Bevölkerung
(n = 28.017)
ohne Migrationshintergrund zu finPolen
17,2
11,5
8,0
16,6
3,3
den sind. Türkische Zuwanderer
(n = 24.4571)
schneiden in ihren schulischen LeisRussische Föderation
11,7
10,2
5,6
24,5
3,1
tungen zwar im Schnitt schlechter ab
(n = 23.577)
als Schüler ohne Migrationshintergrund. Das gilt aber auch für andere
Kroatien
15,5
17,4
5,0
20,7
5,9
(n = 18.266)
Herkunftsgruppen wie zum Beispiel
Italiener, die in der Bildungsstatistik
Vietnam
5,9
11,2
5,0
39,9
1,7
sogar noch schlechter dastehen. An(n = 15.302)
dererseits finden sich auch unter Zuwanderern Personen mit besonders
M 8 Schülerinnen/Schüler ausländischer Staatsangehörigkeit, besuchte Schularten je Staatsangehörigkeit
stark ausgeprägter Aufstiegsorien2008/2009 – nicht in der Tabelle folgende Schularten: z. B. Grundschulen, Vorschulen, Privatschulen, Schulen
tierung, gerade auch bei Menschen
mit mehreren Bildungsgängen, berufliche Schulen und Abendschulen u. a.
mit türkischem Migrationshinter© 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und
grund.
Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2010, S. 93:
SPIEGEL ONLINE: Taugen die ErfolgsZahlen nach: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, 2008–2009, S. 248f, Wiesbaden 2009,
geschichten hochqualifizierter Migranten
https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1026208
als Vorbild für ihre Landsleute?
Bade: Natürlich. Im Bereich der schulischen Bildung machen wir hervorragende Erfahrungen damit. Das gilt zum Beispiel für Studenten
SPIEGEL ONLINE: Wer trägt Ihrer Meinung nach die Schuld an der Intemit Migrationshintergrund, die Jüngere gezielt auf ihrem Weg
grationsmisere?
durch die Schullaufbahn begleiten und unterstützen. Warum
Bade: Ich sehe keine Integrationsmisere in Deutschland. Wie der
sollte dies in der Berufswelt anders sein? Wir reden nur zu wenig
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und
über diese erfolgreichen Einwanderer.
Migration in seinem aktuellen Jahresgutachten gezeigt hat, verSPIEGEL ONLINE: Laut Integrationsbericht der Regierung steht einer
läuft Integration in Deutschland sehr viel erfolgreicher, als es die
kleinen Elite von hochqualifizierten Migranten eine wachsende Zahl juDesintegrationspublizistik glauben machen will, auch im internagendlicher Zuwanderer gegenüber, die kaum Chancen auf dem Arbeitstionalen Vergleich. Ausnahmen bestätigen die Regel. In den letzmarkt haben. Was kann man tun, um diesen Trend zu stoppen?
ten zehn Jahren ist in Sachen Integrationspolitik mehr geschehen
Bade: Unter den Neuzuwanderern finden sich zwar neuerdings
als in den vier Jahrzehnten zuvor. Die in Deutschland geborene
immer mehr Hochqualifizierte oder Selbstständige. Ihre Zahlen
Zuwandererbevölkerung der zweiten und dritten Generation ersind im Vergleich mit anderen Zahlen aber immer noch eher gezielt in fast allen Bereichen, sei es Bildung oder Arbeitsmarkt,
ring. 2009 kamen über 12.000 qualifizierte Drittstaatsangehörige
deutlich bessere Ergebnisse als ihre Eltern und Großeltern. Diezu Erwerbszwecken nach Deutschland. Dies ist eine Größe, die
ser Effekt lässt sich für nahezu alle Herkunftsgruppen beobachsicherlich ausgebaut werden muss. Das ist angesichts der demoten.
grafischen Entwicklung und des drohenden Fachkräftemangels
Spiegelonline, »Es gibt keine Integrationsmisere in Deutschland«, 7.9.2010, www.spiegel.
in unserem eigenen Interesse. Dazu müssen unsere Steuerungsde/politik/deutschland/0,1518,druck-716081,00.html
instrumente übersichtlicher und flexibler werden. Außerdem
müssen wir insgesamt so attraktiv werden, dass die Qualifizierten, die wir brauchen, kommen und diejenigen, die gehen wollen,
bleiben oder jedenfalls nicht auf Dauer auswandern. Das ist die
eine Seite der Medaille.
SPIEGEL ONLINE: Und die andere?
Bade: Unser Bildungssystem muss sich besser auf die interkulturellen Rahmenbedingungen einstellen. Hochqualifizierte können
nämlich nicht nur zuwandern, man kann sie durch zureichende
Förderung auch im eigenen Land gewinnen. Im internationalen
Vergleich verlangt das deutsche Schulsystem den Eltern besonders viel ab. Es geht von Voraussetzungen aus, die zugewanderte
Eltern häufig nur bedingt erfüllen. Ganztagsschulen und ganztägige frühkindliche Förderung können, wenn sie qualitativ hochwertig angelegt sind, hier effektiv Abhilfe leisten. Was Ganztagsschulen und Ganztagskitas angeht, hat Sarrazin vollkommen
recht, aber die Forderung ist nicht neu.
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I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
2. Migration aus und nach Europa –
Ausblick und Konsequenzen
RAINER MÜNZ
B
10
is zur Mitte des 20. Jahrhunderts war
Europa die wichtigste Herkunftsregion
von Migrantinnen und Migranten in der
Welt. Allein zwischen 1750 und 1960 wanderten rund 70 Millionen Menschen aus Europa nach Übersee. Die meisten gingen
nach Nord- und Südamerika. Kleiner waren
die Zahlen der Auswanderer nach Australien und Neuseeland sowie ins südliche Afrika. Weitere Ziele bildeten Zentralasien
und Sibirien, Palästina/Israel sowie Nordafrika. Etliche Europäerinnen und Europäer
emigrierten aus religiösen oder politischen
Gründen. Dies galt insbesondere für Reformierte und Anhänger evangelischer Freikirchen, ab dem späten 19. Jahrhundert
auch für europäische Juden, die in einer
Reihe von Staaten diskriminiert oder verfolgt wurden. Es galt für Liberale und Republikaner, in kleinerem Umfang auch für
Exponenten der europäischen Linken. Für
die Mehrzahl der Auswanderinnen und
Auswanderer standen jedoch wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Emigration
war eine Chance, der eigenen Armut, der
Knappheit an Boden oder den Beschränkungen zünftischer Ordnungen zu entkommen.
Abb. 1 Rund 70 Millionen Menschen wanderten zwischen 1750 und 1960 aus
Anfangs dominierte die Siedlungskolonisation. Bis 1830 arbeiteten die meisten europäischen Auswanderer in Übersee in der
Land- und Forstwirtschaft. Erst mit der Industrialisierung entstanden moderne Formen der Arbeitskräftewanderung. Migrantinnen und Migranten fanden Arbeit in Gewerbe und Industrie.
Etliche gründeten eigene Betriebe. Ähnliches gilt auch für die – in
Summe beträchtlichen – innereuropäischen Migrationsbewegungen, die nach 1850 quantitativ an Bedeutung gewannen.
Im 19. Jahrhundert setzte eine massive Zuwanderung in die neuen
Zentren der Eisen- und Stahlindustrie ein. Dazu gehörten vor
allem die britischen Midlands, Lothringen und das Ruhrgebiet.
Zugleich wurden einige europäische Metropolen damals durch
Zuwanderung binnen weniger Jahrzehnte zu Millionenstädten –
darunter London, Paris, Berlin, Wien und Budapest. Die Möglichkeit, in eine dieser wirtschaftlich und kulturell prosperierenden
Metropolen zu ziehen, erschien vielen als Alternative zur Auswanderung nach Übersee.
Nach dem Ersten Weltkrieg verringerte sich in Europa die Arbeitskräftewanderung zwischen einzelnen Staaten sowie die Auswanderung in die USA. Ursache dafür war, dass die meisten Nationalstaaten – auch klassische Einwanderungsländer wie die USA – seit
Beginn des 20. Jahrhunderts schrittweise die Zuwanderung ausländischer Staatsbürger einschränkten. In Mitteleuropa sowie auf
dem Balkan reduzierte zudem die Gründung neuer Nationalstaaten die zuvor mögliche Mobilität innerhalb des Deutschen Reichs,
Österreich-Ungarns und der Osmanischen Türkei. Am Ende der
1920er-Jahre kam es mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise
schließlich zur völligen Abschottung nationaler Arbeitsmärkte in
Europa.
Während der Zeit des Nationalsozialismus, des Stalinismus und
des Zweiten Weltkriegs dominierten in Europa Flucht und Vertrei-
bung, kollektive Umsiedlung, Deportation und Zwangsarbeit.
Zum Teil verbanden sich Deportationen und Genozid. Dies betraf
vor allem Juden sowie Sinti und Roma in Mittel- und Osteuropa,
es betraf aber auch eine große Zahl von Opfern stalinistischer Deportationen in der Sowjetunion. Freiwillige Migration blieb die
Ausnahme.
Auch während der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben Flucht
und Vertreibung an der Tagesordnung. Hauptsächlich betroffen
waren 12 Millionen Ost- und »Volksdeutsche«. Opfer staatlich verordneter Zwangsumsiedlung wurden aber auch 1,5 Millionen
Polen sowie hunderttausende Ukrainer, Italiener und Ungarn. Zugleich setzte 1945/46 die durch Weltwirtschaftskrise und Zweiten
Weltkrieg unterbrochene Auswanderung aus Europa nach Übersee wieder ein.
Entkolonialisierung und Arbeitskräftewanderung
Erst seit den späten 1950er- und 1960er-Jahren gibt es eine nennenswerte Zuwanderung aus anderen Regionen der Welt nach
Europa. In Ländern wie Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Belgien, später auch Portugal hatte dies mit dem
Rückzug dieser Länder aus ihren Kolonien zu tun. Am Ende europäischer Kolonialherrschaft in Afrika, Süd- und Südostasien
sowie in der Karibik migrierten in Summe mehrere Millionen
Siedler europäischer Herkunft sowie in der Kolonialverwaltung
tätige Beamte und Soldaten in die jeweiligen Mutterländer. In einigen Fällen war die Auswanderung »weißer« Siedler explizit Teil
der Vereinbarungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und neu
entstehenden Nationalstaaten. So sah etwa der Vertrag von Évian
zwischen Frankreich und der algerischen Befreiungsbewegung
FLN die vollständige Absiedlung von rund einer Million Algerien-
Migr ation aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen
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© Rainer Münz
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franzosen – sogenannten pieds noirs – ins
französische »Mutterland« vor.
Den »Kolonialrückkehrern«, von denen viele
zuvor allerdings nie in den jeweiligen europäischen Mutterländern gelebt hatten, folgten
in großer Zahl Einheimische aus ehemaligen
Kolonien. Nach Großbritannien kamen vor
allem Inder, Pakistanis und Anglo-Karibier,
nach Frankreich vor allem Algerier, Tunesier
und Marokkaner sowie Westafrikaner und
Vietnamesen. In die Niederlande kamen sowohl christliche und moslemische Bürger Indonesiens als auch Surinamer und Bewohner
der Niederländischen Antillen. In den 1970erJahren migrierten schließlich Bewohner Angolas, Moçambiques und der Kapverden in
größerer Zahl nach Portugal. Sie alle kamen,
auf der Suche nach Arbeit und besseren Bildungschancen nach Europa. Manche wollten
den nach der Entkolonialisierung ausgebrochenen Bürgerkriegen und politischen
Abb. 2 Aus- und Zuwanderung in der EU (27 Mitgliedstaaten)
© Rainer Münz nach Zahlen von Eurostat
Repressionen im jeweiligen Herkunftsland
entfliehen. Gerade in den ehemaligen Kolonialmächten entstanden dadurch neue ethPolitische Flüchtlinge und ethnisch privilegierte
nische Minderheiten, die heute vor allem das Bild der großen
städtischen Metropolen prägen.
Migranten
Andere Länder Westeuropas begannen zu jener Zeit, im MittelMit der Spaltung Europas und dem Kalten Krieg entstand eine
meerraum Arbeitsmigranten anzuwerben. Herkunftsländer dieneue Form der Ost-West-Wanderung. In beträchtlicher Zahl verser Arbeitskräfte waren vor allem Italien, Spanien, Portugal, Griesuchten Bürgerinnen und Bürger kommunistisch regierter Länchenland und die Türkei sowie Marokko und Tunesien, später
der in den Westen zu gelangen. Am größten war dieser Wandeauch Jugoslawien. Darüber hinaus spielte in Schweden die Zurungsstrom zwischen Ost- und Westdeutschland, bis die DDR
wanderung aus Finnland, in Großbritannien jene aus Irland, in
1961 mit dem Bau der Berliner Mauer die letzte Lücke im Eisernen
Deutschland und der Schweiz auch jene aus Österreich eine Rolle.
Vorhang schloss. In anderen Ländern Ostmitteleuropas kam es
Die Mehrzahl der Arbeitsmigranten jener Zeit kehrte in das jeweijeweils in Krisenjahren des kommunistischen Herrschaftssyslige Herkunftsland zurück. Ein kleinerer Teil blieb jedoch und
tems zu spontaner Massenauswanderung: 1956 aus Ungarn, 1968
wurde sesshaft. Sie und ihre Kinder bildeten den Kern neuer,
aus der Tschechoslowakei, 1980 aus Polen, 1989 aus der DDR. In
durch Arbeitskräftewanderung entstandener Minderheiten in EuWesteuropa wurden jene, die aus einem Land »hinter« dem Eiserropa. Auslöser war der Anwerbestopp 1973/74. Damit wollten die
nen Vorhang emigrierten, bis 1990 in der Regel als politische
reicheren Länder Westeuropas signalisieren: »Wir benötigen
Flüchtlinge anerkannt. Dass bei vielen auch wirtschaftliche MoEuch nicht mehr; kehrt bitte wieder heim.« Viele Betroffene vertive eine Rolle spielten, war damals kein Thema.
standen dieses Signal jedoch als gegenteilige Botschaft: Anders
Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Zuwandeals bis dahin solle man nun auch bei schlechter Arbeitmarktlage
rung von Asylbewerbern zu einem Problem. Denn ihre Zahl nahm
nicht ins Herkunftsland zurückkehren, weil eine spätere Wiedernach dem Ende der politischen Spaltung Europas nicht ab, sonkehr kaum noch möglich schien.
dern zu. Dies hatte mit dem Wegfall der Reisebeschränkungen,
Durch den Anwerbestopp verlagerte sich das Wanderungsgeaber auch mit wirtschaftlichen Transformationskrisen und dem
schehen von der Arbeitsmigration zum Familiennachzug. Jene,
Ausbruch gewaltsamer ethnischer Konflikte nach 1989 zu tun.
die sich zum Bleiben entschlossen, holten ihre Ehepartner und
Dies gilt insbesondere für Bosnien, den Kosovo und Tschetscheihre Kinder nach. Man hielt dies anfangs für einen Prozess, der
nien. Darüber hinaus stammte nach 1992 der Großteil der Asylbebald abgeschlossen sein würde. Doch davon kann keine Rede
werber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und der Türkei.
sein. Viele Zugewanderte gründen erst im Zielland eine Familie –
Die Länder Westeuropas reagierten auf diese Entwicklung mit der
allerdings häufig mit einer Partnerin oder einem Partner aus der
Wiedereinführung der Visumpflicht für etliche benachbarte Läneigenen Herkunftsregion, oft sogar aus der eigenen Verwandtder sowie mit einer Verschärfung ihrer Asylgesetze. Zudem entschaft. Gleiches gilt für in Westeuropa geborene Kinder von Zustand zwischen den EU-Mitgliedsstaaten eine enge Kooperation
wanderern. Auch von ihnen holen sich etliche die Partnerin oder
in Asyl- und Visumfragen.
den Partner aus dem Herkunftsland und der Herkunftsgruppe
Willkommener als Asylsuchende waren vor und nach 1989 Migder Eltern. Deshalb dauert die Familienwanderung bis heute an.
rantinnen und Migranten, die wegen ihrer ethnischen ZugehörigIn vielen Ländern Europas bildet sie inzwischen die wichtigste
keit das Recht auf Zuwanderung in einen der europäischen NatioForm legaler Zuwanderung aus Drittstaaten. Man könnte auch
nalstaaten hatten oder noch haben. Größte Gruppe waren
sagen: Mangels anderer legaler Optionen nutzen etliche die Mögethnische Deutsche, die nach 1945 in Polen, Rumänien und der
lichkeit der Heiratsmigration.
Sowjetunion verblieben waren. Sie und ihre zur jeweiligen ethniErst mit dem Familiennachzug und der Gründung neuer Familien
schen Mehrheit gehörenden Familienangehörigen fanden in groim Zielland stellte sich für viele Länder Europas das Problem der
ßer Zahl Aufnahme in Deutschland, wenngleich die BundesrepuIntegration von Zuwanderern. Spracherwerb und Vermittlung deblik seit den 1990er-Jahren versuchte, diesen Zuzug zu bremsen.
mokratischer Werte, Schulbesuch ausländischer Kinder und ErPrivilegierten Zugang gab es darüber hinaus in Griechenland für
werb der Staatsbürgerschaft. Mehrere EU-Staaten – darunter DäPontus-Griechen aus Ostmitteleuropa und dem Schwarzmeernemark, Deutschland, die Niederlande und Österreich – führten
raum, in Ungarn für ethnische Ungarn aus Siebenbürgen, der serinzwischen verpflichtende Sprach- und Integrationskurse für
bischen Vojvodina und der Westukraine, in Polen für ethnische
Neuzuwanderer aus Drittstaaten ein.
Polen aus Litauen, der Ukraine und Weißrussland, schließlich auf
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Migr ation aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen
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RAINER MÜNZ
dem Balkan für ethnische Serben in Serbien, ethnische Kroaten in
Kroatien sowie ethnische Türken und andere Moslems in der Türkei.
Irreguläre Zuwanderung
12
Seit den späten 1980er-Jahren gewann die irreguläre Zuwanderung quantitativ an Bedeutung. Wichtigste Herkunftsländer
waren zum einen Polen, Rumänien, Moldawien, die Ukraine und
Albanien, zum anderen Marokko sowie einige Staaten Westafrikas und Lateinamerikas. Auslöser dieser Zuwanderung waren
zum einen der Fall des Eisernen Vorhangs und die erleichterten
Reisemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger Ostmittel- und
Osteuropas. Zum anderen spielten die Entstehung irregulärer Arbeitsmärkte in Westeuropa sowie der ökonomische Aufschwung
in Südeuropa eine entscheidende Rolle.
Beschäftigung fanden und finden irreguläre Migrantinnen und
Migranten in erster Linie in der Landwirtschaft, im Baugewerbe,
als Haushaltshilfen und Pflegekräfte sowie im Gastgewerbe. Zu
den in diesen Bereichen gezahlten Stundenlöhnen stehen Einheimische in vielen Regionen nicht mehr zur Verfügung; oder es
mangelt generell an einheimischen Arbeitskräften. Mehrere Länder Europas – insbesondere Belgien, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien – reagierten auf diesen Zustrom an Arbeitskräften mit groß angelegten Regularisierungsprogrammen.
Insgesamt erhielten zwischen 1995 und 2009 im Rahmen dieser
Programme mehr als 3 Millionen irreguläre Zuwanderer eine
Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Zugleich bewirkte die EU-Osterweiterung der Jahre 2004 und 2007 eine Legalisierung des Aufenthalts hunderttausender Bürgerinnen und Bürger Ostmitteleuropas, die schon davor in einem der »alten« EU-Staaten
vorübergehenden Aufenthalt gefunden hatten. Fast alle »alten«
EU-Staaten öffneten inzwischen auch ihren Arbeitsmarkt. Nur in
Deutschland und Österreich haben Neu-Zuwanderer aus neuen
EU-Mitgliedsstaaten zwar ein Aufenthaltsrecht, aber keinen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt.
Migration von Eliten und von Menschen im
Ruhestand
Durch die Globalisierung von Ökonomie und Bildungssystemen
vergrößerte sich in den letzten Jahrzehnten auch die Zahl von Managern, Spezialisten, Forschern und Studierenden, die innerhalb
10.758
Deutschland
Vereinigtes
Königreich
15,0
14,1 %
14,1 %
Schweden
5.000
2000
15,6 %
Spanien
1.306
0
15,9 %
Lettland
1.310
Schweden
17,5 %
Österreich
1.411
Österreich
19,6 %
Kroatien
1.753
Türkei
23,2 %
Zypern
1.763
Niederlande
34,6 %
Irland
4.463
Schweiz
35,2 %
Schweiz
6.378
Italien
Heute leben in der Europäischen Union und in den direkt assoziierten Staaten mindestens 513 Millionen Menschen. Rund 49 Millionen von ihnen sind Migranten, haben also ihren Geburtsort in
einem Land außerhalb der EU. Diese Zahlen gibt uns allerdings
nur eine ungefähre Vorstellung der Größenordnung, denn in etlichen Ländern Europas gibt es irreguläre Zuwanderer, die in den
Statistiken nicht aufscheinen. Nicht erfasst sind ferner Wanderarbeiter und Saison-Arbeitskräfte, von denen sich jedes Jahr mehrere Millionen nur ein paar Monate in einem europäischen Zielland aufhalten. Ungeachtet solcher Unschärfen der amtlichen
Statistik ist klar: mehr Zuwanderer denn je zuvor leben heute in
West- und Mitteleuropa. Sowohl die Zuwanderung aus anderen
Teilen Europas und der Welt als auch die Mobilität zwischen den
EU-Staaten erlebte in den letzten zehn Jahren ein bis dahin nicht
gekanntes Ausmaß. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts betrug der
Netto-Wanderungsgewinn West- und Mitteleuropas jährlich zwischen 1,5 und 2,0 Millionen Personen.
Wichtigstes Zielland in Europa ist Russland. Mehr als 12 Millionen
internationale Migranten haben dort ihren Wohnsitz oder Arbeitsplatz. Die meisten von ihnen stammen aus anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. In West- und Mitteleuropa ist Deutschland mit ca. 10,8 Mio. Zuwanderern das bei
Liechtenstein
6.452
Spanien
Zuwanderer in Europa
Luxemburg
6.685
Frankreich
Europas in ein anderes Land wechselten oder ins außereuropäische Ausland gingen. Hauptziel von Forschern und Studierenden
war und ist die USA. Gleichzeitig wächst die Zahl ausländischer
Studierender an europäischen Hochschulen. Immer größer wird
die Zahl europäischer Firmen, die in mehr als einem Land tätig
sind; und damit auch die Zahl jener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die innerhalb derselben Firma, aber im Laufe ihrer Karriere in unterschiedlichen Ländern tätig sind.
Von wachsender Bedeutung ist schließlich die Migration von Personen ab 50 Jahren, die ihren Lebensabend in einem anderen
Land zubringen wollen. Hauptziel waren und sind bisher die Küstenregionen des westlichen Mittelmeers und der iberischen Halbinsel. Hier siedeln sich vor allem Briten, Deutsche und Skandinavier im Ruhestand an. Wesentlich kleiner war bisher der Zuzug
von Ruheständlern nach Griechenland und an die türkische Südküste. Parallel dazu gibt es eine Rückkehr ehemaliger Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer. Dies betrifft Personen im Ruhestand, in wachsender Zahl aber auch Personen, die in ihrem
Herkunftsland bzw. in dem ihrer Eltern beruflich tätig werden.
10.000
2005
15.000
2010
Abb. 3 Top 10 – Zielländer in Europa (Eingewanderte in absoluten Zahlen;
in 1000, 2000–2010)
© Rainer Münz
0,0 %
10,0 %
2000
30,0 %
2005
40,0 %
2010
Abb. 4 Top 10 – Zielländer in Europa (Eingewanderte als Anteil der Gesamtbevölkerung; in %, 2000–2010)
© Rainer Münz
Migr ation aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen
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20,0 %
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weitem wichtigste Zielland. Weltweit
ist dies (nach den USA und Russland)
die drittgrößte zugewanderte Bevölkerung. Größte Zuwanderergruppe
sind ethnisch deutsche Aussiedler
aus Kasachstan, Polen, Rumänien
und Russland. Innerhalb der EU folgen auf den weiteren Rängen: Frankreich (6,7 Mio.), Großbritannien
(6,5 Mio.), Spanien (6,4 Mio.) und Italien (4,5 Mio.). Auch in der Schweiz
(1,8 Mio.), den Niederlanden
(1,8 Mio.), Österreich (1,3 Mio.) und
Schweden (1,3 Mio.) ist eine beträchtliche Zahl der Einwohner im Ausland
geboren.
Im europäischen Durchschnitt beträgt der Anteil der Zuwanderer etwa
9,5 %. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil der Zuwanderer in Kleinstaaten wie Luxemburg
und Liechtenstein mit ca. 35 % am
größten. Unter den Flächenstaaten
Europas hat die Schweiz mit rund
23 % den größten Zuwandereranteil.
Abb. 5 Nettomigration in Europa
© Rainer Münz
Danach folgen Irland (19,6 %) und Zypern (17,5 %), wobei dort nur die zugewanderte Bevölkerung im griechischsprachigen Süd-Teil der Insel statistisch erfasst ist. Deutlich
Identität, des kulturellen Selbstverständnisses und der zivilgeüber dem europäischen Durchschnitt liegen auch Österreich
sellschaftlichen Zugehörigkeit.
(15,6 %), Lettland (15,0 %), Spanien (14,1 %), und Schweden
Durch Zuwanderung entsteht eine Diskrepanz zwischen Wohnbe(14,0 %).
völkerung und Stimmberechtigten. Dies ist problematisch, weil
sich die Legitimität demokratischer Systeme aus der Repräsentation der von ihr dauerhaft Betroffenen begründet.
Ausblick und Konsequenzen für die politische
Mehr als die Hälfte aller Zugewanderten besitzt nur die StaatsIntegration
bürgerschaft ihres Herkunftslandes. In einem Teil der Fälle ist
dies ein Hinweis auf mangelnde Integration und wenig einlaDie demographische Entwicklung der letzten Jahre macht Foldende Einbürgerungsbestimmungen der jeweiligen Länder. Vielgendes klar:
fach handelt es sich aber um Bürgerinnen und Bürger anderer EU• In Europa wächst die Zahl der Staaten, in denen mehr MenStaaten, die an einem Wechsel der Staatsbürgerschaft gar kein
schen sterben als Kinder zur Welt kommen. Dadurch
Interesse haben. Ungeachtet der individuellen Motive und Hinschrumpft zumindest die einheimische Bevölkerung. 2008
tergründe verweist die Statistik auf die Tatsache, dass eine hohe
gab es in acht der 27 EU-Staaten – darunter in Deutschland
Zahl ausländischer Migrantinnen und Migranten bzw. nicht einund Italien – weniger Geburten als Sterbefälle. Ob die Einwohgebürgerter Kinder von Zuwanderern zwar den Gesetzen des
nerzahl dieser Länder zukünftig insgesamt schrumpft, hängt
Landes unterworfen sind, in dem sie leben, als fremde Staatsansomit sehr wesentlich vom Ausmaß der Zuwanderung und von
gehörige jedoch am Prozess der politischen Willensbildung und
der Kinderzahl der Zugewanderten ab.
der Gesetzgebung nicht beteiligt sein können. Dies führt dazu,
• In den kommenden Jahrzehnten wird sich diese Entwicklung
dass in der EU – je nach Land – zwischen 3 und 20 Prozent der
verstärken. Niedrige Geburtenzahlen werden die Zahl der
Bevölkerung von politischer Partizipation weitgehend ausgeKinder und Jugendlichen in Europa weiter verringern. Dies
schlossen sind. Auf kommunaler Ebene ist der Anteil der nichtführt in den kommenden Jahren zu einer schrumpfenden Zahl
stimmberechtigten erwachsenen Bevölkerung oft noch deutlich
von jungen Erwachsenen, die mit frischem Wissen aus Eurohöher. Umgekehrt räumen jedoch viele Staaten ihrer emigrierten
pas Bildungssystemen auf den Arbeitsmarkt übertreten.
Diaspora das Recht auf Beteiligung an Wahlen ein, selbst wenn
Ohne Zuwanderung würde das Erwerbspotenzial – also Erdiese Wählerinnen und Wähler, solange sie im Ausland leben, von
werbstätige und Arbeitslose – in der EU-27 von derzeit 238
den Folgen der Gesetzgebung des Herkunftslandes nur marginal
Millionen bis 2050 auf nur 170 Millionen Personen schrumpbetroffen sind.
fen: ein Rückgang von immerhin 68 Millionen.
• Fast alle Länder West- und Mitteleuropas haben inzwischen
mehr Zuwanderung als Abwanderung. Dadurch wachsen Zahl
und Anteil der zugewanderten Bevölkerung. Beide Entwicklungen zusammen führen dazu, dass die Bevölkerung in vielen
Ländern Europas nicht bloß durch die demographische Alterung »ergraut«, sondern zugleich durch Zuwanderung ethnisch, kulturell und religiös »bunter« wird.
Durch Zuwanderung stellen sich Fragen der Zugehörigkeit neu.
Es geht aus dieser Perspektive wachsender Heterogenität einerseits um Staatsbürgerschaft im engeren Sinne, also staatsrechtliche Zugehörigkeit und politische Rechte. Zum anderen geht es
aber um Fragen zukünftiger gemeinsamer (oder getrennter)
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RAINER MÜNZ
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MATERIALIEN
M 1 Ole Wintermann: Die demografische Herausforderung
im internationalen Vergleich.
Die europäischen Nachbarn
sind uns bei der Bewältigung
der Schrumpfung voraus.
Heute bevölkern 6,5 Milliarden Menschen die Erde. Bis zum Jahr 2050
wird sich ihre Zahl auf ca. 9,1 Milliarden erhöht haben – wobei Abweichungen von bis zu zwei Milliarden
nach oben wie nach unten möglich
sind. Während die Menschheit für die
erste Milliarde noch 500.000 Jahre
benötigt hat, wächst die Weltbevölkerung gegenwärtig etwa alle
15 Jahre um diese Zahl. Zwar hat sich
die globale Wachstumsrate seit Ende
der 60er-Jahre nahezu halbiert – da
sich jedoch die Grundgesamtheit der
Menschen im gebärfähigen Alter erM 2 Bilanz der Geburten- und Sterberaten in Europa
© Rainer Münz
heblich erhöht hat, verläuft das absolute Wachstum momentan noch
immer ungebremst. Die Steigerung
der Lebenserwartung im globalen
Durchschnitt um über 100 Prozent allein im 19. Jahrhundert hat
die deutsche Situation neben der in Italien und Portugal als beebenfalls zum Anstieg der Weltbevölkerung beigetragen. Mindessonders negativ dar. Nach einer eher unsteten Entwicklung in der
tens eine Verdreifachung der Bevölkerungszahlen wird es bis
Nachkriegszeit begannen die Fertilitätsraten in der Europäischen
2050 in Afghanistan, Burkina Faso, Burundi, im Tschad, Kongo,
Union Ende der 1960er-Jahre in einzelnen Ländern deutlich und
Osttimor, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Niger sowie Uganda
nachhaltig zu sinken. Bis in die Gegenwart hinein ist hier eine regeben. Über die Hälfte des weltweiten Zuwachses – in absoluten
gionale »Clusterung« zu erkennen. In Mittel- und Westeuropa
Zahlen – entfallen allein auf Indien, Pakistan, Nigeria, Kongo,
setzte der Geburtenrückgang zuerst ein. In Südeuropa sanken die
Bangladesch, Uganda, die USA, Äthiopien und China.
Geburtenraten – etwas moderater – ab Ende der 1960er-Jahre
Betrachtet man die Entwicklung getrennt nach Weltregionen,
ebenfalls, um schließlich Ende der 1990er-Jahre unter das Niveau
wird dann Asien sowohl den höchsten Zuwachs in absoluten BeWest- und Mitteleuropas zu fallen. In Nordeuropa sowie Großbrivölkerungszahlen als auch relativ den bei weitem größten Anteil
tannien sanken die Raten Anfang der 1970er-Jahre zwar auch ab,
an der Weltbevölkerung stellen. Das Verhältnis der Bevölkerungserreichten aber nie das geringe Niveau der anderen europäischen
zahlen zwischen den entwickelten und den nicht-entwickelten
Regionen. Osteuropa hatte bis in die 1990er-Jahre hinein vergliRegionen (nicht-OECD-Länder) wird sich von eins zu zwei im Jahr
chen mit Mittel- und Nordeuropa deutlich erhöhte Fertilitätsra1950 auf eins zu sechs im Jahr 2050 erhöhen. Entwickelte und weten. Nach dem ökonomischen Zusammenbruch Osteuropas jeniger entwickelte Regionen werden dann vor ganz unterschiedlidoch sanken die Raten bis auf ein bis heute im globalen Kontext
chen Herausforderungen stehen. Während die weniger entwieinmalig niedriges Niveau. Auf internationaler Ebene wird dem
ckelten Länder aufgrund des Bevölkerungszuwachses mit
demografischen Wandel mit unterschiedlichen Politikansätzen
Umwelt- und Ressourcenproblemen in überlasteten städtischen
begegnet. Zu unterscheiden sind hierbei gesamtstrategische, inRegionen und der Verlangsamung des Pro-Kopf-Wachstums zu
stitutionelle und politikfeldspezifische Ansätze.
kämpfen haben werden, werden die entwickelten Länder durch
Kanada, Korea, Australien und Schweden versuchen die Folgen
eine Verlangsamung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, exdes demografischen Wandels für die Gesellschaft im Kontext
pansive Kostendynamiken im Gesundheitswesen, Pflegesystem
einer umfassenden politischen Strategie zu bewältigen. Kennund Rentensystem sowie politische und wirtschaftliche Innovatizeichnend hierfür ist die Existenz eines politischen Leitbildes zur
onsdefizite geprägt sein – denn hier wird die Bevölkerung aufBewältigung der Folgen des demografischen Wandels als Komgrund der durchgängig zu geringen Geburtenraten schrumpfen.
pass der politischen Entscheidungsfindung. Gerade bei der BeFür die Europäische Union insgesamt wird im Zeitraum zwischen
wältigung des demografischen Wandels erhöht sich die Erfolgs2005 und 2050 mit einem Rückgang der Bevölkerung um 2,1 Prowahrscheinlichkeit, wenn ausgehend von der politischen Ebene
zent gerechnet. Dabei wird Nordeuropa nach wie vor Bevölkelangfristige Ziele signalisiert werden. Des Weiteren trägt zum Errungszuwächse erzielen, während Osteuropa Verlierer der Bevölfolg bei, wenn Demografie als Querschnittsaufgabe verstanden
kerungsentwicklung sein wird. Besonders stark sinken die
wird und dieses Verständnis durch die enge personelle Anbinabsoluten Umfänge der Alterskohorten der bis zu 39-Jährigen
dung an die Regierungsspitze unterstützt wird. Finnland, Israel
(bis -25,8 Prozent), wohingegen am anderen Ende der Altersskala
und Ungarn haben institutionelle Vorkehrungen in den Gesetzgedie absolute Zahl der über 80-Jährigen im gleichen Zeitraum um
bungsprozess eingebaut, um einerseits wichtige Entscheidungen
über 180 Prozent steigen wird. Deutschland ist mit der Entwickauf ihre demografischen Schnittstellen hin zu durchleuchten und
lung der Fertilitätsrate (der durchschnittlichen Zahl von Kindern
andererseits die Interessen der noch nicht geborenen Generation
pro Frau) in einem Korridor von 1,3 bis 1,4 im europäischen Konin diesen Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen. Israel
text keine Ausnahme, sondern der demografische Normalfall. Alund Finnland bauen zu diesem Zweck auf Zukunftskommissiolenfalls in der Dramatik des Alterungsprozesses – der Entwicknen, Ungarn hat einen Ombudsmann für zukünftige Generatiolung des Verhältnisses von alten zu jungen Menschen – stellt sich
nen installiert. Als politikfeldspezifische Reformen, die allerdings
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nicht zwangsläufig originär demografischen Strategien zugeordnet
werden müssen, sind die Rentenreformen in Spanien und Finnland zu
nennen. Insbesondere der finnische
Ansatz ist durch ein hohes Maß an
politisch-inhaltlicher Innovation im
Sinne der Flexibilisierung des Renteneintrittsalters
gekennzeichnet
und darüber hinaus durch genaue
Zieldefinition, überdurchschnittliche
Abschläge bei früher Verrentung
sowie Aufschläge bei Weiterarbeit
zur Wahrung der Erwerbsquote älterer Personen.
Der internationale Vergleich und die
Betrachtung der Politiken der Bundesländer offenbart Handlungsoptionen für die deutsche Politik auf zwei
Ebenen. Erstens können inhaltliche
Reformvorschläge identifiziert werden. Aufgrund der Komplexität der
Herausforderung wird allerdings
auch immer deutlicher, dass eine Anpassung der politischen Steuerung
M 3 Altersstruktur der EU 2008 und 2060 im Vergleich
© Rainer Münz
von Bund, Ländern und Kommunen
vonnöten ist. Inhaltliche Handlungsansätze wurden durch die Enquetekommission des Deutschen Bundestages im großen Umfang erarbeitet. Zurzeit findet eine
eher zurückhaltend angegangen, da diese etablierte UmverteiÜbertragung dieser Ansätze auf die Landespolitik statt. Hierzu
lungsmechanismen innerhalb dieser Systeme in Frage stellen
haben einige Länder ebenfalls Kommissionen oder interministewürden. Bisher förderten die Systeme – jeweils bezogen auf sonst
rielle Arbeitsgruppen eingerichtet. Diese neu eingesetzten Komgleiche Bedingungen und in der generationsübergreifenden Bemissionen konzentrieren sich auf die Evaluierung der Wirksamtrachtung sowie nur die finanziellen Transfers betrachtend – die
keit der bisherigen Familienpolitik, den Ausbau der frühkindlichen
Umverteilung von den Männern zu den Frauen, von den Jungen zu
Bildung, die Förderung des lebenslangen Lernens, Reformen in
den Alten, von der Mittelschicht zu den sozial Benachteiligten
den sozialen Sicherungssystemen, den geordneten Rückbau der
und von den Eltern zu den Kinderlosen. Der demografische WanInfrastruktur in dünnbesiedelten Regionen und die Neuausrichdel verstärkt diese Tendenzen und führt die bisherige Logik der
tung der Regional- und Strukturpolitik. Zweitens sollte perspektiSysteme bis zu einem Punkt, an dem über diese Transferströme
visch eine Reform des Systems der politischen Steuerung erfolneu nachgedacht werden muss.
gen. Als erster Schritt sollten auf höchster politischer Ebene die
Auf der Steuerungsebene waren es die Merkmale der internatioRealitäten vorbehaltlos und parteiübergreifend anerkannt wernalen Vergleichsländer, die eine politische Verarbeitung des deden (…).
mografischen Konfliktes ansatzweise möglich gemacht haben,
Als zweiter Schritt muss ein gemeinsames Verständnis über die
die aber zugleich im deutschen System der politischen Steuerung
lebenswerte Zukunft entwickelt werden, ein Leitbild, das die geauf große Vorbehalte treffen. Die Existenz eines politischen Leitsellschaftlichen gemeinsamen Werte und Ziele, die durch die Rebildes, ein daraus abgeleiteter Zielkatalog und die zentrale Steuformen gesichert oder aber erreicht werden sollen, nennt. Um
erung des Prozesses bei der Umsetzung der erarbeiteten Maßschließlich die Umsetzung der Vorschläge zu erleichtern, sollte
nahmen und das damit verbundene Durchgriffsrecht auf
der Steuerungsprozess als zentraler Top-Down-Prozess ausgenachgeordnete politische Verwaltungsebenen sind eigentlich
staltet werden. Die interne politische Steuerung und die externe
Determinanten des Erfolgs bei der Bewältigung einer solch imKommunikation müssen über wenige, aber bildliche Botschaften
mensen gesellschaftspolitischen Herausforderung. Solange jeerfolgen. Externe Institutionen, die bei Politik und Bürgern ein
doch in Deutschland keine Vorstellung über die Zukunft des Lanhohes Ansehen genießen, können unterstützend auf den Prozess
des besteht, bzw. sich diese von Bundesland zu Bundesland
einwirken.
unterscheidet und die Konzentration auf ordnungspolitische
(…) Während relativ zentralistisch verfassten Staaten wie SchweRahmendiskussionen stattfindet, kann die demografische Herden Bildung bereits als gesamtgesellschaftliche Existenzfrage
ausforderung nicht ausreichend angenommen werden.
begriffen haben, wird die deutsche Bildungsdiskussion in Form
Wintermann, Ole (2006): Die demografische Herausforderung im internationalen Vereiner nach innen gerichteten Föderalismusdebatte geführt. Der
gleich, www.bpb.de/themen/CCEDOO.html
Blick auf globale Bildungsherausforderungen geht dabei leicht
verloren.
Die Familienpolitik war bis vor kurzem davon betroffen, dass sie
Gegenstand ideologiebelasteter Diskussionen gewesen ist. Auf
der einen Seite stand das Bemühen, Familienpolitik in negativer
Weise als versteckte Bevölkerungspolitik und Förderung tradierter Rollenbilder darzustellen. Auf der anderen Seite wurde alternativen Lebensformen jegliches Recht auf eine familiäre Dimension abgesprochen. (…)
Die Reformen der Sozialversicherungen als Maßnahme, um die
Folgen des demografischen Wandels abzufedern, wurden bisher
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M 4 »Die Regeln zur Zuwanderung in
Deutschland«
(…) Die deutsche Bevölkerung wird künftig
nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes stetig schrumpfen. Bis 2020 dürfte
die Zahl der Bürger von 82 auf rund 80 Millionen sinken, bis 2030 wird ein Rückgang auf
gut 77 bis 79 Millionen und bis 2060 auf 64
Millionen bis 70 Millionen prognostiziert.
Die Zahl der Erwerbsfähigen wird nach Vorhersagen der »Bundesagentur für Arbeit« in
den kommenden 15 Jahren aus demografischen Gründen um rund sieben Millionen
schrumpfen, was nur zum Teil durch eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren ausgeglichen werden dürfte. Bis 2025
werde das Potenzial der Erwerbsfähigen
daher um 3,6 Millionen auf 41,1 Millionen
Menschen zurückgehen.
Die Zahl der Ausländer liegt bei gut sieben
Millionen und war zuletzt minimal rückläuM 5 »Die Regierung ist für die Stärkung der Familie«
© Klaus Stuttmann, 2010
fig. Seit 1955 warb Deutschland systematisch
Gastarbeiter an, 1973 gab es einen Anwerbestopp. Nach Jahrzehnten der Bevölkerungszunahme durch Zuwanderung kippte 2008
M 6 Rainer Münz: Geregelte Zuwanderung:
der Trend. Unterm Strich wanderten knapp 56.000 Menschen
Eine Zukunftsfrage für Deutschland
mehr aus als ein, was aber von Änderungen in der Statistik überzeichnet wurde. Im vorigen Jahr lag der Saldo bei minus 13.000.
Wollte Deutschland sicherstellen, dass die potenziell erwerbsfä(…) Laut der Bertelsmann-Stiftung wird besonders der Bedarf an
hige Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 65 Jahren gleich groß
Akademikern steigen. Bis 2020 werden zusätzlich rund 800.000
bleibt, dann würde dies in den kommenden Jahrzehnten eine
Universitäts- und 1,1 Millionen Fachhochschulabsolventen benöNetto-Zuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr erfordern.
tigt. Beste Aussichten haben Wirtschafts- und SozialwissenDerzeit wandern jedes Jahr rund 800.000 Personen aus dem Ausschaftler, Naturwissenschaftler und Ingenieure. Die Zahl der Volland zu. Etwa 700.000 verlassen das Land. Damit unterm Strich
lerwerbsarbeitsplätze in Deutschland wird danach bis 2020 um
ein Wanderungsgewinn von 400.000 Personen bleibt, müsste die
1,7 Millionen steigen. (…)
Zahl der Zuwanderer somit auf 1,1 bis 1,2 Millionen steigen.
2008 beschloss die Bundesregierung ein Aktionsprogramm, um
Auf eine solch massive Zuwanderung ist Deutschland schlecht
die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu erleichtern. Davorbereitet. Denn die Mehrzahl der Einheimischen versteht sich
mals wurde der Arbeitsmarkt für Akademiker aus den neuen EUweiterhin nicht als Teil einer Einwanderungsgesellschaft. Viel
Staaten uneingeschränkt geöffnet. Für Billig-Arbeiter soll der Areher dominiert das Bild der Abstammungsnation. Der Hinweis auf
beitsmarkt dagegen bis Mai 2011 abgeschottet bleiben; erst dann
die Realität vergangener und derzeitiger Wanderungsströme vergilt die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus EU-Ländern. Das
mag daran wenig zu ändern. Deutschland beherbergt – gemesMindesteinkommen, das hoch qualifizierte Fachkräfte vorweisen
sen an seiner Gesamtbevölkerung – mehr im Ausland geborene
müssen, um beruflich in Deutschland Fuß zu fassen, wurde von
und später zugewanderte Personen als die USA. Aber wir verfü86.400 Euro auf rund 65.000 Euro gesenkt. (…)
gen kaum über Institutionen, die die Integration von NeuzuwanDas arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW)
derern als Routineaufgabe verstehen. Hoch entwickelt sind dagekritisiert, dass das Zuwanderungsgesetz zu stark auf eine Verhingen bis heute rechtliche, administrative und gesellschaftliche
derung von Zuwanderung hinauslaufe. Zudem sei der Nachzug
Hürden, mit denen Zuwanderer konfrontiert sind. Und die ihnen
der Familien von Bewerbern schwierig. »Die Hochqualifizierten
signalisieren: Ihr seid hier nicht wirklich willkommen! Hinzu
stehen nicht Schlange, Deutschland befindet sich hier im Wettkommt, dass ein kleiner Teil der einheimischen Bevölkerung offen
bewerb«, mahnt IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer. Auch
rassistisch ist. Die große Mehrheit hegt für diesen Rassismus
der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
weder offene noch klammheimliche Sympathien. Dennoch ist
(DIW), Klaus Zimmermann, bezeichnete das Gesetz als nicht
klar: Fremdenfeindlichkeit und Übergriffe gegen Minderheiten
transparent. Es sei »nur eine Hülle ohne Inhalt« und regele weder
vermögen gerade jene Migranten abzuschrecken, die wir zukünfdie kurzfristige, noch die langfristige Zuwanderung. (…)
tig dringend benötigen werden.
Die Gewerkschaften lehnen mehr Zuwanderung ab und verweiWenn wir in Zukunft mehr Einwanderer wollen, die auch Neu-Bürsen auf genügend Potenzial bei deutschen Arbeitnehmern. (…)
ger werden sollen, brauchen wir zuvor eine breite politische DisVerdi mahnt die Wirtschaft, mehr auszubilden, um den Fachkräfkussion, die den Nutzen von Zuwanderung plausibel macht und
temangel zu bremsen. DGB-Bildungsexperte Thomas Giessler
die Probleme nicht verschweigt. Anschließend bedarf es einer akfordert bessere Aus- und Weiterbildung: »Dann können die
tiven Verständigung darüber, wer hier einwandern soll. SchließPotenziale ausgeschöpft werden.« Rund 1,5 Millionen junge Menlich geht es um einen geeigneten Regelungsmechanismus. Dazu
schen zwischen 20 und 29 Jahren seien ohne Ausbildung – 17 Probenötigt Deutschland früher oder später ein Einwanderungsgezent der Altersgruppe. Das IW Köln sieht eine stärkere Zuwandesetz. Und Deutschland benötigt eine geregelte Form der Abstimrung von gering qualifizierten skeptisch. Zunächst sollte der
mung zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen ArbeitgeStresstest 2011 für den Arbeitsmarkt abgewartet werden, wenn
bern und Gewerkschaften über jene jährlich anzupassenden
die volle Freizügigkeit europäischer Arbeitnehmer für DeutschDetails, die ein Einwanderungsgesetz nicht vorab festlegen kann.
land gilt.
Zu diesen Details gehören die gerade benötigten Qualifikatio© Die Regeln zur Zuwanderung in Deutschland, Weltonline, 02.08.10 www.welt.de/
wirtschaft/article8780569/Die-Regeln-zur-Zuwanderung-in-Deutschland.html
Migr ation aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen
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nen, die Obergrenzen und die Anpassung der
Auswahl- und Zulassungskriterien.
Derzeit regelt ein halbes Dutzend Gesetze
die unterschiedlichen Wanderungsströme.
Die administrativen Zuständigkeiten sind
zersplittert. Und die Behörden entscheiden
meist im Einzelfall über den Zuzug aus dem
Ausland. Ob im Jahr nur einige Zehntausend
Menschen ins Land kommen oder über eine
Million, hat auf solche Einzelentscheidungen
derzeit wenig Einfluss. Zukünftig sollte
Deutschland hingegen für bestimmte Kategorien von Zuwanderern im voraus festlegen,
wie viele Personen binnen eines Jahres einwandern sollen. Damit wird das Einwanderungsgesetz zugleich ein Gesetz zur Begrenzung von Einwanderung sein.
Viel wesentlicher als die Festlegung von
Obergrenzen ist freilich die Festlegung von
Kriterien und die Vorgabe von Kategorien.
Denn Deutschland wird im 21. Jahrhundert
Zuwanderer benötigen, die sich rasch und
M 7 »Kein Bleiberecht für Ausländer?«
© Gerhard Mester, 2010
erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren
oder die sich hier selbstständig machen und
neue Arbeitsplätze schaffen. Voraussetzungen dafür sind Qualifikation, Leistung,
Sprachkenntnisse und die Bereitschaft, bestimmte Grundwerte
bleiben. Sinnvoll ist auch eine Abstimmung dieses Gesetzes mit
der aufnehmenden Gesellschaft zu respektieren. Humanitäre
bestehenden Regelungen auf europäischer Ebene. (…)
Überlegungen stehen somit nicht im Vordergrund, sondern der
Gleichzeitig müssen wir lernen, mit einer wachsenden und keierwartete Nutzen für Deutschland. Quoten und Auswahlverfahneswegs konfliktfreien Vielfalt der Herkünfte, Religionen und
ren bedeuten daher auch eine gewisse Ungerechtigkeit. Auf jede
Traditionen umzugehen. Falls uns dieser Lernprozess misslingt,
Person, die wir einwandern lassen, kommen etliche andere, die
dürften wir es in Zukunft schwerer haben. Denn nicht nur in
vorläufig draußen bleiben müssen. In der Praxis bedeutet dies
Deutschland, sondern in fast allen Staaten Europas wird die eineine Warteliste und die Ablehnung bestimmter Bewerber. Und es
heimische Bevölkerung im 21. Jahrhundert rasch altern und
bedeutet wohl auch, dass wir Personen bevorzugen werden, die
schrumpfen. Deshalb wird es zwischen den Staaten Europas
sich in ihrem Heimatland auf das Leben in Deutschland vorbereischon bald zur Konkurrenz um attraktive Zuwanderer kommen.
ten: etwa indem sie Deutsch lernen.
Zugleich werden die USA und Kanada beliebte Zielländer bleiben.
Im Gegensatz zur geregelten Einwanderung lässt sich die AufDies vergrößert die Konkurrenz um attraktive Zuwanderer.
nahme von Asylbewerbern weder quotieren noch durch WartelisFür viele Migranten von morgen sind dies gute Aussichten: Ähnten lösen. Allerdings könnte es sein, dass es durch ein Einwandelich wie die zuletzt heftig umworbenen Software-Experten werrungsgesetz etwas weniger Asylanträge gibt, sobald sich für
den sich vor allem Jüngere und gut Qualifizierte zukünftig das
manche die Chance auf reguläre Zuwanderung bietet. Schließlich
Land aussuchen können, in das sie einwandern wollen. Die Migsollte die Bundesregierung über die bestehende EU-Flüchtlingsranten werden sich vor allem dort niederlassen, wo sie gute Berichtlinie hinaus auf einen Ausgleichsmechanismus dringen. Ländingungen vorfinden. Und wo sie tatsächlich willkommen sind.
der, die mehr Flüchtlinge und Asylbewerber aufnehmen, haben
Deutschland und die Deutschen müssen sich also noch einiges
Anspruch auf finanzielle Abgeltung oder auf Unterbringung von
einfallen lassen. Ein Einwanderungsgesetz, das klare Verhältnisse
Flüchtlingen in weniger betroffenen Mitgliedstaaten.
schafft und Zuwanderern ein faires Angebot macht, wäre ein ersDie Zuwanderer von morgen dürfen erwarten, dass wir ihnen
ter Schritt. Nur dann haben wir auf Dauer eine Chance, jene Zuklare Zukunftsperspektiven bieten. Das ist in ihrem, aber auch in
wanderer zu bekommen, die wir schon bald benötigen werden.
unserem Interesse. Denn eine alternde und schrumpfende Ge© Münz, Rainer (2001): Geregelte Zuwanderung: eine Zukunftsfrage für Deutschland,
sellschaft benötigt nicht in erster Linie neue Gastarbeiter auf
www.bpb.de/publikationen/C91OF3.html
Zeit, sondern tatsächlich Einwanderer. Und die sollten rascher
gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft werden als die
Arbeitsmigranten der Sechzigerjahre. Wenn wir ihnen ein faires
Angebot machen, dürfen wir von Zuwanderern künftig auch größere Integrationsanstrengungen erwarten. All dies setzt individuelle Lernprozesse bei den Einwanderungswilligen, aber auch
kollektive Lernprozesse im Zielland, also bei uns selbst voraus.
Deshalb muss eine breite Diskussion um Einwanderung und Eingliederung jetzt beginnen. Und nicht erst, wenn der massive
Mangel an Arbeitskräften bereits eingetreten ist. Denn dann
muss die Rekrutierung schon laufen. Bis es so weit ist, müssen wir
lernen, permanente Zuwanderung zu organisieren. Und zwar in
einer Form, die eine politisch tragfähige Mehrheit der Wahlberechtigten akzeptieren kann.
Wichtigste Anforderungen an ein Einwanderungsgesetz sind
daher Konsens, Transparenz und Handhabbarkeit in der Praxis.
Sonst wird die nachhaltige Unterstützung für dieses Projekt aus-
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Migr ation aus und nach Europa – Ausblick und Konsequenzen
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I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
3. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von
Migration und ihre mediale Wahrnehmung
DIRK WENTZEL
I
18
m Sommer 2010 begeisterte die deutsche Fußballnationalmannschaft bei der WM in Südafrika. Die »deutschen Helden«, denen landesweit zugejubelt wurde, hießen
unter anderem Podolski, Klose, Cacau, Khedira, Tasci, Boateng und Özil. Die ethnischen Hintergründe dieser Spieler, die
größtenteils durch die Nachwuchsförderung des DFB entdeckt wurden, sind dabei höchst unterschiedlich: Polen, Brasilien, Tunesien, Ghana und die Türkei sind die Herkunftsländer, Deutschland das Land ihrer Sozialisation. Wenn die
Situation dieser Fußballprofis symbolisch für die Migration in
Deutschland allgemein stünde, so könnte tatsächlich von
einer großen Erfolgsgeschichte gesprochen werden. Der Migrationsbericht der Bundesregierung 2010 zeigt jedoch ein
deutlich kritischeres Bild. So verweist die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, darauf, dass in
der Gruppe der Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit Migrationshintergrund fast jeder Dritte keinen Berufsabschluss hat, bei
jungen türkischen Frauen sind es mehr als die Hälfte. In der
Stadt Frankfurt haben heute 72 % aller Kinder unter drei Lebensjahren einen Migrationshintergrund. Die Zahlen an sich
sind allein noch nicht aussagekräftig und bedürfen der Interpretation in einem sozialen und wirtschaftlichen Kontext:
Gleichwohl scheint die Aussage angemessen, dass sich hier
zunehmend – wie in anderen deutschen und europäischen
Großstädten auch – ein Problem entwickeln könnte, das dringende Aufmerksamkeit erfordert.
Migration: Alte Frage, neue Fragestellungen und
mediale Wahrnehmung
Die mediale Berichterstattung im Sommer 2010 über die »Fußballer mit Migrationshintergrund« war euphorisch und sehr positiv,
von den Qualitätsmedien über die Öffentlich-Rechtlichen bis hin
zum Privatfernsehen und zum Boulevard. Die FAZ widmete eine
ganze Sonderseite den »neuen Deutschen«, die öffentlich-rechtlichen Medien vermeldeten, dass die türkischen Fans nach dem Tor
von Özil gegen Ghana reihenweise ins deutsche Lager überliefen.
Aber grundsätzlich ist kritisch zu vermerken, dass die mediale Berichterstattung über Migration zumeist nicht sonderlich differenziert ausfällt und oft eher negative Klischees bedient (vgl. Butterwegge 2006). Migration ist ein hochkomplexes Phänomen, das in
einer zur Vereinfachung neigenden Medienlandschaft ohnehin zu
Schwierigkeiten in der Berichterstattung führt. Die Tendenz zur
öffentlichkeitswirksamen Darstellung von Einzelschicksalen entspricht den üblichen Gegebenheiten der Medienmärkte (siehe
Tietzel und Wentzel, 2005), in denen sich grundsätzlich nur neue
Nachrichten verkaufen lassen – und zumeist negative besser als
positive. Die gelungene Integration vieler Türken in Berlin und
Stuttgart und der Polen im Ruhrgebiet sind keine wirklich publikationsfähigen Meldungen. Der »Fall Mehmet« hingegen – ein
jugendlicher ausländischer Serienverbrecher – beschäftigte die
Öffentlichkeit über Monate und prägte das Bild türkischer Mitbürger in Deutschland nachhaltig negativ.
Neben der Tendenz zur Betonung von Einzelschicksalen in der Berichterstattung besteht zudem eine Tendenz zur undifferenzierten Vereinfachung von Sachverhalten. So werden die Begriffe »Migration«, »Flucht«, »Vertreibung«, »Wohlstandswanderungen«
u. v. m. oftmals synonym verwendet, was wissenschaftlich falsch
ist und politisch zu gefährlichen Fehlinterpretationen führen
kann. Außerdem werden häufig Nebenaspekte der Migration in
den Vordergrund der Berichterstattung gestellt, während die
zahlreichen Fälle gelungener Migration – beispielsweise im Einwanderungsland Baden-Württemberg – kaum eine sachgerechte
Würdigung in den Medien finden. Die Auseinandersetzung mit
dem Thema Migration erfordert jedoch in jedem Fall eine stärkere Unterscheidung der Erscheinungsformen und der Auslöser
von Migration, um politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Grundmuster der Migration
Migration leitet sich ursprünglich aus dem lateinischen Wort »migrare«, also wandern, ab. Dabei ist die Wanderung von Menschen
und Arbeitskräften eigentliche keine aktuelle, sondern eine uralte
Frage, wie ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt. Die sog. »Völkerwanderung« der germanischen Völker 375 n. Chr. stellt in gewisser Hinsicht das älteste Beispiel für Migration dar, an der sich
sämtliche Teilaspekte der Migration exemplarisch bereits aufzeigen lassen. Einerseits die Flucht vor politisch unstabilen Verhältnissen nach dem Einmarsch der Hunnen, andererseits der
Wunsch, in klimatisch wärmere und wirtschaftliche prosperierende Regionen abzuwandern (Umweltmigration, wirtschaftliche
Migration). Auch die Kriege des Mittelalters und ganz besonders
der Neuzeit haben massive Wanderungsbewegungen ausgelöst
(»politische Migration«). Grundsätzlich gilt: Je friedlicher die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen Ländern, desto
rationaler werden die Wanderungsentscheidungen und desto unproblematischer werden die Aufnahmebedingungen in den Zielländern. Der europäische Binnenmarkt 2010 ermöglicht 495 Millionen Menschen die Freizügigkeit, im Ausland studieren, arbeiten
oder leben zu können. In gewisser Hinsicht kann die EU also als ein
erfolgreiches »Binnenmigrationsmodell« angesehen werden. Die
Öffnung der innereuropäischen Grenzen durch das sog. »Schengener Abkommen« hat die Migrationserscheinungen innerhalb
Europas dabei keineswegs verschärft. Das eigentliche Migrationsproblem Europas liegt in den Außenbeziehungen, etwa bei der illegalen Einwanderung aus Nordafrika nach Spanien oder Italien
oder bei der Einwanderung der Nordafrikaner nach Frankreich.
Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist »Migration« eine durchaus zweckmäßige Erscheinung, wenn die vergleichsweise mobilen Produktionsfaktoren »Arbeit« und »Kapital« zum immobilen
Produktionsfaktor »Boden« wandern. Volkswirte betonen deshalb zumeist die Vorteile von Wanderungsbewegungen (siehe
Straubhaar 2006). Wenn beispielsweise Menschen Regionen verlassen, die klimatisch kaum bewohnbar sind, ist dies einzelwirtschaftlich rational und aus wirtschaftlichen wie auch humanitären Gründen zu begrüßen. Dass Zuwanderung aber oftmals eine
Abwehrreaktion der Ortsansässigen verursacht, die sich um die
Qualität ihrer privaten wie auch öffentlichen Güter sorgen, ist
durchaus verständlich und eine keineswegs neue Erscheinung.
Zuwanderung kann aber durchaus auch höchst willkommen sein,
wie die Geschichte der »Gastarbeiter« in Deutschland nachhaltig
beweist. Der wirtschaftliche Wiederaufstieg der Deutschen in
den 50er- und 60er-Jahren wäre ohne die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften nicht möglich gewesen. Außerdem ermöglichten die Gastarbeiter vielen deutschen Arbeitskräften den
Aufstieg in ihrer Firma in Facharbeiterpositionen, was ohne den
Zuzug der neuen Arbeiter nicht möglich gewesen wäre.
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Typologie der Migration
In der Migrationsforschung lassen
sich interessante Muster erkennen,
die je nach wirtschaftlichem und politischem Umfeld in unterschiedlicher Dosierung auftreten können.
Zunächst ist zu differenzieren zwischen der »Einzelmigration« und der
»Kettenmigration«. Während erstere
auf der Entscheidung eines Individuums beruht, einen Arbeitsplatz außerhalb des eigenen Landes anzunehmen, wird die Kettenmigration
durch historische Wanderungserscheinungen beeinflusst. So ist beispielsweise zu erkennen, dass bestimmte Nationalitäten dazu neigen,
sich dort anzusiedeln, wo bereits
Landsleute wohnen und positive Erfahrungen gemacht haben. HierAbb. 1 Positive Berichterstattung über gelungene Integration: 11 von 23 Fußball-Nationalmannschaftsmitgliedurch werden die Migrationskosten
dern besitzen einen Migrationshintergrund.
© picture alliance, dpa, 2010
(Erlernen der Sprache, Eingliederung
der Kinder, Formalitäten mit Behörden, etc.) nachhaltig gesenkt. Die
Einzelmigration ist in den Medien kaum wahrnehmbar, während
ben (hierzu ausführlich Meier-Braun 2006). Der türkische Taxifahrer,
die Kettenmigration zumeist nur dann öffentliches und Mediender in Berlin geboren wurde und in dritter Generation dort lebt,
interesse hervorruft, wenn bestimmte Quantitäten überschritten
deutsch mit starkem Berliner Akzent, aber kein türkisch spricht,
werden.
ist kein Einzelfall. Niemand würde heute noch ernsthaft erwägen,
Bei der »Gruppenmigration« liegen zumeist politische, wirtdiesen Berliner in die Türkei zu schicken. Deutschland ist in den
schaftliche oder ökologische Gründe vor. Große Wanderungsbevergangenen Jahrzehnten zweifelsohne zum Einwanderungsland
wegungen deuten auf massive Störungen im Umfeld des Auswangeworden, womit die Integrationspolitik zu einer zentralen gederungslandes hin. In extrem hohen Dosierungen kann Migration
sellschaftlichen Aufgabe wird (vgl. Böhmer 2006). Kernpunkt
sogar zum Zusammenbruch eines Staates führen, wie in den letzeiner erfolgreichen Integration ist grundsätzlich die Bildungspoten Monaten der DDR anschaulich wurde, als Hunderttausende in
litik, weil hier die Grundlage für gesellschaftlichen Aufstieg und
den Westen flüchteten und das Wirtschaftssystem der DDR darWohlstand gelegt wird, was nachweislich die Identifikation mit
aufhin zusammenbrach. Aber auch im Aufnahmeland verursachte
der neuen Heimat erhöht. Es ist deshalb ganz im Sinne der Zudie Wanderung der DDR-Bürger im Spätherbst 1989 massive Prowanderer, wenn man ihnen das Erlernen der Sprache des Zuwanbleme, weil die westdeutschen Kommunen bei der Aufnahme der
derungslandes mit Nachdruck nahe legt, weil dies die Grundlage
Flüchtlinge personell und finanziell überfordert waren. Gruppenfür schulischen Erfolg und damit für einen Berufseinstieg und gemigration verursacht zumeist massive mediale Wahrnehmung.
sellschaftlichen Aufstieg ist.
Im August 2010 sendete der US-Nachrichtensender CNN beiDie prinzipielle Offenheit des Bildungssystems – und damit die
spielsweise einen ausführlichen Bericht über die Entwicklung des
Durchlässigkeit der Gesellschaft für Aufsteiger mit MigrationsMigrationsdrucks an der mexikanisch-amerikanischen Grenze
hintergrund – ist sicherlich ein Grund, warum die USA nach wie
und über die zahlreichen Todesfälle, die an dieser sicherlich bevor bei der Integration der Einwanderer vergleichsweise erfolgkanntesten »Wohlstandsgrenze« zu beklagen sind.
reich sind. Andere Länder sind hingegen bei der Gewährleistung
Eine weitere Unterscheidung bei Migration behandelt die Frage,
von Aufstiegsmöglichkeiten für Zuwanderer beschränkt: In
ob es sich um eine »temporäre« oder eine »dauerhafte« ErscheiFrankreich beispielsweise ist es für Migranten sehr schwierig, Zunung handelt. Ein ausländischer Student, der ein Semester an
gang zu den Elite-Bildungseinrichtungen des Landes zu erhalten.
einer deutschen Hochschule studiert, ist grundsätzlich als GeDie wiederholten Krawalle in den französischen Vorstädten in
winn zu sehen, und zwar sowohl für den Studenten und dessen
den vergangenen Jahren sind unter anderem Ausdruck dieser
weitere berufliche Entwicklung wie auch für die Hochschule, die
mangelhaften Aussicht auf sozialen Aufstieg. Und auch in
durch Internationalisierung ihr Profil schärfen kann. Es ist empiDeutschland hat eine OECD-Studie 2008 Mängel festgestellt, weil
risch eindeutig nachzuweisen, dass die Studenten, die ein oder
sich im dreigliedrigen Schulsystem die Hauptschule zunehmend
zwei Semester im Ausland verbracht haben, in der Regel immer
zu einer Schule primär für Migrantenkinder entwickelte.
die besten Examen ablegen und auch beim Berufseinstieg große
Eine weitere Differenzierung liegt in der Motivation zur MigraVorteile haben. Wenn die Medien über solche jungen Menschen
tion, also der Frage, ob es sich um »erzwungene« oder »freiwilberichten, fällt dies zumeist positiv aus, denn ausländische Stulige« Entscheidungen handelt. Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgedenten erhöhen die Vielfalt und werden positiv als »multikulti«
bieten handeln ebenso wenig freiwillig wie beispielsweise
wahrgenommen. Politisch und gesellschaftlich schwieriger zu geUmweltflüchtlinge, die katastrophalen klimatischen Bedingunstalten hingegen ist die dauerhafte Migration, denn diese führt
gen entgehen wollen. Eigentlich muss differenziert werden zwiautomatisch in die Integration, also in die bewusste Eingliedeschen Migration und Flucht, was eine extreme Form von Wanderung der zugewanderten Menschen in die Wirtschafts- und Gerungsanreiz darstellt, etwa nach Naturkatastrophen oder
sellschaftsordnung. Bei den Gastarbeitern in Deutschland beiKriegen. Reaktionen auf große Fluchtbewegungen nach Naturerspielsweise redete man anfänglich noch davon, diese nach einer
eignissen sind eher im Bereich der humanitären Hilfe anzusiebestimmten Frist wieder in ihr Ursprungsland zurück zu schicken.
deln.
Allerdings sind die meisten Gastarbeiter aus Italien, aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei in Deutschland geblieben und es hat in der
Ausländerpolitik einen nachhaltigen Paradigmenwechsel gege-
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Aufenthaltserlaubnisse
Staatsangehörigkeit
Studium
Sprachkurs,
Schulbesuch
Sonstige Ausbildung
Beschäftitung
Humanitäre
Gründe
Familiäre
Gründe
Sonstige
Gründe
Niederlassungserlaubnis
EU-Aufenthaltsrecht
Gesamt
Aufenthaltsgestattung
und Duldung
darunter
weiblich
Türkei
1.792
106
169
1.441
89
8.376
158
759
138
1.012
18.285
7.755
Vereinigte Staaten
3.072
799
484
3.820
46
2.692
773
135
206
9
14.603
6.619
China
6.168
355
781
2.631
24
1.452
63
22
55
317
13.093
6.453
Russische Föderation
1.906
152
515
1.785
478
3.508
85
496
111
537
12.102
7.673
Indien
1.108
40
346
3.843
35
2.351
40
31
58
537
9.638
3.037
Irak
Serbien sowie ehem. Serbien
und Montenegro
53
2
15
7
3.091
820
6
59
13
3.269
8.176
2.280
163
29
56
1.117
83
2.076
20
134
131
657
6.156
2.405
Ukraine
626
52
147
1.369
278
1.533
107
405
76
46
5.701
3.686
Brasilien
899
567
444
875
15
1.223
109
38
350
12
5.426
2.932
Japan
809
248
144
1.743
23
1.693
90
11
39
0
5.261
2.751
78
19
54
1.590
10
806
21
68
43
18
4.278
1.180
1.452
209
101
584
5
841
40
6
5
2
3.678
2.079
Kroatien
Korea, Rebublik
91
14
15
1.365
29
1.039
22
68
37
230
3.613
1.148
Vietnam
376
14
35
82
26
844
6
65
13
838
3.290
1.562
Iran
488
5
39
156
94
604
12
51
17
689
2.836
1.322
Thailand
241
168
38
170
17
1.665
29
49
58
7
2.785
2.128
Marokko
455
3
14
53
19
1.277
11
41
93
134
2.728
1.250
Mexiko
801
413
131
421
5
498
29
6
32
3
2.601
1.183
Kosovo
20
1
2
9
31
1.465
3
15
17
520
2.566
1.445
Bosnien und Herzegowina
338
119
95
793
4
373
112
16
66
1
2.379
1.169
Staatsangehörigkeit aus
Nicht-EU-Staaten insgesamt
29.624
5.062
5.338
30.208
6.787
50.268
2.445
3.284
3.653
16.252
190.353
88.242
Insgesamt
29.694
5.082
5.351
30.454
6.824
51.244
2.454
3.350
110.911
16.291
394.596
166.837
Kanada
Abb. 2 »Zuzüge von Ausländern nach Deutschland im Jahre 2008 nach ausgewählten Aufenthaltszwecken und Aufenthaltstiteln«
© Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Migrationsbericht 2008. Berlin 2010. S. 35. www.bmi.bund.de, Zahlen nach: Ausländerzentralregister
Erklärungsmodelle für Migration
20
Insgesamt lässt sich eine Vielzahl verschiedener Migrationsmodelle unterscheiden, und zwar »ökonomische«, »politische«, »soziologische« und »kulturelle« (siehe Han 2006). Aus ökonomischer Perspektive ist vor allem das »Push and Pull-Modell«
hervorzuheben. »Push-Faktoren« sind, vereinfacht ausgedrückt,
die Faktoren, die Menschen aus einem Land heraus treiben, etwa
Arbeitslosigkeit, eingeschränkte Meinungsfreiheit, politische
Unterdrückung oder klimatische Besonderheiten. »Pull-Faktoren« hingegen sind diejenigen Merkmale, die ein Land besonders
attraktiv für Zuwanderer erscheinen lassen. Der »amerikanische
Traum«, nach dem es jeder Einwanderer in kürzester Zeit vom Tellerwäscher zum Millionär und die Kinder von Einwanderern wie
Barack Obama sogar in kürzester Zeit Präsident werden können,
machen die Vereinigten Staaten zum nach wie vor beliebtesten
Ziel für dauerhafte und auch für temporäre Migration.
Bei diesen Entscheidungen sind die Medien ein ganz zentraler
Faktor der Informationsübermittlung wie auch der Meinungsbildung bei und über Migranten. Die USA haben nach wie vor das
Image, dass jeder Einwanderer hier seine Chance erhält, unabhängig von seiner Hautfarbe oder seiner religiösen Orientierung.
In zahlreichen Filmen sind die Geschichten des raschen sozialen
Aufstiegs emotional verarbeitet: Bei der sog. »Greencard-Lotterie«, bei der Einreise- und Arbeitsgenehmigungen weltweit per
Losverfahren verteilt werden, übersteigt die Nachfrage jedes Jahr
das Angebot um ein Vielfaches.
Ökonomisch gesehen – und dies ist die Kernaussage der Migrationsmodelle – ist mit einer Wanderung dann zu rechnen, wenn die
Nutzen der Zuwanderung die Wanderungskosten übersteigen.
Diese ökonomische Selbstverständlichkeit hat aber in der Realität eine durchaus weitreichende Implikation: Wenn nämlich die
Wohlstandsschere zwischen armen und reichen Regionen immer
weiter auseinanderklafft und die klimatischen Bedingungen extremer werden, dann nehmen die Wanderungsanreize systematisch zu und der Migrationsdruck steigt. Im Extremfall nehmen
die Migranten sogar große Risiken auf sich, nur um in das Land zu
gelangen, in der die Lebensumstände als besser wahrgenommen
werden. Über die Zahl derjenigen, die als »boat people« jedes Jahr
die Flucht aus Afrika in Richtung Europa mit dem Leben bezahlen, gibt es keine verlässlichen Statistiken. Die Dunkelziffer ist
beachtlich.
Migrationsgewinner und Migrationsverlierer
Migration verursacht Kosten und Nutzen bei allen Beteiligten. So
kann im Auswanderungsland ein starker Verlust durch die Abwanderung von Führungskräften (»brain drain«) resultieren. Wenn hingegen eher unqualifizierte Menschen das Land verlassen, dann
kann ein Gewinn durch Abwanderung entstehen durch eine passive Sanierung, etwa der Arbeitslosenstatistik. Aus Sicht des Zuwanderungslandes kann ein Verlust durch Zuwanderung entstehen, wenn es sich primär um »Wohlstandsflüchtlinge« handelt
– ebenso wie ein Gewinn, wenn die Zuwanderer hochqualifizierte
Arbeitskräfte sind, etwa Spitzenforscher oder exzellente Sportler.
Dies ist nicht nur ein Problem der Entwicklungsländer, sondern
durchaus auch in hochentwickelten Ländern anzutreffen.
Deutschland beispielsweise hat in den letzten Jahrzehnten viele
Spitzenforscher verloren, die aufgrund der besseren Arbeitsbedingungen an amerikanische Universitäten abgewandert sind.
Verschiedene Förderprogramme, die die Rückführung dieser Forscher intendierten, zeugten insgesamt wenig Erfolg. Gleichzeitig
hat sich Deutschland als attraktives Zuwanderungsland für Forscher aus Osteuropa und den Gebieten der ehemaligen UdSSR
erwiesen. Dem »brain drain« nach Westen steht also ein »brain
gain« aus dem Osten gegenüber. Letztlich entscheidet das Bildungsniveau der Migranten, ob sie in einer Volkswirtschaft mehr
Nutzen als Kosten verursachen.
Für die westlichen Länder ist Zuwanderung auch aus demografischen Gesichtspunkten vorteilhaft, wenn nicht gar dringend notwendig. Die akademische Debatte hierüber ist allerdings nicht so
eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Kompensation von Bevölkerungsrückgang (»demografischer Wandel«)
durch Zuwanderung ist vorteilhaft, insbesondere in Ländern wie
Deutschland, in denen die Alterssicherung nach dem Umlageverfahren organisiert ist. Junge und arbeitsfähige Migranten können
durchaus helfen, die Kosten des Rentensystems zu reduzieren.
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Wie groß dieser Effekt tatsächlich ist, lässt sich empirisch nicht
eindeutig nachweisen. Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten,
dass Migrationspolitik eine langfristig orientierte Familienpolitik
nicht ersetzen kann. Migration ist in gewisser Hinsicht die Türe,
durch die ein Wanderer ein neues Gastland betritt. Integration ist
dann der nachfolgende Prozess, der aus einem Gastland ein Heimatland werden lässt. Die USA galten und gelten in dieser Hinsicht noch immer als Vorbild, weil der »Schmelztiegel unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen« (»melting pot«) immer noch die
Möglichkeit zum schnellen wirtschaftlichen Aufstieg verspricht.
Heute spricht man übrigens in Amerika nicht mehr vom »melting
pot«, sondern vom »tossed salad«. Dieses neue Bild soll klar zum
Ausdruck bringen, dass niemand seine Identität aufgeben muss,
um als Amerikaner akzeptiert zu werden, sondern dass vielmehr
der Erhalt der Vielfalt (»diversity«) bei gleichzeitiger Akzeptanz der
Verfassungsideale Ziel der amerikanischen Integration ist.
Fakten und Umstände der Migration in Europa
In Deutschland leben derzeit 82 Mio. Menschen. Davon haben
6,75 Mio. keinen deutschen Pass, also ca. 8 %. Etwa ein Drittel
dieser Menschen sind Bürger anderer EU-Staaten, ca. zwei Drittel
kommen aus sog. Drittstaaten. Von 1991 bis 2008 kamen etwa
16,5 Millionen Menschen nach Deutschland (BMdI, 2010, S. 17).
Häufig neigen diese Einwanderer nach dem Prinzip der Kettenmigration dazu, sich dort anzusiedeln, wo schon andere Landsleute
leben. Bezogen auf Europa lassen sich äußerst interessante Muster aufzeigen. Offenbar gibt es für bestimmte Gruppen bevorzugte Ziele, was auf die klaren historischen und kulturellen Bestimmungsfaktoren der Migration hindeutet, die gegenüber den
rein ökonomischen (wie etwa Lohnhöhe oder soziale Standards)
durchaus gleichgewichtig, wenn nicht gar überlegen erscheinen.
Inder und Pakistani emigrieren bevorzugt nach England, Türken
nach Deutschland, Nord-Afrikaner nach Frankreich. Es kommt so
zur Anhäufung von Einwanderern gleicher Nationalität an bestimmten Orten, im positiven Fall zu Vierteln mit starkem ethnischen Einschlag, etwa »Little Italy« oder »Chinatown«, im negativen Fall zur Ghettobildung und im extremsten Fall zu sog.
»Parallelwelten«, die seit den Terroranschlägen des 11. September
häufig in den Medien auch mit islamistischem Terror assoziiert
werden.
Migration wird in Europa sehr stark durch kulturelle Faktoren determiniert. Durch die Einführung des Euro, die Offenheit des Binnenmarktes und die Transparenz des europäischen Medienmarktes sind die Menschen in Europa vergleichsweise gut über die
Arbeitsbedingungen in den Nachbarstaaten informiert. Die
Lohnunterschiede sind hierbei beachtlich. In stark vereinfachenden ökonomischen Modellen wird hieraus sofort auf eine starke
Wanderungstendenz geschlossen, was jedoch nicht mit den Beobachtungen in der Realität übereinstimmt. Ein sehr interessantes Fallbeispiel ist die sog. Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaften im Jahre 1986, als Spanien und Portugal neu
aufgenommen wurden. Die Interessenverbände in Deutschland
wehrten sich zum Teil vehement gegen die Süderweiterung, weil
befürchtet wurde, dass durch die großen Lohndifferenzen eine
starke Zuwanderung ausgelöst werden würde – von der »Überflutung« durch billige spanische und portugiesische landwirtschaftliche Produkte ganz abgesehen. In der Realität hat diese Wanderung jedoch niemals stattgefunden, weil offensichtlich die
sprachlichen, kulturellen und klimatischen Präferenzen deutlich
gewichtiger sind und die Transaktionskosten des Umzugs deutlich höher, als dies in den ökonomischen Prognosen angenommen wird.
Die vergleichsweise deutlich höhere Mobilität in den USA liegt in
erster Linie darin begründet, dass man bei einem Umzug von der
Ostküste an die Westküste quasi unter gleichen kulturellen und
wirtschaftlichen Bedingungen neu starten kann.
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Rationalisierung der Migrationsentscheidung
durch Medien?
Migrationsentscheidungen werden zumeist durch die vergleichsweise objektive Kenntnis der eigenen Lebensumstände und die
subjektive Wahrnehmung des Ziellandes geprägt. Die kompetente Nutzung der Medien (Internet, Fernsehdokumentationen,
Blogs, »soziale Software«) kann einerseits die Kenntnis über die
Arbeits- und Lebensbedingungen im Zielland deutlich verbessern
und die Entscheidung rationalisieren. Kommunikation über
E-Mail und Telefon ist fast kostenlos, Informationsmaterial über
Arbeiten und Studieren in der EU und weltweit sind überall und in
allen Sprachen verfügbar. Ein Ingenieur beispielsweise, der einen
Aufenthalt im Ausland verbringen möchte, kann im Vorfeld fast
alles organisieren, von der Miete eines Hauses bis zum Kauf eines
Autos, vom Kindergartenplatz bis zur Anmeldung in der Stadt.
Gleichwohl ist eine gewisse sprachliche und interkulturelle Kompetenz notwendig, um diesen Transfer zu leisten.
Andererseits werden Bilder und Einstellungen zu anderen Ländern nach wie vor primär durch die Unterhaltungsmedien vermittelt. Häufig sind die Bilder vom Zielland eher emotional geprägt.
Dies könnte dazu führen, dass die Wanderungsnutzen überschätzt und die Wanderungskosten unterschätzt werden. Letztlich sind die Kosten und Nutzen der Migration im Einzelfall nur
selten objektiv feststellbar und beruhen auf einer subjektiven
Einschätzung. Deshalb können Stimmungen oder emotionale Reaktionen auf politische Ereignisse jederzeit starke Wanderungsbewegungen auslösen. Diese können durch die Berichterstattung
in den Massenmedien und im Internet nachhaltig verstärkt werden. Insofern sind die modernen Massenmedien ein signifikanter
Unterschied zwischen den historischen Wanderungen der vergangenen Jahrhunderte und der Neuzeit.
Literaturhinweise
21
Bade, Klaus (2002): Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Verlag C. H. Beck, München.
Böhmer, Maria (2006): Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien, S. 210–214, in: der Bürger im Staat 4/2006.
Borella, Sara (2008): Migrationspolitik in Deutschland und der Europäischen
Union – Eine konstitutionenökonomische Analyse der Wanderung von Arbeitskräften, Tübingen.
Butterwegge, Christoph (2006): Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen, in: Zuwanderung und Integration. Der Bürger im
Staat, Heft 4, S. 254–259.
Bundesministerium des Inneren (2010): Migrationsbericht 2008, Berlin.
Han, Petrus (2006): Theorien zur internationalen Migration: Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und deren zentrale Aussagen, Stuttgart.
Meier-Braun, Karl-Heinz (2002): Deutschland. Einwanderungsland. Frankfurt
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Meier-Braun, Karl-Heinz (2006): Der lange Weg ins Einwanderungsland
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Straubhaar, Thomas (2006): Wirtschaftliche Folgen der Zuwanderung, in:
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Tietzel, Manfred; Wentzel, Dirk (2005): Pressefreiheit: Erfolg oder Misserfolg
einer Institution, in: Eger, Thomas (Hg.) (2005): Erfolg und Versagen von Institutionen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Band 305,
S. 53–88.
Wentzel, Dirk (Hrsg.) (2009): Medienökonomik – Theoretische Grundlagen
und ordnungspolitische Gestaltungsalternativen, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 89, Stuttgart, New York.
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MATERIALIEN
M 1 »Integration, die Tore schießt. Im Fußball lohnt sich
Leistung – ein Vorteil für Migranten.«
Über den mangelnden Integrationswillen der Einwanderer sowie
ihren fehlenden Ehrgeiz wird in Deutschland immer viel geklagt.
Bestimmt zu Recht, vielleicht zu oft. Derzeit beschäftigt sich die
Nation so sehr mit jungen Einwanderern wie selten zuvor. Sie heißen Sami, Mesut, Miroslav, Marco oder Mario. Legen wir uns diesbezüglich eine ganz einfache Frage vor: Warum hat die Hälfte (11
von 23) der deutschen WM-Kicker nichtdeutsche Wurzeln, obwohl der Anteil der Migranten unter den 20- bis 25-Jährigen in der
Bevölkerung nur etwa ein Drittel beträgt (genauer: 1,125 Millionen auf 3,754 Millionen Nur-Deutsche)?
Darauf gibt es eine, sagen wir mal, soziologisch-rassistische Antwort: Sie lautet: Fußball ist ein Sport für Dumme, die Migranten
haben im Durchschnitt niedrigere Schulabschlüsse, folglich tummeln sie sich erfolgreich auf Fußballplätzen. Hier liegt jedoch ein
Missverständnis vor – und zwar ein sportliches. Der Fußball ist
deswegen zur global dominierenden Sportart geworden, weil er
zugleich individuell und kollektiv, äußerst schlicht und beliebig
komplex ist. Das war er schon immer, viele Intellektuelle und Bildungsbürger haben jedoch ein paar Jahrzehnte gebraucht, um
das zu kapieren. Neuerdings kommt hinzu, dass die Anforderungen des modernen Systemspiels und des sich um den Ball herumrankenden Geschäfts immer smartere Fußballer erfordern. Intelligenz und Spielintelligenz werden mehr und mehr zu etwas sehr
Ähnlichem.
Die zweite Antwort ist etwas freundlicher, nennen wir sie patriarchalisch herablassend. Sie lautet: Da die Migranten sonst nur wenige Aufstiegschancen haben, konzentrieren sie sich eben auf
den Fußball. Das ist sicher richtig, widerspricht jedoch der Standardklage von den ehrgeizlosen, integrationsunwilligen Migranten in Deutschland. Insbesondere, wenn man sich vor Augen
führt, was es bedeutet, Fußballprofi zu werden. Das wird man,
wenn es gut läuft, im Alter von 18 oder 19 Jahren. Bis dahin haben
diese jungen Männer schon mehr Leistungs- und Konkurrenzdruck hinter sich als die meisten gewöhnlichen Menschen am
Ende ihres gesamten Berufslebens. Und das gilt selbst für die vielen Spieler, die es nicht ganz bis in die Bundesliga schaffen. Die elf
Migranten, die nun für Deutschland in Südafrika sind, stellen also
nur die Spitze einer recht breiten Leistungsbereitschaft dar.
Die richtigste Antwort auf die Eingangsfrage lautet: Der Fußball
ist ein Geschäft, bei dem es um Milliardenprofite geht. Vereine
und Trainer, die sich da Vorurteile leisten oder deren Integrationsfähigkeit gegenüber talentierten Migranten zu schwach ausgebildet ist, die sind heutzutage schnell weg vom Fenster. (Um
mal ein Beispiel zu nennen: Bis vor Kurzem haben es deutsche
Trainer noch unterbunden, dass muslimische Jungen aus religiösen Gründen nach dem Training in Unterhose duschen. Mittlerweile sind die Trainer klüger, und die Jungen werden nicht mehr
eingeschüchtert.)
Kurzum: Im Fußball wird Leistung relativ objektiv beurteilt und
die hohe Integrationsfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft mit
sehr viel Geld belohnt. Warum sind elf Migranten im deutschen
Nationalteam? Weil sie gut sind.
© Zeitonline, 25.6.2010, www.zeit.de/2010/26/Integration-Migranten-Fussball
M 2 »Sarrazin spaltet!«
M 3 SARRAZIN-DEBATTE; »Haben die Politiker selbst viele
Fehler gemacht, Frau Merkel?« Interview der BamS mit
der Bundeskanzlerin Angela Merkel.
BILD am SONNTAG: Frau Bundeskanzlerin, der Vorstand der Bundesbank hat die Entlassung seines Mitglieds Thilo Sarrazin beantragt. Finden Sie das richtig?
ANGELA MERKEL: Ich habe das mit Respekt zur Kenntnis genommen. Mir ist es wichtig, dass bei der Bundesbank Ruhe einkehrt,
damit sie sich ganz ihren wichtigen Aufgaben widmen kann. Wir
sollten auch gar nicht so viel über Herrn Sarrazin sprechen, sondern über das große Thema Integration. Zur Lösung der Probleme trägt er gar nichts bei, er erschwert sie im Gegenteil. Er fällt
Pauschalurteile, spaltet die Gesellschaft und macht eine ganze
Bevölkerungsgruppe verächtlich. (…)
BamS: Unsere Leserin Renate Schuhmacher aus Frankfurt schreibt: »Die
Politik geht so vehement auf Sarrazin los, weil man sich die verfehlte Migrationspolitik nicht eingestehen und das Gesicht nicht verlieren will.« Ist
das so falsch?
ANGELA MERKEL: Ja, weil das wirklich nicht der Punkt ist. Vielmehr ist die Integration eine der ganz großen Aufgaben der Politik. Ich kenne die Probleme bei der Integration. Im November
(2010) wird im Übrigen der nächste Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt stattfinden, auf dem wir über Fortschritte bei der Integration genauso sprechen wie über Probleme.
BamS: Von 1962 bis 1974 kamen 8,8 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik. 5,2 Millionen – vor allem Italiener, Spanier und Griechen –
sind wieder gegangen. 3,3 Millionen – hauptsächlich Türken – sind geblieben. Viele von ihnen sind weitgehend ohne Bildung. Haben sie das
Bildungsniveau in Deutschland abgesenkt, uns also dümmer gemacht?
ANGELA MERKEL: Mit dümmer machen, wie Sie es nennen, hat
das nichts zu tun, sondern mit verpassten Chancen. Denn es
stimmt leider, dass Kinder aus Migrantenfamilien bis heute im
Schnitt schlechtere Schulergebnisse haben. Sie haben häufiger
keinen Schulabschluss, sie gehen seltener aufs Gymnasium. In
den letzten Jahren hat sich durch unsere Maßnahmen zwar vieles
verbessert, aber wir können natürlich mit diesem Zustand noch
nicht zufrieden sein.
BamS: Unbestreitbar sind in Deutschland Parallelgesellschaften entstanden. Lassen Sie uns die Probleme beim Namen nennen: Ein hoher Anteil muslimischer Migranten verweigert auch in zweiter, dritter Generation das Erlernen der deutschen Sprache. Warum verlangen wir nicht, wie
z. B. in Israel, von Einwanderern nachdrücklich und mit Sanktionen belegt, Deutsch zu lernen?
ANGELA MERKEL: Genau das tun wir doch mittlerweile. Besonders die unionsgeführten Bundesländer haben hier schon eine
Reihe von Gegenmaßnahmen eingeführt, zum Beispiel verpflich-
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© Gerhard Mester, 2010
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tende Sprachtests vor Schulbeginn und Sprachkurse für die, die
zu uns kommen. So müssen junge Frauen in der Türkei, die zu
ihrem Ehemann in Deutschland nachziehen wollen, vorher GrundSprachkenntnisse erwerben. Das haben wir gegen manchen Widerstand durchgesetzt. Trotz allem: Das Sprachniveau ist oft
noch zu niedrig.
BamS: Laut dem Innen-Experten der Union, Bosbach, brechen 20 Prozent der Ausländer die verpflichtenden Sprach- und Integrationskurse ab
oder treten sie gar nicht erst an – folgenlos! Kann das so bleiben?
ANGELA MERKEL: Verpflichtung heißt Verpflichtung und muss
eingehalten werden. Unsere Ämter sollten das noch stärker überprüfen. Es gibt Sanktionen und die müssen greifen. Wir arbeiten
daran, mit allen Neuzuwanderern Integrationsvereinbarungen zu
schließen.
BamS: Eine Frage an die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel: Wird
Intelligenz überwiegend vererbt oder erworben?
ANGELA MERKEL: Von solchen Vererbungstheorien halte ich
nichts, schon gar nicht, wenn einer damit ganze Volksgruppen irgendwie einstufen will. Jedes Kind – ob deutsch oder türkisch –
hat seine Chance verdient. Auch wenn ich mich wiederhole – der
Schlüssel, in der Schule erfolgreich zu sein und einen Beruf zu lernen, ist, die deutsche Sprache zu beherrschen.
BamS: Michael Rehmer aus Bremen schreibt: »Dass es eine besonders
hohe Kriminalitätsrate unter türkischen und arabischen Jugendlichen
gibt, ist eine Tatsache.« Dazu sagt das Kriminologische Institut Niedersachsen: 23,5 Prozent der sehr religiösen muslimischen Jugendlichen neigen zur Gewalt. Beunruhigt Sie das?
ANGELA MERKEL: Das ist ein großes Problem, und wir können
offen darüber sprechen, ohne dass der Verdacht der Fremdenfeindlichkeit aufkommt. Aber ich warne davor, Gewalt mit einer
bestimmten Religion zu verbinden. Das führt in die Irre. Gewalt
bei jungen Menschen ist oft ein Zeichen dafür, dass sie keine Perspektive für sich sehen. Und da hilft nur Bildung, Bildung, Bildung. Unser Staat macht da viele Angebote, aber die Hauptverantwortung liegt bei den Eltern, die ihnen Schule und Gesellschaft
nicht abnehmen können.
BamS: Was machen wir mit den Einwanderern, die all die schönen Angebote nicht wahrnehmen, sich der Integration stur verweigern, aber alle
Leistungen des deutschen Staats in Anspruch nehmen?
ANGELA MERKEL: Strenge ist wichtig. Und dazu gehört, dass wir
die Probleme beim Namen nennen, das bedeutet: Integration
heißt Rechte und Pflichten. Sie ist ein Geben und Nehmen.
BamS: In Duisburg-Marxloh sind 35 Prozent der Bevölkerung nicht
deutsch. Wenn dort die Polizei einen Raser oder Kleinkriminellen fassen
will, wird sie bedroht, bis sie sich zurückzieht. Und das ist kein Einzelfall.
ANGELA MERKEL: Es darf in Deutschland keinen Ort und keine
Viertel geben, wo unsere Polizei das Recht nicht durchsetzen
kann. Es würde sicher helfen, wenn wir in Polizei, Jugendämtern
und anderen Behörden mehr Migranten hätten. Überhaupt sind
Vorbilder wichtig: Migranten, die es mit Fleiß und Talent geschafft
haben, können für Kinder Ansporn sein. Nehmen Sie berühmte
Beispiele wie Mesut Özil oder auch die niedersächsische CDUSozialministerin Aygül Özkan.
BamS: Der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung beträgt
knapp 19 Prozent. Sie stellen aber 28 Prozent der Hartz-IV-Empfänger.
Die größte Gruppe sind Spätaussiedler, gefolgt von Türken. Zeigt das
nicht, dass die Größe des Problems uns schlicht überfordert?
ANGELA MERKEL: Nein, aber es zeigt, dass wir es ernst nehmen
müssen. Wir können es packen, aber es ist eine Aufgabe für die
ganze Gesellschaft, und die lösen wir nicht gegeneinander, sondern nur miteinander.
BamS: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass Deutschland aufgrund der
üppigen Zahlungen aus dem Sozialsystem in einer Art Negativauslese die
falschen Einwanderer anzieht, die Leistungsbereiten aber in die USA
gehen, wo der Staat keinen Dollar für sie ausgibt?
ANGELA MERKEL: In den 60er- und 70er-Jahren hat unser Land
die Gastarbeiter geholt, die zum Aufbau des Wohlstands sehr beigetragen haben. Man kann also wahrlich nicht sagen, dass wir
Einwanderung ohne starke Eigeninteressen zugelassen hätten.
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M 4 Thilo Sarrazin bei der Buchvorstellung seines Bestsellers »Deutschland
schafft sich ab« am 30.8.2010. Selten provozierte ein Sachbuch solch
einen Medienrummel in der seriösen, aber vor allem auch in der Boulevardpresse und bei den elektronischen Medien. Die politisch Verantwortlichen distanzierten sich nahezu unisono von Sarrazins Thesen. Der Bundesbankvorstand beantragte umgehend beim Bundespräsidenten die
Entlassung Sarrazins aus dem Vorstand der Bundesbank, der SPD-Vorstand strebt einen Parteiausschluss des SPD-Mitglieds und ehemaligen
Finanzsenators von Berlin an.
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Dennoch haben viele danach – gerade auch zu rot-grünen Zeiten – einen sogenannten Multikulti-Traum geträumt und Zuwanderer zu wenig in die Pflicht genommen. Meine Regierung hat das
geändert, weil sie dazu eine realitätsnahe Haltung einnimmt.
BamS: Angesichts des dramatischen Fachkräftemangels fordern viele,
unter anderem Ihr Wirtschaftsminister: Deutschland braucht den verstärkten Zuzug von Facharbeitern.
ANGELA MERKEL: Wir haben den Zugang für qualifizierte Arbeitskräfte wie Ingenieure in den vergangenen Jahren schon erleichtert. Aber erst einmal müssen wir auch unsere Probleme zu
Hause lösen. So dürfen wir nicht übersehen, dass in Deutschland
bereits viele Ausländer leben, die Stellen für Fachkräfte besetzen
könnten, deren Berufsabschlüsse wir aber nicht anerkennen. Das
muss sich ändern. Wir können es uns nicht leisten, dass ein Arzt
oder Ingenieur aus dem Ausland hier keine seiner Qualifikation
angemessene Stelle findet. Und nicht zuletzt haben wir 2,2 Millionen Hartz-IV-Empfänger, die arbeitsfähig sind, aber keinen Job
finden. Ich sehe nicht ein, dass Pflegekräfte künftig nur noch aus
Osteuropa kommen. Daran können wir etwas ändern.
BamS: Braucht Deutschland in Zukunft ein Ministerium für Integration
und Zuwanderung?
ANGELA MERKEL: Die Integration ist eine der zentralen Aufgaben
unserer Gesellschaft, die ich in der Bundesregierung durch die Integrationsbeauftragte gestärkt habe. Das Thema betrifft Städte,
Gemeinden und den Bund. Den Menschen ist es letztlich egal,
welche Instanz sich der Probleme annimmt, Hauptsache, sie werden gelöst. Unsere Integrationsbeauftragte Maria Böhmer macht
gute Arbeit.
BamS: Müssen wir von den Einwanderern mehr Anpassung verlangen?
ANGELA MERKEL: Wir können von denjenigen, die hierher kommen, erwarten, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren,
dass sie unsere Sprache lernen. Dass Männer ihren Frauen die
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, dass Mädchen an Klassenfahrten und am Sportunterricht teilnehmen dürfen. Gewalt an den Schulen und andere Missstände müssen offen
diskutiert werden. Verschweigen verstärkt nur Vorurteile. (…)
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Interview mit Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 5.9.2010 in der Bild am Sonntag, geführt
von Walter Mayer, Michael Backhaus und Martin S. Lambeck.
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M 5 Heinz Bonfadelli: »Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien«
Die in Deutschland und der Schweiz lebenden Ausländer, Migranten und Asylsuchende, vielfach als »Fremde« empfunden und bezeichnet, standen seit den frühen 1970er-Jahren und später
immer wieder im Brennpunkt gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und wurden damit auch in der Medienberichterstattung thematisiert, wobei medientypische Selektions-, Präsentations- und Bewertungsmuster unübersehbar sind.
Ein erster quantitativer Kernbefund lautet, dass über Ausländer
und gesellschaftliche Minoritäten ganz allgemein wenig berichtet wird, d. h. dass sie nicht nur im gesellschaftlichen Alltag, sondern auch in der Medienrealität marginalisiert werden. Die aktuelle vergleichende Studie »European Day of Media Monitoring«
(ter Wal 2004), basierend auf einer standardisierten Inhaltsanalyse der Inlandberichterstattung allerdings nur eines einzigen
Tages von je zehn Zeitungen und TV-Nachrichten in den 15 miteinbezogenen EU-Ländern, kommt aufgrund der untersuchten 3000
Nachrichtenbeiträge auf einen Anteil von 11 %, in denen gesellschaftliche Minderheiten und/oder Migrationsthemen im Zentrum standen oder am Rande erwähnt werden; 4.6 % der Hauptakteure repräsentierten ethnische Minderheiten, Migranten oder
deren Repräsentanten.
Die bis jetzt durchgeführten Inhaltsanalysen lassen typische
Muster der Berichterstattung erkennen, wobei generell eine Negativ-Tendenz konstatiert wird: Wenn überhaupt über ausländische Arbeitnehmer oder Migranten berichtet wird, dann geschieht dies oft in problematisierenden Zusammenhängen wie
das »Ausländerproblem«, das »Asylproblem«, das »Türkenproblem« oder der »Islam als Bedrohung«. Vielfach werden dabei negativ konnotierte Metaphern verwendet. Es ist die Rede von
»Flut«, »Lawine« oder »Schwemme« bzw. »Rückständigkeit« und
»Bedrohung«. Thematisch geschieht dies zudem häufig in einem
kriminellen Zusammenhang. Damit wird ein diffuses Bild möglicher Gefahren signalisiert, was der Bildung von Stereotypen oder
gar Vorurteilen Vorschub leistet und die soziale Diskriminierung
begünstigt.
Im Vergleich dazu wird der Lebensalltag der ausländischen Arbeitnehmern, der Asylsuchenden und Migranten kaum in den
Medien thematisiert, und es fehlen Berichte über geglückte Verständigung und Integration auf lokaler oder regionaler Ebene.
Auch berichten die Medien nur selten über die Hintergründe der
Asylthematik oder die positiven Leistungen der ausländischen Arbeitnehmer. Zudem treten Ausländer, Asylbewerber und Migranten kaum als Gesprächspartner auf. Sie sind meist nur passives
Objekt der Berichterstattung und kommen selber nicht zu Wort.
Medienschaffende sollten vor den oben ausgeführten Befunden
zur Berichterstattung über Ausländer und Migranten ihre Auswahlkriterien aufgrund dominanter Nachrichtenwerte und die
Art und Weise, wie sie mit bestimmten Medien-Frames, typischen
Argumentationsmustern und Präsentationsweisen wie Titel, Lead
und Bildern die Komplexitätsreduktion der gesellschaftlichen
Wirklichkeit vornehmen und eine eigene Medienrealität konstruieren, stärker reflektieren und hinterfragen (Ruhrmann 1999;
Geißler 2000). Angesichts der vermutlich immer latent vorhandenen Ambivalenz gegenüber Fremden, geht es nicht zuletzt darum,
Stereotypisierung zu vermeiden und Diskriminierung so weit wie
möglich entgegenzuwirken.
Nach Hömberg/Schlemmer (1995: 19) wäre es wichtig, mehr vor
Ort zu recherchieren und auch ressortübergreifend zu berichten.
Trotz bestehender Sprachbarrieren sollten Medienschaffende
nicht nur Expertenmeinungen einholen, sondern vermehrt auf
Ausländer selber als authentische Quellen zurückgreifen. Migranten müssen stärker als dies bis jetzt der Fall ist als sozial autonome Subjekte und politische Mitbürgerinnen wie Bürger mit eigener Stimme sichtbar gemacht werden; zudem sollten ihre
wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen mehr betont werden.
Ein besserer Zugang zu und eine bessere Repräsentation von
sprach-kulturellen Minderheiten wäre auch gegeben, wenn mehr
Ausländer in den Medien selber als Journalistinnen und Journalisten arbeiten würden.
Daneben braucht er aber auch mehr sog. Ethnomedien, d. h. im
Aufnahmeland von Immigranten für Immigranten produzierte
Druckmedien und Programme im privaten wie im öffentlichen
Rundfunk. Solche Medienangebote müssen ergänzt werden
durch attraktive multikulturelle Sendungen im Rundfunk, welche
sich sowohl an die Mehrheitsbevölkerung als auch an die verschiedenen Migrationsgruppen richten und sich mit der Thematik des multikulturellen Zusammenlebens befassen, sei dies nun
im traditionellen Magazin-Format wie beispielsweise »Heimat
fremde Heimat« beim ORF bzw. »Cosmo« vom WDR oder in anderen neuen Formen wie Talkshows, Doku-Dramas oder ComedyShows.
© Heinz Bonfadelli (2007): Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien,
in: Bonfadelli/Moser (Hrsg.): Medien und Migration, VS, Wiesbaden, S. 103ff.
M 7 Karl-Heinz Meier-Braun: »Verstärkte Bemühungen –
weiterer Nachholbedarf. Integration im Scheinwerferlicht der Medien.«
Das Thema Integration hat in Presse, Funk und Fernsehen in den
zurückliegenden Jahren einen höheren Stellenwert erhalten. So
hat der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger eine »Deutschlandstiftung Integration« ins Leben gerufen. 59 Zeitschriften und
Zeitungen sind dabei unter anderem mit einer Anzeigenkampagne vertreten. Einzelne Zeitungen wie »Die Rheinpfalz« bringen
regelmäßige Rubriken zum Thema. Die Medienforschung wurde
verstärkt. Der SWR hat sich an der Sinus-Milieustudie beteiligt,
die wichtige Erkenntnisse für die Programmgestaltung erbracht
und gezeigt hat, dass
es weniger parallele
Medienwelten als Gemeinsamkeiten zwiBenachteiligung der Migranten aufgrund der Herkunft nach eigener Einschätzung
schen Menschen mit
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© in: Simon, media pespektiven 9/2007
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und Volontäre Menschen mit MigratiM 8 »Nutzung heimat- und deutschsprachiger Medien bei Migranten«
© in: Simon: media perspektiven 9/2007
onshintergrund.
Auch der Westdeutsche
Rundfunk
(WDR) engagiert sich
gesellschaft gibt. Zuwanderer nutzen vor dem Hintergrund ihrer
seit langem in diesem Bereich, beispielsweise mit der TalentsuchMigrationsbiografie selbstverständlich auch heimatsprachige
Initiative »WDR grenzenlos«. (…)
Medien, die eine Brücke zum Herkunftsland und zur HerkunftsJournalisten und Journalistinnen aus den Einwandererfamilien
kultur darstellen. Wie die Ergebnisse früherer, stärker qualitativ
sind zwar schon längst keine Exoten mehr in der deutschen Meausgerichteter Studien zeigen, erfüllen heimat- und deutschspradienlandschaft, man findet aber immer noch viel zu wenige von
chige Angebote unterschiedliche Funktionen und sind, zuminihnen in Presse, Funk und Fernsehen. Dabei können sie das redest derzeit, unverzichtbar für die Meinungs- und Identitätsbildaktionelle Arbeiten bereichern, einen anderen Blickwinkel und
dung. Die Nutzung heimatsprachiger Medien spielt insbesondere
Sachverstand einbringen, die Berichterstattung erleichtern und
bei Zuwanderern türkischer Herkunft eine wichtige Rolle. Die
ein neues Publikum an die Medien binden. Gerade hier müssen
Studie zeigt: Zuwanderer sind keine homogene Gruppe in ihrem
die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, aber auch die
Medienverhalten. Eine nach Herkunftsländern differenzierte BePrintmedien, ihre Bemühungen verstärken und insgesamt das
trachtung des Mediennutzungsverhaltens ist deshalb unverzichtThema fest in der Aus- und Fortbildung verankern.
bar. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Nutzung
Die Medien spielen eine wichtige Rolle in der Integrationsdedeutscher Medien, soziodemografischen Faktoren und guten
batte. Sie können Vorurteile verstärken oder abbauen helfen.
Sprachkenntnissen der Migranten. Insofern bestätigt sich, dass
Lange Zeit zeichneten Medien ein undifferenziertes Bild der »Ausgute Deutschkenntnisse eine wichtige Voraussetzung für Integraländer in Deutschland«. Die Weiterentwicklung, die in der zweitionsleistungen deutschsprachiger Medien sind. Bei jüngeren
ten und nachfolgenden Generation stattgefunden hat, blieb weitund in Deutschland geborenen Zuwanderern ist die alleinige Nutgehend unberücksichtigt.
zung heimatsprachiger Medien nur in geringem Umfang zu fin© Karl-Heinz Meier-Braun (2010): Integration im Scheinwerferlicht der Medien, in: Clavis,
den. Hier dominiert die gemeinsame Nutzung heimat- und
2/2010, S. 4f.
deutschsprachiger bzw. die alleinige Nutzung deutschsprachiger
Medien. Darüber hinaus spielt die Verfügbarkeit heimatsprachiger Programmangebote insbesondere über digitale Satelliten
M 9 »Migranten und Medien 2007«: Ergebnisse einer repräoder über spezielle Programmpakete, wie sie zum Beispiel für die
sentativen Studie der ARD/ZDF-Medienkommission
Zuwanderer türkischer Herkunft in hohem Maße vorhanden sind,
eine wichtige Rolle.
Die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer ist mit deutschen
Erik Simon: Migranten und Medien 2007, in: media perspektiven 9/2007
Medien erreichbar, nur ein geringer Teil nutzt ausschließlich heimatsprachige Medien. Die Ergebnisse der Studie Migranten und
Medien 2007 zeigen, dass es keine ausgeprägte mediale Parallel-
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I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
4. Einwanderungspolitik in der EU – Kooperation und gemeinsame Gesetzgebung
PETRA BENDEL
M
igration und Integration waren traditionell Bereiche,
die von den Mitgliedstaaten, nicht von der Ebene der
Europäischen Union aus geregelt wurden. Das kommt nicht
von ungefähr, betreffen sie doch zentrale staatliche Fragen
wie: »Wer darf, wer soll zu uns kommen?« und: »Wer darf zu
uns gehören?« Seit rund zehn Jahren jedoch haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach und nach Teile
ihrer Kompetenzen an die EU abgetreten und dies in den Verträgen von Amsterdam 1997 (in Kraft getreten 1999), Nizza
2000 (in Kraft seit 2003) und Lissabon (in Kraft seit 2009) festgelegt.
26
Anlass für diese zunehmende Kooperation und sogar für gemeinsame Gesetzgebung war die Tatsache, dass von den 1990er-Jahren an der Umfang der Einwanderung stetig zunahm, und dass in
einer Europäischen Gemeinschaft, die ihre Binnengrenzen abgeschafft hat, Wanderungen von einem Staat Wanderungen in andere Staaten nach sich ziehen können. Der Einzelstaat kann diese
also nicht mehr allein kontrollieren. Im Mittelpunkt der von 1999
an entwickelten, meist als »Richtlinien« fixierten gemeinsamen
Regelungen standen daher zunächst die Sicherung der Grenzen
nach außen, die Visapolitik und die Bekämpfung irregulärer Migration. Auch sollte vermieden werden, dass Asylbewerber und
Flüchtlinge in den einzelnen Staaten unterschiedlich behandelt
würden, sodass deren Rechte stärker vereinheitlicht wurden. Da
die erwerbstätige Bevölkerung in den europäischen Ländern
durch die demografische Entwicklung zurückgeht, wird außerdem die Anwerbung von Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern,
sogenannten Drittstaaten, immer wieder thematisiert.
Gerade die Einwanderung in die Arbeitsmärkte und die Regelung
der Integration der bereits Zugewanderten sind jedoch Bereiche,
in denen die Mitgliedstaaten die Kompetenz über die Gesetzgebung noch weitestgehend behalten haben und sich nur miteinander koordinieren: Der Vertrag von Lissabon zurrt das Recht der
Mitgliedstaaten fest, zu entscheiden, »wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um
dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen.«
(Art. 79 (5)). Die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Integration dürfen von den EU-Organen zwar unterstützt werden; dies
Abb. 2 »Enough is enough!« – Mit scharfen Worten verurteilte die EU-Kommissarin für Justiz Viviane Reding (Luxemburg) am 14.9.2010 die Ausweisung von
mehr als 1.000 Roma aus Frankreich nach Rumänien als Verstoß gegen die Freizügigkeitsregelungen in der EU. Die französische Regierung sprach von mehr als
100 »illegalen Camps« der Roma.
© picture alliance, dpa
geschieht jedoch »unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten« (Art. 79 (4). Durch diese
»Soft Law«-Maßnahmen haben sich die Integrationspolitiken der
EU-Staaten aber einander bereits angenähert.
Widersprüchliche Ziele und Zielgruppen,
widerstreitende Interessen
Ver. Königreich (4)
Schweden
Finnland
Slowakei
Slowenien
Polen (3)
Österreich
Niederlande
Ungarn
Luxemburg
Litauen
Lettland
Zypern
Italien (2)
Spanien
Irland
Deutschland
Dänemark
Belgien (2)
Tsch. Republik
Einwanderungspolitik betrifft ganz unterschiedliche Personen:
Flüchtlinge, Asylbewerber und Personen, die anderweitig Schutz
benötigen, Arbeitskräfte, Familienangehörige, die zu bereits Eingewanderten nachziehen, und schließlich solche Personen, die
ohne gültige Einreise- und Aufenthaltspapiere kommen oder die
Dauer ihres legalen Aufenthaltes überschreiten, sogenannte »irreguläre« Migranten oder »sans papiers« (»ohne Papiere«). Dies
umfasst daher auch eine ganze Spannbreite von Zielsetzungen,
die miteinander in Konflikt geraten
können: Einerseits wollen die Mit100%
gliedstaaten irreguläre Einwanderer
75%
von einer Einreise abhalten oder sie
50%
zurückführen, andererseits wollen
25%
sie aber auch bestimmte Arbeitskräfte anwerben. Sie hegen den An0%
spruch, einen Schutzhafen für verfolgte Personen zu bieten, helfen
aber mit ihrer Politik nicht unbedingt
wirkungsvoll dabei, Fluchtgründe zu
Ausländer aus Ländern außerhalb der EU-27
vermeiden, und sie vereiteln mit
Ausländer, jedoch Staatsangehörige eines anderen EU-27-Landes
Staatsangehörige
ihren Abschreckungsmaßnahmen an
den Grenzen und auf See den betrof(1) Belgien, Estland, Griechenland, Frankreich, Malta, Portugal und Rumänien: nicht verfügbar.
fenen Menschen sogar oft den Zu(2) 2003.
(3) Nur Zuwanderung für unbefristeten Aufenthalt.
gang zu den europäischen Asylsyste(4) Ohne Einwanderer aus Irland, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
men. Zwar versuchte die Europäische
Kommission spätestens seit 2005 mit
ihrem »Gesamtansatz für Migration«
Abb. 1 Zuwanderung nach größeren Staatsangehörigkeitsgruppen, 2006 (in % der Gesamtbevölkerung)
© Eurostat Jahrbuch 2009, S. 171
diese Ziele stärker in Übereinstim-
Einwanderungsp olitik in der EU – Ko oper ation und gemeins ame Ge se t zgebung
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D&E
Heft 60 · 2010
26.10.10 15:21
27
Iceland
Norway
Switzerland
Latvia
Estonia
Portugal
Lithuania
Slovenia
Romania
Luxembourg
Malta
Bulgaria
Finland
Denmark
Czech Republic
Hungary
Slovakia
Cyprus
Ireland
Spain
Netherlands
Poland
Belgium
Italy
Austria
Greece
Germany
France
United Kingdom
Sweden
mung zu bringen, indem sie Regelun1997
1998
1999
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
gen zu regulärer und irregulärer MigEU-27 (1)
430
529
980
725
600 1.852 2.035 1.875 1.660 1.639 1.908
ration, zu menschenrechtlichen
Eurozone (1)
:
434
835
978 1.235 1.658 1.806 1.606 1.404 1.319 1.579
Aspekten und zur Integration der ZuBelgien
10
12
16
14
36
41
35
36
51
53
62
wanderer stärker koordinierte und
Bulgarien
0
0
0
0
-214
1
0
0
0
0
-1
mit den Herkunftsstaaten kooperiert. Doch kritisieren OrganisatioTsch. Republik
12
9
9
7
-43
12
26
19
36
35
84
nen, die sich für die Rechte von MigDänemark
12
11
9
10
12
10
7
5
7
10
20
rantinnen und Migranten einsetzen
Deutschland
93
47
202
168
275
219
142
82
82
26
48
(z. B.: www.ecre.org), dass die gemeinEstland
-7
-7
-1
0
0
0
0
0
0
0
0
same Politik vor allem dazu diene,
Irland
17
16
24
32
39
33
31
48
66
67
64
Einwanderung zu kontrollieren und
Griechenland
61
55
45
29
38
38
35
41
40
40
41
zu begrenzen und den selbst gesetzten menschenrechtlichen Maßstäben
Spanien
94
159
238
390
441
649
625
610
641
605
702
dabei nicht gerecht werde – eine TenFrankreich (1)
:
-1
150
158
173
184
189
105
92
90
71
denz, die sich nach den Anschlägen
Italien
50
56
35
50
50
345
612
557
324
377
494
des 11. September 2001 noch verZypern
5
4
4
4
5
7
12
16
14
9
13
stärkt hat.
Lettland
-9
-6
-4
-6
-5
-2
-1
-1
-1
-2
-1
Außerdem unterscheiden sich die
Litauen
-22
-22
-21
-20
-3
-2
-6
-10
-9
-5
-5
Mitgliedstaaten in ihren Auffassungen von dem, wie Migration zu steuLuxemburg
4
4
4
3
3
3
5
4
6
5
6
ern, zu begrenzen oder zu ermögliUngarn
18
17
17
17
10
4
16
18
17
21
14
chen sei, ganz erheblich voneinander,
Malta
1
0
0
10
2
2
2
2
2
2
2
denn sie haben ganz verschiedene
Niederlande
30
44
44
57
56
28
7
-10
-23
-26
-2
Erfahrungen und Traditionen mit EinÖsterreich
2
8
20
17
44
35
38
62
56
29
31
wanderung. Manche Staaten, wie
Polen
-12
-13
-14
-410
-17
-18
-14
-9
-13
-36
-20
Italien oder Spanien, waren ursprünglich eher Entsende- als EmpPortugal
29
32
38
48
65
70
64
47
38
26
20
fängerländer und sind erst in jüngeRumänien
-13
-6
-3
-4
-558
-2
-7
-10
-7
-6
1
rer Zeit zu Einwanderungs- oder auch
Slowenien
-1
-5
11
3
5
2
4
2
6
6
14
Transitländern geworden. Die InterSlowakei
2
1
1
-22
1
1
1
3
3
4
7
essen der einzelnen Staaten unterFinnland
5
4
3
2
6
5
6
7
9
11
14
scheiden sich auch je nach dem, wie
Schweden
6
11
14
24
29
31
29
25
27
51
54
hoch der Migrationsdruck auf ihnen
lastet bzw. wie solidarisch sie sich
Ver. Königreich
58
97
138
144
151
158
178
227
193
247
175
mit den übrigen Mitgliedstaaten erKroatien
0
-4
-23
-52
14
9
12
12
8
7
6
klären können und wollen. So dränEJR Mazedonien
-2
-2
-2
-3
-3
-25
-3
0
-1
-1
0
gen die momentan besonders von
Türkei
101
99
79
58
2
-1
-3
1
-1
-3
0
Einwanderung betroffenen Staaten
Island
0
1
1
2
1
0
0
1
4
5
4
an den Außengrenzen wie Zypern,
Liechtenstein
0
1
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Griechenland, Malta oder auch Polen
darauf, dass die anderen EU-Staaten
Norwegen
10
13
19
10
8
17
11
13
18
24
40
mehr Asylbewerber übernehmen solSchweiz
-3
11
25
24
41
48
42
38
32
37
69
len. An einer Verbesserung ihrer Asyl(1) Bruch in der Reihe: Frankreich 1997; nur französisches Mutterland.
systeme, die aus ihrer Sicht womöglich einen weiteren »pull-Faktor«,
Abb. 3 Wanderungssaldi der Staaten der EU und weiterer europäischer Länder (1997–2007) in Tausend
also ein weiteres Wanderungsmotiv,
© Eurostat Jahrbuch 2009, S. 167
darstellen könnte, haben sie eher weniger Interesse. Die nördlicheren und
Ein gemeinsames europäisches Asylsystem?
westlichen Staaten hingegen drängen auf eine Übernahme der
Asylstandards in diesen Ländern, damit sich eine Weiterwande1999 hatten die Staats- und Regierungschefs beschlossen, ein gerung auf der Suche nach dem »besten Asylsystem« erübrige. Das
meinsames europäisches Asylsystem zu errichten. Darin wurde
Vereinigte Königreich und Irland, aber auch Dänemark behalten
bislang festgelegt, dass nur ein Staat jeweils für die Behandlung
sich Sonderregelungen vor. Wieder andere, wie Schweden, würeines Asylbegehrens zuständig ist; Regelungen über die Aufden am liebsten auch die Wirtschaftsmigration gemeinsam regeln. Daher sind politische Kompromisse oft das Ergebnis komplizierter
40.000
Aushandlungsprozesse auf der Basis
30.000
der von der Europäischen Kommission vorgelegten Richtlinienentwürfe
20.000
im Rat der für Migration und Integra10.000
tion zuständigen Minister sowie zwischen dem Rat und dem Europäi0
schem Parlament.
(1) Provisional figures; EU-27, 222 635 asylum applications in 2007; Iceland, Norway and Switzerland, 2006.
Abb. 4
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Heft 60 · 2010
Asylanträge 2007 (»Asylum applications«)
© Eurostat Yearbook 2010 (engl.), p. 202
Einwanderungsp olitik in der EU – Ko oper ation und gemeins ame Ge se t zgebung
26.10.10 15:21
PETRA BENDEL
28
EU-27
Eurozone
Belgien
Bulgarien
Tsch. Republik
Dänemark
Deutschland
Estland
Irland
Griechenland
Spanien
Frankreich
Italien
Zypern
Lettland
Litauen
Luxemburg
Ungarn
Malta
Niederlande
Österreich
Polen
Portugal
Rumänien
Slowenien
Slowakei
Finnland
Schweden
Ver. Königreich
Kroatien
EJR Mazedonien
Türkei
Island
Norwegen
Schweiz
Erwerb der StaatsZahl der
angehörigkeit
Asylanträge
Entscheidungen
2005
2006
2006
2007
2006
2007
197.410 218.935 237.970
:
:
:
129.855 136.100 146.205
:
:
:
:
:
8.870
11.575
8.345
:
:
6.738
500
815
695
770
2.626
2.346
2.730
1.585
3.020
2.280
10.197
7.961
1.960
2.225
925
850
117.241 124.566 21.030
19.165 30.760 28.570
7.072
4.781
5
15
5
15
4.073
5.763
4.240
3.935
4.245
3.810
:
1.962 12.265
25.115
11.180 20.990
42.860 62.375
5.295
7.195
4.065
5.400
154.827 147.868 30.750 29.160 37.495 29.150
:
35.266 10.350
:
9.260
:
3.952
:
4.540
6.780
5.585
7.170
20.106 18.964
10
35
15
20
435
467
145
125
130
145
954
1.128
525
425
890
1.035
:
6.101
2.115
3.420
2.020
2.805
:
474
1.270
1.380
1.185
955
28.488 29.089 14.465
7.100 14.180
:
34.876 25.746 13.350 11.920 15.490 16.045
2.866
989
4.225
7.205
7.280
6.185
:
3.627
130
225
105
110
767
29
380
660
365
590
2.684
3.204
500
370
900
540
1.393
1.125
2.850
2.640
2.815
2.970
5.683
4.433
2.275
1.405
2.520
2.020
39.573 51.239 24.320 36.205 46.395 32.470
161.755 154.015 28.320 27.905 27.520 27.630
:
12.292
:
:
:
:
2.660
2.147
:
:
:
:
6.901
5.072
:
:
:
:
:
:
40
:
30
:
12.655 11.955
5.320
:
4.215
:
38.437 46.711
8.580
:
:
:
Asylentscheidungen
davon
negativ (%)
2006
2007
57,8
:
66,9
:
70,8
:
30,9
31,8
72,7
68,9
81,6
44,1
57,8
44,6
100,0
66,7
90,6
90,0
85,9
98,5
95,0
95,5
92,4
88,5
39,7
:
31,9
32,3
0,0
50,0
19,2
34,5
55,6
41,5
60,1
49,0
53,6
34,6
53,0
:
37,9
41,4
12,8
29,7
71,4
77,3
74,0
57,6
63,3
50,0
30,6
39,7
61,1
51,7
27,3
37,5
74,2
70,5
:
:
:
:
:
:
66,7
:
48,0
:
:
:
Abb. 5 Erwerb der Staatsangehörigkeit und Asylanträge
nahme, die Qualifizierung und die Standards für Asylverfahren
wurden zwar EU-weit fixiert, aber sehr unzulänglich in den Mitgliedstaaten umgesetzt. Ob ein Asylgesuch erfolgreich ist, hängt
daher immer noch davon ab, in welchem Mitgliedstaat es gestellt
wird: Griechenland, Irland, Spanien und Slowenien haben die geringsten Anerkennungsraten (eurostat Pressemitteilung 64/2010,
4. Mai 2010).
In einer zweiten Phase zur Errichtung eines gemeinsamen Asylsystems, die bis 2012 abgeschlossen werden soll, werden einige
dieser Richtlinien neu verhandelt. Eine neue Asylagentur mit Sitz
in Malta wird errichtet. Sie soll die Kooperation zwischen den
Mitgliedstaaten verstärken, indem sie bewährte Beispiele (sogenannte »good practices«) hervorhebt, Beamte ausbildet und die
Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten stärkt.
Irreguläre Einwanderung und Grenzkontrolle
Zur Kontrolle der Grenzen haben die EU-Mitgliedstaaten gemeinsame elektronische Überwachungssysteme geschaffen. Sie sollen irreguläre Grenzübertritte aufdecken und sogenannte »overstayers« aufspüren, also solche Personen, die länger in einem
Zahl der positiven
Entscheidungen
2006
2007
55.135
:
23.490
:
2.440
:
95
335
365
390
170
475
1.950
7.870
0
5
395
375
195
165
205
245
2.855
3.350
5.215
:
170
210
10
10
95
60
370
540
200
250
550
625
4.345
:
4.065
5.195
2.465
3.035
30
25
55
135
10
10
10
95
695
840
22.745 15.640
5.045
6.805
:
:
:
:
:
:
0
:
1.685
:
:
:
© Eurostat Jahrbuch 2009, S. 173
Land verweilen als es ihnen ihre Aufenthaltsgenehmigung erlaubt. Besonders umstritten ist die »Rückführungsrichtlinie« (COM 2005/0391),
mit der eigentlich Standards für die
Behandlung und die Rückführung
von Migrantinnen und Migranten
»ohne Papiere« gesetzt werden sollen. Insbesondere die darin enthaltene Regelung, nach welcher irregulär aufhältige Migranten unter
bestimmten Bedingungen bis zu 18
Monate lang in Haft genommen werden können, hat Menschenrechtsorganisationen und Internationale Organisationen auf den Plan gerufen.
Sie wenden sich auch gegen die Möglichkeit, selbst besonders verletzliche Personengruppen, Minderjährige und Opfer von Menschenhandel
festzusetzen. Schließlich wird kritisiert, dass rückgeführte Personen bis
zu fünf Jahre an einem Wiedereintritt
in einen EU-Mitgliedstaat gehindert
werden können. Andererseits aber
hat sich die Europäische Union
darum bemüht, Menschenhandel
und -schmuggel zu unterbinden,
indem sie Transportunternehmer
und Arbeitgeber von irregulär aufhältigen Personen bestraft und die
Opfer schützt.
Zur Zielscheibe der Kritik gerät
immer wieder die europäische Grenzschutzagentur »FRONTEX«: Vor allem
aber ihre Operationen auf See werden von Nichtregierungsorganisationen beanstandet, da sie zentrale
Flüchtlingsrechte, allen voran das
Prinzip der Nicht-Zurückweisung von
Flüchtlingen (»non-refoulement«),
unterliefen (http://frontex.antira.info/).
Externe Dimension der
Migration
Seit 2005 versucht die Europäische Kommission Anreize für die
Herkunfts- und Transitländer von Migrantinnen und Migranten
zu schaffen, damit diese ihre Grenzen selbst stärker kontrollieren. Hier überlappt sich die Migrationspolitik mit angrenzenden
Politikfeldern: der Außen- und Sicherheitspolitik, der Außenhandelspolitik, der Europäischen Nachbarschaftspolitik.
Viel diskutiert wird derzeit das Konzept der »zirkulären Migration«: Einwanderer sollen demnach die Möglichkeit erhalten,
mehrfach Visa zu bekommen, Sozialversicherungsbeiträge in ihre
Heimatländer zu übertragen und bei Rückkehr einen gewissen
Lebensstandard zu erhalten. Außerdem hat die EU Rücknahmeübereinkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten abgeschlossen. Ein Pilotprojekt ist das »Centre for Information and
Management of Migration« in Mali (CIGEM), das über Einwanderungsbedingungen informiert; ein weiteres ist in Marokko geplant. Die Europäische Union will auch mit den sogenannten Diaspora-Organisationen stärker zusammenarbeiten. Diese
Gruppen unterhalten oft enge Kontakte zu ihren Herkunftsländern, organisieren entwicklungspolitisch wichtige Partnerschaften und vernetzen Migrantenselbstorganisationen miteinander.
Einwanderungsp olitik in der EU – Ko oper ation und gemeins ame Ge se t zgebung
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26.10.10 15:21
Arbeitsmigration
Die Europäische Kommission hat mehrere
Richtlinienentwürfe für jeweils eine Personengruppe vorgelegt: für Saisonarbeiter, für
bezahlte Auszubildende und Praktikanten
(beide noch anhängig), für Studierende, Forscher, Hochqualifizierte und Arbeitnehmer,
die innerhalb eines Betriebes den Arbeitsplatz von einem Land zum anderen wechseln.
Die sogenannte »Blue Card«, ursprünglich
konzipiert, um bürokratische Barrieren für
qualifizierte Einwanderer abzubauen, hat auf
dem Verhandlungsweg aufgrund von Interventionen der Mitgliedstaaten bis zu ihrer
Verabschiedung 2009 etliche Federn gelassen: Die meisten Mitgliedstaaten vertreten
die Position, dass in Europa bislang keine geAbb. 6 Demonstration in Paris am 4.9.2010 gegen »Fremdenfeindlichkeit« und die Ausweisung von rund
meinsame Arbeitsmarktpolitik existiere und
1.000 Roma aus Frankreich nach Rumänien und Bulgarien durch die französische Regierung.
somit auch die Kompetenz für die Zuwande© Lucas Dolega, picture alliance, dpa
rung von Drittstaatsangehörigen in die Arbeitsmärkte nationalstaatliche AngelegenAnspruch und der Notwendigkeit gerecht zu werden, jenen Menheit sei. So müssen Bewerber um eine europäische »Blue Card«
schen Schutz zu gewähren, die die EU darum ersuchen und die
mindestens für ein Jahr ein Arbeitsplatzangebot vorweisen, eine
ihres Schutzes bedürfen. Die Kooperation mit den Herkunftsentsprechende Ausbildung und Mindesteinkommen im jeweiliund Transitländern von Migrantinnen und Migranten ist sichergen Mitgliedstaat. Nach zwei Jahren können sie in einen anderen
lich noch ausbaufähig. Bislang noch kaum thematisiert hat die
EU-Staat weiterwandern, müssen dort aber erneut dieselben KriEuropäische Union auch Fragen der klimainduzierten Migration,
terien erfüllen. Die zunächst anvisierte Bewegungsfreiheit konnte
die den meisten Prognosen zufolge künftig stark ansteigen wird.
für sie freilich nicht durchgesetzt werden. Blue-Card-Inhaber
Dringender Diskussionsbedarf besteht in den Mitgliedstaaten
können innerhalb von sechs Monaten ihre Familien mitbringen;
derzeit ferner über die Integration derjenigen, die bereits zu uns
auch die Familienmitglieder haben das Recht, in der EU zu arbeigekommen sind. Hier wie auch in der Arbeitsmigration wird sich
ten und können den fünfjährigen Aufenthalt anrechnen lassen,
die Politik auf absehbare Zeit aber noch wie ein Flickenteppich
mittels dessen sie dann den Status langfristig aufhältiger Drittunterschiedlicher nationaler Gesetzgebungen mit sehr lockerem
staatsangehöriger erhalten können.
gemeinsamem Rahmen ausnehmen. Allenfalls ein – durch die
Kommission gefördertes – politisches Lernen voneinander kann
Integrationspolitik
dazu beitragen, innerhalb Europas eine stimmigere und aufeinander abgestimmtere Migrations- und Integrationspolitik zu beObwohl die Europäische Union keine Rechtsetzungsbefugnis für
treiben.
die Integrationspolitik innehat, gibt es bereits seit einer Dekade
eine ganze Reihe von Richtlinien, die integrationsrelevante AsLiteraturhinweise
pekte beinhalten. So wurden die Rechte von Drittstaatsangehörigen festgelegt, der Familiennachzug gemeinsam geregelt und
Angenendt, Steffen/Parkes, Roderick (2009): EU-Migrationspolitik nach LisVorgaben für die Antidiskriminierung gemacht. Diese wurden ersabon und Stockholm, SWP-Aktuell 71, Berlin.
gänzt von solchen Richtlinien, die nicht primär auf die Integration
von Drittstaatsangehörigen abzielten, aber den ArbeitsmarktzuAngenendt, Steffen, Parkes, Roderick (2010): Wanderer, kommst Du nach
gang und die -integration und den Zugang und die Rechte von
Europa? Strategien zur Anwerbung Hochqualifizierter in der EU in: InternatiAsylsuchenden, Flüchtlingen und Personen betreffen, die subsionale Politik (IP), Juli/August 2010, S. 74–78.
diären Schutz genießen.
Bendel, Petra (2009): Europäische Migrationspolitik: Bestandsaufnahme
Integrationspolitik erfolgt ferner über rechtlich nicht bindende,
und Trends. In: FES, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik (Hrsg.): WISO
aber politisch dennoch folgenreiche Maßnahmen: So hat der Rat
Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und SozialpoliGemeinsame Grundprinzipien für Integration (GGP) erlassen,
tik, Mai 2009, http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06306.pdf
und er trifft sich regelmäßig, um über diese Themen zu beraten.
Die Europäische Kommission hat Finanzierungsfonds zur FördeHofmann, Rainer/Löhr, Tillmann (Hrsg.) (2008): Europäisches Flüchtlingsrung von Integrationsprojekten errichtet, bemüht sich um Verund Einwanderungsrecht. Eine kritische Zwischenbilanz, Baden-Baden
netzung von Nichtregierungsorganisationen und nationalen
(Nomos).
Kontaktstellen für Integration, hat bereits drei Handbücher für
Lavenex, Sandra (2009): Die Europäische Union. Focus Migration, LänderEntscheidungsträger und Praktiker herausgegeben und »beprofil 17, online: www.focus-migration.de/uploads/tx_wilpubdb/LP_17_
währte Praktiken« vorgestellt. Über Integrationsindikatoren solEU.pdf
len die bislang erreichten Ergebnisse in den Mitgliedstaaten
überprüft werden.
teer Steeg, Markus (2005): Das Einwanderungskonzept der EU. Zwischen politischem Anspruch, faktischen Regelungsbedürfnissen und den primärrechtlichen Grenzen in Titel IV des EG-Vertrages, Baden-Baden (Nomos)
29
Ausblick
Die groben Linien der europäischen Einwanderungspolitik wurden in den vergangenen zehn Jahren gelegt. Sie war zu großen
Teilen dominiert durch den Aspekt der Kontrolle von Migrationsbewegungen. Die drängendste Aufgabe liegt künftig darin, dem
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Weinzierl, Ruth/Lisson, Ursula (2007): Grenzschutz und Menschenrechte.
Eine europarechtliche und seerechtliche Studie, Oktober, Berlin.
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MATERIALIEN
M 1 EU-Einwanderungspolitik nach dem Vertrag über die
Arbeitsweise der Europäischen Union (»Vertrag von
Lissabon«)
Artikel 79 (ex-Artikel 63 Nummern 3 und 4 EGV)
(1) Die Union entwickelt eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat
aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung
von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll.
(2) Für die Zwecke des Absatzes 1 erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in folgenden Bereichen:
a) Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen sowie Normen
für die Erteilung von Visa und Aufenthaltstiteln für einen
langfristigen Aufenthalt, einschließlich solcher zur Familienzusammenführung, durch die Mitgliedstaaten;
b) Festlegung der Rechte von Drittstaatsangehörigen, die
sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, einschließlich der Bedingungen, unter denen sie sich in den
anderen Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen;
c) illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt, einschließlich Abschiebung und Rückführung solcher Personen, die
sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten;
d) Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des
Handels mit Frauen und Kindern.
(3) Die Union kann mit Drittländern Übereinkünfte über eine
Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen in ihr Ursprungs- oder Herkunftsland schließen, die die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten oder die Anwesenheit oder den Aufenthalt in diesem
Gebiet nicht oder nicht mehr erfüllen.
(4) Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten Maßnahmen festlegen, mit denen die Bemühungen
der Mitgliedstaaten um die Integration der sich rechtmäßig in
ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen
gefördert und unterstützt werden.
(5) Dieser Artikel berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,
festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern
in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen.
© http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2007:306:SOM:DE:HTML
M 2 »Europa kneift«
Italien verabschiedet ein rabiates Einwanderungsrecht, und von
der EU gibt es keine Stellungnahme. Wer keine gültigen Aufenthaltspapiere hat, soll künftig bis zu 10.000 Euro Strafe zahlen. Beamte werden verpflichtet, »Illegale« der Polizei zu melden, auf die
Vermietung von Wohnungen an Menschen ohne Aufenthaltstitel
stehen bis zu drei Jahre Haft. Rom führt überdeutlich vor Augen,
was für die gesamte EU gilt: Es gibt keine klare Strategie, Rhetorik und Handeln stimmen nicht überein.
Viele Italiener, die im 19. Jahrhundert nach Argentinien auswanderten, brachten kein Geld mit. Und die meisten waren auch
nicht hoch qualifiziert. Die Bauern, Landarbeiter und Handwerker vertrauten auf ihre Arbeitskraft. Was damals selbstverständlich war, wird in Italien bald Straftat sein. Dass nämlich, wer daheim keine Chance mehr sieht, sich eine neue Heimat sucht.
Diese Politik von Regierungschef Silvio Berlusconi ist vollkommen indiskutabel. Entsprechend scharf fiel die Kritik von Flüchtlingsorganisationen und den Vereinten Nationen an dem »Sicherheitsgesetz« aus, in dem die neuen Regeln stehen. Zudem hat
Italien im März begonnen, Flüchtlinge schon auf See aufzugreifen
und nach Libyen zu bringen. UN-Flüchtlingskommissar Antonio
Guterres nennt das illegal, beteiligte Beamte sprechen beschämt
von »inhumanen Maßnahmen«. Der Europarat, der Vatikan und
zivilgesellschaftliche Organisationen protestieren. Berlusconi
selbst schreckt aber nicht davor zurück, Sammellager in Italien
mit Konzentrationslagern zu vergleichen, denen die Abschiebung
nach Libyen allemal vorzuziehen sei.
Und die EU? Sie schweigt. Zwar hat das Europaparlament gerade
einigen neuen Asylregeln zugestimmt – aber für Asylanträge sind
immer noch allein die EU-Mitgliedstaaten zuständig, über die
Nicht-Europäer einreisen. Es wird darüber diskutiert, wie den
Ländern, wo besonders viele Anträge gestellt werden, geholfen
werden kann. Getan wird aber praktisch nichts.
Einwanderer, auch uneingeladene, kommen aber ständig in Europa an. Maßnahmen tun also not. Das sehen vor allem die Einreiseländer so. So gesehen, ist die überzogene Politik Italiens eine
Folge des Nichthandelns der EU. Der Staatenbund schiebt die
Verantwortung auf die Länder mit Außengrenzen ab. Entsprechend wirkt die Haltung der Europäischen Kommission zu Italiens
Handeln wie eine stillschweigende Anerkennung. Sie scheint geradezu dankbar, dass ihr römisches Enfant Terrible sich einer
Sache annimmt, um die sie sich selbst nur ungern kümmert.
Die EU ist bezüglich der Einwanderung genauso doppelzüngig
wie Italien. Vor allem konservative Parteien machen in Wahlkämpfen mit Antimigrations-Rhetorik Stimmung. Aber harte
Sprüche gehen mit weichem Handeln einher. Die Anwesenheit
von Arbeitskräften ohne Papiere wird weitgehend geduldet, denn
diese Leute werden gebraucht. Nach Daten des Hamburgischen
Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) ist die Beschäftigungsrate von
Einwanderern gerade in Italien »extrem hoch« – nicht zuletzt
dank der blühenden Schattenwirtschaft.
So erklären sich auch die vielen »Regularisierungen«: In den vergangenen 20 Jahren hat Italien in Amnestie-Programmen illegale
Einwanderer fünfmal nachträglich legalisiert. Das HWWI schätzt,
dass mehr als die Hälfte der heute legal in Italien lebenden Einwanderer so ihren Status erhalten haben. Berlusconis persönliches Rechtsverständnis ist ähnlich flexibel. Er hat sein Kabinett
dafür sorgen lassen, dass diverse Strafverfahren gegen ihn nie
abgeschlossen werden konnten.
Italien und Europa müssen sich dem Thema Migration ernsthaft
stellen. Die alternden Gesellschaften zwischen Nordsee und Mittelmeer brauchen Zuwanderer. Gerade weil das Thema vielschichtig und emotionsbeladen ist, ist eine europäische Debatte nötig.
Die italienischen Einwanderer haben Argentinien im 19. Jahrhundert vorangebracht, ihr Einfluss ist bis heute zu spüren. Ähnlich
erweisen sich Neuankömmlinge auch in Europa immer wieder als
wertvoll. Mit ihrem Arbeitswillen und ihrer Risikobereitschaft tragen sie dazu bei, Wohlstand und zusätzliche Jobs zu schaffen.
Profitieren können alle – die Einwanderer, ihre Familien in der
alten Heimat und die Gesellschaft ihrer neuen Heimat. Europas
Politiker müssten den Wandel gestalten, aber bisher bedienen sie
nur die Angst vor Veränderung.
© Claudia Isabel Rittel, 2009 www.inwent.org/ez/articles/151674/index.de.shtml
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M 3 Rede des Preisträgers der PRO ASYLHand 2010: Gabriele Del Grande
»Erst einmal danke ich Ihnen und Euch. Es ist
mir eine Ehre, diese Anerkennung für meine
Arbeit, die viele Mühen mit sich bringt, zu erhalten. Vor allem wenn man bedenkt, dass
Ihr mir in Deutschland einen Preis verleiht,
während mir der italienische Innenminister
die Polizei nach Hause schickt und mir keine
Zeitung einen Arbeitsvertrag anbietet.
Das lässt mich an einen anderen Preis denken. Der Preis der Internationalen Liga für
Menschenrechte, der letztes Jahr an die tunesischen Fischer gegangen ist, die 44 Migranten in der Nähe von Lampedusa aus Seenot
gerettet haben. Vor einiger Zeit hat Italien
die zwei Kapitäne genau für diese Rettung zu
zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Das ist
der Wind, der an der europäischen Grenze
weht. Die Rettung von Menschenleben ist zur
M 4 Der deutsche Botschafter in Libyen, Bernd Westphal (r), und sein Mitarbeiter Andreas von MettenStraftat geworden.
heim in der libyschen Hauptstadt Tripolis zu Beginn einer Konferenz von Vertretern afrikanischer
Ich denke an den italienischen Fischer RugStaaten und der Europäischen Union, auf der Wege zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung
gero Marino, der einen Bootsflüchtling zugesucht werden sollen. Die Teilnehmerstaaten legten Rahmenbedingungen für eine Migrationsrück ins Meer stieß, weil er an Bord gekompolitik fest, die den Interessen der Herkunftsländer, der Transitstaaten und der Bestimmungsländer
men war, um Hilfe zu erbitten. Er hat ihn vor
entspricht. Libyen ist eines der wichtigsten Transitländer für Afrikaner, die versuchen, auf illegalem
seinen eigenen Augen ertrinken lassen, wähWege mit Booten nach Südeuropa zu gelangen.
© Sabri Elmhedwi, picture alliance, dpa, 22.11.2006
rend er sich immer weiter vom Schlauchboot
entfernte, um keinen Ärger mit der Justiz zu
bekommen. Wie ein Tier zurückgestoßen ins Wasser. So wie es
handelt es sich sogar um europäische Passagiere auf den Booten,
die Patrouillen machen, die seit Mai 2009 Flüchtlinge nach Libyen
menschlich gesehen, nicht rechtlich.(…)
zurückschieben. Ich habe selber mit einigen der ZurückgeschoDa frage ich mich: Wie ist es möglich, dass das alles kein Aufsebenen gesprochen. Viele von ihnen sind noch in libyschen Gehen, kein Mitleid erregt? Dass ein Fischer im Gefängnis landet,
fängnissen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalweil er ein Menschenleben gerettet hat, dass ein anderer Fischer
ten, ein Ende ist nicht abzusehen. Ihre einzige Schuld: Sie haben
nicht rettet, sondern tötet, dass die Beamten der italienischen
versucht, Europa zu erreichen, um dort einen Asylantrag zu stelRepublik kein Erbarmen gegenüber schwangeren Frauen und
len. Sie kommen aus Eritrea, Somalia, Äthiopien. Einer von ihnen
Kindern haben, die sie in libyschen Gefängnissen verschmachten
ist gestorben, als er erneut versuchte, das Mittelmeer zu überlassen, obwohl sie keinerlei Verbrechen begangen haben? Dass
queren, um nach Malta zu gelangen. Einige haben mir von Szenen
ein Familienvater nach mehr als 10 Jahren aus Italien abgeschomit den Beamten der »Guardia di Finanza« (Zoll) erzählt, die sie
ben werden kann, obwohl er dort eine Ehefrau und ein wenige
nach Libyen zurückschieben mussten und Mitleid mit ihnen hatMonate altes Kind hat? (…) Der Feind sind die Flüchtlinge, und wir
ten. Am Nachmittag des 30.8.2009 weinte ein Offizier, weil er
sind die Bedrohten. Sie bedrohen unsere Identität, unseren soziawusste, dass die Frauen, die da vor ihm saßen, von libyschen Polilen Frieden, aber vor allem bedrohen sie unseren Reichtum. Ich
zisten vergewaltigt werden würden. Er wusste, dass die Kinder für
sehe die Gleichgültigkeit der »rechtschaffenden Menschen«. Die
viele Monate oder Jahre das Sonnenlicht nicht mehr sehen würNormalisierung des Rassismus, seine Institutionalisierung. Und
den. Und dass die Männer jeden Tag mit Stöcken geprügelt, beleivor allem das Fehlen von Mitleid. (…)
digt und schikaniert werden würden, alles im Namen der europäJeden Tag spricht man in Italien von Migration, trotzdem kennt
ischen Sicherheit. Der Beamte weinte, aber er folgte der
niemand ihre Geschichten. Niemand kennt ihre Namen. Und
Anweisung. Vielmehr, er respektierte EIN Gesetz. Das Gesetz, das
genau da verändert sich alles. Wenn ich von einem Vater oder
auf der Basis des Freundschaftsvertrags zwischen Libyen und Itaeiner Mutter erzähle, deren Kind auf dem Weg nach Italien erlien zur Zurückschiebung nach Libyen verpflichtet. Denn die antrunken ist, ist der Zuhörer berührt. Er denkt nicht an Zahlen, an
deren italienischen Gesetze, wie auch die Verfassung, verpflichStatistiken, an Studien. (…)
ten ihn, diese Menschen an Land zu bringen, damit sie einen
Abschließend möchte ich alle dazu einladen, sich deutlich zu maAsylantrag stellen können. Aber er hat es nicht getan.
chen, in welch einer bedeutsamen Zeit wir gerade leben. Ihr wisst,
Und in Libyen, was geschieht dort? Ich war selber in Libyen, ich
seit 1988 zählt das Mittelmeer mindestens 15.000 Tote auf den Mihabe die Gefangenlager gesehen, ich bin durch die Vorstädte von
grationsrouten. Und das ist nur eine abgerundete Zahl.
Tripolis gefahren, in denen die Migranten leben, die darauf warEuropa hat das gar nicht wahrgenommen. Wenn mich meine
ten, das Meer zu überqueren. Aber ein Geräusch ist mir am
Enkel fragen, ob ich es gewusst habe, ob ich von den Toten im
stärksten Erinnerung geblieben. Ein Geräusch, das mich seit MoMeer gewusst habe, ob ich von den fünf Millionen illegal in Eunaten verfolgt. Es ist das Rattern von Rädern, das Schlagen, Vibropa Lebenden gewusst habe, die aller bürgerlichen und politirieren und Kreischen von Eisen. Unterlegt mit stetigen Klagelauschen Rechte beraubt wurden, da sie keine Papiere hatten, ob ich
ten von Menschen. Einige Male habe ich auch nachts davon
von den Razzien der Polizei in den Häusern von Menschen ohne
geträumt. Es ist das Geräusch der Deportationen. (…)
Papiere wusste, von den Zurückweisungen nach Libyen, von AbDie Zukunft ist schon jetzt. Also können wir das Problem des Sterschiebungen ganzer Familien, werde ich ja sagen müssen, ja, ich
bens auf See und der nach Libyen Deportierten nicht einfach verwusste es. Und wie ich wussten es auch alle anderen. Aber haben
gessen, weil es uns weit weg erscheint, weil es uns angeblich
wir genug gegen dieses Unrecht getan?
nichts angeht. Die Toten auf See sind oftmals Verwandte unserer
© www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/b_Ueber_uns/Stiftung/Rede_von_Gabriele_del_
neuen Mitbürger/-innen, die schon in Europa sind. Manchmal
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M 5 BDA: »EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration setzen
richtiges Ziel«
Zu den von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström vorgestellten
Richtlinien zur Arbeitsmigration erklärt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA):
»Der internationale Wettbewerb um die Fachkräfte wird sich in
Folge des demografischen Wandels verschärfen. Trotz Wirtschaftskrise fehlen in Deutschland bereits heute über 60.000
Fachkräfte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Deshalb verfolgt die EU-Kommission mit ihren Richtlinien zur Arbeitsmigration zu Recht das
Ziel, die EU als Arbeitsstandort attraktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Insbesondere die Richtlinie zu den innerbetrieblich Versetzten setzt ein richtiges Signal für global agierende
Unternehmen. Für sie ist es essentiell, Mitarbeiter mit Schlüsselqualifikationen aus Drittstaaten schnell und unbürokratisch in
ihre europäischen Unternehmenszweige versetzen zu können.
Ebenso wie bei der Bluecard-Richtlinie kommt es entscheidend
darauf an, dass durch die EU-Richtlinien auf keinen Fall die notwendigen Handlungsspielräume für eine arbeitsmarktorientierte
Steuerung der Zuwanderung auf nationaler Ebene eingeschränkt
werden.
Deutschland braucht auf nationaler Ebene eine konsistente Zuwanderungspolitik, die unseren gesellschaftlichen und arbeitsmarktlichen Bedarfen dient und dabei den ausländischen Fachund Führungskräften auch Lebensperspektiven für sich und ihre
Familien bietet. Eine arbeitsmarktorientierte Steuerung der Zuwanderung nach transparenten und klaren Kriterien wie Qualifikation, Ausbildung und Sprachkenntnissen ermöglicht es, gezielt
und schnell auf Fachkräfteengpässe zu reagieren und damit diejenigen Menschen ins Land zu holen, die hier dringend benötigt
werden. »
© www.europaeische-bewegung.de/mitglieder/europa-profile-dermitgliedsorganisationen/mitglieder-von-a-z/mitglieder-b/bundesvereinigung-derdeutschen-arbeitgeberverbaende-bda
M 7 Roma in Europa
M 6 Antwort von EU-Kommissarin Frau Malmström auf eine
Anfrage aus dem EP mit der Nr. E-3486/2010
M 8 »Der Umgang mit den Roma ist eine Schande«
»Die Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den
Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung wurde am 25. Mai 2009 erlassen. Sie
soll die EU für diese spezielle Gruppe von Beschäftigten attraktiver machen. (…) Die Zulassung hochqualifizierter Arbeitskräfte
und die Nutzung des Potenzials des europäischen Arbeitsmarktes
ergänzen sich gegenseitig. Inwieweit die Union in der Lage ist,
neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu entwickeln sowie Innovation
und räumliche Mobilität zu unterstützen und gleichzeitig Migrationsströme erfolgreich zu steuern, wird maßgeblichen Einfluss
darauf haben, ob es der EU insgesamt gelingt, in den kommenden Jahren wirtschaftliches Wachstum und sozialen Fortschritt zu
fördern. Eine effiziente Migrationssteuerung gilt als Schlüsselelement der breit gefächerten Strukturreformen, die notwendig
sind, um den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung zu
begegnen und den zunehmenden Arbeitskräftemangel, insbesondere im Hochqualifiziertensegment, zu bewältigen. (… Im
Kontext der EU-Strategie 2020 wird die Beschäftigungsstrategie
den institutionellen Rahmen, der im Zuge der EU-Migrationspolitik für die Zulassungsregeln entsteht, durch politische Maßnahmen zur optimalen Nutzung des Potenzials der Arbeitsmigration
ergänzen. »
© Antwort auf die parlamentarische Frage E-3486/2010, 4.6.2010
Es hat gedauert, bis sich die EU-Kommission in den Kreis der
Frankreich-Kritiker eingereiht hat. Dafür ist der Ton, den Brüssel
jetzt anschlägt, um so schärfer. EU-Justizkommissarin Viviane Reding wurde deutlich: »Der Umgang der französischen Behörden
mit den Roma ist eine Schande.« Ihre Geduld mit Frankreich sei zu
Ende, fügt sie dann noch hinzu und schlägt mit der Faust auf das
Rednerpult. Die Lippen angespannt, der Blick stählern. Worte,
Gesten und Mimik zeigen deutlich, wie empört die Justizkommissarin ist. Und man kann wohl behaupten: Sie fühlt sich hintergangen und vorgeführt. Ende August waren zwei französische Minister nach Brüssel gereist und hatten versichert, dass die
Abschiebung der Roma nicht gegen die Freizügigkeitsregelung
und damit nicht gegen EU-Recht verstößt. Will heißen: dass jeder
Einzelfall wie vorgeschrieben geprüft wird und dass nicht gezielt
gegen Angehörige einer Volksgruppe vorgegangen wird. Das beteuerten auch französische Europaabgeordnete immer wieder,
etwa Veronique Mathieu von der Regierungspartei UMP.
»Frankreich respektiert voll und ganz EU-Gesetze und Richtlinien«, beteuerte Mathieu. Gesetze also, die den EU-Bürgern nicht
nur das Recht geben, dort zu leben wo sie wollen, sondern auch
eine Diskriminierung aufgrund der Herkunft verbieten. Jetzt
tauchte aber eine Dienstanweisung aus dem französischen Innenministerium auf, wonach unzulässige Lager, und zwar vor
allem die von Roma, systematisch zerstört werden sollen. »Es ist
schockierend, dass Regierungsmitglieder hier in Brüssel etwas
zusagen und versichern, und ihre Verwaltung daheim in Paris das
Gegenteil macht«, kritisiert Reding. Gut, dass der französische
Innenminister den Verweis auf Roma in der Dienstanweisung ge-
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© picture alliance, dpa
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strichen habe – nur: Worten, so Reding weiter, müssten jetzt auch Taten folgen. Die EUKommission als Hüterin der Verträge habe
dessen ungeachtet keine andere Wahl, als
Strafverfahren gegen Frankreich einzuleiten.
Die Entscheidung wird der Kommissarin zufolge innerhalb von zwei Wochen fallen. Parallel dazu hat Frankreich das Recht, sich zu
rechtfertigen. Es ist ausgesprochen selten,
dass die EU-Kommission öffentlich die Politik von Mitgliedsstaaten kritisiert, noch dazu
mit solch deutlichen Worten wie jetzt in diesem Fall. Das hatte viele Abgeordnete im Parlament aufgebracht. Da hieß es, die Kommission ziehe sich mit windelweichen Antworten
aus der Affäre, müsse endlich in die Pötte
kommen. Das Parlament selbst verabschiedete in der vergangenen Woche eine Resolution, in der Frankreich zum sofortigen Stopp
der Abschiebung aufgefordert wurde.
© Birgit Schmeitzner: »Der Umgang mit den Roma ist eine
Schande, www.tagesschau.de/ausland/euroma102.html (Zugriff 14.9.2010)
M 11
© Gerhard Mester, 2010
»Sarkozy räumt auf«
M 9 »Europa zozobra«, El Pais, Spanien
»Die Abschiebung der Roma, die die französische Regierung
unter Nicolas Sarkozy in diesem Sommer angeordnet hat, hat
eine Krise in der Europäischen Union hervorgerufen, wie es sie
bisher kaum gegeben hat. (…) Im Gegensatz zu der Tatenlosigkeit, mit der Europa vor zwei Jahren der von Berlusconi initiierten
Zählung der Roma in Italien zuschaute, erhielt der Populismus
von Nicolas Sarkozy gestern eine angemessene Antwort seitens
der Europäischen Kommission. Im offenen Gegensatz zu der
peinlichen Unterstützung der Mehrheit der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, die sich für einen zurückhaltenden diplomatischen Pragmatismus entschieden haben.« (17.09.
2010)
© www.elpais.com/articulo/opinion/Europa/zozobra/elpepiopi/20100917elpepiopi_1/Tes
M 10
» Auch Paris unterliegt EU-Regeln«, Hospodářské
noviny – Tschechien
»Haben große EU-Länder ein Recht auf bevorzugte Behandlung?
In Prag erinnert sich noch jeder der Worte des früheren Präsidenten Chirac, Tschechien habe [mit der Befürwortung des Irakkriegs]
eine gute Gelegenheit verpasst, zu schweigen. Jetzt hören wir
französische Stimmen in der Roma-Debatte, wonach niemand
Frankreich zu belehren habe. (…) Paris reklamiert für sich das
Recht, auf die Einhaltung seiner Gesetze zu pochen. Die EU-Kommission wiederum hat das volle Recht zu untersuchen, ob dabei
auch niemand wegen seiner Herkunft diskriminiert wird. (…) Die
mittleren und kleinen Länder sollten zur EU-Kommission stehen,
weil sie der Wächter der Verträge ist, der Regeln, auf die sich alle
verständigt haben. Es geht hier nicht um eine abstrakte Diskussion. Einst verwahrten sich Chiracs Frankreich und Schröders
Deutschland gegen Bestrafungen für ihre Schuldenpolitik. Wohin
dieser Kurs die ganze Union gebracht hat, spüren die 27 bis
heute.« (17.09.2010)
© http://hn.ihned.cz/c1–46477520-hadka-o-eurokomisi
M 12
» Europas Populisten«
»(…) Der Roma-Streit (…) dreht sich ums Grundsätzliche – um
Bürger- und Menschenrechte, die Wertebasis Europas. Damit
wird er symbolisch aufgeladen: Die Kommission zieht als Hüterin
der EU-Verträge gegen Frankreich, die Heimat der Menschenrechte, ins Feld. Dies mag erklären, warum einige Akteure die
Nerven verloren haben. Am Montag schwadronierte Pierre Lellouche, Frankreich sei »ein großes, souveränes Land«, das sich
von der Kommission nicht maßregeln lasse. Der Hüter der Verträge sei das französische Volk. Der Mann ist Europa-Staatssekretär. Er sollte wissen, dass es ureigene Aufgabe der Kommission
ist, darüber zu wachen, ob das gemeinsame Recht in der Union
eingehalten wird. Dazu gehört auch die Frage, ob Paris die Roma
im Einklang mit den Regeln der Freizügigkeit behandelt. Als
Nächstes rastete (…) die EU-Justizkommissarin Viviane Reding
aus. Sie nannte den Umgang der französischen Behörden mit den
Roma plakativ eine »Schande« und verstieg sich zu einem törichten Vergleich mit den Deportationen während des Zweiten Weltkriegs. Anstatt diesen Ausfall kühl zurückzuweisen, giftete am
Mittwoch Sarkozy, Luxemburg solle doch die aus Frankreich ausgewiesenen Roma aufnehmen. Sein Motiv: Reding stammt aus
Luxemburg. (…)
Die Regierung Sarkozy hat recht, wenn sie fordert, Länder wie Rumänien müssten mehr für die Roma tun und die EU-Kommission
habe strenger zu überwachen, wie ihre Hilfsgelder von der Regierung in Bukarest eingesetzt werden. Sarkozy ist auch kaum zu
verdammen, wenn er gegen illegale Siedlungen in Frankreich vorgeht. Dennoch haben sich der innenpolitisch angeschlagene Präsident und seine Regierung völlig verrannt. Sie taten aus populistischen Gründen so, als stellten die 15.000 ausländischen Roma
eines der größten Probleme Frankreichs dar – eine absurde Vorstellung. Sie ließen die Räumung der Lager und die Abschiebungen als Medienspektakel inszenieren, um rechte Wähler zu beeindrucken. Und sie redeten und agierten so, dass der Verdacht
entstehen musste, sie hätten es nicht auf einzelne Straftäter, sondern auf eine ganze Volksgruppe abgesehen. Dies aber wäre Rassismus.«
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© Stefan Ulrich: Europas Populisten, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.9.2010, S. 4
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I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
5. EU-Grenzschutzagentur Frontex:
»Bad Guy« europäischer Flüchtlingspolitik?
MARTIN GROSSE HÜTTMANN
D
34
ie Grenzschutzagentur »Frontex«
dient dem Schutz der gemeinsamen
Außengrenzen der Europäischen Union
(EU); der Name ist abgeleitet vom französischen Begriff für »Außengrenzen« (»frontières extérieures«). Seit die Kontrollen an
den europäischen Binnengrenzen abgeschafft worden sind, kann jeder in Europa
frei reisen, ohne dass er beim Überschreiten der Landesgrenze kontrolliert wird. Die
Freizügigkeit, die im Rahmen der sogenannten Schengen-Zusammenarbeit organisiert wird, gehört zu den größten Errungenschaften der europäischen Integration.
Die Kehrseite dieser Freizügigkeit ist freilich, dass jemand, der einmal legal oder
unerlaubt den Boden eines EU-Staates erreicht hat, auch in alle anderen SchengenStaaten weiterreisen kann. Um den Wegfall
der Kontrollen auszugleichen, schützen die
EU-Staaten die Außengrenzen der EuropäiAbb. 1 Das 26. »Management Board Meeting« von »Frontex« am 3.2.2010 in Madrid. »Frontex« ist eine
schen Union nun gemeinsam. Diese ZuEU-Agentur zur Sicherung der Außengrenzen mit Sitz in Warschau.
© picture alliance, dpa
sammenarbeit zu koordinieren, ist die
Hauptaufgabe der Grenzschutzagentur
»Frontex«. Die Agentur steht seit ihrer
EU sind, die geschützt werden sollen, sondern die Grenzen der
Gründung 2004 unter scharfer Beobachtung und wird von Kri27 EU-Staaten. Dies mag spitzfindig und wortklauberisch ertikern als Instrument zur Errichtung einer »Festung Europa«
scheinen, es zeigt jedoch die politischen Empfindlichkeiten, die
gesehen. Wenn afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer beim
in diesem Thema stecken. Die EU-Mitgliedstaaten achten streng
Versuch ertrinken, mit seeuntüchtigen Booten das rettende
darauf, dass sie in der Frage der Grenzsicherung und Kontrolle
Europa zu erreichen, steht Frontex und damit die EU im Mitteldie Verantwortung behalten, und in den einschlägigen gesetzlipunkt der medialen Aufmerksamkeit, weil sie für den massenchen Grundlagen und EU-Dokumenten wird dieser Vorbehalt
haften Tod von Flüchtlingen verantwortlich gemacht wird.
immer ausdrücklich betont (| M 7 |) – auch wenn die europäische
Dass nicht die Mitgliedstaaten der EU, sondern die EuropäiPraxis in den letzten Jahren zu einer »Europäisierung« der natiosche Union und ihre Grenzschutzagentur im Zentrum der Krinalen Grenzpolitiken geführt hat, die noch längst nicht abgetik stehen, kommt den Regierungen in Berlin, Paris, Rom und
schlossen ist (vgl. Carrera 2010). Seit 2005, als die Medien von
Athen wahrscheinlich nicht ungelegen, weil ihnen Frontex und
einem »Massenansturm« auf die spanischen Enklaven Ceuta und
seine Beamten als »bad guys« die schmutzige Arbeit abnehMelilla in Nordafrika berichteten und die Bilder von Flüchtlingsmen.
dramen vor der südlich von Sizilien gelegenen Insel Lampedusa
sowie vor der Westküste Afrikas (Mauretanien und Senegal) und
auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln auf allen KaDie Sicherung der Grenzen gehört zu den klassischen Aufgaben
nälen zu sehen waren, ist dieses Thema zu einem Thema für die
eines Staates. Die Frage »Wer kommt rein und wer nicht?« ist eng mit
gesamte EU geworden. Die TV-Bilder von Flüchtlingen auf hoher
unseren Vorstellungen von Nationalstaaten und nationaler SouSee, die vor Bürgerkrieg und Elend fliehen, haben den Druck auf
veränität verknüpft. Es war kein Zufall, dass in den 1950er-Jahren
die europäische Politik erhöht. Da die EU-Staaten wie Spanien
die Anhänger der Europabewegung an den innereuropäischen
und Italien nicht in der Lage waren, diesem »Ansturm« Herr zu
Grenzen demonstrierten und die Schlagbäume niederrissen.
werden, lagen Forderungen nach europäischer Unterstützung auf
Heute sind innerhalb von Europa fast überall die Grenzen offen
der Hand.
und freies Reisen ist möglich. Territoriale Grenzen haben in
Im internationalen Maßstab sind die Richtung Europa strebeneinem schrankenlosen Europa ihre ursprüngliche, das heißt
den Flüchtlinge freilich nur ein kleiner Anteil der insgesamt
schützende Bedeutung verloren. Trotzdem ist die EU nach außen
15 Millionen Flüchtlinge, die weltweit auf der Suche nach Schutz
geschlossen und kontrolliert ihre Außengrenzen strenger als je
sind (vgl. Keeley 2010). In Europa ist die Zahl der Asylbewerber in
zuvor.
jüngster Zeit sogar gesunken: Im Jahr 2009 waren es noch
Die Kontrolle von Personen, die nach Europa kommen, wird
287.000, während zehn Jahre zuvor 445.000 Menschen Schutz vor
räumlich nach außen verschoben und, etwa im Mittelmeer, auf
Verfolgung in Europa gesucht haben (TIME, 05.07.2010, S. 34).
internationale Hoheitsgewässer verlagert. Frontex steht dabei als
Mit der Grenzschutzagentur Frontex haben die Kritiker der euroSymbol für diese neue Form der europäischen Grenzüberwapäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik nun einen Adressaten und
chung. Die Grenzschutzagentur heißt offiziell »Europäische
Buhmann gefunden. Frontex steht häufig im Mittelpunkt einer
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen
hoch politisierten Debatte. Da sich die Europäische Union auf inder Mitgliedstaaten der Europäischen Union«; diese Bezeichnung
ternationaler Ebene für den Schutz und die Einhaltung der Mensollte zum Ausdruck bringen, dass es nicht die Außengrenzen der
EU- Grenz schut z agent ur Fronte x
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schenrechte einsetzt und sich als »normative
Macht« (Ian Manners) die Verfolgung von
Normen und Werten auf die Fahnen geschrieben hat und diese zur Grundlage ihrer
Außenpolitik macht, gerät sie unter Rechtfertigungs- und Handlungsdruck, wenn im
Mittelmeer Flüchtlinge auf hoher See umkommen. Der Hauptvorwurf zielt darauf ab,
dass die Grenzschutzagentur Frontex das
sichtbarste Instrument der »Festung Europas« sei und dass die EU durch eine restriktive Flüchtlingspolitik, die primär auf Abwehr
ausgerichtet sei, ihre eigenen humanitären
Werte konterkariere und zu einer »Militarisierung« der Flüchtlingspolitik führe. Frontex
ist in dieser Perspektive sogar ein Instrument
zur Sicherung eines »hegemonialen« Kapitalismus: »Die freie Mobilität der ›Nutzlosen‹
soll vermindert und die Bewegungen der
›Nützlichen‹ flexibel ›gemanagt‹ werden, um
den Prozess der Kapitalverwertung stabil
und profitabel zu halten« (Georgi/Kasparek
Abb. 2 Aufbringung eines Fischerboots mit 42 »illegalen Immigranten« vor Lampedusa, Italien,
2009: 41; | M 2 |). Unter dem Stichwort »Fronam 26.3.2003.
© picture alliance, dpa,
texplode« versammelt sich eine transnationale Kampagne, die gegen die Grenzschutzagentur mobil macht. Ein Manifest, das 2008
von der Vereinigung »Noborder« beschlossen worden ist, formudass sich die Agentur um die technischen Details und die praktiliert ihre Kritik an Frontex in kämpferischer Sprache: »Die Militarische Umsetzung von Entscheidungen kümmern kann, während
sierung der Grenzen, die Überwachung der mediterranen Region und Ostsich die Regierungen auf die ›großen‹ Fragen konzentrieren. Dareuropas, die Rückführungsabkommen, das übergreifende Kontrollsystem,
über hinaus liegt drittens ein entscheidender Vorteil darin, dass
das Europa mit Frontex aufbaut – all diese Fakten müssen als InstruAgenturen nicht so stark wie gewählte Politiker dem öffentlichen
mente selektiver Inklusion und Rekrutierung migrantischer Männer und
Druck ausgesetzt sind und dass sie über Wahlperioden hinaus
Frauen verstanden werden, deren Bewegungen die Grenzen tagtäglich in
planen und langfristig angelegte Projekte durchsetzen können;
Frage stellen. Denn all diese Grenzen können migrantische Kämpfe nicht
dies erhöht die Kontinuität und Nachhaltigkeit politischer Entverhindern. Was vielmehr heute auf dem Spiel steht, ist die transnatioscheidungen. Viertens können Agenturen die Sichtbarkeit der EUnale Verknüpfung dieser Kämpfe« (zitiert nach Kopp 2009: 49).
Politik erhöhen, weil zum Beispiel die Lebensmittelbehörde EFSA
Die Agentur Frontex ist zweifellos ein wichtiger Pfeiler in der euroverantwortlich ist für die wissenschaftliche Beurteilung der Zupäischen Flüchtlingspolitik, und es ist keine Frage, dass Hunderte
lassung von Gen-Pflanzen und sie damit zu einem Symbol für die
oder Tausende von Flüchtlingen – es gibt keine genauen Zahlen –,
EU wird. Und schließlich können Agenturen die Mitwirkung von
die Jahr für Jahr auf dem Weg nach Europa zu Tode kommen, eine
nicht-staatlichen Akteuren wie Verbraucherschutz- und Umwelthumanitäre Katastrophe darstellen, für die die Europäische
gruppen (»stakeholders«) – eine entsprechende Regelung in den
Union Antworten finden muss (| M 4 |). Allein Frontex die politiStatuten der Agentur vorausgesetzt – verbessern. In der EU-Agensche Schuld dafür zuzuschreiben, hieße jedoch die Möglichkeiten
tur für Arbeitsplatzsicherheit zum Beispiel sitzen im Management
und Kompetenzen der Agentur überschätzen. Sie steht unter
Board, das die Arbeit der Agentur überwacht, neben Vertretern
Kontrolle der mitgliedstaatlichen Regierungen der EU und kann
der Kommission und der Mitgliedstaaten auch Vertreter der Arnur in dem Rahmen tätig werden, den ihr die Mitgliedstaaten gebeitgeber und Arbeitnehmer.
setzt haben.
Seit den 1990er-Jahren wurde das Thema Flüchtlinge und »irreguläre Migration« europaweit zu einem breit diskutierten Thema.
Allen Beobachtern war klar, dass in einem Europa ohne Binnen»Frontex« – die Gründung als Agentur
grenzen die Kontrolle an die Außengrenzen der EU verlagert werden musste und dass die Mittelmeeranrainer-Staaten GriechenIn der Europäischen Union gibt es – ähnlich wie in vielen EU-Staaland, Spanien und Italien auf eine Form der Lastenteilung drängen
ten und in den USA – eine wachsende Zahl von »Agenturen« (engl.
würden. Vor allem Griechenland und seine Inseln sind seit jeher
»agencies«) und regierungsnahen, aber formal unabhängigen Bedie erste Anlaufstation für Flüchtlinge aus der Türkei und dem
hörden. In Deutschland gehört die »Bundesarbeitsagentur« zu
Nahen Osten. Die griechischen Behörden vor Ort sind jedoch
den bekanntesten Institutionen, in den USA die Weltraumbehäufig überfordert. Die Zustände in den griechischen Flüchthörde NASA. In der EU sind inzwischen etwa drei Dutzend solcher
lingsunterkünften sind nach Informationen von MenschenrechtsAgenturen tätig. Aus Sicht der EU sprechen viele Gründe dafür, für
organisationen und Medienberichten zufolge unzumutbar, soeinen bestimmten Regelungsbereich eine eigene Agentur zu
dass das deutsche Bundesverfassungsgericht im September 2009
gründen; eine alternative Lösung wäre gewesen, neue Aufgaben
zum ersten Mal die Abschiebung eines irakischen Asylbewerbers
den bereits bestehenden Institutionen, etwa der Europäischen
nach Griechenland mit Verweis auf solche Berichte gestoppt
Kommission, zu übertragen (vgl. zum Folgenden Leonard 2009).
hatte; Begründung: das griechische Asylsystem entspreche nicht
In der politikwissenschaftlichen Literatur werden verschiedene
den europäischen Standards. Der Hintergrund dieser EntscheiGründe genannt, die erklären, weshalb es zur Gründung einer
dung ist folgender: Nach der sogenannten Dublin II-Verordnung
Agentur kommt. Im Kern geht es um die Frage, weshalb die EUsoll immer nur ein EU-Staat für ein Asylverfahren verantwortlich
Staaten überhaupt neue Aufgaben auf die EU übertragen. Die
sein und ein »Asyl-Shopping«, also der mehrfache Versuch, Asyl
Gründung einer Agentur ist aus Sicht der EU-Staaten zweckmäzu beantragen, verhindert werden. Nach dieser Vereinbarung ist
ßig, weil sie Informationen sammeln und den europäischen Reder EU-Staat für das Verfahren zuständig, in den der Asylbewergierungen zur Verfügung stellen kann. Dies führt, zweitens, dazu,
ber zuerst eingereist ist (vgl. Siegl 2009).
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Abb. 3 »Exklusion«
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© Jan Tomaschoff, 2008
In »Eurodac«, einer biometrischen Datenbank, werden alle Asylbewerber erfasst, sodass festgestellt werden kann, welche Person schon einen Asylantrag gestellt hat. Der genannte irakische
Asylbewerber war als erstes in Griechenland gestrandet, bevor er
nach Deutschland gekommen war. Dieses Beispiel zeigt, dass die
Vorstellung, in Europa gäbe es bereits eine vergleichbare und kohärente Asylpraxis, im Moment noch Illusion ist (vgl. Pelzer 2010).
Ein zweites Motiv für die Gründung von Frontex war die im Mai
2004 vollzogene erste Runde der Osterweiterung der EU und die
Überzeugung, dass die neu hinzu kommenden Staaten wie die
kleine Mittelmeerinsel Malta oder auch Polen und die Slowakische Republik Unterstützung bei der Außengrenzsicherung brauchen würden. Darüber hinaus hatten sich mit den islamistischen
Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 auch in Europa die politische Stimmung und die Diskussion über Asyl und
Migration gedreht: »Nach dem Anschlag auf das World Trade Center
bestimmen sicherheitspolitische Überlegungen die Debatte um Zuwanderung, die häufig mehr als Risiko denn als Chance dargestellt wird« (DER
SPIEGEL vom 06.09.2010, S. 29). Das Thema Migration wird seither
vielfach als »Sicherheitsproblem« diskutiert; in der Wissenschaft
hat sich für diesen Wandel in der Debatte und Wahrnehmung der
Begriff der »Versicherheitlichung« (»Securitization«) eingebürgert (vgl. dazu kritisch Neal 2009).
Die Themen Einwanderung und gemeinsame Grenzkontrollen
wurden aber schon vor »9/11« im Kreis der EU-Staaten diskutiert.
Bereits im Vertrag von Amsterdam, der 1999 in Kraft getreten ist,
war in Kapitel 62(2) zu lesen, dass die EU »Maßnahmen bezüglich
des Überschreitens der Außengrenzen der Mitgliedstaaten«
beschließen kann. Im »Haager Programm« der EU, das für den
Zeitraum 2005 bis 2009 die Leitlinien und Ziele der europäischen
Justiz- und Innenpolitik festschrieb, waren Fortschritte im »Management von Migrationsströmen« angemahnt worden.
Nach mehreren nationalen Initiativen schlug die EU-Kommission
im Jahre 2003 die Errichtung einer eigenständigen EU-Agentur
vor, die sich allein der Aufgabe der Sicherung der EU-Außengrenzen widmen sollte. Die Brüsseler Kommission kam zu dem Ergebnis, dass eine solche Agentur besser als sie selbst in der Lage sei,
die gemeinsame Kontrolle der Außengrenzen zu verbessern. Über
den Vorschlag der Kommission konnte sich der Rat, der einstimmig darüber beschließen musste, überraschend schnell einigen.
Eine Einigung war nur in einem Punkt nicht leicht zu finden.
Wer kontrolliert Frontex?
Streit im Kreis der EU-Staaten gab es vor allem über die Besetzung des »Management Board«, das als Kontrollorgan der Agentur eine zentrale Rolle spielen würde. Dies überrascht nicht, denn
eine Hauptsorge bei der Übertragung neuer Aufgaben auf die EU
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Abb. 4 »Asyl – Auffanglager – Außenstelle Afrika«
© Gerhard Mester, 2010
und bei der Errichtung neuer Behörden teilen alle Regierungen:
Wie kann die neue Institution kontrolliert werden und wie kann
sichergestellt werden, dass sie sich im Rahmen der von den Mitgliedstaaten gezogenen Grenzen bewegt und diese nicht überschreitet? Die Kommission hatte ursprünglich ein Überwachungsgremium mit zwölf Mitgliedern vorgeschlagen; zwei
sollten von der Kommission selbst gestellt werden, die restlichen
zehn wären aus dem Kreis der EU-Staaten entsandt worden. Die
Folge wäre gewesen, dass nicht alle Regierungen einen Vertreter
oder eine Vertreterin in das Management Board hätten entsenden können. Das Europäische Parlament ging in seinem Vorschlag sogar noch weiter und wies der Kommission und den EUStaaten jeweils sechs Plätze zu. Die EU-Staaten lehnten jedoch
beide Vorschläge ab und entschieden sich für ein Modell, wonach
jeder Mitgliedstaat einen Vertreter entsenden kann und darüber
hinaus noch zwei Vertreter der EU-Kommission hinzukommen
sollten. Aus Sicht der Regierungen ist diese »intergouvernementale« Lösung die gerechteste Variante; die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen hatten sich freilich gewünscht, dass
Kommissionsmitglieder und Vertreter der nationalen Regierungen gleich stark vertreten gewesen wären (vgl. Leonard 2009:
383).
Aufgaben und Kompetenzen von Frontex
Auf der Grundlage der Verordnung Nr. 2007/2004 vom Oktober
2004 konnte Frontex im Mai 2005 seine Arbeit in Warschau aufnehmen. Zu den Aufgaben im Einzelnen gehört die Koordinierung
und Unterstützung der Mitgliedstaaten der EU bei der Sicherung
der gemeinsamen Außengrenzen (Art. 3 der Frontex-Verordnung)
sowie die Aus- und Weiterbildung der nationalen Grenzschutzbeamten für ihre »europäischen« Einsätze (Art. 5) und die Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen und Abschiebung von
Flüchtlingen (Art. 9). Daneben gibt es eine Reihe von weiteren
Aufgaben, die teilweise weniger sichtbar, aber für den Erfolg der
Agentur von zentraler Bedeutung sind: Frontex erstellt sogenannte Risikoanalysen zu der Frage, welche »Gefahren« von künftigen Migrationsbewegungen ausgehen können, welche Routen
und Wege Schleuserbanden und Flüchtlinge wählen, um nach Europa zu gelangen (Art. 4). Eine weitere Aufgabe von Frontex ist es,
die neuesten technischen Entwicklungen im Bereich des Grenzschutzes zu verfolgen und auch Forschung auf diesem Feld zu unterstützen; und schließlich obliegt der Agentur die Entscheidung
über die Einsätze und die Zusammensetzung von sogenannten
Soforteinsatzteams (Art. 8a–8h), die an Brennpunkten eingesetzt
werden können. Die Agentur gehört zu den Einrichtungen der EU,
deren Personalbestand schnell gewachsen ist; während die Zahl
der eigenen Frontex-Mitarbeiter zunächst bei 78 Personen lag, ist
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sie zum Jahresende 2007 auf 140 erhöht worden und liegt zum
Jahresbeginn 2010 bei 220 (Handelsblatt vom 25.02.2010, S. 9).
Die Agentur kann über 24 Hubschrauber, 19 Flugzeuge und 107
Boote verfügen, die ihr von einzelnen Mitgliedstaaten – auch von
Deutschland (| M 1 |) – zur Verfügung gestellt werden (Zahlen
nach Jesuitendienst 2007). Über die Ressourcen konnte Frontex
zunächst nur theoretisch verfügen, wie der Direktor der Agentur,
der finnische Brigadegeneral Ilka Laitinen, in einem Interview mit
der Süddeutschen Zeitung betonte: »Was ich (…) gerne hätte, wären
Flugzeuge, Hubschrauber und Schiffe, die nur Frontex gehören, auf die wir
sofort Zugriff haben. So wie es bisher läuft, stehen die ganzen Sachen auf
dem Papier, aber wir haben keine Garantie, sie auch rechtzeitig zu bekommen« (| M 4 |). Deshalb hat Frontex nun angefangen, eigenes Gerät
anzuschaffen.
Die im Juli 2007 verabschiedete EU-Verordnung brachte eine Neuerung für die Arbeit von Frontex: Denn nun ist die Bildung von Soforteinsatzteams RABITs (»Rapid Border Intervention Teams«)
möglich. Der Justiziar von Frontex hat in einer Anhörung vor dem
britischen Oberhaus deutlich gemacht, welche Folgen der Einsatz
von solchen Soforteinsatzteams hat: »Das ist eine wichtige Entwicklung, dass wir zum ersten Mal eine Verordnung haben, die
festlegt, dass ausländische Beamte gewisse Befugnisse in einem
anderen Land haben« (zitiert nach Marischka 2009: 13).
Auf der Grundlage von Art. 8 der Frontex-Verordnung können Mitgliedstaaten der EU bei der Agentur um Hilfe nachsuchen, wenn
sie nicht mehr in der Lage sind, die in ihrem Land ankommenden
Flüchtlinge zu versorgen. Aufgrund ihrer geographischen Lage
sind es vor allem Italien, Spanien, Malta und Griechenland, welche in den letzten Jahren verstärkt zum Ziel von »irregulärer« Migration geworden sind. Als im Sommer 2006 auf den Kanarischen
Inseln über 12.000 Flüchtlinge aus Schwarzafrika angelandet
waren, was eine Verdopplung der Gesamtzahl von Flüchtlingen
im Jahr 2005 bedeutete, suchte die spanische Regierung Unterstützung bei seinen EU-Partnern. Vor allem auch die Berichte
über Schiffbrüche und Tote setzten Madrid und die EU unter Zugzwang. Neben Spanien waren bei dieser Patrouille auch Frankreich, Großbritannien und Finnland mit eigenen Schiffen im Einsatz. Der »Erfolg« dieser ersten Aktionen war freilich begrenzt,
weil trotz der Präsenz von Marine-Schiffen fast täglich weitere
Boote aus Mauretanien und Senegal unterwegs nach Gran Canaria und Teneriffa waren (FAZ vom 18.07.2006, S. 5).
Die Hilfegesuche Spaniens an Frontex und die europäischen Partner wurden von Madrider Seite und von Seiten der EU-Kommission als Zeichen europäischer Solidarität gewertet. Der EU-Justizkommissar Franco Frattini sagte dazu in einem FAZ-Interview:
»Wenn Menschen illegal auf den Kanarischen Inseln landen, kommen sie
nach Europa. In ein paar Tagen können diese Menschen in Hamburg oder
Nordfrankreich sein. […] Ich sage: Wer uns ein Schiff, ein Flugzeug, Hubschrauber oder Experten zur Verfügung stellt, hilft beim Schutz der gemeinsamen Grenze. Europa sind wir alle, das ist die eigentliche Botschaft«
(FAZ, 20.09.2006, S. 7). Ein Problem sahen die Partnerstaaten jedoch in der spanischen Rechtspraxis: Wenn Einwanderer in Spanien nicht innerhalb von 40 Tagen identifiziert werden können,
müssen sie nach spanischem Recht freigelassen werden. Im Jahr
2005 verfügte die Madrider Regierung eine Legalisierung von
einer dreiviertel Million illegal in Spanien lebender Personen;
diese Legalisierung war mit den EU-Staaten nicht abgestimmt
und führte in Deutschland zu einiger Verstimmung, weil argumentiert werden konnte, dass der Anstieg von Flüchtlingen nach
Spanien aufgrund dieser gesetzlichen Regelungen – zumindest
teilweise – hausgemacht sei. Diese Praxis brachte dem spanischen Arbeitsmarkt massenhaft billige Arbeitskräfte, die auf den
Orangenplantagen eingesetzt werden konnten; diese Form der
»Wettbewerbsverzerrung« stieß jedoch in Deutschland und anderswo auf Unmut (FAZ, 18.07.2006, S. 5, ebenda, 22.09.2006,
S. 4).
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Abb. 5 Inhaftierte »illegale Immigranten« protestieren aus ihren Unterkünften auf der Insel Lesbos, Griechenland, heraus mit Plakaten: »Wir wollen Freiheit,
nicht nur Essen!«.
© picture alliance, dpa, 20.8.2009
Weiterentwicklung von Frontex
Im Rahmen des Ende 2009 verabschiedeten »Stockholmer Programms«, ein Aktionsprogramm, mit dem in den kommenden
fünf Jahren der Aufbau des europaweiten »Raums der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts« vorangebracht werden soll, steht
auch eine Weiterentwicklung von Frontex auf dem Plan. Die neue
EU-Justizkommissarin Malmström hat dazu entsprechende Pläne
angekündigt. Vor allem soll das Europäische System der Grenzüberwachung (»European System of Border Guards«) mithilfe
neuer Überwachungstechnologien effektiver und effizienter werden. Die EU investiert seit einiger Zeit auch vermehrt Forschungsgelder in neue Technologien (z. B. unbemannte Drohnen) zur
Grenzsicherung, wie sie etwa in den USA und in Israel schon im
Einsatz sind (vgl. Hobbing 2010 und Welzer 2010: 21). Für europäische Unternehmen aus dem Sicherheitssektor eröffnen sich hier
neue Märkte und Chancen: Für die einen sind solche automatisierten Grenzschutz- und Passagierkontrollsysteme die Zukunft,
für die anderen wohl eher ein Albtraum (Carrera 2010: 7). Die zuständige EU-Kommissarin Malmström hat im Mai 2010 anlässlich
des ersten »European Day for Border Guards« betont, dass ein integriertes europäisches Grenzkontrollsystem und der Einsatz von
automatisierten Kontrollsystemen an Flughäfen die Freizügigkeit
nicht behindern dürfen: »(…) border crossing must be smooth and easy
for the vast majority of people who are in full compliance with entry requirements« (Malmström 2010: 3).
37
Bewertung der Arbeit von Frontex
Die bisherigen Erfahrungen mit der europäischen Grenzschutzagentur sind ambivalent: Auf der einen Seite hat Frontex mit dazu
beigetragen, die zum Teil ganz unterschiedlichen nationalen Verfahren der Grenzsicherung anzugleichen und hat dafür gesorgt,
dass Grenzbeamte gegenüber Angehörigen von Drittstaaten, die
legal oder illegal nach »Europa« kommen, mehr und mehr nach
einheitlichen europäischen Standards auftreten. Da aber einige
europäische Grenzstaaten wie etwa Griechenland in dem zweifelhaften Ruf stehen, dass sie Flüchtlinge, die aus der Türkei in die
EU reisen wollen, auf hoher See abfangen und postwendend zurückschicken, ist es noch ein langer Weg, ehe ein wirklich einheitlicher Europäischer Grenzschutz errichtet ist.
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MARTIN GROSSE HÜTTMANN
Abb. 6 »Zwischen Jordanien und Pakistan leben die meisten Flüchtlinge«
38
Ein Problem, das im Mittelpunkt der Kritik von Menschenrechtsgruppen steht, ist die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen auf hoher See und die Frage, wie mit Flüchtlingen umgegangen wird, die einen Asylantrag stellen wollen und deshalb nicht
einfach in ihren Heimathafen zurückgeschickt werden dürfen.
Nach internationalem Recht muss jede Person, die Asyl beantragen will, dies auch dürfen. Das in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 festgeschriebene »non refoulment-Verbot« gehört
zu den wichtigsten Grundsätzen des internationalen Flüchtlingsschutzes. Die Europäische Union, die sich als »normative Macht«
versteht, muss auf der Grundlage des internationalen Rechts
handeln und den internationalen Normen und Werten zum Erfolg
verhelfen, wenn sie politisch nicht jede Glaubwürdigkeit verlieren
will. Hier liegt das zentrale Dilemma der europäischen Flüchtlingspolitik, die eine politisch akzeptable Balance zwischen notwendiger Grenzsicherung einerseits und der Verpflichtung auf
Menschenrechtsstandards andererseits finden muss (| M 4 |).
In früheren Stellungnahmen des deutschen Bundesinnenministeriums wurde noch die Meinung vertreten, dass auf hoher See
(»extraterritoriales Gebiet«) die Genfer Flüchtlingskonvention
nicht zum Tragen komme und die Asylgesuche von Flüchtlingen
nicht geprüft werden müssten. Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen haben Gutachten in Auftrag gegeben, die aber genau
das bestreiten und zu dem Ergebnis kommen, dass sich FrontexMitarbeiter und nationale Beamte durch diese Praxis ihren Verpflichtungen aus internationalen Verträgen nicht entziehen können.
Im Januar 2010 wurden im Rat der EU neue Frontex-Leitlinien beschlossen; Malta und Italien hatten sich bei der Abstimmung enthalten. Dies geht aus einer Kleinen Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Fraktion Die Linke vom Februar 2010 hervor. Die
Bundesregierung hat sich nach eigenen Angaben »erfolgreich
dafür eingesetzt, die Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Refoulment-Verbot) seiner Bedeutung entsprechend in die allgemeinen Grundsätze der Leitlinien zu übernehmen«. Aus Sicht der Bundesregierung stellt der Wortlaut der
Leitlinien klar, dass dieser Grundsatz »für alle beschriebenen
Maßnahmen im Rahmen von FRONTEX-Einsatzmaßnahmen auf
See gelten soll« (Deutscher Bundestag, Drucksache 17/847 vom
26.02.2010). Es scheint, dass die Kritik und das Engagement von
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© Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung, Berlin 2009, S. 170
Menschenrechtsgruppen Früchte getragen haben; inwieweit sich
die Praxis von Frontex auf hoher See in Zukunft ändern wird, wird
sich zeigen. Pro Asyl und viele andere NGOs werden auf die Einhaltung dieser neuen Regelungen achten.
Frontex und die Vergemeinschaftungsprozesse in
der EU
Am Beispiel der Grenzschutzagentur Frontex lassen sich exemplarisch und wie in einem Brennglas verdichtet die Chancen und Probleme der europäischen Zusammenarbeit aufzeigen. Zum einen
ist unbestritten, dass ein koordiniertes Vorgehen der EU-Staaten
in der Flüchtlingspolitik zwingend ist, weil in einem Europa ohne
Grenzen jeder Staat, der Teil des Schengen-Systems ist, zu einem
Ziel von Migration werden kann. Andererseits zeigen die ersten
fünf Jahre von Frontex, dass es viel Mühe und Überredungskunst
braucht, um die einzelnen europäischen Regierungen von diesem
Druck zur Kooperation zu überzeugen.
Das Thema ist zudem in einem hohen Maße politisiert. Flüchtlingsgruppen wie Pro Asyl, Human Rights Watch oder auch das
Europäische Parlament dringen zu Recht auf die strikte Einhaltung der internationalen Schutzstandards. Denn die EU, die sich
nicht nur als Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch als
politische »Wertegemeinschaft« versteht, verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie bzw. die in ihrem Namen tätige Agentur Frontex
Zweifel an der Einhaltung von Menschenrechten nicht ausräumen
kann; dies fällt nicht immer leicht, weil die EU wiederum das
Thema an Drittstaaten wie Libyen delegiert, mit dem Italien zum
Beispiel eng bei der Rückführung von Flüchtlingen zusammenarbeitet. Berichte von Menschenrechtsorganisationen legen nahe,
dass die libysche Flüchtlingspolitik auch eine »abschreckende«
Wirkung hat. Der Europareferent von Pro Asyl, Karl Kopp, kritisiert die Zusammenarbeit der Europäer mit Libyen heftig: »Grenzen dürfen nicht bedeuten, dass man mit Diktatoren zusammenarbeitet.
Oder dass man Menschen in Länder zurückschiebt, in denen gefoltert und
vergewaltigt wird. […] Libyen ist das blutigste Kapitel europäischer
Flüchtlingspolitik« (Südwestpresse vom 31.08.2010, S. 4).
Und schließlich ist Frontex ein typisches Beispiel für EU-Politik,
die häufig »experimentell« angelegt ist (Pollak/Slominski 2009)
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und dem Prinzip des »Muddling Through«
folgt, das heißt, europäische Lösungen sind
in der Regel Kompromisse und second bestLösungen, die sich in der Praxis bewähren
müssen und dann schrittweise angepasst
bzw. verbessert werden. Dieses Muster hat
sich auch bei Frontex gezeigt. In den ersten
fünf Jahren der Arbeit von Frontex gab es eine
Reihe von Anpassungen der Strukturen sowie
eine ungewöhnlich schnelle Aufstockung des
Personalbestands und der verfügbaren Ressourcen. Frontex ist somit heute ein zentraler Baustein des im Aufbau befindlichen
europäischen »Integrierten Grenzschutzmanagements«, das die unterschiedlichen Dimensionen von legalen und »irregulären«
Grenzübertritten verknüpfen soll. Das integrierte Konzept umfasst ganz unterschiedliche Bereiche wie Tourismus, Verkehr, Handel, Schmuggel und illegale Migration (vgl.
Malmström 2010, Monar 2006, | M 4 |). Die
EU-Grenzschutzagentur ist aufgrund dieser
zentralen Aufgabe, die ihr von den MitgliedAbb. 7 Asylsuchende in der EU
© picture alliance, dpa
staaten der EU übertragen worden ist, für die
Kritiker schnell zum Buhmann und »bad guy«
der europäischen Flüchtlingspolitik und zum
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Symbol für die »Festung Europa« geworden. Für die europäischen
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Regierungen dagegen ist Frontex zu der Institution geworden, die
auf die Koordination der Kontrolle der EU-Außengrenzen spezialiLeonard, Sarah (2009): The Creation of Frontex and the Politics of Institutiosiert ist und der sie bei Bedarf die Schuld für politisches Versagen
nalisation in the EU External Borders Policy, in: JCER, hdeft 3, S. 371–388
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Materialien
M 1 »Mit Hubschraubern gegen illegale Einwanderung« –
Interview der F. A. Z. mit dem damaligen EU-Justiz-Kommissar Franco Frattini und dem damaligen deutschen
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im März 2007
F. A. Z.: Herr Innenminister Schäuble, Frontex wirkte bisher wie eine weitere bürokratische EU-Agentur. Sie wollen daraus eine effizientere europäische Grenzpolizei machen. Wie weit sind Sie mit diesem Projekt während der vergangenen drei Monate gekommen?
Schäuble: Wir haben mehr erreicht, als alle Experten vor sechs
Monaten für denkbar gehalten hätten. […] Wenn wir europäische
Institutionen haben wie Europol, wie Frontex, dann wollen wir europäische Solidarität auch über diese Institutionen organisieren.
Frontex soll nicht nur auf ein paar Büroräume in Warschau beschränkt sein. Und das geht gut voran.
F. A. Z.: Welche Beiträge leistet Deutschland, Herr Schäuble?
Schäuble: Wir haben vier Hubschrauber und Personal für Frontex
designiert, außerdem technisches Gerät wie Wärmebildkameras.
Wir haben auch ein Schiff für die Nord- und Ostsee gemeldet. Für
das Mittelmeer ist die Bundespolizei nicht so gut ausgerüstet. Bis
die Schiffe dort wären, würde viel Zeit vergehen. Wir liegen also
im guten Mittelfeld, sind gute Durchschnittsschüler, keine Musterschüler.
F. A. Z.: Herr Frattini, Italien und Spanien erwarten eine Art »Frühjahrsoffensive« bei der illegalen Einwanderung entlang ihrer Küsten. Ist Europa in diesem Jahr besser und rechtzeitig vorbereitet?
Frattini: Ja, das ist der Grund, warum Minister Schäuble und ich
alle Mitgliedstaaten gebeten haben, unseren Vorschlägen im
April zuzustimmen. Denn wir müssen bereit sein, bevor die Sommersaison beginnt. Allerdings kann niemand erwarten, dass wir
die enormen Einwanderungsströme aus dem Süden und auch aus
dem Osten komplett stoppen werden. Wir müssen versuchen, illegale Wanderungsströme zu verhindern, wollen aber dann auch
die Ursachen von Migration beseitigen. Das ist unser Gesamtkonzept. Bedenken Sie, wie Europa vor zwei Jahren dastand, als wir
keinerlei Strategie hatten. Wir haben große Fortschritte erreicht.
F. A. Z.: Ohne Zynismus gefragt: Je mehr Schiffe sie losschicken, je mehr
sie kontrollieren, desto mehr Flüchtlinge werden sie finden, die mit ihren
seeuntauglichen Booten nicht einfach in ein Herkunftsland zurück geschickt werden können. Wie gehen Sie damit um?
Frattini: Letzten Sommer sind etwa 3.000 Menschen im Mittelmeer und im Atlantik ums Leben gekommen. Europa hat die Verantwortung und die Pflicht, Menschenleben zu retten. Das ist
eine Selbstverständlichkeit. Wir brauchen eine Balance zwischen
der Solidarität mit den verzweifelten Opfern des Menschenhandels und Festigkeit gegen illegale Immigration. Ein italienisches
und ein spanisches Schiff haben vor einigen Tagen bei einer Frontex-Operation im Atlantik ein Schiff gestoppt, das unter nordkoreanischer Flagge mit georgischer Besatzung und 350 illegalen
Einwanderern aus Pakistan und Indien fuhr. Mit politischer Unterstützung Senegals und in Begleitung eines senegalesischen Bootes wird dieses Schiff nun in seinen Herkunftshafen in Conakry in
Guinea geleitet. […].
© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.03.2007, S. 2.
M 2 »Jenseits von Staat und Nation: Warum Frontex
abzuschaffen ist«
Die ethisch begründete Ablehnung aller Migrationskontrollen
und die Interpretation ihres rasanten Ausbaus als Element eines
Interessen-geleiteten Herrschaftsprojektes richten sich nicht nur
gegen Frontex. Es gibt jedoch deutliche Hinweise, dass Frontex
eine besonders perfide Rolle spielt. Die Grenzagentur beteuert,
Menschenleben zu retten, indem sie gefährliche Überfahrten auf
EU- Grenz schut z agent ur Fronte x
DuE60_Umbr.indd 40
M 3 Frontex-Direktor Ilkka Laitinen (Finnland, Mitte) mit Spaniens Innenminister Alfredo Perez Rubalcaba und der EU-Kommissarin Cecilia Malmström auf einer Pressekonferenz in Warschau, dem Sitz von Frontex, am
25.5.2010 zum »Europäischen Tag für Grenzschützer« © picture alliance, dpa
kleinen Booten im Vorfeld zu verhindern suche. Doch die FrontexOperationen haben einen anderen Effekt. Indem einfache und
kurze Routen durch Frontex Stück für Stück blockiert wurden,
bleiben den Leuten heute nur lange und tödlich gefährliche Wege
nach Europa. […] Durch die Frontex-koordinierte Abschottung
der Grenzen hat sich in den Anrainerstaaten der EU eine aus mehreren Millionen bestehende rechtlose und prekarisierte Bevölkerung gebildet, die entschleunigt und quasi eingefroren, jahrelang
auf die Chance zur Einreise in die EU wartet. Frontex treibt qua
Auftrag, aber auch qua Selbstverständnis eine Politik voran, welche die Existenz dieser Menschen als Menschen negiert. [Die Broschüre, aus der dieser Text entnommen ist] versucht Argumente
für eine grundlegende Kritik an Frontex zu liefern. Eine Kritik, die
Frontex als den heutigen Ausdruck der gegenwärtigen kapitalistisch-nationalen Weltordnung begreift und eine entscheidende
Parteinahme für die Migration als soziales Projekt und konkreten
Gegenentwurf beinhaltet.
© Informationsstelle Militarisierung e. V. (Hrsg.), Frontex – Widersprüche im erweiterten
Grenzraum, August 2009, Tübingen, S. 41.
M 4 Interview in der Süddeutschen Zeitung mit dem Direktor
von Frontex, Ilka Laitinen
SZ: Wie groß ist eigentlich die Zahl der Illegalen im Jahr, die versuchen
über die Außengrenzen nach Europa zu kommen?
Laitinen: Ich bin sehr vorsichtig mit Zahlen. Wir können nur
schätzen. Fest steht, dass die größte Gruppe der Illegalen zunächst ganz legal nach Europa gelangt. Das sind diejenigen, die
mit einem Visum einreisen und dann einfach länger bleiben als
erlaubt und abtauchen. (…).
SZ: Dann ist das Mittelmeer gar nicht der Brennpunkt der illegalen Einwanderung?
Laitinen: Hätte ich ein Herz aus Stein, so würde ich jetzt antworten, das Mittelmeer ist nicht unser Hauptproblem. Doch das
stimmt so natürlich nicht. Was dort passiert, beschäftigt mich innerlich am meisten. Die Überfahrten dort sind für die Flüchtlinge
lebensgefährlich. Und die kriminellen Schleusergangs sind rund
um das Mittelmeer am aktivsten.
D&E
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26.10.10 15:21
M 5 Demonstration anlässlich eines sogenannten »Antirassismus- und
M 6 Inhaftierte »illegale Immigranten« auf Lampedusa, 205 km von Sizilien
©picture alliance, 19.8.2008, dpa
und 113 km von Tunesien entfernt.
© Robino/La Presse/picture alliance, 31.1.2009
SZ: Für einige Menschenrechtsorganisationen ist Frontex ein regelrechter
Feind. Man wirft Ihnen vor, durch die von Ihnen organisierten Meerespatrouillen würden die Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen abgedrängt.
Laitinen: Ich weiß, für einige sind wir von Frontex die »Bad Guys«.
Ich lese alles aufmerksam, was über uns geschrieben wird. Ich
nehme die Kritik ernst. Doch ich bin überzeugt, dass wir es im
Mittelmeer richtig machen. Durch unsere Einsätze retten wir
Leben. Die Zahl der Boote, die versuchen, über das Meer zu kommen, ist auch erheblich zurückgegangen.
SZ: Aber was ist mit den politisch Verfolgten, den Asylberechtigten, die
sich ja auch unter den illegalen Einwanderern befinden?
Laitinen: Der Umgang mit politischen Flüchtlingen ist ein Herzstück unserer Ausbildung. Wir haben gerade auf 450 Seiten neue
Leitlinien für die EU-Grenzschützer aufgeschrieben. An dem
Handbuch haben das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen
(UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration
(IOM) mitgearbeitet. Internationaler garantierter Schutz muss
gewährleistet werden. Ein Flüchtling, der sagt, er beantrage Asyl,
darf an der Grenze nicht zurückgeschickt werden. Wir wissen
aber zum Beispiel von den Kanarischen Inseln, dass unter den
über 30.000 Flüchtlingen, die dort im vergangenen Jahr angekommen sind, nur weit unter hundert Menschen einen solchen
Antrag gestellt haben?
SZ: Warum so wenige?
Laitinen: Wer Asyl beantragt, muss seine Identität preisgeben. Er
muss sagen wie er heißt und aus welchem Land er kommt. Die
meisten wollten das nicht. Sie haben darauf vertraut, dass sie aufgrund der Rechtslage in Spanien nach einem Monat auf freien
Fuß gesetzt werden und dann gehen können, wohin sie wollen.
(…)
SZ: Was genau bedeutet Integrierter Grenzschutz?
Laitinen: Das ist eine Philosophie. Sie besagt, dass alles, was mit
einer Grenze zu tun hat und sich über diese Grenze hinweg bewegt, im Zusammenhang gesehen werden muss: also Tourismus,
Verkehr, Kriminalität, Schmuggel, illegale Einwanderung, terroristische Bedrohung. Es muss darauf verschiedene Antworten
geben, die sich aber aufeinander beziehen. Das heißt, der unbescholtene Reisende sollte sich möglichst frei und ungehindert
über die Grenzen hinweg bewegen können. Alle, die es nicht verdienen und die man nicht auf seinem Territorium haben will, müssen aufgehalten werden. Und das sollte an den Außengrenzen der
EU-Staaten möglichst nach denselben Regeln ablaufen. […]
Grenzschutz ist eine ureigene Aufgabe der Nationalstaaten. Einigen fällt es nicht leicht, sich jetzt plötzlich mit einer europäischen
Stelle wie uns abzustimmen. Für einen Innenminister in Nordeu-
ropa kann es vor seinem heimischen Publikum zum Problem werden, wenn er ein Küstenwachschiff aus eigenen nationalen Beständen nach Südeuropa schickt, um im Mittelmeer Patrouillen
zu fahren. Was soll das, das ist unser Schiff, unser Steuergeld,
heißt es dann in den Medien. Wir müssen erst lernen, dass keiner
in Europa geschützt ist, wenn nicht alle geschützt sind.
Klimacamps« in Lübeck
D&E
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Heft 60 · 2010
© www.sueddeutsche.de vom 06.12.2007 (Zugriff: 27.08.2010).
M 7 Antwort des Europäischen Rats auf eine Anfrage von
sechs EU-Abgeordneten zu Frontex:
41
Nach einer schriftliche Anfrage von sechs Abgeordneten des Europäischen
Parlaments an den Rat der EU zu einem Bericht von »Report Mainz« vom
05.10.2009 antwortete der Rat wie folgt: Im TV-Bericht wurden FrontexBeamte beschuldigt, sie hätten Flüchtlingen den Zugang zu Trinkwasser
verweigert. In der Antwort des Rates der EU wird auf die Verantwortung
des zuständigen Mitgliedstaates und auf die Europäische Kommission als
»Hüterin« des EU-Rechts verwiesen:
“The Council recalls that the responsibilities for the control and
the surveillance of the external borders lies with the Member
States. In line with this approach, the role of Frontex, as defined
by Regulation (EC) No 2007/2004, is to provide assistance to and
facilitate the coordination of operational coordination between
the activities carried out by the Member States for the protection
of external borders.
Those activities include joint operations and pilot projects coordinated by the Agency, where human and technical resources are
provided by the Member States. Frontex also provides training related to border control and surveillance for national border
guards, covering among other things human rights, and has developed common core curricula for general border guards’ training at European level. Therefore, since overall responsibility for
operation coordinated by Frontex lies with the Member State on
whose territory the operation is conducted, or whose flag is carried by the ships from which it is carried out, it is for that Member
State to investigate allegations of human rights abuse.
Apart from the responsibilities of the individual Member State,
the Commission, as guardian of the Treaties, has a role to monitor
the respect of European Union Law by Member States. Concerning the supply of drinking water and blankets, the Council is not
informed of the operational details of joint operations and is
therefore not in a position to reply to this question.
© www.europarl.europa.eu (Zugriff: 20.07.2010).
EU- Grenz schut z agent ur Fronte x
26.10.10 15:21
I. DIE MIGRATIONSDEBATTE IN EUROPA
6. »Europa – eine Wertegemeinschaft?«
Migrationsprozesse als Herausforderung
JÜRGEN KALB
H
alten gemeinsame »europäische Werte« die Europäische Union zusammen? Welche Werte sind dies? Auf welcher Grundlage kann damit ein gemeinsames europäisches
Bewusstsein bzw. eine »europäische Identität« bei den Bürgerinnen und Bürger der EU entstehen? Oder muss die zentrale
Frage heißen: Wird eine fortschreitende politische und soziale Integration Europas in Europa überhaupt von seinen Unionsbürgern und -bürgerinnen gewünscht? Als Testfall kann
der Umgang mit den »Migrationsprozessen« in der EU gelten.
Gehören »Freizügigkeit« und »Toleranz« nur zum normativ-juristischen Kern der »europäischer Werte« oder sind sie auch in
der Bevölkerung verankert? Wie steht es um die politische Kultur in Europa und um die Herausbildung einer »europäischen
Identität«? Aktuelle Debatten und Untersuchungen zu Defiziten bei der Integration von Migrantinnen und Migranten zeigen die Notwendigkeit einer europaweiten Debatte.
»Europäische Identität als Konstrukt«
42
Auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 1973 wurde erstmals
eine »Erklärung über die Europäische Identität« verabschiedet
(Schmale, S. 124). Die damals neun Mitglieder der »Europäischen
Gemeinschaft« (Dänemark, Vereinigtes Königreich und Irland
waren gerade von den sechs Gründungsstaaten aufgenommen
worden) beschrieben damit normativ eine gemeinsame politische
Identität. Es sollte ein zukunftsweisendes Bekenntnis zur ökonomischen und politischen Kooperation, aber auch zur weiteren Integration europäischer Staaten sein und werden. Inzwischen umfasst die »Europäische Union« 27 Mitgliedstaaten und reicht seit
den letzten Aufnahmeschüben der Jahre 2004 und 2007 beispielsweise bis ans Schwarze Meer, die Ukraine und Belorussland.
Insbesondere als Folge der Diskussionen um die geplante »Europäische Verfassung« und deren Nichtratifizierung durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005
wurde öffentlich in ganz Europa darüber diskutiert, wohin die
»Reise«, genauer die Vergemeinschaftung der europäischen Staaten und Gesellschaften noch gehen sollte. War der »europäische
Demos«, soweit es ihn überhaupt gibt und geben kann, dazu
überhaupt bereit?
»Grundrechtecharta« und »Vertrag von Lissabon«
Nach langjährigen Verhandlungen wurde schließlich im Dezember 2009 der »Vertrag von Lissabon« als neuer völkerrechtlich verbindlicher Vertrag der 27 Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt. Im Unterschied zum geplanten Verfassungsvertrag ersetzt er zwar
juristisch nicht die bis dato geltenden EU- und EG-Verträge, sondern ändert sie nur ab, trotzdem werden ihm zumeist aber »verfassungsähnliche« Qualitäten zugeschrieben, und das nicht nur
im Bereich des EU-weiten Institutionengefüges durch – beispielsweise – die Stärkung des Europäischen Parlaments. In Artikel 2
wird ausdrücklich auf die in der EU geltenden »gemeinsamen
Werte« hingewiesen und Artikel 6 anerkennt die im Jahre 2000
verabschiedete »Charta der Grundrechte der Europäischen
Union«. Diese kodifiziert die Grund- und Menschenrechte im
Rahmen der Europäischen Union. Wenn sich auch das Vereinigte
Königreich, Polen und Tschechien eine Opting-out-Klausel gegen
Abb. 1 Feierliche Unterzeichnung der EU-Grundrechtecharta am 7.12.2000
in Nizza (Frankreich). Rechtskraft besitzt sie seit 2009 mit Ausnahme von Großbritannien, Polen und Tschechien (Opting-Out-Klausel). Erarbeitet wurde sie
unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten und Vorsitzendes des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog.
© picture alliance, dpa
die Einklagbarkeit dieser Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof zubilligen ließen, so wird deren EU-weite Geltung doch in vielen Reden von Mandatsträgern immer wieder als »Kernbestand
der europäischen Identität« beschrieben.
Bereits in der Präambel der Grundrechtecharta ist die Rede vom
Bekenntnis zu den Normen der Französischen Revolution wie
»Freiheit«, »Gleichheit« und »Solidarität (Brüderlichkeit)«, von
»Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« ist die Rede, aber auch
beispielsweise von der »Achtung der Vielfalt der Kulturen« und
dem »freien Personen- und Dienstleistungsverkehr«(| M 1 |), um
nur einige zentrale Normen zu nennen. Dabei gilt es inzwischen
fast schon als Allgemeinplatz darauf hinzuweisen, dass die EU
kein Eliteprojekt sein dürfe, sondern sich »Auf de(n) Weg zur Bürgerunion« begeben müsse (D&E, Heft 56).
Die Akzeptanz der in der Charta normierten »europäischen
Werte« in den 27 Gesellschaften scheint dabei zur Schlüsselfrage
zu werden. Anders formuliert: Wie steht es um die politische Kultur in der EU? Ist die »europäische Gesellschaft« schon so weit,
wie es die Mehrheit ihrer Eliten gern hätte? Gibt es womöglich
schon Anzeichen einer »europäischen Gesellschaft«?
Dabei spielt die Frage des »Quo vadis, EU?« eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während sich die EU-Skeptiker mit der Idee
einer, wie ihre Kritiker sagen, »Freihandelsgemeinschaft plus«
und dem quasi intergouvernementalen Bekenntnis zu »europäischen Werten« begnügen, fordern die überzeugten europäischen
Föderalisten mittel- bis langfristig einen »europäischen Demos«
sowie eine »europäische Öffentlichkeit« als Grundvoraussetzung
für die Demokratisierung der EU, letztlich damit also auch eine
»europäische Zivilgesellschaft«.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag
von Lissabon im Jahre 2009 zwar den Vertrag als mit dem Grundgesetz vereinbar qualifiziert, bei weiteren Integrationsschritten
des »Staatenbundes EU« aber eine direkte Legitimation durch das
»Europa – eine Wertegemeinschaf t?« Migr ationsprozesse al s Her ausforderung
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D&E
Heft 60 · 2010
26.10.10 15:21
deutsche Volk verlangt, also quasi eine plebiszitär legitimierte Ergänzung oder gar Revision der deutschen Verfassung. Auch deshalb stellt sich die Frage nach »europäischen
Werten« sowie einer »europäischen Identität
immer wieder neu.
»Europäische Identität« und
»Europabewusstsein«
QA16. What does the European Union mean to you personally?
Freedom to travel, study and work
anywhere in the EU
45 %
46 %
40 %
37 %
Euro
Peace
Waste of money
Stronger say in the world
Cultural diversity
24 %
28 %
23 %
21 %
22 %
25 %
21 %
22 %
Die ursprünglich in der europäischen Aufklä21 %
rung entwickelten und in der französischen
Bureaucracy
20 %
Deklaration der Menschenrechte kodifizier19 %
Democracy
ten Normen wie »Freiheit«, »Gleichheit« und
26 %
»Solidarität« können dabei keineswegs mehr
Not enough control
15 %
14 %
at external borders
als exklusiv europäisch gelten. Vielmehr bil15 %
den sie den Kernbestand der »universellen
Unemployment
14 %
Werte der Würde des Menschen«, zu denen
14 %
More crime
sich nicht nur die Grundrechtecharta der EU,
14 %
sondern auch die Menschenrechtscharta der
14 %
Economic prosperity
18 %
UNO bekennt.
12 %
Der US-amerikanische Soziologe und PubliLoss of our cultural identity
11 %
zist Jeremy Rifkin hat in seinem auch interna9%
Social
protection
tional viel beachteten Werk »Der Europäische
11 %
Traum« darauf hingewiesen (| M 2 |), dass sei1
%
Other (Spontaneous)
1%
ner Beobachtung zufolge der »europäische
3%
Traum», den man auch mit »europäischer
Don’t know
4%
Identität« übersetzen könnte, vor allem darin
0
50
bestehe, die jeweils »eigene (nationale) kultuEB 73 Sp. 2010
EB 72 Aut. 2009
relle Identität zu bewahren und in einer multikulturellen Welt zu leben«: »In Vielfalt geeint«,
Abb. 2 »Was bedeutet die EU für Sie persönlich?«
© Eurobarometer 9/2010
»United in Diversity«, »Unie dans la diversité« – fast gebetsmühlenartig wird das als
»Motto der EU« verstandene Credo der politischen Elite in der Union in unzähligen ErkläMigrationsprozesse und »hybride Identitäten«
rungen wiederholt. Doch wie sieht es tatsächlich aus mit dem
Europabewusstsein der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger?
»Identität« wird dabei verstanden als »stabile Selbstdefinition
Kann in Bezug auf die »kulturelle Vielfalt« wirklich von einer tyeines Individuums« oder einer sozialen Gruppe, die als Referenz-,
pisch »europäischen Identität« gesprochen werden?
Wert- und Orientierungsrahmen für den Einzelnen dient. »HistoIn den »Eurobarometerumfragen« der Europäischen Kommission
risch gesehen stellen Identitäten das Resultat einer ›Geschichte von
wird seit 1973 versucht, Einstellungen und Normen der Unionsunten‹ oder einer ›Geschichte von oben‹ oder einen Mix aus beiden dar«,
bürger/-innen europaweit zu erfragen. Und trotz mancher Kritik
(Schmale, S. 37). Als anschauliches Beispiel kann hierfür die Heran der Aussagekraft und Geltung der Daten oder auch an manausbildung nationaler Identitäten im Rahmen der Nationalstaatsgelnder Kontinuität in der Erhebung einzelner Fragestellungen,
bildung in Europa im 19. Jahrhundert gelten, die einerseits durch
bieten die Eurobarometer-Surveys doch einige nachdenklich
›Volksbewegungen‹, andererseits durch militärische Auseinanstimmende Impulse. So versucht »Eurobarometer« beispielsweise
dersetzungen vorangetrieben wurde und sich bis ins 21. Jahrhun»europäische Identität« zunächst in ihrer emotionalen Dimension
dert als äußerst stabil erweist.
u. a. mit der Frage zu erheben, wie sich denn der/die Befragte in
In Bezug auf Individuen und soziale Gruppen muss es dabei aber
naher Zukunft sehe: (1) nur als (Nationalität), (2) als (Nationalität)
nie nur um eine exklusive Identität gehen. Mit diesem Argument
und Europäer/-in, (3) als Europäer/-in und (Nationalität), (4) nur
hatte vor allem der Nationalstaat im 19. und 20. Jahrhundert arals Europäer(in) oder (5) weiß nicht. Neben erheblichen Untergumentiert, was auch heute noch zum weit verbreiteten Missverschieden der Ergebnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten kann
ständnis führt, man könne nur eine Identität, dann zumeist als
hierbei kaum verwundern, dass die Werte für die »nationalen
nationale gedacht, ausbilden. Die Möglichkeit der Ausbildung
Identitäten« die einer möglichen zukünftigen »europäischen
von »multiplen » oder »hybriden« Identitäten, etwa von lokalen,
Identität« bei weitem übersteigen. Zudem wird auch in der
regionalen, nationalen, europäischen oder gar kosmopolitischen
Grundrechtecharta ausdrücklich von der Achtung der »nationaIdentitäten, soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass noch
len Identität der Völker« gesprochen.
immer »exklusive Identitäten« in manchen sozialen Gruppen einAussagekräftiger erscheinen da schon Fragestellungen zum Eurogefordert werden. Andererseits lösen Mobilitäts- und Globalisiepabewusstsein, d.h., was denn die EU aktuell für die Befragten
rungsprozesse im Allgemeinen Identitäten und stabile Loyalitä»persönlich bedeute« (| Abb. 2 |). Dabei ergibt die Analyse durchaus ein ambivalentes Bild: »Freiheit«, »Freizügigkeit«, »Frieden«,
ten. »Hybride Identität« bedeutet, dass ein Mensch sich zwei oder
aber auch »kulturelle Vielfalt« erhalten beachtliche Zustimmung,
mehreren kulturellen Räumen zugehörig fühlt. Insbesondere die
wenn auch keine Mehrheiten. Andererseits assoziieren doch nach
umfangreichen Migrationsprozesse seit dem Zweiten Weltkrieg
wie vor viele Unionsbürger/-innen mit der EU vor allem »Geldverbeförderten »hybride Identitäten«. In der englischsprachigen
schwendung«, »Bürokratie«, »zu wenig effektive Sicherung der
Wissenschaftsdebatte ist der Begriff »hybrid identities« dabei
Außengrenzen«, »Arbeitslosigkeit« und »Zunahme an Kriminalieher positiv besetzt. »Hybride Identitäten« gelten als inter-,
tät«, sodass es schwer fällt, hier Tendenzen zur Herausbildung
trans- und multikulturell; ihre Träger seien zweiheimisch, bi- oder
einer gemeinsamen »europäischen Identität« herauszulesen.
trinational, während Hybridität in der deutschen öffentlichen De-
D&E
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43
»Europa – eine Wertegemeinschaf t?«Migr ationsprozesse al s Her ausforderung
26.10.10 15:21
JÜRGEN KALB
Abb. 3 »Ein tiefer Graben«
44
batte nicht selten als entweder emphatische Überhöhung des
Konzepts der kulturellen Differenz belächelt oder dem ideellen
Konstrukt der Kosmopolitisierung gleichgestellt wird: »Zwischen
den Stühlen«, »Nirgendwo zu Hause« lauten die gängigen Abwertungen. Gemeint sind damit vor allem Menschen mit Migrationshintergrund.
Allerdings bedeuten Migrationserfahrungen keineswegs automatisch die Ausbildung hybrider Identitäten. Genauso wie in der
Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationserfahrung kann auch Migration zur Bestätigung der eigenen »exklusiven (religiösen oder
nationalen) Identität« führen.
»Europäische Werte« und »hybride Identitäten«
Andererseits befördern Migrationserfahrungen oder längere Auslandsaufenthalte bei vielen die Ausbildung von hybriden Identitäten. Doch nicht immer führen diese automatisch zu einer Achtung
oder Internalisierung der oben genannten »europäischen Werte«
wie z.B. der »Achtung der Vielfalt der Kulturen«. Und gleichzeitig
ist zu beobachten, dass große Teile einer Mehrheitsgesellschaft
sich deutlich zu einer »exklusiven nationalen Identität« bekennen
und sich gleichzeitig für die »Achtung der Vielfalt der Kulturen«
aussprechen. Umfangreiche Migrations- und Globalisierungsprozesse bewirken jedoch, dass die Begegnung immer auch vor Ort
passiert. Dabei weisen unterschiedliche Untersuchungen in jeweils andere Richtungen.
Insbesondere das an der Universität Bielefeld beheimatete Langzeitprojekt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (GMF)
des »Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung« weist seit Jahren, zuletzt auch in europaweiten Forschungen (| M 5 |), auf die Gefahren der Zunahme von ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikten und Gewalt hin. Dies gilt auch
für spezifische politische Formen wie den Rechtsextremismus
und den ihm zugrunde liegenden Einstellungen. Im Falle des Umgangs der Mehrheitsgesellschaft mit Migrantinnen und Migranten diagnostizierten Wilhelm Heitmeyer u. a. eine zunehmende
»Islamophobie« (| M 6 |), die wenigstens zum Teil mit einem Rückzug von gläubigen Muslimen in eine noch verstärkte Religiosität
korrespondiere. Die generalisierende Islamkritik, so die Autoren,
führe geradezu zu einer Abschottung von Muslimen.
Das von der Europäischen Kommission herausgegebene »Eurobarometer« über »Diskriminierung in der Europäischen Union«
(| M 3 |) musste in seiner Untersuchung im
Jahre 2008 feststellen, dass nicht unwesentliche Teile der Unionsbürgerinnen und -bürger
»in den letzten 12 Monaten« eine Benachteiligung aufgrund »ethnischer Herkunft« in der
EU feststellen konnten. Es ist anzunehmen,
dass dies nicht nur einer erhöhten Sensibilisierung der Befragten geschuldet ist.
Andere Akzente setzt dagegen der vom Migrationsforscher Klaus J. Bade geleitete »Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für
Integration und Migration« in seinem »Integrationsbarometer. Jahresgutachten 2010«
(| M 8 |, | M 9 |, | M 10 |). Folgt man den Ergebnissen der Befragungen des SVR, so erlebten
sowohl die Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund als auch die Zuwanderer
in Deutschland die Integration als größtenteils gelungen und konfliktfrei. Von beiden
Gruppen werde keineswegs gefordert, dass
© Gerhard Mester, 2005
Zuwanderer ihre kulturelle Identität aufzugeben hätten (| M 10 |). Folgten man diesen Untersuchungen, so spricht vieles für die zunehmende Akzeptanz der »kulturellen Vielfalt«.
Allerdings stehen diese Befunde doch in deutlichem Spannungsverhältnis zu den wesentlich kritischer anmutenden Ergebnissen
des »Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung« (GMF) an der Universität in Bielefeld.
Differenzierung durch die Migranten-Milieustudie
Zur differenzierteren Beurteilung der Situation in Deutschland
können insbesondere die Ergebnisse der »Migranten-Milieu-Studie« des SINUS-Instituts aus dem Jahre 2008 dienen. Die SinusForschergruppe macht danach acht unterschiedliche Milieus bei
Migranten aus, und zwar nach ihren jeweiligen »sozialen Lagen«
und ihren »normativen Grundorientierungen« (| M 11 |). Dies entspricht im Übrigen weitgehend den Milieustudien in der Mehrheitsgesellschaft und deutet darauf hin, dass »Migration« vorwiegend als »soziales Phänomen« zu betrachten ist.
Entgegen den in den Medien häufig artikulierten Klischees über
Migranten stellen sie dann auch am Ende ihrer Studie fest: »Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte
beeinflussen zwar die Alltagskultur, sind aber nicht milieuprägend und
auf Dauer nicht identitätsstiftend (| M 12 |).«
Allerdings wird auch betont, dass es das in den Medien so stark
beachtete und häufig generalisierte Phänomen der kaum »integrationsunwilligen Migranten« in traditionellen Minderheiten-Milieus durchaus gebe. Dies habe jedoch seine Entsprechung in den
traditionellen Milieus der Mehrheitsbevölkerung und der dort
weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit. Auffallend bleibt lediglich: »Es gibt (…) in der Migranten-Population sowohl traditionellere als
auch soziokulturell modernere Segmente als bei einheimischen Deutschen
(ebenda).« Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre
2010 zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland weisen in eine ähnliche Richtung (http://library.fes.de/pdf-files/do/07504.pdf)
Migrationsprozesse als Herausforderung für die
Herausbildung einer europäischen Identität
Lassen die aus der Integrationsdebatte in Deutschland gewonnenen Ergebnisse nun Rückschlüsse für eine stärkere Implementierung der »europäischen Werte« oder gar eine Entwicklung des
Europabewusstseins hin zu einer (zukünftigen) »europäischen
»Europa – eine Wertegemeinschaf t?«Migr ationsprozesse al s Her ausforderung
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Identität« der Unionsbürgerinnen und -bürger zu?
Wesentlich erscheint dabei, das zeigen die
Untersuchungen, dass Integrationsbereitschaft und -vermögen bildungsabhängig und
damit variabel ist. Das gilt für die Zuwanderer wie für die Mehrheitsbevölkerung in gleichem Maße. Typische Integrationsbarrieren,
Ängste und das allzu starre Festhalten an
Überkommenem finden sich vor allem in bildungsfernen Milieus, in denen die soziale
Lage und das zur Verfügung stehende Einkommen oft auch die kulturelle Teilhabe erschweren oder verhindern. Die OECD hat in
diesem Zusammenhang mehreren europäischen Staaten, darunter auch Deutschland,
vorgeworfen, in der Vergangenheit zu wenig
für die Integration von Migrantenkindern
insbesondere im Bildungssystem getan zu
haben. Inzwischen zeigen verschiedene Integrationsberichte in der Bundesrepublik, dass
die Situation inzwischen erkannt zu sein
scheint. Dabei spielt die Beherrschung der
Abb. 4 »Die Islamkonferenz der Bundesregierung«
© Gerhard Mester, 2010
jeweiligen Landessprache eine ganz entscheidende Rolle im Integrationsprozess. Die
Achtung der Würde eines jeden Menschen,
Freiheit, Gleichheit, Solidarität und der Achtung der »Vielfalt der
auch und insbesondere der jungen Mädchen, darf gleichfalls kein
Kulturen« bestehe (| M 4 |).
Tabu sein und gehört bei gravierenden MenschenrechtsverletMigrantinnen und Migranten mit erfolgreichen Integrationsbiozungen wie z. B. Zwangsverheiratungen nicht in eine vom Staat
grafien und hybriden Identitäten könnten hier sicher eine zentgenerell zu schützende Privatsphäre.
rale Rolle einnehmen. Naika Foroutan und Isabel Schäfer vertreRegina Ammicht Quinn, Staatsrätin für interkulturellen und interten hierbei die These, gerade Einwanderer mit muslimischen
religiösen Dialog in Baden-Württemberg, schrieb dazu jüngst:
Migrationshintergrund könnten in einer »festgestellten zunehmen»Eine Debatte darüber, welche Kultur „besser“ ist als eine andere, ist kein
den Entfremdung zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern
Dialog. (…). Ein solcher Dialog ist ein Dialog, der manchmal unbequem
(…) als Vermittler agieren« (Foroutan/Schäfer, S. 18). Von Politikern
sein mag und Kritikfähigkeit auf allen Seiten erfordert, ein Dialog mit
wurden gleichfalls in letzter Zeit Forderungen laut, MigrantinEntscheidungsbefugnis und Mitspracherecht für alle, um die es geht. (…)
nen- und Migranten verstärkt als Lehrer, Polizisten und FernsehWir dürfen aber die erforderliche Integrationsleistung nicht ausschließmoderatoren einzusetzen und zu fördern. Noch scheint die breite
lich auf die Schultern der Einwanderer legen und die Ressourcen, die sie
Akzeptanz der »kulturellen Vielfalt« eher ein Wunschdenken.
mitbringen, unterschätzen. Hier sind wir alle gefordert. Und vielleicht unterschätzen wir selbst auch unsere Fähigkeit zur Öffnung und Veränderung, wenn wir uns in Leitkulturdebatten verstricken.«
Literaturhinweise
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung stellen z. B. die von der
Bundesregierung seit 2006 angeregten »Deutsche Islam KonfeAmmicht Quinn, Regina (2010): Heimat und Identität. Stuttgart. 1/2010
renzen (DIK)« dar, die den Beginn eines langfristig angelegten
Dialoges zwischen staatlichen Stellen und in Deutschland lebenForoutan, Naika/Schäfer, Isabel (2009): Hybride Identitäten – muslimische
den Muslimen begründen. Ziel der Konferenzen war es nach der
Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Europa. In: APuZ, 5/2009
Darstellung des Innenministeriums, „eine bessere religions- und
Meyer, Thomas (2004): Die Identität Europas. Frankfurt/Main. Suhrkamp.
gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung“ zu erreichen, was trotz aller Kritik an der ZusammensetNida Rümelin, Julian/Weidenfeld, Werner (Hrsg.) (2007): Europäische Identizung des Rats und Legitimation der eingeladenen Teilnehmer
tät: Voraussetzungen und Strategien. Nomos Verlag. Baden-Baden.
(| Abb. 4 |) zumeist als Erfolg gewertet wurde.
Nissen, Silke (2004): Europäische Identität und die Zukunft Europas, in:
Frau Ammicht Quinn fordert auch von der Aufnahmegesellschaft
APUZ 38/2004
quasi »europäische Werte«: »Toleranz, Solidarität, Mut – diese drei
Tugenden können nur dann dauerhaft lebendig bleiben, wenn eine vierte
Rifkin, Jeremy (2006): Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen SuperTugend das Handeln stärkt und steuert: Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist
macht. Frankfurt/Main, (deutsche Ausgabe)
zum einen die Grundlage politischer und sozialer Strukturen. Sie ist zum
Schmale, Wolfgang (2008): Geschichte und Zukunft der Europäischen Idenanderen eine persönliche Tugend. Wir brauchen politische und soziale
tität. Stuttgart. (Lizenzausgabe bpb Schriftenreihe Band 1048/2010)
Strukturen, die auf der Idee von Gerechtigkeit aufbauen. Sie reichen aber
nicht aus. Denn wir brauchen Menschen, die innerhalb dieser Strukturen
Wippermann, Carsten/Flaig, Berthold Bodo (2009): Lebenswelten von MigGerechtigkeit als persönliche Tugend üben (Ammicht Quinn, S. 11f.).«
rantinnen und Migranten, in: APuZ 5/2009
Der Dortmunder Historiker Thomas Meyer betont in seiner Untersuchung zu den Dimensionen »Europäischer Identität« in ähnInternethinweise
licher Weise, dass »zur modernen europäischen Identität (…)
nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Religion
www.svr-migration.de/ (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für
oder Kultur, sondern eine bestimmte Art des Umgangs mit ReliIntegration und Migration)
gion, Religiosität und Kultur im öffentlichen Leben …« gehöre,
man könnte hinzufügen, eine »tolerante, solidarische, mutige
und gerechte«. Die europäische Union braucht eben keine einheitliche kulturelle Identität, sondern eine politische, die in der
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»Europa – eine Wertegemeinschaf t?«Migr ationsprozesse al s Her ausforderung
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MATERIALIEN
M 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union: »Präambel«
»Die Völker Europas sind entschlossen, auf
der Grundlage gemeinsamer Werte eine
friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu
einer immer engeren Union verbinden.
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen
und sittlichen Erbes gründet sich die Union
auf die unteilbaren und universellen Werte
der Würde des Menschen, der Freiheit, der
Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf
den Grundsätzen der Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in
den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie
die Unionsbürgerschaft und einen Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.
Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter
Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf
nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.
M 3 Diskriminierung in der Europäischen Union: »Wahrnehmungen, Erfahrungen und Haltungen«
Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nach© Eurobarometer Spezial 296, Juli 2008, S. 42
haltige Entwicklung zu fördern und stellt den
freien Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher.
Zu diesem Zweck ist es notwendig, angezutiefst Persönliches und kümmert sich kaum um den Rest der
sichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen FortMenschheit. Der Europäische Traum ist raumgreifender und seischritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entnem Wesen nach systemischer und daher stärker auf das Wohlerwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in
gehen des Planeten fixiert. (…) Der Europäische Traum führt uns
einer Charta sichtbarer gemacht werden. (…)
ins globale Zeitalter.«
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000/C 364/01) www.europarl.europa.
eu/charter/pdf/text_de.pdf
Rifkin, Jeremy (2006): Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt/New York (Campus Verlag), (deutsche Ausgabe), S. 22, 98
M 2 Jeremy Rifkin: »Der Europäische Traum«
M 4 Thomas Meyer: »Die Identität Europas«
»Der Amerikanische Traum betont wirtschaftliches Wachstum,
persönlichen Reichtum und Unabhängigkeit. Der neue Europäische Traum konzentriert sich eher auf nachhaltige Entwicklung,
Lebensqualität und wechselseitige Abhängigkeit. Der Amerikanische Traum zollt der Arbeitsethik Tribut. Der Europäische Traum
stellt sich stärker auf Freizeit und spielerische Entfaltung ein. Der
Amerikanische Traum ist vom religiösen Erbe und der tief verwurzelten Spiritualität des Landes nicht zu trennen. Der Europäische
Traum ist bis ins Mark weltlich. Der Amerikanische Traum ist assimilatorisch. Erfolg hängt für uns damit zusammen, unsere früheren kulturellen Bindungen abzuschütteln und frei Handelnde im
großen amerikanischen Schmelztiegel zu werden. Im Gegensatz
dazu basiert der Europäische Traum darauf, die eigene kulturelle
Identität zu bewahren und in einer multikulturellen Welt zu leben.
Der Amerikanische Traum ist an Vaterlandsliebe und Patriotismus
gebunden. Der Europäische Traum ist eher kosmopolitisch, weniger territorial. Amerikaner sind eher bereit, notfalls mit militärischer Gewalt irgendwo auf der Welt das zu schützen, was wir als
unsere vitalen Eigeninteressen betrachten. Europäer zögern eher
bei Militäreinsätzen und favorisieren Diplomatie, Wirtschaftshilfen und friedliche Maßnahmen, um Konflikte zu vermeiden und
die Ordnung aufrecht zu erhalten. Amerikaner neigen dazu, lokal
zu denken, während die Loyalität der Europäer sich vom Lokalen
bis zum Globalen erstreckt. Der Amerikanische Traum ist etwas
»Zur modernen europäischen Identität gehört nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Kultur, sondern
eine bestimmte Art des Umgangs mit Religion, Religiosität und
Kultur im öffentlichen Leben. Der europäische Gedanke beruht
auf der Trennung von Kirche und Staat, auf der Toleranz der Religionen und Konfessionen füreinander und für die nichtreligiösen
Weltanschauungen sowie auf dem Schutz von Menschenrechten
und der Gewährung von Bürgerrechten unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Europäische
Identität ist daher vor allem eine politische Kultur des Umgangs
mit Kulturen und nicht der Glaube an den besonderen Wert von
einzelnen Religionen und Weltanschauungen. […] Die Suche nach
einer kulturellen Identität Europas, die den Kontinent normativ
und in den Gehalten seiner geistigen Produktionen ein für allemal vom Rest der Welt unterscheidet, sollte abgebrochen werden. […] Europa braucht keine kulturelle Identität, sondern eine
politische, die vor allem die Überzeugung einschließt, dass der
Sinn der Einigung nicht zuletzt auch in der Schaffung eines Freiraums für kulturelle Differenz besteht, die es jedem erlaubt, nach
seiner eigenen Fasson selig zu werden, solange dies das Recht
aller anderen einschließt. […] Ein politisches Gemeinwesen, das
[…] von seinen Bürgern verlangte, kulturell identisch zu sein oder
zu werden, würde unweigerlich das aufs Spiel setzen, wovon es
tatsächlich lebt, nämlich seine politische Legitimation als rechts-
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staatliche Demokratie. […] Ihre Identität kann die Europäische
Union nicht aus der Archäologie ihrer kulturellen Überlieferungen gewinnen, sondern nur aus einer Politisierung der Entscheidungsprozesse, die die Bürger in ihren Bann zieht. […] Politische
Identität ist, im Unterschied zur kulturellen, für die Zukunft der
EU von ausschlaggebender Bedeutung. Sie ist ein Projekt und ein
sozialer Produktionsprozess. […]
Thomas Meyer (2004): Die Identität Europas, Frankfurt/Main, S. 228 ff.
Konstruktion und Itemformulierungen
2003
2004
2005
Generelle Ablehnung von Muslimen in Deutschland
Muslimen sollte die Zuwanderung
nach Deutschland untersagt werden
26,5
24,0
24,3
Durch die vielen Muslime hier fühle
ich mich manchmal wie ein Fremder
im eigenen Land
31,0
35,1
33,7
Der Islam hat eine bewundernswerte
Kultur hervorgebracht (Ablehnung)
36,6
44,0
49,7
Die muslimische Kultur passt
durchaus in unsere westliche Welt
(Ablehnung)
65,9
69,6
72,2
51,6
57,8
46,8
Kulturelle Abwertung des Islam
M 5 »Europäische Zustände« –
Alarmierendes Ausmaß an Vorurteilen
»Vorurteile bedrohen den zivilen Zustand von europäischen Ländern«, so fassten Prof. Andreas Zick und Dr. Beate Küpper die
Botschaft einer neuen repräsentativen Umfrage zu Vorurteilen
und Diskriminierungen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Portugal, Polen und Ungarn zusammen. Die Studie wurde ermöglicht durch die Finanzierung
europäischer Stiftungen, u. a. auch durch die »Amadeu Antonio
Stiftung« und die »Freudenberg Stiftung«.
Mehr als die Hälfte der Europäer in diesen Ländern (50,4 %) teilen
negative Einstellungen gegenüber Immigranten und stimmen der
Aussage zu: »Es gibt zu viele Einwanderer.« 31,1 % der Befragten
meinen, »es gäbe eine natürliche Hierarchie zwischen schwarzen
und weißen Menschen«. 24,5 % unterstellen, dass »Juden zu viel
Einfluss« in ihrem Land haben. Anti-muslimische Vorurteile sind
weit geteilt in ost- und westeuropäischen Ländern, und jeder
zweite Europäer (54,4 %) nimmt den Islam als« Religion der Intoleranz« wahr. Immer noch behauptet eine Mehrheit der Europäer
(60,2 %) sexistische Einstellungen, die Frauen auf traditionelle
Geschlechtsrollen festlegen, die ökonomische Ungleichheit befördern. 42,6 % verneinen gleiche Rechte für homosexuell orientierte Personen und sieht Homosexualität als unmoralisch.
Die Studie zeigt, dass unterschiedliche Einstellungen in einem
Syndrom der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« zusammenhängen. Menschen, die glauben, dass Gruppen ungleich
zu bewerten sind, sind anfällig, verschiedene Gruppen durch die
Brille des Vorurteils wahrzunehmen. Zu den wichtigsten Gründen
einer »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« gehören autoritäre Einstellungen, das subjektive Gefühl der Bedrohung
durch Fremde und die Zurückweisung von kultureller Unterschiedlichkeit. Viele andere Faktoren, wie das Bildungsniveau,
starke nationale und regionale Identifikationen oder die Religiosität erhöhen die Vorurteile in Europa. Und diese Vorurteile motivieren Menschen dazu, eine vorurteilslastige Politik gut zu finden. Zum Beispiel würden in Großbritannien 49,9 %, in Ungarn
28,1 % and in den Niederlanden 37,3 % eine Partei wählen, die die
Zuwanderung reduzieren möchten. Fast 50 % der Europäer (Niederlande 67,8 %) würden nicht in eine Wohngegend ziehen, in der
zu viele Einwanderer leben.
Lehnten 2003 knapp 37 Prozent der Befragten die Meinung ab,
dass der Islam eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht
habe, waren 2005 bereits knapp 50 Prozent dieser Ansicht. Der
schon 2003 sehr hohe Anteil von knapp 66 Prozent der Befragten,
welche die Aussage ablehnten, dass die muslimische Kultur in unsere westliche Welt passe, stieg 2005 bis auf gut 74 Prozent an.
Islamischen Kulturen scheinen deutsche Befragte also mit steigender Tendenz eher skeptisch gegenüberzustehen. (…)
Die Fremdheit der Befragten gegenüber dem Islam drückt sich
schließlich auch in der Vermutung aus, dass Muslime in Deutschland ihrerseits den Kontakt zu Deutschen meiden. 80 Prozent der
Befragten unserer Umfrage stimmten 2005 der Ansicht zu, wonach Muslime in Deutschland lieber unter sich bleiben wollen;
und zwei Drittel gehen offenbar von einer Realisierung dieser
Haltung aus, wenn sie der Aussage zustimmen, dass die Mehrheit
der Muslime große Distanz zur restlichen Bevölkerung hält.
Weiterhin gibt es auch empirische Hinweise darauf, dass große
Teile der Mehrheitsbevölkerung zu Muslimen deutliche Distanz
halten. In unseren GMF-Umfragen haben wir die Aussage bewerten lassen, ob man Probleme damit habe, in eine Gegend zu ziehen, in der viele Muslime wohnen. Von 2002 bis 2004 stieg der
Anteil derjenigen, die dieser Aussage zustimmten, von 47 über 51
auf 58 Prozent an. Erst in der letzten Umfrage 2005 sank der Anteil wieder auf den Ausgangswert von 47 Prozent. (…)
© »Institut für interdisziplinäre Gewalt- un Konfliktforschung, Bielefeld, »Amadeu Antonio
Stiftung«, www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/europaeische-zustaende/
Leibold/Kühnel/Heitmeyer (2006): Abschottung von Muslimen durch generalisierte Islamkritik?, in APuZ. 1–2/2006
Distanzierte Verhaltensabsicht
Ich hätte Probleme, in eine Gegend
zu ziehen, in der viele Muslime leben
M 7 Anteil islamophober Einstellungen der Deutschen in GMF-Umfragen
2003–2005, (GMF= Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit)
© Leibold/Kühnel/Heitmeyer (2006):
Abschottung von Muslimen durch
generalisierte Islamkritik?, in APuZ. 1–2/2006
47
M 6 »Islamophobie in Deutschland?«
Wie verbreitet sind die generalisierten Abwertungen, Unterstellungen und Distanzierungen in der Mehrheitsbevölkerung? Eine
Antwort darauf ermöglichen die repräsentativen Bevölkerungsbefragungen im Rahmen des Langzeitprojektes »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (GMF), in denen auch das erhoben
wird, was wir als »Islamophobie« bezeichnen. (…) Während das
Ausmaß der generellen Ablehnung von Muslimen in den letzten
drei Jahren weitgehend stabil blieb, gab es deutliche Veränderungen bei den Antworten auf zwei andere Fragen, die wir zur Erfassung der kulturellen Abwertung des Islam formuliert haben.
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M 8 Das SVR-Integrationsbarometer: Erwartungen: »Weder Zwangsassimilation noch
Multikulti-Idyll«
ohne Migrationshintergrund
79,5
mit Migrationshintergrund
15,6
81,4
14,1
Sich um Arbeit bemühen
Integration und Migration sind endlich zu politischen
88,1
9,7
86,8
11,2
Mainstream-Themen geworden. In der öffentlichen
Diskussion dominieren dabei aber Vorstellungen von
Guten Abschluss anstreben
einer weitgehend ›gescheiterten Integration‹. Teil
39,8
21,0
15,3 17,1 6,8
43,3
22,0 11,4 16,0 7,3
dieser pessimistischen Sicht ist eine doppelte
Wenig
Sozialleistungen
beanspruchen
Schuldzuschreibung: Während für die einen ein beträchtlicher Teil der Zuwandererbevölkerung ›inte52,4
28,3
8,9 8,2
53,0
27,4
8,5 8,6
grationsunwillig‹ oder gar ›integrationsunfähig‹ ist,
Sich mit Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung identifizieren
halten andere die angeblich integrations- und latent
21,0 5,0
71,6
75,6
19,3
fremdenfeindlich eingestellte Mehrheitsbevölkerung
für die wichtigste Ursache der ›gescheiterten IntegFreundschaften mit Deutschen schließen
ration‹. Das SVR-Integrationsbarometer hingegen
34,8
8,1 14,3 12,3
39,0
26,3
10,3 12,5 9,1
33,3
belegt, dass sowohl das negative Bild als auch die
wechselseitigen Schuldzuschreibungen wenig mit
Religiöse und kulturelle Lebensweise teilweise aufgeben
dem zu tun haben, wie die Bevölkerung mit und ohne
94,1
91,5
7,0
Migrationshintergrund die Alltagsrealität in der EinGesetze in Deutschland beachten
wanderungsgesellschaft erlebt. (…) Der Bereich der
Bildung bildet dabei allerdings eine besondere Prob73,1
21,6
77,3
18,8
lemzone: Zwar sind auch hier die eigenen ErfahrunGut Deutsch sprechen
gen der Befragten mit Heterogenität weitgehend
27,7
6,65,9
48,3
36,4
8,9 5,6
58,5
positiv, doch sehen Personen mit und ohne Migrationshintergrund die Leistungsfähigkeit von Schulen
Interesse an deutscher Kultur und Geschichte zeigen
bei wachsender Heterogenität der Schülerschaft in
Frage gestellt. Besonders bildungsorientierte Perso0 % 20 %
40 %
60 %
80 % 100 % 0 %
20 %
40 %
60 %
80 % 100 %
nen mit höherem Sozialniveau auf beiden Seiten der
eher ja
teils/teils
eher nicht
gar nicht
voll und ganz
Einwanderungsgesellschaft möchten ihre eigenen
Kinder lieber nicht auf Schulen mit heterogener
M 10 Erwartungen an die Zuwanderer © (SVR-Integrationsbarometer): Jahresgutachten 2010. S. 44
Schülerschaft schicken. (…)
»Der Trend zu weitgehend übereinstimmenden Einschätzungen und Erwartungen setzt sich auch bei
der Frage fort, welche Verhaltensweisen von der jeweils anderen Seite erwartet werden. Die im SVR-Integrationsbanen die Bedeutung dieser Aspekte. Kaum erwartet wird hingegen
rometer geäußerten Erwartungen betreffen mehrheitlich den
kulturelle Assimilation, also die Aufgabe kultureller und religiöser
Bereich struktureller Integration: Die Bevölkerung mit wie ohne
Lebensformen: Solche Leistungen fordern nur je ca. 23 Prozent
Migrationshintergrund erwartet von Zuwanderern vor allem eider Befragten und mehr als 65 Prozent auf beiden Seiten lehnen
gene Anstrengungen im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt
sie ab. Den Wünschen und Forderungen an die Zuwandererbevölsowie das Einhalten der in Deutschland gültigen Gesetze und
kerung stehen die Erwartungen an die Mehrheitsbevölkerung geRechtsnormen. Jeweils weit über 90 Prozent der Befragten betogenüber. Von dieser erwarten beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft v. a. Gleichbehandlung und die Eröffnung
beruflicher Chancen. Die von Menschen mit und
ohne Migrationshintergrund
mit Migrationshintergrund
ohne Migrationshintergrund jeweils an die andere
Adresse gerichteten Erwartungen in Bezug auf Integ71,0
21,5
79,6
16,0
rationsbereitschaft sind auch für die Frage
Zuwanderern berufliche Chancen eröffnen
instruktiv,was Integration im Alltag der Einwanderungssituation konkret heißen kann. Es zeigt sich:
53,1
28,3
16,3 9,6
58,5
25,7
Befragte mit wie ohne Migrationshintergrund teilen
Schüler mit Migrationshintergrund fördern
ein als ›civic integration‹ bezeichnetes wenig voraus31,4
28,3
16,3
17,1
42,9
28,8
12,0 12,2
setzungsreiches, prozedurales und pragmatisches
Integrationsverständnis (Koopmans et al. 2005;
Zuwanderer durch Sozialleistungen absichern
Joppke 2007), das auf kulturelle Anpassungsleistun83,6
12,4
85,6
11,7
gen weitgehend verzichtet. (…)
Zuwanderer gleich behandeln
69,4
20,8
7,0
77,4
16,7
Freundschaften mit Zuwanderern schließen
66,0
23,3
72,5
© Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVT): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010 mit
Integrationsbarometer, S. 29, 44
18,9
Religiöse und kulturelle Lebenswelten respektieren
64,5
25,4
61,9
25,4
Interesse an anderen Kulturen zeigen
0%
20 %
40 %
voll und ganz
60 %
80 %
eher ja
100 % 0 %
teils/teils
20 %
40 %
60 %
eher nicht
80 % 100 %
gar nicht
M 9 Erwartungen an die Mehrheitsbevölkerung
© (SVR-Integrationsbarometer): Jahresgutachten 2010. S. 45
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Die Sinus
Sinus-Migranten-Milieus
Migranten Milieus® in Deutschland
Soziale Lage und Grundorientierung
hoch
1
B12
Intellektuellkosmopolitisches
Milieu
AB12
Statusorientiertes
Milieu
mittel
itt l
11%
BC2
12%
2
Multikulturelles
Performermilieu
13%
B23
Adaptives
Bürgerliches Milieu
16%
AB3
niedrig
3
BC3
Traditionelles
Arbeitermilieu
A3
16%
Religiösverwurzeltes
Milieu
B3
AI
AII
Vormoderne
T di i
Tradition
Ethnische Tradition
Konservativreligiös,
strenge, rigide
Pflicht- und Akzeptanzwerte,
materielle Sicherheit,
traditionelle Moral
Grund- Wertvorstellungen,
orientierung kulturelle Enklave
15%
Entwurzeltes
Milieu
7%
Soziale
Lage
Hedonistischsubkulturelles
Milieu
9%
BI
© Sinus Sociovision 2009
BII
C
Konsum-Materialismus
Individualisierung
Multi-Optionalität
Status, Besitz, Konsum,
Aufstiegsorientierung,
soziale Akzeptanz und
Anpassung
Selbstverwirklichung,
Leistung, Genuss,
bi-kulturelle Ambivalenz
und Kulturkritik
Postmodernes WertePatchwork, Sinnsuche,
multikulturelle
Identifikation
Tradition
Modernisierung
M 11 »Migrantenmilieus in Deutschland« – Die Migranten-Milieu-Studie des SINUS-Instituts (2007/2008)
Neuidentifikation
© Sinus Sociovision
49
M 12
Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten
Die (…) SINUS-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland
zeigt ein facettenreiches Bild der Migranten-Population und widerlegt viele hierzulande verbreitete Negativ-Klischees über die
Einwanderer. (…) Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion
und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen zwar die Alltagskultur, sind aber nicht milieuprägend und auf Dauer nicht identitätsstiftend. Der Einfluss religiöser Traditionen wird oft überschätzt.
Drei Viertel der Befragten zeigen eine starke Aversion gegenüber
fundamentalistischen Einstellungen und Gruppierungen jeder
Couleur. 84 Prozent sind der Meinung, Religion sei reine Privatsache. Insgesamt 56 % der Befragten bezeichnen sich als Angehörige einer der großen christlichen Konfessionen, 22 % als Muslime. Nur in einem der acht Milieus spielt die Religion eine
alltagsbestimmende Rolle – als Rahmen eines rural-traditionellen, von autoritärem Familismus geprägten Wertesystems. In dieser Lebenswelt, dem Religiös-verwurzelten Milieu, sind Muslime
und entsprechend auch Menschen mit türkischem Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert. In allen anderen Milieus
findet sich ein breites ethnisches und konfessionelles Spektrum.
In allen Milieus gibt es – je spezifische – Integrationsbarrieren
und Valenzen. Integrationsdefizite finden sich am ehesten in den
unterschichtigen Milieus, nicht anders als in der autochthonen
deutschen Bevölkerung. Die meisten Migranten verstehen sich
als Angehörige der multi-ethnischen deutschen Gesellschaft und
wollen sich aktiv einfügen – ohne ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen. Mehr als die Hälfte der Befragten zeigt einen uneingeschränkten Integrationswillen. 87 % sagen: »Alles in allem war es
richtig, dass ich bzw. meine Familie nach Deutschland gekommen sind.« Viele, insbesondere in den soziokulturell modernen
Milieus, haben ein bi-kulturelles Selbstbewusstsein und eine
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postintegrative Perspektive. Das heißt, sie sind längst in dieser
Gesellschaft angekommen. Vor diesem Hintergrund beklagen
viele – quer durch die Migranten-Milieus – die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft und das geringe
Interesse an den Eingewanderten. Etwa ein Viertel der befragten
Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich isoliert und ausgegrenzt – insbesondere Angehörige der unterschichtigen Milieus. Das heißt andererseits, dass Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung nur für einen kleineren Teil der Migranten
belastend sind. Eine Selbststilisierung als benachteiligt und
chancenlos ist typisch für das Entwurzelte Milieu und das Hedonistisch-subkulturelle Milieu. Sie unterscheidet sich strukturell
aber nicht von analogen Sichtweisen in den einheimischen Milieus der modernen Unterschicht ohne Migrationshintergrund. (…)
In der Migranten-Population deutlich stärker ausgeprägt als in
der autochthonen deutschen Bevölkerung ist die Bereitschaft zur
Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg. Mehr als
zwei Drittel zeigen ein modernes, individualisiertes Leistungsethos. (…) Dagegen ist das Spektrum der Grundorientierungen bei den Migranten breiter, das heißt heterogener als bei
den Bürgern ohne Zuwanderungsgeschichte. Es reicht vom Verhaftetsein in vormodernen, bäuerlich geprägten Traditionen
über das Streben nach materieller Sicherheit und Konsumteilhabe, das Streben nach Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg,
das Streben nach individueller Selbstverwirklichung und Emanzipation bis hin zu Entwurzelung und Unangepasstheit. Es gibt also
in der Migranten-Population sowohl traditionellere als auch soziokulturell modernere Segmente als bei einheimischen Deutschen.
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II. INTEGRATIONSSTRATEGIEN IN DEN EU-MITGLIEDSLÄNDERN
7. Integrationsstrategien in Europa: Von der
»alten« zur »neuen« Migration in Europa
UWE BERNDT
E
uropa fehlt im Vergleich zu Nordamerika eine »Kultur der Einwanderung«.
Migration ist ein belasteter Begriff. Drei
Leitbilder von Integration lassen sich ausmachen: Frankreich als Prototyp der
Staatsnation assimiliert. Im multikulturellen Modell wie in Großbritannien wird differenziert und die Gemeinschaftsbildung
von Einwanderern toleriert. Deutschland
hatte kein Konzept. Mit seinem Gastarbeitermodell wollte es kein Einwanderungsland sein. Diese Politik wandelt sich. Obwohl Integration national bleibt, gibt es
eine Gemeinsamkeit: In Westeuropa sind
Integrationskurse zur Pflicht geworden.
Von der »alten« zur »neuen« Migration in Europa
Abb. 1
50
Gewerkschaftsdemonstration in Paris zusammen mit »illegalen Migranten« am 22.8.2009 für
Migrationsforscher unterscheiden zwischen
die Legalisierung von Menschen »sans papiers«. 1996 hatten illegale Migranten Aufsehen erregt, als sie die
»immigration policy« und »immigrant poKirche »Saint Bernard« in Paris besetzten.
© picture alliance, dpa
licy«. Die erste betrifft die Kontrolle und
Steuerung von Einwanderung (»Wer soll komWahlkampf auf dem Rücken von Minderheiten (»playing the race
men?«). Die zweite bedeutet Integrationspolitik (»Wie sollen Eincard«) ist ein Element des Parteienwettbewerbs in europäischen
wanderer eingegliedert werden?«). Beide Bereiche verschränken
Ländern. Erstaunlich stabil sind dagegen drei »Modelle« von Intesich. Das System der »alten« Migration in Westeuropa war das
gration in Europa, die den Umgang mit kultureller bzw. religiöser
einer temporären Arbeitsmigration. Trotz des Anwerbestopps im
Differenz prägen (Thränhardt 2007).
Gefolge der Ölpreiskrise von 1973 mündete sie über Familiennachzug in eine Niederlassungswanderung. Mangels anderer legaler Möglichkeiten wurde das Asylrecht in den 1980er-Jahren
Republikanische Gleichheit und politische
zum Zuwanderungsvehikel für Hunderttausende. In Deutschland
Leitkultur
wurde es 1993 mit einer Änderung des Grundgesetzartikel 16a
und der Einführung der »Drittstaatenregel« angesichts von rund
Frankreichs Integrationskonzept ist eigentlich ein Gesellschafts400.000 Asylanträgen im Jahr grundlegend verändert. Menschen,
modell. Es kann auch als Idee von der »politische Leitkultur« bedie Asyl in der Bundesrepublik Deutschland suchen, aber über
zeichnet werden. Bürger bekennen sich als Individuum im »alltägfremde Länder einreisen, in denen keine politische Verfolgung
lichen Plebiszit« (Ernest Renan) zu der verfassten politischen
stattfindet, haben seither keine Möglichkeit mehr, als AsylbeGemeinschaft aller Franzosen, der »fast sakralen Republik«. Die
rechtigte anerkannt zu werden. Kritiker sprechen gar davon, dass
französische Integrationspolitik zielt damit auf eine individuelle
damit das Asylrecht »de facto abgeschafft« sei.
Gleichstellung, wobei davon ausgegangen wird, dass EinwandeEntsprechende europäische Regelungen im Rahmen des »Schenrer sich aus ihren ursprünglichen Bindungen lösen (»Assimilagener Abkommens« folgten. »Schengenland« kontrolliert heute
tion«). Kulturelle bzw. religiöse Differenz gehört in die Privateffektiv die Einreise von »Drittstaatsangehörigen«. So kommen
sphäre und wird oftmals in der Öffentlichkeit nicht toleriert. Im
nur noch wenige zehntausend Asylbewerber nach Deutschland.
nationalen Mythos ist Frankreich ohnehin das »Mutterland der
Mit der Öffnung der Grenzen in Europa, den Pendelmigranten aus
Menschenrechte« und vertritt universelle Werte. In der VergangenOsteuropa und den Flüchtlingen vom Balkan nahm das Migratiheit galt sogar eine »mission civilisatrice«, die in direkter Herrschaft
onsvolumen in den 1990er-Jahren zu. Die Osterweiterungen der
kolonialen Bevölkerungen aufgezwungen wurde. Historisch war
EU haben einen Teil des Migrationsdrucks aufgefangen. Die Eindie Nationwerdung Frankreichs schmerzhaft, musste sie doch
reise oder Arbeitsaufnahme ohne Papiere wird als »illegale Migravom »Ancien régime« bis ins 19. Jahrhundert gegen selbstbetion« kriminalisiert. Aber jeder kennt die »24-Stunden-Polinnen«,
wusste Bretonen, Korsen und Elsässer durchgesetzt werden. Seitdie zu Zehntausenden nicht legal in deutschen Privathaushalten
dem stören Partikularismen, die sich zwischen das als unmitteldie Betreuung von Kindern und die Pflege von alten Menschen
bar gedachte Verhältnis von Staat und Bürgern schieben könnten.
übernehmen. Staatlicher Politik wird hierbei vorgeworfen,
In einem katholisch geprägten Land wurde nach einem erbitter»scheinheilig« zu sein, indem sie es versäume, Einwanderung als
ten Kulturkampf mit der Kirche der Laizismus 1905 Gesetz und
eine Vitalisierungsspritze für ein alterndes und schrumpfendes
unumstößliche Staatsdoktrin. Die laizistische Republik ist nicht
Europa zu thematisieren. Trotz der »Normalisierung der Migratireligionsfeindlich, aber streng neutral. Konfessioneller Unteronserfahrung« (Bommes 2008) haben die 1990er-Jahre ein Negaricht an Staatsschulen und die Einziehung von Kirchensteuern
tivimage von Einwanderung hinterlassen. Fragen von Migration
und Integration sind ein Konfliktstoff ersten Ranges geworden.
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durch Finanzämter wie in Deutschland sind in Frankreich undenkbar.
Bei dem Verbot auffälliger Religionssymbole an staatlichen Schulen ging es um weit mehr als das »Kopftuch« (voile), das der damalige Staatspräsident Chirac als »Aggression« bezeichnete. Der
Republikanismus sah sich vom Kommunitarismus bedroht. Diese
sozial-philosophische Lehre aus den USA wendet sich gegen
einen Hyper-Individualismus und tritt für eine Erneuerung gemeinsamer Werte ein. Ausgerechnet Nicolas Sarkozy, der als Innenminister 2005 noch randalierenden Vorstadtjugendlichen
drohte, sie als »Gesindel« aus den Problemquartieren »kärchern«
zu wollen, setzte kommunitäre Akzente. Sein Ziel: Der Islam als
zweitgrößte Religionsgemeinschaft des Landes sollte sichtbarer
werden. Um ihn aus einer Hinterhofexistenz mit Gebetsräumen in
Kellern und Garagen zu holen, war für Sarkozy selbst eine staatliche Subvention von Moscheebauten kein Tabu mehr. Mit einer
»Laïcité plus«, der Gründung eines islamischen Repräsentationsrates und verpflichtenden Kursen für Imame in Sprache und Landeskunde sollte der »Islam en France« zu einem »Islam de France«
werden. Damit sollte dem rechtsradikalen »Front National«
ebenso wie Islamisten das Wasser abgegraben werden.
Frankreichs Integrationspolitik ist weitgehend »differenzblind«.
Folglich wird wenig gegen Diskriminierung getan. Die Botschaft
an die Immigranten lautet: »Ihr seid alle gleiche Franzosen!« In
den sozial und infrastrukturell abgehängten Trabantenstädten
kommt sie nicht an. In den »Banlieues« und »Cités« sieht die Praxis nämlich anders aus. Einwandererkinder mögen die Schule erfolgreich absolviert haben, sie wissen bei einer Bewerbung mit
dem Namen »Douala« oder »Abdel Kharim« und der »falschen« Absenderpostleitzahl zumal, dass sie chancenlos sind. Der SchwarzWeiß-Film »La Haine« (»Der Hass«) von 1995 war ein Vorgriff auf die
flächenhaften Unruhen ein Jahrzehnt später. Arbeitslosigkeit, Resignation und Drogen sind Themen des französischen Hip-Hop,
der in den Vorstädten entstand. Einige Kommentatoren deuteten
die anarchische Gewalt sogar in eine Bestätigung des Modells
staatsbürgerlicher Assimilation um. Die Vorstadtjugend hasse
die Republik nicht, sondern wolle an ihr teilhaben. »Nur das Rad,
das quietscht, bekommt die Wagenschmiere ab«, wurde ein Aktivist der Schwarzenbewegung in den USA zitiert. Die Realität ist
trauriger. Der Protest der Jugendlichen nord- und westafrikanischer Abstammung ist auffällig stumm. Sie stellen keine politischen Forderungen. Die »Banlieusards« sehen sich in einer Opferrolle und ziehen Parallelen zur kolonialen Demütigung ihrer
Vorfahren. Ihr Hauptfeind ist eine militarisierte Interventionspolizei. Sie durchschauen das Muster staatlicher Reaktion: Erst Repression, dann Förderung (»Marshallplan für die Städte«). Wessen
Schuld ist das? Die einer schlecht geplanten Einwanderung? Die
Schuld von Architekten und Stadtplanern? Die Dauermisere der
einstmals modernen Großbautensiedlungen begann mit dem
Wegfall von Industrie und Arbeitsplätzen.
»Glorifizierung der Vielfalt« und Multikultur
In völligem Gegensatz zu Frankreichs monistischem Modell steht
ein pluralistisches Konzept angelsächsischer Provenienz: Der
Multikulturalismus sieht Einwanderer stärker als Mitglied einer
ethnischen Gemeinschaft (»community«). Herkunftsunterschiede
und sogenannte Bindestrich-Identitäten sind ein Thema in der
politischen Öffentlichkeit. In Großbritannien ist »Race« (z. B. British Asian) eine offizielle Kategorie. Bei ihrer statistischen Erfassung, die in Frankreich völlig unzulässig ist, ordnen sich freilich
immer mehr Briten der Nennung »mixed race« zu. Auch in den
Niederlanden wurde von »ethnischen Minderheiten« (etwa: Surinamer, Türken, Marokkaner) gesprochen. Der Multikulturalismus
in Großbritannien wurzelt in der Staatstradition des aus mehreren Einheiten bestehenden Vereinigten Königreichs. Auch wirkt
das »British Empire« nach (»indirekte Herrschaft«). In den Niederlanden gab es in der Vergangenheit eine segmentierte, »ver-
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Abb. 2
»Lang anhaltende Migrationsdebatte im Vereinigten Königreich«
© The Economist, 11/2002
51
säulte« Gesellschaft. Religiöse Symbole wie das Kopftuch gelten
im multikulturellen Modell als Lebensstil und Identität, wobei Extreme unerwünscht sind. Bei der Londoner Polizei sind ein DienstHijab oder Sikh-Turban als Teil der Uniform zulässig. In britischen
Großstadtschulen werden selbstverständlich die vielen religiösen
Feste verschiedener Gemeinschaften gemeinsam gefeiert. Wo
Unterschiede so öffentlich gemacht werden wie in Großbritannien, übernimmt der Staat Verantwortung für friedliche »race relations« und garantiert »equal treatment«. Die Antidiskriminierungspolitik hat Biss. Bei Verstößen lässt sich von Arbeitgebern
Schadensersatz einklagen. »Quote« ist in Frankreich ein Unwort.
Das Konzept der Multikultur verträgt sich dagegen mit »positiver
Diskriminierung« bzw. »affirmative action« (wie sie in den USA heißt).
Studienplätze und Stellen im öffentlichen Dienst werden dabei
für Angehörige benachteiligter Minderheiten reserviert. Menschen aus »visible minorities« sind in Medien und Werbung präsent.
»Integriert Euch über Eure Gemeinschaften, bewahrt Eure kulturellen
Eigenheiten« – diese freundliche Botschaft ermöglicht Immigranten eine sanfte Landung in der Gesellschaft. Freilich ist das zweischneidig. Es wird kritisiert, dass dem Multikulturalismus ein statischer Kulturbegriff zugrunde liegt. Er begünstigt das Denken in
Blöcken, zementiert womöglich Trennlinien in den Köpfen. »Identität« kann auch einen Zwangscharakter haben. Durch Wegschauen sei, so Kritiker, »Londonistan« zu einer Drehscheibe für
einen extremen Islamismus vom indischen Subkontinent geworden. Das Toleranzideal des Multikulturalismus wurde erschüttert:
In London waren es Anschläge aus den Reihen eines »homegrown
terrorism«, in Amsterdam der Mord an dem provokativen Filmemacher Theo van Gogh. In der Folge betonten Befürworter des britischen Modells, es habe sich als pragmatisch und flexibel bewährt. Die Einwandererkinder in britischen Städten hätten meist
Jobs. Schlechte zwar, aber besser als keine. Sie seien vom Staat
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längst nicht so entfremdet wie die Vorstadtjugendlichen, die
Frankreich in die »Überflüssigkeit« entlassen habe.
Die Niederlande wendeten sich vom Multikulturalismus ab. In
den 1980er-Jahren entdeckten Politik und Medien die eklatant
hohe Arbeitslosigkeit von Immigranten. Der Fürsorgestaat habe
ihre ökonomische Aktivität durch »doodknuffelen« (»zu Tode umarmen«) erlahmen lassen. In den 1990er-Jahren wurde die Minderheitenpolitik in Integrationspolitik umbenannt. Für Neuzuwanderer wurden Sprach- und Orientierungskurse zur Pflicht. Dies
wurde zunächst pragmatisch begründet, weil die Beherrschung
der Landessprache in einer Dienstleistungsökonomie wichtiger
werde. Der Begriff Integration wurde aber immer mehr zur ideologischen Waffe im Parteienwettbewerb. Das Bild ist gemischt:
Rotterdam wählte sich einen Oberbürgermeister marokkanischer
Abstammung, während im Land islamfeindlicher Populismus Erfolge feierte. Ursächlich dafür sind möglicherweise weniger die
Integrations- und Großstadtprobleme als vielmehr der Verdruss
der Wähler über abgehobene Partei- und Konsenspolitiker.
Gastarbeitermodell und Ausländerpolitik
In Deutschland signalisiert eine Vorsilbe Befangenheit gegenüber
dem Phänomen Einwanderung. Der meist gebrauchte Begriff
»Zuwanderung« klingt weniger definitiv und endgültig. Migration
wird als temporär gedacht. Bei der staatlichen Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Mittelmeerraum griff die Bundesrepublik
auf ein vorhandenes Muster zurück. Schon das Kaiserreich hatte
für die Zentren der Industrialisierung (»Ruhrpolen«) und den agrarischen Osten »Fremdarbeiter« rekrutiert. Nach der Verskla»Alte« Migration
»Neue« Migration
System der Gastarbeit
Migrationshintergrund
– Asylsuchende
– »Illegale«
– neue Formen der
Gastarbeit
– Bürgerkriegsflüchtlinge
Anwerbung (bis
1972/73)
Einstellung im Zielland
restriktive Politik
(»Festung Europa«)
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– Mittelmeerraum
– frühere Kolonien
(F, GB, NL)
– privilegierte Zuwanderer (deutschstämmige Spätaussiedler)
Herkunft
– Osteuropa
– Entwicklungsländer
– Wanderung über
immer größere
Entfernungen: Globalisierung der Migration
– »Feminisierung«
der Migration
– geregelter Aufenthaltsstatus
– jedoch Einbürgerung in D lange restriktiv
Status
viele Zuwanderer
leben in einem ungeregelten rechtlichen
Status
Familiennachzug
fürht zu einer Niederlassung
langfristige Entwicklung Pendelmigration:
Wanderung als Möglichkeit, langfristig zu
Hause zu bleiben
– Wirtschaftsboom
Beschäftigungssituation Nischen und Seg– traditionelle Indusmente des Arbeitstriearbeitsplätze
marktes: Landwirtschaft, Baubranche,
schlecht bezahlte
Dienstleistungen, »informelle« Wirtschaft
bzw. »Schwarzarbeit«
Abb. 3 »Alte und neue Migration«
© Uwe Berndt, 2010
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vungspolitik des NS war dieser Begriff diskreditiert. Etwas schönfärberisch hieß es nun »Gastarbeiter«. Diese sollten in den Jahren
des »Wirtschaftswunders« Arbeitskräfte auf Zeit sein. Dennoch
erwarben die Gastarbeiter von Anfang an soziale Rechte und bekamen das Recht, Betriebsräte zu wählen. Darauf hatten die
deutschen Gewerkschaften bestanden, um ein Sozial- und
Lohndumping zu verhindern. Mit immer längerem Aufenthalt verfestigte sich der rechtliche Aufenthaltsstatus der Ausländer. Da
das Grundgesetz die Familie schützt, war ihnen der Familiennachzug möglich. Nach dem Anwerbestopp von 1973 wuchs die
ausländische Wohnbevölkerung deshalb noch an. Die Kinder und
Kindeskinder der Gastarbeiter wurden Berliner oder Stuttgarter.
Juristisch blieben sie »Ausländer«. Der in den 1970er-Jahren aufgekommene Begriff »ausländische Mitbürger« kaschierte das
kaum. Den Einwanderern wurde häufig die kulturelle »Assimilation« (»Seid wie die Deutschen«) abverlangt, ohne dass sie politische Gleichstellung erlangten. Trotz der sozialstaatlich unterfütterten Integration der Gastarbeiter und ihrer Nachkommen war
die Botschaft implizit: Ihr gehört nicht wirklich dazu. Sozialpsychologisch bedeutete dies, das sich Gruppen und Generationen
kollektiv vor den Kopf gestoßen fühlen mussten. Wiederkehrende »Türkendebatten« aktualisieren diese Verletzungen unnötig, obwohl gerade diese Einwanderungsgruppe sich ausdifferenziert und eine kleine Mittelschicht ausbildet.
Deutschland war bis zur Änderung seines Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 bei der Verleihung der Bürgerrechte der Prototyp eines ethnischen Modells. Die Zugehörigkeit zur Nation war
schicksalhaft und »blutmäßig«, nicht politisch bestimmt: Infolge
des Abstammungsrechts konnte man Deutscher entweder nur
sein – oder nachträglich nur sehr schwer werden. Bevor es 1871
zur Bildung eines deutschen Nationalstaats kam, imaginierten
sich die Deutschen eine homogene »Kulturnation«. Dieses Konzept ist weniger offen gegenüber Einwanderung als der französische Prototyp der Staats- bzw. Willensnation oder die Varianten
des Multikulturalismus. Diese folgen nicht dem ethnischen, sondern dem territorialen Prinzip. Der Zugang zu den Bürgerrechten
wird leicht gemacht, um Integration zu fördern. Spätestens mit
der Geburt im Land wird man Bürger. An diesem Standard orientiert sich nun auch Deutschland, wenngleich nicht konsequent.
Kinder türkischer Eltern erhalten zwar bei Geburt in Deutschland
automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie müssen sich
bei Volljährigkeit jedoch entweder für den deutschen oder den
türkischen Pass entscheiden. Eine doppelte Staatsangehörigkeit,
wie sie seit 2008 für Bürger der EU-Staaten möglich ist, bleibt
ihnen bisher in der Regel verwehrt.
Ein Mantra früherer Bundesregierungen lautete: »Deutschland ist
kein Einwanderungsland!« Diese Einschätzung, die von manchen gar
als »politische Lebenslüge« bezeichnet wurde, wurde dann
schrittweise aufgegeben. Die Vorschläge der »Süssmuth-Kommission« (»Zuwanderung 2001«) zielten zunächst auf eine Reform
des Ausländerrechts. Es sollte sich von einem »fremdenpolizeilichen Abwehrrecht« hin zu einem modernen Einwanderungsrecht
wandeln. Die wesentliche Einsicht war, dass Deutschland aus
ökonomischen und demografischen Gründen Einwanderung in
großer Zahl benötigen wird. Das seit 2005 geltende »Zuwanderungsgesetz« war in dieser Hinsicht ebenso wenig mutig und
schlüssig wie die im Jahr 2000 von Bundeskanzler Schröder initiierte deutsche »Green Card« für IT-Spezialisten. Obwohl der Fachkräftemangel die deutsche Wirtschaft Milliardenumsätze kostet,
reagiert die Politik aktuell immer noch mit den alten Abwehrreflexen. Das Zuwanderungsgesetz (»Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der
Integration von Unionsbürgern und Ausländern«) regelt wesentliche
Teile des deutschen Ausländerrechts neu. Entgegen dem öffentlich verkündeten Anspruch, die Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland neu zu regeln, finden sich jedoch tatsächlich
kaum neue Möglichkeiten für eine Einwanderung im Gesetz –
auch der Begriff »Einwanderung« wird im Gesetz vermieden.
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Ein symbolisch wichtiger Schritt zur Selbstanerkennung Deutschlands als Einwanderungsland war dagegen die Einsetzung einer
»deutschen Islamkonferenz«. Der damalige
Bundesinnenminister Schäuble (CDU) wurde
dafür in der Presse gar als »Wolfgang der
Weise« gelobt, wenn auch kritisiert wurde,
dass er vor allem die Vertreter eines Islams
der konservativen Männer an den Tisch
holte, welche die Mehrheit der säkularisierten Muslime in Deutschland nicht repräsentierten. In den konservativen Gemeinden
fanden aber durchaus selbstregulative Prozesse statt. Anders als die erste Generation
der Gastarbeiter, die sich auf eine Rückkehr
orientierte, sind die meisten Muslime in
Deutschland angekommen. »Moscheekonflikte« um den Bau von Minaretten oder
neuen Moscheen in deutschen Städten wie
z. B. in Köln waren für die öffentliche Diskussion und Auseinandersetzung aus dieser Perspektive durchaus nützlich.
Abb. 4 »Deutschland braucht Fachkräfte«
© Pepsch Gottscheber, 2003
Diese neue deutsche Integrationspolitik ist
ingesamt noch schwer zu verorten. Sie liegt
zwischen einem »Multikulturalismus des
Literaturhinweise
Laisser-faire« und dem »Republikanismus mit einem Laizismus
durch die Hintertüre« (z. B. Kopftuchverbote für Lehrerinnen in einigen
Baringhorst, Sigrid/Hunger, Uwe/Schönwälder, Karen (Hrsg.) (2006): PolitiBundesländern). Die eigentliche Großbaustelle der Integration
sche Steuerung von Integrationsprozessen. Intentionen und Wirkungen.
liegt zweifelsohne im Bereich »Bildung«. In Deutschland entVS Verlag. Wiesbaden.
scheidet soziale Herkunft immer noch über den Bildungserfolg.
Viele Vergleichsstudien belegen, dass Einwandererkinder dopBommes, Michael (2008): Migration und die Veränderung der Gesellschaft,
pelt benachteiligt sind. Das bedeutet neben einer negativen Folin: Aus Politik und Zeitgeschichte 35–36 (Themenausgabe »Migration in Eugekette in den Arbeitsmarkt hinein auch eine »Verschwendung
ropa«), S. 20–25
von Potenzial und Talent«.
Michalowski, Ines (2007): Vom nationalen Integrationsmodell zum europaweiten Pragmatismus?, in: Woyke, Michael (Hrsg.): Integration und Einwanderung. Wochenschau Verlag. Schwalbach/Ts., S. 33–58
Pflicht-Integrationskurse in Westeuropa
Integrationspolitik bleibt national. Obwohl es sich längst überlebt hat, wirkt z. B. das deutsche Gastarbeitermodell in den Köpfen und in den politischen Debatten nach. Gleichzeitig nähern
sich die Integrationspolitiken in Westeuropa jedoch an. Der gemeinsame Nenner sind Pflicht-Integrationskurse für Neuzuwanderer (Michalowski 2007). Diese »zivile Integration« ist in den Niederlanden entstanden. Dort wurden auch implizite Ziele verfolgt,
so z. B. Restriktionen für die Heiratsmigration (»Integration im
Ausland«) und die Beschwichtigung der einheimischen Bevölkerung. Auch in der Integrationspolitik fand eine Wende vom fördernden zum fordernden Wohlfahrtsstaat statt. Die Gefahr besteht, dass der Staat sich aus der »nachholenden« Integration der
»alten« Einwanderung zurückzieht. Ansonsten überzeugt die
pragmatische Begründung: Ausreichende Sprachkenntnisse sind
Voraussetzung für gelingende Integration und eröffnen Bildungschancen. Deutschland hatte bereits Erfahrung mit Sprachkursen
für deutschstämmige Aussiedler. Das Zuwanderungsgesetz
machte Integrationskurse für alle Neuzuwanderer zur Pflicht,
und begründete zugleich eine staatliche Selbstverpflichtung, für
ein entsprechendes Angebot zu sorgen. Ob Pflichtkurse die Integration fördern, wird sich erst noch zeigen. Integration ist ein
teilweise selbstläufiger, generationenübergreifender Prozess. Es
liegt auf der Hand, dass Integration nur begrenzt politisch steuerbar ist (Baringhorst u. a. 2006). Dabei ist Anerkennung eine
wichtige und gesellschaftlich zugleich knappe Ressource. Der
vergleichende Blick nach Nordamerika (Schmidtke 2006) zeigt:
Europa benötigt eine »Kultur der Einwanderung«.
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Schmidtke, Oliver (2006): Kultur der Einwanderung oder Krise der Integration – Nordamerika und Europa im Vergleich, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7, S. 837–844
Thränhardt, Dietrich (2007): Integration, Assimilation und kulturelle Öffnung im Vergleich europäischer Länder, in: Woyke, a. a. O., S. 83–91
Bundesministerium des Innern (Hrsg.) (2001): Zuwanderung gestalten –
Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«. Berlin
Internethinweise
www.bamf.de (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)
www.focus-migration.de (Newsletter Migration und Bevölkerung)
www.migrationpolicy.org (Migration Policy Institute)
www.spiegel.de/media/0,4906,2915,00.pdf (Zuwanderung gestalten,
Integration fördern - Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«)
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MATERIALIEN
M 1 Migranten zu Staatsbürgern
Die (…) erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für »Ausländerkinder«, die
am 1. Januar 2000 in Kraft traten, stellten auf
jeden Fall einen gewissen Wendepunkt in der
Ausländerpolitik dar. Zum ersten Mal rückte
eine Bundesregierung damit vom Abstammungsprinzip (ius sanguinis – »Recht des
Blutes«) ab, wonach die Staatsangehörigkeit
von den Eltern abgeleitet wurde. Kern der
Reform ist die Einbürgerung nach dem Geburtsrecht (ius soli – » Recht des Bodens,
Landes«), wonach die Staatsangehörigkeit
vom Geburtsort bzw. –land abgeleitet wird.
Das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr
1913 wurde damit zu Grabe getragen und ein
grundlegender Perspektivenwechsel zumindest ansatzweise eingeleitet. In der 1999 veröffentlichten Broschüre der BundesregieM 4 Das neue Staatsbürgerschaftsrecht ab 1.1.2000
© Bergmoser + Höller Verlag, www.zahlenbilder.de
rung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht
wird denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – eigentlich in
der deutschen Geschichte überhaupt – regieschen Wohnbevölkerung vor dem vermeintlichen Assimilierungsrungsamtlich festgestellt: »Deutschland ist schon längst zum Eindruck kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist die Frucht der jahrwanderungsland geworden.« In Deutschland geborene Kinder
zehntelangen falschen Politik. Vor 25 Jahren behaupteten nicht
ausländischer Eltern erwerben nach dieser Neuerung unter benur Rechtsradikale, sondern Politiker etablierter Parteien, dass
stimmten Umständen mit der Geburt die deutsche StaatsangeAusländer keine Mitbürger seien. Und viele Politiker auch der
hörigkeit. Sie müssen sich aber zwischen dem 18. und 23. LebensVolksparteien lebten viele Jahre in dem Irrglauben, man könnte
jahr für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Ein
die Einwanderung wieder rückabwickeln; um Integration wollte
weiterer wichtiger Punkt ist die Verkürzung der Einbürgerungsund brauchte man sich daher nicht zu kümmern, Sprachkurse
frist für die seit langem in Deutschland lebenden Ausländer von
waren nicht so wichtig. Warum sollte man »Gastarbeiter« integ15 auf acht Jahre. Dieser Anspruch hängt von ausreichenden
rieren? Warum sollten sie Deutsch lernen? Stattdessen legte die
Kenntnissen der deutschen Sprache und einem Bekenntnis zum
Politik sogenannte Rückkehrprogramme auf. Erst das sogeGrundgesetz ab.
nannte Zuwanderungsgesetz vom 5. August 2004, in Kraft seit
Karl-Heinz Meier Braun: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt/M. 2002, S. 98 f.
Anfang 2005, brachte das, was man einen Paradigmenwechsel
nennt: eine grundsätzliche Neubesinnung. Wie schwer sie ist,
zeigt schon der Name des Gesetzes: das Wort »Einwanderung«
M 2 »Die zweite deutsche Einheit. Endlich wird Integrationswurde ersetzt durch Zuwanderung. Dieses Gesetz ist zwar nicht
politik gemacht«
der ursprünglich geplante große Teppich, auf dem Integration
stattfinden kann, es ist eher ein Topflappen – aber an diesem
Niemand tut mehr so, als könne man die deutsche Gesellschaft
Topflappen wird seitdem ständig weitergehäkelt: nicht zuletzt
homogenisieren und sterilisieren wie die Milch. Auch die Unionsvon Bundesinnenminister Schäuble. Er weiß, dass Integration
Politiker, die ehedem eine deutsche Leitkultur propagiert haben,
sehr viel mehr sein muss als die Addition aller Dönerbuden in den
reden heute vom kulturellen Reichtum, den die Einwanderung
deutschen Fußgängerzonen. Schäuble, der in seiner ersten Amtsnach Deutschland getragen habe. Aber die Angst zumal der türkizeit als Innenminister Architekt der deutschen Wiedervereinigung war, knüpft daran an. Seine Islamkonferenz und die Arbeitsgruppen, die deren
Sitzungen vor- und nachbereiten, dazu der
Integrationsgipfel im Kanzleramt – das alles
ist der Versuch, eine zweite deutsche Einheit
zu organisieren: die Vereinigung von Bürgern
deutscher und ausländischer Herkunft.
Wenn es um Integration geht, erlebt man
einen ganz anderen Schäuble als bei den Debatten über Sicherheitsgesetze. Das verblüfft. Aber es gibt eine Verbindung: Integration ist der wichtigste Beitrag zum inneren
Frieden.
Heribert Prantl: »Deutsche Einheit die zweite«, In: Süddeutsche Zeitung, 12.02.2008, www.sueddeutsche.de/politik/integration-deutsche-einheit-die-zweite-1.278126
M 3 »Versiegeltes System«
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© Luis Murschetz, 1999
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M 5 Zweiter Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt mit Bundeskanzlerin
M 8 »Geregelte Zuwanderung«
© Pepsch Gottscheber, 2004
Angela Merkel, dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble, der
damaligen Justizministerin Brigitte Zypries sowie der Beauftragten der
Bundesregierung für Ausländerpolitik und Integration Maria Böhmer am
12.7.2007
© Picture alliance
M 6 Zehn Jahre Green Card in Deutschland
Die Bundesrepublik ist nach den ersten Etappen zum Zuwanderungsland stehen geblieben – und das zehn Jahre nach dem Startschuss. Den gab einst der damalige Bundeskanzler Gerhard
Schröder, als er zum 1. August 2000 die Green Card für ausländische IT-Experten einführte – ein bis dahin einmaliger Schritt.
Fortan durften Zuwanderer von außerhalb der EU kommen, wenn
sie einen Hochschulabschluss auf dem Gebiet der IT-Branche vorlegen konnten. Geradezu sensationell war die Regelung, dass die
Arbeitsämter bei Vorliegen aller Unterlagen spätestens nach
einer Woche die Arbeitserlaubnis erteilen sollten. (…) Zum Starttermin hatten die Unternehmen den Ämtern 11.000 freie IT-Stellen
gemeldet, bis zum Ende der Regelung 2005 kamen so 18.000 ITSpezialisten ins Land.
Die Zahlen zeigen auch, wo Deutschland zehn Jahre später steht:
Selbst im Krisenjahr 2009 verzeichnete der Branchenverband Bitkom 20.000 unbesetzte Stellen für IT-Fachleute. Und der Verein
Deutscher Ingenieure (VDI) ermittelte für das vergangene Jahr,
dass 34.000 Ingenieure in Deutschland fehlen. Es ist also schlimmer geworden, auch auf der anderen Seite der Statistik: Denn
2009 wanderten gerade einmal knapp 2500 IT-Spezialisten von
außerhalb der EU ein. Das sind weniger als der Durchschnitt der
Green-Card-Jahre, obwohl seither mehrmals die Gesetze gelo-
ckert wurden. Das Problem, da sind sich Ökonomen, Demografen
und Bildungsforscher weitgehend einig, wird drängender. (…)
[D]en kühlen Zahlen vom Fachkräftemangel (…) stehen weit verbreitete Ängste der Wähler entgegen: Vor Konkurrenz auf dem
Arbeitsmarkt, vor einer fremden Kultur, die sich im Wohnviertel
breit macht, vor Islamisten. Natürlich ist das mitunter irrational,
etwa die Angst vor islamischen Extremisten ausgerechnet mit der
Zuwanderung von Akademikern zu verbinden. (…) Diese Stimmung, die sich zu einer Abwehrhaltung gegen Zuwanderung insgesamt vermengt, hat das Fortkommen in den vergangenen Jahren so zäh gemacht. Die entgangenen Milliardensummen sind ein
Preis dieser Angst. Wer hier Abhilfe schaffen will, der wird Antworten auf diese Ängste finden müssen und auf Vorbehalte. (…)
Die Vorbehalte greifen die beiden großen Bremser einer Fachkräftezuwanderung in seltener Eintracht auf, die Union und die
Gewerkschaften. (…) Der DGB betont zwar die Bereitschaft zu
einer vorsichtigen Öffnung des Arbeitsmarktes, dem folgt aber
stets ein Aber: dem Mangel müsse vor allem durch Weiterbildung,
kostenfreies Studium und neue Chancen für Frauen und Älteren
begegnet werden – Inländer zuerst eben.
Angesichts dieses Widerstandes verwundert es nicht, dass wichtige Erleichterungen für Zuwanderer auf Umwegen daherkommen. Dies vor allem in Form der EU-Erweiterung, die der Gemeinschaft seit 2000 zwölf neue Mitglieder beschert hat. (…) Viele
dieser Länder leiden allerdings selbst unter Fachkräftemangel,
die deutschen Unternehmen werden also umso mehr bieten müssen, um Spezialisten zu gewinnen.
Das Grundproblem aber bleibt: dass Zuwanderung in Deutschland ein historisch belasteter Begriff ist, geprägt in den 1990erJahren durch den Missbrauch des Asylrechts als Einwanderungsgelegenheit und im vergangenen Jahrzehnt durch die
Bildungskatastrophe unter Migranten, deren Verarmung sowie
den Generalverdacht gegen Muslime nach den Terroranschlägen
von 2001. Ein gelungener Fachkräftezuzug birgt keines dieser
Probleme. Er kann vielmehr dazu beitragen, dem Begriff Zuwanderung zu neuem Ansehen zu verhelfen.
55
Roland Preuß: »Der Preis der Angst«, Süddeutsche Zeitung 31.07./01.08.2010, Nr. 174, S. 21
M 7 »Deutschkurs für Integrationsgenötigte«
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© Horst Haitzinger, 13.7.2007
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M 9 »Der Untergang von Londonistan«
Nun also ist das geistige Fundament, auf dem »Londonistan« beruhte, in Frage gestellt. Was ist wichtiger? Ein Multikulturalismus,
der die Angehörigen der communities nach religiösen oder ethnischen Besonderheiten voneinander unterscheidet? Oder ein Multikulturalismus, der die Individuen, jenseits von Glaube und Ethnie, als Bürger derselben Gesellschaft vereint? Natürlich ist jede
Gesellschaft vielfältig und vielgliedrig. Das spiegelt sich besonders in den Konflikten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen
wider. Nur in totalitären Utopien gibt es eine Gesellschaft ohne
Konflikte. Dem Multikulturalismus ist aber zu eigen, dass er dem
Individuum je nach seiner ethnischen Zugehörigkeit eine unveränderliche kulturelle »Substanz« zuschreibt, auf die Politik und
Justiz Rücksicht zu nehmen hätten. (…)
Multikulturalismus ist in der Tat nur dann sinnvoll, wenn er in eine
Form des sozialen Friedens mündet. Die Repräsentanten der einzelnen »communities« müssen ihre Schäfchen kontrollieren.
Wohl dürfen sie ihnen ihre eigenen religiösen und partikularen
moralischen Wertvorstellungen vermitteln – sie müssen den Jugendlichen aber auch die Verbindlichkeit der allgemeinen öffentlichen Ordnung beibringen. Die britische Gesellschaft ist daher
viel traumatisierter als die amerikanische nach den Anschlägen
vom 11. September, selbst wenn die Zahl ihrer Toten weitaus niedriger ist. In den Vereinigten Staaten waren die neunzehn Attentäter alle Ausländer, Großbritanniens Terroristen hingegen sind
Sprösslinge der eigenen multikulturellen Gesellschaft. Man weiß,
dass sie tief von ihrer Religion durchdrungen waren, diese Religiosität in Moscheen, aber vielleicht noch mehr durch Videokassetten und Internet vermittelt bekamen. Sie hören nicht auf jene
Repräsentanten ihres Milieus, die mit dem Staat zusammenarbeiten.
Nach den Attentaten ist nun klar, dass das multikulturelle Modell
Großbritanniens seine integrative Kraft verloren hat. (…) Wie
man aus dieser Sackgasse wieder herauskommen kann, darüber
werden – wie in den Niederlanden nach dem Mord an Theo van
Gogh – auf dem Kontinent in der Presse und im Internet heftige
Debatten geführt. (…) In Europa interessiert man sich inzwischen
für die Erfahrung, die Frankreich gemacht hat, das – weit vor
Deutschland und England – die größte Bevölkerungsgruppe muslimischer Herkunft beheimatet. (…) Frankreich setzte auf Laizität,
den ausdrücklichen Willen zur Integration und eine präventive Sicherheitspolitik. Diese Form von gesellschaftlicher Kontrolle –
die so ziemlich das Gegenteil der multikulturellen Vorstellungen
darstellt – hat dazu beigetragen, dass Frankreich im vergangenen
Jahrzehnt von Attentaten verschont blieb.
Gilles Kepel: »Der Untergang von Londonistan«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,
28.8.2005, Nr. 14, S. 11 (Aus dem Französischen von Cornelia von Wrangel)
M 10
» London ist nicht Paris«
Aus Paris war im Juli 2005 nach den Anschlägen von London häufig die Einschätzung zu hören, das britische »multikulturelle« Modell ethnischer Integration habe einen schweren Schlag erlitten.
Die Straßenszenen vom November haben solche Stimmen zum
Verstummen gebracht. (…) [E[s gibt die ersten Stimmen, die das
Konzept der französischen Staatsbürgerschaft hinterfragen. (…)
Dass in Frankreich dreißig Schulen abgefackelt wurden, hat viele
Kommentatoren verbittert. Dabei gibt es auf den ersten Blick ein
schlichtes Motiv, die Schulen anzugreifen. Eine Attacke auf dieses
Symbol des Staates ist einfacher und weitaus weniger riskant als
der Sturm auf ein Polizeirevier. Dennoch gilt, dass diese Attacken
zugleich Einrichtungen gelten, die den Tätern weiterhelfen könnten. Aber viele von ihnen können nach dem Abgang von diesen
Schulen korrektes Französisch weder schreiben noch sprechen,
obwohl Französisch ihre erste Sprache ist. Ein französischer Soziologe hat auf originelle Weise die Benachteiligung ethnischer
Integr ationss tr ategien in Europa
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M 11 »Zwischen Albtraum und Wirklichkeit: Ist Deutschland sicher vor
französischen Verhältnissen?«
© Greser & Lenz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2009
Minderheiten bei der Jobsuche ermittelt. Er reichte bei hunderten
von Firmen identische Lebensläufe ein, aber mit ethnisch unterschiedlich gefärbten Namen. Die fiktiven Bewerber mit französischen Namen hatten fünfmal so viele Chancen wie die mit
Immigrantennamen. Nach dem Gesetz ist in Frankreich jede Diskriminierung unzulässig, aber in der Praxis sieht es ganz anders
aus, wie bei vielen anderen Aspekten der französischen staatsbürgerlichen Gleichheit. Kinder aus einer Minderheitenfamilie
mögen die Schule erfolgreich absolviert haben, doch sie wissen
natürlich, dass eine Bewerbung unter dem Namen Douala oder
Abdel Kaarim kaum in die engere Auswahl kommen wird. (…) Die
französischen Jugendlichen nord- und westafrikanischer Abstammung sind offenbar tiefer von der Gesellschaft entfremdet als farbige Jugendliche in Großbritannien. (…)
Das verweist auf signifikante Unterschiede zwischen dem französischen und britischen Integrationsmodell. In Frankreich definiert man alle französischen Staatsbürger als Franzosen, Punktum. Es zählt allein, dass man Bürger der Republik ist. Der Staat
ignoriert die kulturellen Unterschiede, statt sie explizit zu machen oder offiziell anzuerkennen. Getreu der laizistischen Tradition werden in den Schulen die religiösen Feste von Muslimen,
Juden und auch Christen nicht gefeiert. Die Schule ist ein konsequent religionsfreier Raum. Deshalb dürfen – nach dem berühmten Urteil – muslimische Mädchen kein Kopftuch tragen, das ja
sichtbarer ist als ein Kreuz oder ein Davidstern, der sich unter der
Bluse verbergen lässt. Damit bleibt auch die Benachteiligung bestimmter ethnischer Gruppen im öffentlichen Raum ausgeblendet. Der Staat ist von Amts wegen blind und stumm gegenüber
den Diskriminierungspraktiken auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt – die für die Opfer tägliche Erfahrung und ständiges Gesprächsthema sind.
Die Briten hingegen sind geprägt durch die konstitutionelle Monarchie. Das alte Empire gestattete es den vielen ethnischen Gruppen, sich als loyale Untertanen zu empfinden und darzustellen.
Aus dieser Tradition stammt die »Glorifizierung der Vielfalt« bei
den postimperialen Briten: Der Staat sieht es als selbstverständliche Aufgabe, ethnische Diskriminierung zu beobachten und zu
unterbinden, zumindest im öffentlichen Sektor. (…)
Das Bemühen um friedliche Beziehungen zwischen den diversen
ethnischen »Communities« war (…) keinesfalls durchweg erfolgreich. (…) Trotz immer wieder aufflammender Unruhen ist Großbritannien offenbar auf einem richtigen Weg. Es gibt ein liberales
öffentliches Bewusstsein, das immer neu aktiviert werden kann.
(…) Diskriminierung am Arbeitsplatz steht unter Strafandrohung,
die häufig recht wirksam ist – schon weil man sich mit einer juristischen Klage erhebliche Entschädigungssummen erstreiten
kann.
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In Medien und Werbung sind ethnische Minderheiten weit häufiger und prominenter vertreten als in Frankreich. Die großen Fernsehsender präsentieren schwarze und asiatische Moderatorinnen, Korrespondenten und Entertainer. Die vielen Communities
samt ihren Reibungen mit der Gesamtgesellschaft sind Gegenstand oft ironischer Comedy-Serien. Und immer wieder gibt es
bittersüße Filme, in denen die Spannungen zwischen ethnischen
Gruppen durch Liebesbeziehungen und Humor gemildert werden. Behörden auf kommunaler und regionaler Ebene sind angewiesen, bei ihrer Personalwerbung die volle Palette der ethnischen Gruppen anzusprechen. Das gilt insbesondere auch für die
Polizei. (…) Für den öffentlichen Dienst und zumal im öffentlichen
Gesundheitswesen gilt eine Politik der »Chancengleichheit«, die
zum Teil auf Maßnahmen »positiver Diskriminierung« hinausläuft. (…) In den Gemeinderäten auf kommunaler Ebene sind viele
ethnische Minderheiten vertreten.
Peter Loizos: »London ist nicht Paris«, in: Le Monde diplomatique (Deutsche Ausgabe), Dezember 2005, S. 20 (Aus dem Englischen von Niels Kadritzke)
M 12
» Ein bisschen Assimilation muss sein«
Der Satz »Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, den der türkische Ministerpräsident Erdogan (…) in der
Köln-Arena seinen Zuhörern zurief, hat (…) die Diskussion nach
dem Verständnis von Integration neu entfacht. (…) Im Grunde hat
er seinen Zuhörern zugerufen: Ihr bleibt Türken, auch wenn ihr in
Deutschland geboren seid. Erdogan will also eine türkische Minderheit in Deutschland, die sich ihres Türkentums bewusst ist
und sich in einer Art In-Group-Out-Group-Kategorisierung von
der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt – das versteht Erdogan unter
Integration. Das aber ist in Wahrheit das Gegenteil von Integration.
Um sich als Gruppe eng definieren zu können, bedarf es der Abgrenzung. Und Angst ist ein bewährtes Mittel, um genau diese
Abgrenzung zu leisten. Also schürte Erdogan kräftig Angst vor Assimilation. Dabei setzte er Assimilation betont negativ mit der
völligen Aufgabe der eigenen kulturellen Identität gleich – wer
hat davor keine Angst? (…) Assimilation taugt aber nicht zum Horrorbegriff. Assimilation ist untrennbar ein Teil der Integration.
Das Ziel von Integration ist, allen hier lebenden Menschen die
gleiche Teilhabe zu ermöglichen, unabhängig von Herkunft, Religion und Hautfarbe. Hierzu müssen beide Seiten – Zuwanderer
und Mehrheitsgesellschaft – bestimmte Grundbedingungen erfüllen. (…)
Kommen wir zunächst zur Aufnahmegesellschaft: Sie muss für ein
gesellschaftliches Klima sorgen, in dem sich Zuwanderer willkommen fühlen und spüren, dass sie ein Teil der Gesellschaft werden können, wenn sie das möchten. An dieser einfachen Anforderung scheitert Integration oft zu Beginn (…). Vor kurzem hat mir
ein türkischstämmiger Gemüsehändler von einem Erlebnis erzählt, das symptomatisch ist: Seit Jahrzehnten lebt er in Deutschland, und er hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Bei einem Gespräch mit dem Gewerbeamt legte er seinen deutschen Ausweis
vor. »Gut«, sagten die Beamten, »aber wo ist Ihre Aufenthaltserlaubnis?« Solange Zuwanderer damit zu kämpfen haben, wollen
so recht keine Heimatgefühle aufkommen. Verständlicherweise.
Trotzdem oder gerade deswegen sollten wir die Einbürgerungen
forcieren. Inzwischen ist jeder Ausländer im Durchschnitt 17 Jahre
in Deutschland, und es ist nicht gut für eine Demokratie, wenn
Staatsvolk und Wohnbevölkerung nicht kongruent sind. (…)
Kommen wir zu dem, was Zuwanderer im Integrationsprozess
leisten müssen: Sie sollten schlichtweg »deutscher« werden, sich
so weit wie nötig angleichen. Das ist Assimilation im vernunftgemäßen Sinne und hat nichts mit dem Schreckgespenst des Herrn
Erdogan zu tun. Zu dieser Angleichung gehört selbstverständlich,
Deutsch zu lernen, ohne die eigene Sprache zu vernachlässigen,
aber noch Etliches andere an »Fertigkeiten«: In der Soziologie
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M 13 »Spiegeltitel« 4/2004
© Der Spiegel
haben sich einige Grundinhalte von Integration herauskristallisiert, die mittlerweile Usus sind: Strukturelle Integration (Akkomodation) meint beispielsweise die Anerkennung der Migranten
als Mitglieder dieser Gesellschaft sowie den Zugang zu den gesellschaftlichen Positionen und dem Arbeitsmarkt. Kulturelle Integration (Akkulturation) erweitert diesen Begriff um das Erlernen der »Spielregeln« einer Gesellschaft, wozu auch die Fähigkeit
gehört, mit den Mitmenschen nicht nur verbal kommunizieren zu
können, sondern auf der Basis kollektiver Bilder und Geschichten. Wenn von Integration die Rede ist, geht es auch um Loyalität
zum Staat. Ich bin der festen Überzeugung, dass die meisten Zuwanderer loyal zum Staat und seinen Gesetzen sind, die SollBruchstelle ist jedoch der islamische Fundamentalismus. Deswegen kommt der Etablierung eines säkularen und aufgeklärten
Islam eine wichtige Bedeutung zu; ein Islam, der eine Trennung
von Kirche und Staat akzeptiert.
Integration geht nicht auf Knopfdruck, sondern ist ein langdauernder Prozess des Zusammenwachsens, der aus Annäherung,
auch Reibung, Finden von Gemeinsamkeiten und Unterschieden
sowie der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung besteht.
Assimilation ist in diesem Prozess ein notwendiges Phänomen,
das in vielen Schattierungen denkbar ist.
[E]s gibt tatsächlich eine benennbare Minimalassimilation, die
notwendig ist, um hierzulande leben zu können: Es ist die Anerkennung unserer Freiheitlichen demokratischen Grundordnung,
wie sie im Grundgesetz fest verankert ist. [Dieser »Verfassungspatriotismus« bedeutet] die Identifikation des Bürgers mit den
Grundwerten, den Institutionen und den Verfahren unserer Verfassung sowie die aktive Rolle des Staatsbürgers, des Citoyens.
Das ist die einzig denkbare normative »Leitkultur«, die sich zudem
seit dem Zweiten Weltkrieg bewährt hat, gerade weil sie das Volk
nicht entlang ethnischer Grenzen definiert.
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Lale Akgün: »Ein bisschen Assimilation muss sein«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.02.2008, Nr. 8, S. 15, Frau Akgün MdB, Mitglied der Fraktion der SPD
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II. INTEGRATIONSSTRATEGIEN IN DEN EU-MITGLIEDSLÄNDERN
8. Kurswechsel in Großbritannien?
Migrationspolitik der Regierung Cameron
GEORG WEINMANN
G
roßbritannien blickt auf eine lange Tradition als Ausund Einwanderungsland zurück. Seit geraumer Zeit
übersteigt allerdings die Zahl der Immigranten die Gruppe
derjenigen, die das Vereinigte Königreich verlassen. Insbesondere für Zuwanderer aus Ländern des Commonwealth und
Osteuropas ist die Insel ein Ort, der vielversprechende Zukunftsperspektiven bietet. Als Zuflucht für Asylbewerber
rangiert Großbritannien international im Mittelfeld. Seit
ihrem Regierungsantritt im Mai 2010 unternimmt die konservativ-liberale Koalition unter Premierminister David Cameron
den Versuch, die Migrationspolitik des Landes restriktiver zu
gestalten. Dabei zeichnet sich ab, dass die Umsetzung von
Wahlversprechen nicht so reibungslos vonstatten geht wie ursprünglich angenommen. Zielkonflikte, Kontroversen im Regierungslager und unerwartete Begleiterscheinungen bei der
Einführung neuer Vorschriften bieten Angriffsflächen für Kritik. Die größte Herausforderung auf dem Gebiet der Migration besteht für die neue Regierung in der Aufgabe, ihren Gesellschaftsentwurf einer »Big Society« mit den bisherigen
Integrationsbemühungen zu verknüpfen und unter Berücksichtigung von Sicherheitsbelangen weitere Möglichkeiten
für die Eingliederung von Migranten zu schaffen.
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Migration: Teil einer nationalen Identität?
Abb. 1 Arbeiter der Lindsey Oil Refinery in Immingham demonstrieren gegen
ihre Entlassung und die Einstellung von Arbeitern aus Italien und Portugal
© picture alliance, 30.1.2009
Großbritannien wird im Allgemeinen als ein typisches Aus- und
Einwanderungsland bezeichnet. Die Geschichte zeigt, dass Migration seine Entwicklung bereits seit Jahrtausenden prägt. Die
Motive für die Suche nach einer neuen Heimat sind sehr unterschiedlich: Neben religiösen, politischen und militärischen Beweggründen (| M 2 |) waren und sind es im Falle Großbritanniens
vor allem wirtschaftliche Faktoren, die im Laufe der Zeit an Bedeutung gewonnen haben. Dabei lassen sich mit Blick auf die Immigration der Neuzeit mehrere Phasen unterscheiden: Nach den
großen Auswanderungswellen in die heutigen USA kam es im
19. Jahrhundert zu einer umfassenden Immigrationsbewegung
aus Irland. Der industrielle Aufschwung des Vereinigten Königreiches und die widrigen Lebensumstände auf der Nachbarinsel
führten zu einem massiven Zustrom von Arbeitskräften und ihrer
Familien. Die enge Verbindung zwischen beiden Ländern zeigt
sich noch heute in der Tatsache, dass Staatsangehörige der Republik Irland einen Sonderstatus bei der Einwanderung nach Großbritannien innehaben. Als weiterer Faktor sind die Vergangenheit
des Vereinigten Königreichs als Weltmacht und seine Funktion als
Mutterland des Commonwealth von Bedeutung (| M 3 |). Auch
nach der Entlassung von Kolonien in die Unabhängigkeit gilt
Großbritannien dort seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als
Ort, an dem man sicher und in (relativem) Wohlstand leben kann
(| M 5 |). Vor allem London hat sich so zu »eine(r) Art Mikrokosmos
der Welt« (Sturm 2009, S. 196) entwickelt.
Darüber hinaus führte der Systemumbruch seit 1990 zu einem erheblichen Anteil an Zuwanderern aus Staaten des ehemaligen
Ostblocks. Die Rückkehr von immer mehr Immigranten – v. a.
Polen – in ihre Herkunftsländer verweist derzeit allerdings sehr
klar auf das Phänomen der »Remigration« (| M 4 |).
Dieser Hintergrund macht deutlich, dass es sich beim Thema Migration um einen überaus dynamischen, vielfältigen und symbolträchtigen Bereich der Politik im Vereinigten Königreich handelt.
Obgleich Großbritannien im Hinblick auf Zuwanderungsraten
und die Bevölkerungsanteile mit Migrationshintergrund nach
OECD-Angaben eher im Mittelfeld der internationalen Staatengemeinschaft liegt, sind einige Aspekte durchaus Gegenstand öffentlicher Kontroversen:
1. In Großbritannien wird rege über die Folgen zunehmender
globaler Migration für das Land diskutiert. Zentral ist dabei
die Frage, wie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Immigration als ökonomischem Vorteil und kultureller Bereicherung
einerseits und der Gefahr einer Überforderung andererseits
hergestellt werden kann (| Abb. 2 |, | Abb. 3 |).
2. Dabei zeigen sich enge Verbindungen zur Debatte über das
britische Selbstverständnis (»Was ist und wie zeigt sich »Britishness?« (| M 2 |, | M 3 |) und die Grundlagen des Zusammenlebens. Nicht selten steht hier die Bedeutung gemeinsamer
Werte als Katalysator für den sozialen Zusammenhalt im Mittelpunkt.
3. Darüber hinaus ist noch nicht abschließend geklärt, welche
Maßnahmen geeignet sind, um vor dem Hintergrund internationaler Bedrohungen dem Sicherheitsbedürfnis des Landes
zu entsprechen und gleichzeitig Menschen- und Bürgerrechte
(z. B. Freizügigkeit, Recht auf Asyl) (| M 10 |) zu respektieren.
Wie sind das Primat der Sicherheit (»securitisation«) und die
damit einhergehende Law-and-Order-Politik mit dem Rechtsstatus bzw. den Anliegen von Zuwanderern aus Nicht-EUStaaten und Asylbewerbern zu vereinbaren (| M 11 |, | M 12 |)?
4. Nicht zuletzt fallen auch Überlegungen ins Gewicht, die auf
die Erfüllung europäischer bzw. internationaler Verpflichtungen und das Renommee Großbritanniens in der Welt abzielen.
Wie soll das Land auf bestimmte Entwicklungen (z. B. Naturkatastrophen, Bürgerkriege, Regimewechsel) migrationspolitisch reagieren? In welchem Umfang können dabei humanitäre Überlegungen als Leitlinien dienen? Welches Vorgehen
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bietet sich an, wenn Konflikte mit
übergeordneten Rechtsinstanzen
wie der Europäischen Union gelöst werden müssen (| M 11 |)?
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die britische Gesellschaft durch das Nebeneinander
verschiedener Kulturen (»Multikulturalismus«) und die staatliche Förderung von Chancengleichheit Wege
gefunden hat, Zuwanderung produktiv zu gestalten. Dennoch dient der
Umgang mit Fragen der Immigration
und des Asyls auch als gesamtgesellschaftliches Konfliktbarometer. Dadurch verfügt das Thema über eine
starke Ausstrahlung auf die britische
Tagespolitik und nimmt erheblichen
Einfluss auf die Gesetzgebung in
ganz unterschiedlichen Bereichen
(z. B. Bildung und Erziehung, innere
Sicherheit, Wirtschaft/Arbeitsmarkt).
Abb. 2
» Total long-term international migration«, UK, 2000–2009
© Source: ONS, Long-Term International Migration, Office for National Statistics:
Migration Statistics, Quarterly Report, No 6: 26.8.2010, page 6. No 6: 26 August 2010
Gesetzgebung, Asyl- und Einwanderungspraxis
Die Schwerpunkte verschiedener Regierungen in der Migrationspolitik spiegeln sich in der Gestaltung entsprechender Gesetze
deutlich wider (Berg 2006, S. 253). Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde mit dem »Aliens Act« (1905, erweitert 1919) der
Zuzug von Angehörigen sozialer Randgruppen verboten.
Einen weiteren deutlichen Einschnitt stellte der »British Nationality Act« (BNA) aus dem Jahre 1948 dar. Er ermöglichte Einwanderern aus Commonwealth-Staaten sowohl die freie Einreise in das
Vereinigte Königreich als auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes
und des Wohnsitzes. Gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren
waren die Arbeitskräfte aus ehemaligen Kolonien sehr willkommen. Gründe dafür waren die Expansion des staatlichen Sektors
nach dem Zweiten Weltkrieg und die günstige allgemeine wirtschaftliche Entwicklung.
Die liberalen Bestimmungen des BNA wurden jedoch bald Schritt
für Schritt zurückgenommen. Wichtige Zäsuren sind in diesem
Zusammenhang der »Commonwealth Immigrations Act« (1962),
der »Immigrations Act« aus dem Jahre 1968 sowie der »Immigration Act« des Jahres 1971. Die Zuwanderung wurde darin nach
funktionalen und zeitlichen Kriterien zunehmend differenziert.
Als eine wichtige Leitlinie fungiert dabei die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die Qualifikationsprofile von Migranten und die Bedürfnisse der britischen Wirtschaft sollten nun in einem höheren
Maße als bisher üblich miteinander in Einklang gebracht werden.
Eine Neufassung des Staatsangehörigkeitsrechts war mit dem
»British Nationality Act« von 1981 verbunden. Nun war nicht mehr
das Geburtsland (»Ius Soli«) das Ausschlag gebende Kriterium für
die Bestimmung der Staatsangehörigkeit, sondern die Staatsangehörigkeit der Eltern (»Ius Sanguinis«) (| M 1 |).
Die letzten zwei Jahrzehnte wurden weitere Gesetze auf den Weg
gebracht. Nicht selten handelt es sich bei ihnen um Nachbesserungen bzw. Aktualisierungen bestehender Vorschriften. Einige
zielen ab auf mehr Rechtssicherheit für Antragsteller oder eine
größere Effizienz ab, die zu Einsparungen führen soll. Für den Bereich der Asylpolitik kommt in diesem Zusammenhang dem »New
Asylum Model« (NAM) eine besondere Bedeutung zu: Asylanträge
müssen seit 2007 rascher geprüft und Abschiebungen schneller
vorgenommen werden. »Fallmanager« (»Case Owners«) haben
die Aufgabe, Antragsteller während des gesamten Verfahrens zu
begleiten und einen »Fall« in höchstens 30 Tagen zum Abschluss
zu bringen. Bei einem Gesuch mit Widerspruchsverfahren liegt
die Obergrenze bei 100 Tagen. Nach Statistiken des britischen Innenministeriums ist seit der Einführung des »NAM« eine deutliche
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Verkürzung der Zeitspannen zwischen Antragstellung und Entscheidung festzustellen. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass
das Effizienzdenken stellenweise zu mangelhafter Rechtsberatung, Formfehlern und problematischen Entscheidungen geführt
habe. Ähnliche Befunde des unabhängigen »Immigration Inspectors« hatten die Forderung nach mehr Sorgfalt zur Folge.
Eine weitere Differenzierung der Zuwanderung ist mit dem »Point
Based System« (PBS) verbunden. Es umfasst im Wesentlichen Arbeitsmigranten. Aber auch Studierende aus Nicht-EU-Staaten
müssen diese Kategorisierung durchlaufen. Die bislang rund 80
verschiedenen Verfahrensarten wurden im Jahre 2008 nach australischem Vorbild auf ein 5-klassiges Bewertungssystem umgestellt. Angehörige der »Tier-(Stufe)1-Kategorie« bringen im Hinblick auf Alter, Ausbildung, Englischkenntnisse und finanzielle
Ausstattung für eine Einwanderung in das Vereinigte Königreich
so gute Voraussetzungen mit, dass sie für die Immigration kein
britisches Job-Angebot nachweisen müssen. Dies ist bei Arbeitsmigranten der »Tier 2« vonnöten. Sie haben sich erfolgreich um
Arbeitsplätze beworben, die bestimmte Qualifikationen voraussetzen und nicht mit britischen Staatsangehörigen besetzt werden können. Die Einreise nach der Klassifikation »Tier 3« ist derzeit außer Kraft gesetzt. Sie ist vorgesehen für die Behebung von
Engpässen in Niedriglohnsektoren, in denen nur rudimentäre
Qualifikationen vorausgesetzt werden. Studenten (»Tier 4«) und
Inhaber zeitlich befristeter Arbeitsverträge (»Tier 5«) haben für
ihren Aufenthalt im Vereinigten Königreich verschäfte Auflagen
zu erfüllen (z. B. Meldepflichten oder Tätigkeitsnachweise). Für
sie gibt es keine Möglichkeit, die britische Staatsbürgerschaft zu
erwerben (| Abb. 3 |). Das PBS bildet somit eine wichtige Schnittstelle zwischen Immigration, Arbeitsmarkt und Einbürgerung.
Das ursprünglich für die Steuerung der Arbeitsmigration entworfene Instrument wirkt nicht nur auf diesem Feld höchst selektiv
(OECD 2009, S. 104). Es nimmt auch großen Einfluss auf den Zugang zur britischen Staatsbürgerschaft.
In den zurückliegenden 20 Jahren hat sich die Rechtsentwicklung
für die Bereiche Immigration und Asyl erheblich beschleunigt. So
sind zwischen 1993 und 2007 im Zwei- bzw. Dreijahresrhythmus
vom Parlament neue Vorschriften verabschiedet worden. Die
»United Kingdom Border Agency« (UKBA) weist für die Zeit zwischen 2003 und Juli 2010 56 Änderungen der Rechtslage aus.
Wichtige Schlagworte sind in diesem Zusammenhang die noch
größere Bedeutung der differenzierten Zuwanderung, eine höhere Transparenz und Effizienz des Verwaltungshandelns sowie
eine gesteigerte Konsequenz bei der Anwendung geltenden
Rechts. Für viele Zuwanderer verschärften sich im Zuge dieser
Entwicklungen die Nachweispflichten. Diese sind dem Umstand
geschuldet, dass die Politik Zuwanderung, Asyl und Integration
verstärkt unter dem Vorzeichen ökonomischer Erfordernisse und
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GEORG WEINMANN
der Aufrechterhaltung des
sozialen Friedens in Zeiten
verschärfter Verteilungskonflikte betrachtet (| M 15 |,
| M 16 |).
Ein neues Profil
durch den
Regierungswechsel?
60
Obgleich die Finanz- und
Wirtschaftskrise im Zentrum
des letzten Wahlkampfs
stand, nahm das Thema Migration einen der vorderen
Plätze auf der Agenda für die
parteipolitische Auseinandersetzung ein (Carey/Geddes 2010). Die Labour Party
verwies im Frühjahr 2010
immer häufiger auf die Erfolge ihrer umfangreichen
Gesetzgebung als Regierungspartei (| M 17 |). Die
Konservativen hingegen warfen Premierminister Gordon
Abb. 3 »The new System: Entry to Citizenship«.
Brown vor, mit falschen Zah© Home Office, Border & Immigration Agency: The Path to Citizenship, 2008, Page 31
len Erfolge herbeizureden
und die wahren Probleme zu
verschleiern. Oppositionsführer David Cameron versprach im
schaften wie den USA oder Australien orientieren. Eine SchwäFalle eines Wahlsieges die Zuwanderung auf »Zehntausende«,
chung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Großbritanninicht auf »Hunderttausende« zu begrenzen. Die Liberale Partei
ens wäre aus ihrer Sicht zwangsläufig die Folge.
unter der Führung von Nick Clegg bekannte sich ebenfalls zu
Auf der außenpolitischen Ebene führte die »cap«-Diskussion zu
einer Neuausrichtung der Immigrationspolitik. Sie stellte eine
Irritationen im Vorfeld des Indienbesuches von Premierminister
differenziertere Zuwanderung in Aussicht und favorisierte eine
Cameron im Juli 2010. Der Gastgeber verwies auf den erheblichen
Amnestie für Immigranten, die sich illegal in Großbritannien aufAnteil, den indische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum
halten, sich aber sonst nichts haben zuschulden kommen lassen.
wirtschaftlichen Erfolg des Vereinigten Königreiches – vor allem
Nach der Ablösung der Labour Party durch ein konservativ-liberain der Computer-Branche – beitragen. Indiens Handelsminister
les Regierungsbündnis im Mai 2010 lassen sich bereits erste VerAnand Sharma forderte deshalb Ausnahmegenehmigungen für
änderungen im Bereich der Zuwanderung erkennen. Eine definihochqualifizierte Landsleute, die in Großbritannien ihre beruflitive Festlegung von Obergrenzen für hochqualifizierte
che und persönliche Zukunft suchen.
Immigranten aus Nicht-EU-Staaten soll im Frühjahr 2011 erfolgen.
Jenseits der Debatten über die Zuwanderungspolitik sorgen jünFür die Übergangszeit existiert eine »provisorische Begrenzung«.
gere Entwicklungen im Asylbereich für innenpolitischen KonfliktDes Weiteren befindet sich die engmaschigere Überprüfung von
stoff. Der Selbstmord des irakischen Asylbewerbers Osman Rasul
Studenten aus Staaten, die nicht der Europäischen Union angeEnde Juli 2010, Hungerstreiks von Müttern in Abschiebezentren,
hören, kurz vor der Einführung. Sie soll sicherstellen, dass die Eindie von ihren Kindern getrennt wurden, und die Auflösung der
reise nach Großbritannien nicht dazu genutzt wird, sich über die
Hilfsorganisation »Refugee and Migrant Justice« (RMJ) heizten
genehmigte Aufenthaltsdauer hinaus auf der Insel aufzuhalten
die Diskussion über Defizite und die grundlegende Ausrichtung
bzw. ein nicht genehmigtes Arbeitsverhältnis einzugehen. Unter
der Asylpolitik zusätzlich an. Mit dazu beigetragen haben höchstAusschluss der Öffentlichkeit vollzogen wurde bereits die Streirichterliche Entscheidungen, die Teile der Abschiebepraxis und
chung von Sonderzuwendungen der Zentralregierung an Komdas Arbeitsverbot für zahlreiche abgelehnte Asylbewerber
munen mit einem hohen Migrantenanteil (ca. 50 Millionen £).
(| M 18 |) für gesetzeswidrig erklärten. Kritische Beobachter sind
darüber hinaus der Meinung, dass die von der neuen Regierung
Begründet hat die neue Regierung diesen Schritt nach seinem
angekündigte raschere Bearbeitung von ca. 400.000 »Altfällen«
Bekanntwerden mit allgemeinen Sparbemühungen und der Inefin der Verwaltung ein falsches Leistungsdenken fördere. Es befizienz des Programms.
stehe die Gefahr, dass in Asylverfahren humanitäre Kriterien zu
Viele der genannten Maßnahmen haben ein geteiltes Echo gefunwenig Beachtung fänden und nationales, europäisches sowie inden. Einige sind selbst in der Regierungskoalition umstritten. So
ternationales Recht nicht in vollem Umfang zur Geltung komme.
stießen beispielsweise die geplanten Veränderungen im Hochschulbereich auf offenen Widerspruch. Der Wettbewerb um die
besten Köpfe könne nicht zugunsten Großbritanniens entschieFazit: Zuwanderung und Asyl in der Big Society
den werden, wenn junge Menschen aus Nicht-EU-Staaten zusätzliche Hürden auf dem Weg zu einer britischen Hochschule überDie Probleme der neuen Regierung bei der Gestaltung der Immiwinden müssten. Ähnliche Bedenken äußerten Interessenvertreter
grations- und Asylpolitik zeigen, dass die programmatischen Vorder britischen Wirtschaft. Man sei auf »kosmopolitische Belegstellungen der konservativ-liberalen Koalition den Praxistest erst
schaften« angewiesen. Sollte Großbritannien die Einreisebedinnoch bestehen müssen. Derzeit lassen sich verschiedene Kongungen erschweren bzw. Obergrenzen (»caps«) für Aufenthaltsfliktlinien erkennen. Zum einen ist die konkrete Ausgestaltung
und Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Länder festlegen,
bestimmter Maßnahmen wie die Begrenzung von Zuwanderung
würden sich gerade Hochqualifizierte verstärkt an Volkswirt-
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aus Nicht-EU-Staaten in der Regierung selbst umstritten. Dabei treten
Zielkonflikte zutage, die sich in unterschiedlichen Vorstellungen verschiedener Ressorts zeigen. Belastungsproben dieser Art sind für die
Koalitionsparteien mit der Frage
nach ihrer Glaubwürdigkeit verbunden: Während die Konservativen nun
an der Umsetzung ihrer Wahlversprechen arbeiten, ist es für die Liberale
Partei von großer Bedeutung, auf
den Gebieten der Immigrations- und
Asylpolitik als Bündnispartner sichtbar zu werden. Die zahlreichen Zugeständnisse in den Koalitionsverhandlungen trugen ihr bereits den Vorwurf
der Selbstaufgabe ein. Diesen Substanzverlust könne der Wähler bei den
nächsten Unterhauswahlen bestrafen.
Abb. 4 Aussprache über die Regierungserklärung David Camerons (»Conservative Party«) im britischen »House of
Wahltaktische Überlegungen werden
Commons« (»Unterhaus«) am 7.7.2010
© picture alliance
den Regierungsparteien unterstellt,
wenn ihnen vorgeworfen wird, in der
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2007): Informationen zur
Zuwanderungs- und Asylpolitik mit populistischen Maßnahmen
politischen Bildung, Nr. 262 (Themenheft Großbritannien).
auf Stimmenfang zu gehen anstatt das Gemeinwohl im Blick zu
haben. Vor diesem Hintergrund verstehen sich manche Verbände,
Carey, Sean/Geddes, Andrew (2010): Less is More. Immigration and European
Wissenschaftler und Medienvertreter in der Migrationspolitik
Integration at the 2010 General Election. in: Parliamentary Affairs, Nr. 4,
Großbritanniens als Korrektiv. Sie stellen humanitäre Kriterien
S. 849–865
oder die moralische Integrität politisch Handelnder ins Zentrum
Drinkwater, Stephen/Eade, John/Garapich, Michal (2009): Poles Apart? EU
ihrer Argumentation (| M 18 |). Ihnen ist daran gelegen, mit offiziEnlargement and the Labour Market Outcomes of Immigrants in the United
ellen Statistiken ihre Positionen zu untermauern. Neue ErkenntKingdom, in: International Migration, Nr. 1, S. 161–190.
nisse des Zensus 2011 könnten daher 10 Jahre nach der letzten
Volkszählung die Debatte um die Zukunft der Migrationspolitik
Featherstone, Stephen (2009): Englishness. Twentieth Century Popular
zusätzlich beleben.
Culture and the Forming of English Identity 1900–2000. Edinburgh (EUP).
Die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens und Fragen der
Höffe, Otfried (2010): Pluralistische Gesellschaft und Toleranz. Eine sozialinneren Sicherheit werden auch künftig zu den bedeutenden
ethische Perspektive, in: Merkur, Nr. 3, S. 214–218.
Rahmenbedingungen gehören, die das Politikfeld Migration prägen. Gerade in Zeiten, in denen eine ökonomische Talfahrt und
Mycock, Andrew (2010): British Citizenship and the Legacy of Empires, in:
die Konsolidierung des Staatshaushalts die Tagespolitik beParliamentary Affairs, Nr. 2, S. 339–355.
herrschen, nehmen Verteilungskämpfe an Schärfe zu. Derartige
OECD (2009): International Migration Outlook. Paris (OECD).
Situationen führen nicht selten zu neuen Restriktionen in der
Zuwanderungs- und Asylpolitik. Ob der von Cameron und Clegg
Parkes, Roderik/Gastinger, Markus (2008): Die Öffnung des Arbeitsmarktes
propagierte Gesellschaftsentwurf einer »Big Society« mit seiner
für Bürger aus der EU 8, in: Gesellschaft-Wirtschaft-Politik, Nr. 4, S. 479–486.
starken Betonung dezentraler Machtstrukturen und eines aufgeSchieren, Stephan (2009): Großbritannien. Eine Einführung in das politische
schlossenen gesellschaftlichen Klimas mit dieser Tendenz vereinSystem. Schwalbach/Ts. (Wochenschau Verlag).
bar ist, muss sich erst noch zeigen. So wird es auch in der britischen Zuwanderungs- und Asylpolitik weiterhin vonnöten sein,
Sturm, Roland (2009): Politik in Großbritannien. Wiesbaden (VS Verlag).
immer wieder ein neues Gleichgewicht zwischen Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Demokratie und internationalen VerpflichtunInternetlinks
gen herzustellen. Dieser Balanceakt scheint für Großbritannien
immer wichtiger zu werden: Szenarien der Universität Leeds
www.ippr.org.uk (Homepage des Institutes for Public Policy Research,
sagen z. B. voraus, dass sich der Bevölkerungsanteil mit Migratidas durch Studien regelmäßig zur politischen Diskussion beiträgt)
onshintergrund bis zum Jahre 2051 von derzeit ca. 9 % – unter bestimmten Bedingungen – auf bis zu 20 % steigern könnte. Vor
www.irr.org.uk (Homepage des Institute of Race Relations, das die Migradiesem Hintergrund erhalten Stimmen zusätzliches Gewicht, die
tionspolitik der britischen Regierung kritisch begleitet)
sich um eine noch breitere gesellschaftliche Debatte und eine
www.lifeintheuktest.gov.uk (Informationen zur britischen Einbürgerung)
stärkere internationale Vernetzung der Diskussion bemühen.
www.refugeecouncil.org.uk (Organisation mit dem Arbeitsschwerpunkt
Asyl)
Literaturhinweise
www.statistics.gov.uk (wichtigster Zugang zu offiziellen Statistiken)
61
Basner, Frank (Hrsg.) (2010): Migration und Integration in Europa. BadenBaden. (Nomos Verlag)
Berg, Sebastian (2006): Einwanderung und multikulturelle Gesellschaft, in:
Hans Kastendiek/Roland Sturm (Hrsg.): Länderbericht Großbritannien.
Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung), S. 250–272.
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GEORG WEINMANN
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MATERIALIEN
M 1 Der British Nationality Act
(1981)
Der British Nationality Act schuf 1981
drei Klassen von Staatsangehörigkeit. Uneingeschränkt britische Bürger sind nur im Jahre 1982 bereits lebende Bürger bzw. die im Ausland
geborenen Kinder, deren Eltern die
britische Staatsangehörigkeit besitzen. Briten zweiter Klasse sind die
Bürger der abhängigen Gebiete, wie
Bermuda, Gibraltar oder die britischen Karibikinseln (eine Ausnahme
bilden die Falklandinseln, deren Bewohner die volle Staatsangehörigkeit
M 4 »Net migration and economic growth« (Zusammenhang von Wirtschaftsleistung und Einwanderung) © Instibesitzen). Sie haben kein automatitute for Public Research (IPPR) (2010): The Limit to Limits. Is a Cap On Immigration a Viable Policy for the UK? London, p. 6
sches Einreiserecht nach Großbritannien. Briten dritter Klasse sind diejenigen, die in früheren britischen
Kolonien leben. Ihr Status als British
British values would appear to be inward-looking, fixed and nonOverseas Citizen ist mit keinen Rechten verbunden.
negotiable, particularly to new migrants from the Common© BpB (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung, Nr. 262, S. 39
wealth and elsewhere who must now pass tests to prove their citizenship. (…) Acknowledgement of the legacy of empire and
on-going membership of the Commonwealth are important in
M 2 »Contrasting Experiences«
projecting a more plural and inclusive understanding of Britishness which reflects multi- and transnational realities in the UK
»Because I became a refugee sur place after spending my first
and beyond. (…).
year in Britain as a student, I have two contrasting experiences of
Andrew Mycook (2009): British Citizenship and the Legacy of Emipires, in: Parliamentary
life in the UK. Becoming an asylum seeker ejected me from the
Affairs, Nr. 2, S. 352–353.
mainstream and forced me to experience life on the margins of
society. Barred from working, I was forced to live on a shoestring
handout from the government, which I strove to manage frugally
M 5 Lebenssituation von Migrantengruppen
to stave off the threat of physical hunger and keep warm. The
shrill hostility to asylum seekers falling like boulders from the cliff
Die vergleichsweise schlechtere Ausgangsposition der farbigen
of tabloid headlines was especially crushing and made me feel
Einwanderer in der britischen Gesellschaft lässt sich ablesen an
unwanted and unwelcome.
ihrer höheren Arbeitslosigkeit (etwa dreimal so hoch wie die der
However, I felt encouraged by the understanding and kindness I
weißen Mehrheit), an ihrer im Durchschnitt geringeren Schulbilreceived from ordinary British people with whom I interacted. I
dung und der teilweisen Konzentration der Zuwanderer in herunthink Britishness is about justice, fairness, responsibility and retergekommenen Stadtvierteln, in denen billige kommunale Wohspect for human dignity. (…) Refugees are given only five years’
nungen zur Verfügung stehen. Es gibt jedoch große Unterschiede
limited leave, which denies them certainty about their future and
zwischen den verschiedenen Minderheitsgruppen. Besonders
undermines the government’s goal to build an integrated and coschwierig ist die Lage der Bangladeshis. Pakistanis, Schwarzafrihesive Britain.«
kaner und Einwanderer aus der Karibik nehmen eine ZwischenpoChofamba Sithole (Zimbabwe) in: The Guardian, 18.6.2010; www.guardian.co.uk/comsition ein, während sich die Lebenssituation der Chinesen und
mentisfree/libertycentral/2010/jun/18/refugees-perspectives; Zugriff: 19.6.2010)
Inder weit weniger von der der weißen Bevölkerung unterscheidet. Nach Religionszugehörigkeit sind die britischen Muslime die
sozial schwächste Gruppe.«
M 3 »Britishness«
© BpB (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung, Nr. 262, S. 39–41 (Auszüge)
Current efforts to synthesise UK citizenship and British nationality have highlighted enduring tensions between citizenship, as a
loyalty to the state, and patriotism, which often has recourse to
pervading ethno-national origins. The lack of congruence between UK state and the British nation, if one exists, highlights the
problematic nature of current government initiatives to promote
nationalised Britishness. Current focus on ›new‹ Britishness
founded on a range of nationally located institutions, and sustained by a common language, history and set of distinct British
values are clearly influenced by largerly uncritical interpretations
of the imperial past. Proponents continue to draw on imperial
missionary themes, projecting British values and political culture
founded within the national contexts, but with scant regard for
dissonance within the UK or enduring transnational dynamics.
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M 6 Probleme der Gleichbehandlung
Davender Kumar Ghai ist britischer Staatsbürger und gläubiger
Hindu. Er lebt in Newcastle, im Nordosten Englands, und er ist
davon überzeugt, dass seine Seele nur dann den Körper verlässt,
wenn nach seinem Tod seine Überreste unter freiem Himmel verbrannt werden. (…) Doch ist diese Art der Bestattung in Großbritannien verboten. Das Gesetz zur Einäscherung regelt das seit
über hundert Jahren, und seit zehn Jahren wird es auch von Verordnungen zur Luftverschmutzung untersagt. Davender Kumar
Ghai mochte sich nicht damit abfinden, dass Verordnungen zur
Luftverschmutzung die Religionsfreiheit einschränken. Er sah
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nicht ein, warum Juden und Muslime
in Großbritannien ihre eigenen Friedhöfe haben können, Hindus aber gezwungen werden, ihre Körper entgegen ihrem Glauben in Öfen
einäschern zu lassen (…). Ghai zog
vor das oberste zivile Gericht, vor den
Londoner Court of Appeal. (…). [Er
und seine Anwälte] legten (…) Fotos
vor, die Stätten für offene Feuerbestattungen in Indien zeigten. Es sind
Säulen, die ein Dach tragen. Lord
Neuberger sprach sein Urteil, man
kann es salomonisch nennen: Davender Kumar Ghais Wunsch, sich auf
einem offenen Feuer verbrennen zu
M 8 »National Insurance number allocations to adult overseas nationals by world area of origin, UK, 2004–
lassen, sei mit dem geltenden Gesetz
2010« (Arbeitsgenehmigungen für Großbritannien)
© Office for National Statistics: Migration Statistics,
durchaus vereinbar. Solange das ofQuarterly Report, No 6: 26. August 2010, page 11
fene Feuer von etwas umgeben sei,
das als Gebäude bezeichnet werden
kann (…). Doch die Stadtverwaltung
country – back in the day it used to be that black guys just hung out
spielt auf Zeit. Sie erwarte weitere Bestimmungen der Regierung,
with black guys, but now there’s much more of a mix: kids are growwie ein solches Gebäude für Feuerbestattungen betrieben wering up together, black kids and white kids hang around together, and
den könne, schrieb die Verwaltung an Ghai. Und die Regierung
everyone gets to know everyone else’s culture. It’s definitely a posierklärt, dass sie noch nicht sagen könne, wann die BestimmunDarren Nelson, concierge
tive thing.«
gen ausgearbeitet seien.
© Der Spiegel Nr. 26/2010, S. 48
M 7 »All together now? A portrait of race in Britain«
(1) »I’ve gone to places where I’ve been very aware that I’m the only
black person in town – but not in this country. I’m a Mancunian before I’m British, though. Manchester is a very cosmopolitan, liberal
place and it’s got a lot to do with the way I am: it’s a good place, full
of good people. I don’t walk around telling people how black I am (…)
but I know that when I walk into a room the first thing someone’s
going to see is a black man. I’m a black Mancunian man, but before
Pete Turner, bass player in Elbow
that I’m Pete, and that’s it.«
(2) »I met my husband at university in Salford in the first week, and to
be honest it was never a problem that he was English and I was Asian
and Muslim (…) I went to a private Anglican girls’ school, so most of
my friends were English and had a fairly privileged upbringing. Also
my parents and I have seen quite a few arranged marriages struggle,
so they were very keen to make sure that I was happy – that was first
and foremost. (…) I feel that my identity is quite mixed because I’m
Muslim, though not strict; Bengali, though I’m part of the Indian subcontinent as well, and I’m British, but then I’m English because I was
Maneera Stanhouse, PR manager
born and brought up in England.«
(3) »Being a footballer, you move around a lot, and I’ve lived in all kinds
of areas. I’ve always kept my principles about mixing with all people
and all colours, but not everyone is like that. You get those people
who talk to black people at work, but they don’t want to socialise
with them outside. (…) Even in the black community there are differences. You get a banter between Africans and West Indians. I had a
team-mate at one of the clubs I played for who kept telling me »African this« and »African that«. I kept saying to the guy, »You do know
we’re all from Africa?« That boy didn’t know his roots. I don’t think
white people see any of that. They just see black people as all the
same, just like how people get Indians mixed up with Bengalis.
(5) »I sometimes think there’s more racism today – particularly with
kids. There’s more segregation and people are more anxious. You used
to have three distinct groups: there are white people, Asian people
and black people and they mostly sort of stuck in their specific
groups. Now that people are so much more mixed it seems like everyone’s racist against everyone. It used to be gangs of black kids versus
gangs of white kids, but now it’s much more complicated. (…) now
there’s Somalian gangs, for example, who maybe don’t like the Polish
and the Polish kids don’t like the black kids, or whatever. When did
Radha Jenkins, mother
this happen?«
63
nach: The Observer, 18.1.2009; sowie: www.guardian.co.uk/world/2009/jan/18racerelations-uk; Zugriff: 19.6.2010
M 9 Innere Sicherheit und Migration
The number of black and Asian people stopped and searched by
the police has increased by more than 70 % over the past five
years, according to Ministry of Justice figures. They show that
more than 310.000 black and Asian people were searched by the
police on the streets in 2008/09, compared with 178.000 in
2004/05. The annual statistics on race and the criminal justice
system reveal that black people are now seven times more likely
to be stopped by the police than white people. (…) Justice ministry statisticians said the figures partly reflected the much greater
use stop and search by the Metropolitan police in London, where
54 % of the black community live. Although the Met(ropolitan police) covered only 14 % of the population of England and Wales,
their officers carried out 42 % of all stop and searches.
The Guardian, 17. Juni 2010; www.guardian.co.uk/law/201017/stop-and-search-police;
Zugriff: 19. Juni 2010
Ade Akinbiyi, footballer
(4) »As a black guy you just have to do your job properly, be efficient at
what you do, and only then, if you don’t get the promotion, you have
got grounds to say: ›Well, I think there’s some racial undertone here.‹
But in general I feel pretty positive about how far we’ve come in this
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M 10
Integrationsbemühungen:
Auf dem richtigen Weg?
Trotz der Bemühungen um die Integration
von Zuwanderern in die britische Gesellschaft und trotz der Möglichkeiten für Betroffene, sich bei diskriminierender Behandlung in Staat und Gesellschaft an eine
Regierungskommission zu wenden (seit
2007: Commission for Equality and Human
Rights, CEHR), kam es in den 1980er- und
1990er-Jahren immer wieder zu Gewaltausbrüchen in den Großstädten. Auch wenn die
Anlässe solcher häufig von ethnischen Minderheiten ausgehenden Gewaltaktionen sehr
unterschiedlich waren, sind sie ebenso Indiz
für ungelöste Probleme des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft wie die über 100.000 Beschwerden, die
bei der Regierungskommission eingingen.
Aufgerüttelt haben die britische Gesellschaft
auch die Terroranschläge in London im Jahre
2005, begangen von im Lande aufgewachsenen britischen Muslimen, sowie Umfragen,
nach denen sich 81 Prozent der britischen
Muslime in erster Linie als Muslime und erst
in zweiter Linie als Briten verstehen.
Number of pricipal applicants
90.000
80.000
Applied in-country
Applied at port
70.000
60.000
57.570
54.380
50.000
46.160
40.000
35.685
30.000
26.410
20.000
25.935
64
0
13.720
2000
(principal applicants)«
Rechtliche Entwicklung durch die EU
Manuela Rauch: Die Entwicklung des englischen Antidiskriminierungsrechts im Jahr 2008,
in: Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht 3/2009, S. 349
Einwanderung: eine politische Kontroverse
Insgesamt betrachtet hat die heimische Bevölkerung den Zustrom einer enormen Zahl von Einwanderern in den vergangenen
Dekaden bemerkenswert gut verkraftet (…). Doch die Fragestellung ist nicht länger, ob Immigration gut oder schlecht sei. (…)
Die Frage muss lauten, wie viel Immigranten Großbritannien
noch verkraften kann und ob es an der Zeit ist, den Zustrom zu
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2003
7.550
2004
21.485
20.030
19.795
23.210
22.475
4.230
2005
3.580
2006
3.635
2007
3.720
2008
2.010
2009
M 13 »Applications for asylum in the United Kingdom, by location of application, 2000 to 2009
Noch eine weitere Entscheidung des EuGH (…) zur rassebezogenen Diskriminierung hat eine Lücke in den Antidiskriminierungsgesetzen Großbritanniens offengelegt. Die öffentliche Äußerung
eines Arbeitgebers, er werde keine Arbeitnehmer einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Rasse einstellen, stellt laut EuGH
bereits eine unmittelbare Diskriminierung bei der Einstellung (…)
dar. Solche Äußerungen können bestimmte Bewerber ernsthaft
davon abhalten, ihre Bewerbung einzureichen, und behindern
damit deren Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie reichen aus für die
Vermutung einer unmittelbar diskriminierenden Einstellungspolitik (…). Des Weiteren müssen nach Art. 15 der Richtlinie 2000/43/
EG die Sanktionen bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen
Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie auch dann, wenn es
kein identifizierbares Opfer gibt, wirksam, verhältnismäßig und
abschreckend sein. Die Gesetze im Vereinigten Königreich stehen
nicht im Einklang mit dieser Entscheidung, vielmehr werden nur
Personen geschützt, die für sich in Anspruch nehmen können, direkt betroffen zu sein (…). Interessanterweise gab es am
22.12.2008 bereits eine Gesetzesänderung zur indirekten rassebezogenen Diskriminierung (…) [Race Relations Act 1976 (Amendment) Regulation 2008; G. W.)], aufgrund derer im Fall einer indirekten Diskriminierung nun nicht mehr ausschließlich direkt
Betroffene, sondern auch Personen, die möglicherweise benachteiligt sein könnten, geschützt werden (…).
M 12
26.560
10.000
© BpB (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung, Nr. 262, S. 40/41
M 11
24.865
© Home Office Statistical Bulletin (15/2010):
Control of Immigrations. United Kingdom. P. 24
bremsen? Auch hier kristallisiert sich erstaunliche Übereinstimmung heraus. Beide großen Parteien, Labour wie Konservative,
wollen auf die Bremse treten; beide akzeptieren, dass die Grenzen der Belastbarkeit der heimischen Bevölkerung erreicht sind,
wobei die Tories sagen, dass die Grenzen der Belastbarkeit bereits in den letzten Jahren überschritten wurden und die Regierung versucht habe, ihre Fehler hinter falschen Zahlen zu verbergen.
Die Debatte über Immigration, die nun mit Macht eingesetzt hat,
zwingt die Labourregierung zu einem diffizilen Doppelakt aus
Härte und Beschönigung. Das mag den folgenschweren Lapsus
erklären, den (der damalige Premierminister; G. W.) Gordon Brown
Anfang Oktober (2007; G. W.) in seiner Rede auf dem Parteitag
beging und der ihm nun vom politischen Gegner unter die Nase
gerieben wird. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte Brown
auf die griffige Formel »Britische Jobs für britische Arbeiter« rekurriert. Gedacht war das als besonders cleveres, taktisches Manöver, um den Tories Munition zu stehlen und sie auf rechtes Terrain abzudrängen.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Gordon Brown sorgte lediglich
dafür, dass nun ganz freimütig über das bis dahin weitgehend tabuisierte Thema »Einwanderung« gesprochen werden kann. Er
selbst muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den Slogan »British
Jobs for British Workers« dem Arsenal der Rechtsextremen entlehnt zu haben. (…). Im Wahlkampf 2005 waren die Konservativen
für den Slogan »Es ist nicht rassistisch Einwanderung begrenzen
zu wollen« nicht nur auf wenig Resonanz beim Wähler gestoßen.
Labour und Liberaldemokraten konnten es sich leisten, die Tories
als verkappte Rassisten zu attackieren und das Problem des Zustroms weitgehend zu ignorieren.
Nun, gerade zwei Jahre später, ist das nicht mehr möglich. David
Cameron kündigte an, eine von ihm geführte Regierung werde
jährlich eine Obergrenze für Einwanderung festsetzen, ohne dass
irgendjemand auch nur den Versuch wagte, ihn dafür in die rechte
Ecke zu drängen. Im Gegenteil: Cameron erhielt Beifall für seine
Forderung nach einer »erwachsenen Debatte« über das heikle
Thema Einwanderung, das er zudem geschickt mit anderen Themen verband: den demografischen Trends, die ein starkes Bevölkerungswachstum unter ethnischen Minoritäten verheißen, der
zunehmend atomisierten Gesellschaft und dem Kollaps der Familie.«
Jürgen Krönig: »Eine Apartheidsituation«, in: Die Zeit vom 9.11.2007 (www.zeit.de/
online/2007/45/immigration-grossbritannien?page=all&print=true; Zugriff: 15.7.2010
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M 14 Premierminister David Cameron im Gespräch mit seinem Kabinett
M 17 Yasmin Qureshi, Britain’s first female Muslim MP, Labour Party
© www.flickr.com/photos/yasminqureshi/4588115759/sizes/z/in/photostream/
während der wöchentlichen Sitzungen in Downing Street 10 in London.
7.9.2010.
© picture alliance
M 15
Balance in der neuen Koalition
Immigration will have to be handled sensitively if it does not expose a major fault line between the two power-sharing parties. It
proved a flashpoint during the television debates when Cameron
and Clegg baited each other over this issue.
On the face of it the Conservatives appear to have won the argument, forcing the Liberal Democrats to abandon their idea of an
amnesty for 60.000 illegal immigrants. Instead there will be a cap
on all non-EU economic migrants to this country. The Conservatives have been careful not to say exactly what the limit will be but
any attempt to use it to block legitimate asylum seeking families
from securing sanctuary in this country will be strongly resisted
by their new partners.
To sugar the pill the new Government has promised to end the
detention of child refugees. There is no mention of the huge asylum backlog or the Liberal Democrats’ plan for a regional immi-
gration employment policy. The Tories will want to continue with
the points-based entry controls, apply restrictions when new8countries join Europe and crack down on abuse of the student
visa system. But if Mr. Cameron is going to convince the right
wing of his party that he has scored a success he will have to prove
immigration is reduced from hundreds of thousands to tens of
thousands as he promised it would be on the campaign trail.
The Independent, 13.5.2010, S. 13
M 18
Die Situation abgelehnter Asylbewerber
Up to 20.000 failed asylum seekers are living in the UK in conditions of destitution, relying on charities for food, a Red Cross report will say today, criticising the government’s asylum system as
›shameful‹ and ›inhumane‹. ›This is a serious humanitarian situation for these very vulnerable people‹, Nicolas Young, chief executive of the Red Cross, said. ›We do feel that
this needs to be tackled by the government
because there appears to be a deliberate
strategy to make people destitute … for centuries refugees have been coming to this
country and receiving kind treatment. It is a
shame that this is not the case now.‹ Because
many refused asylum seekers no longer register with the Home Office, it is hard to get
precise figures about the scale of the problem. Asylum organisations estimate that
around 200.000 people have been refused
asylum but remain in the country. Most are
being sheltered by friends, but the Red Cross
estimates that up to 20.000 are wholly dependent on charities for food, some of them
sleeping on the streets, in garages and in
hedges. (…) Damian Green, minister for immigration, said: ›The government is committed to exploring new ways of improving the
current asylum system. The UK Border
Agency provides support to asylum seekers
who would otherwise be destitute until a decision on their application is made. (…)
Where a refused asylum seeker does not return voluntarily we will take removal action.‹
M 16 »Total persons removed or departed voluntarily from the United Kingdom, 2000 to 2009«
(Abschiebungen/freiwillige Ausreisen im Rahmen von Asylverfahren)
© Home Office Statistical
Bulletin (15/2010): Control of Immigrations. United Kingdom. P. 32
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The Guardian, 16.6.2010, www.guardian.co.uk/society/2010/
jun/16/asylum-charity-food-red-cross; Zugriff: 19.6.2010
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II. INTEGRATIONSSTRATEGIEN IN DEN EU-MITGLIEDSLÄNDERN
9. Europas neue Einwanderungsländer –
Migration in Spanien und Italien
BORIS KÜHN
S
eit Jahren rufen Berichte von an den Küsten gestrandeten Einwanderern ein großes Medienecho hervor. Die
Fotos von Schwarzafrikanern, die in kleinen Booten das Mittelmeer überqueren, prägen das Bild der Migration nach Europa und insbesondere das Image zweier Länder, an deren
Stränden sich die Dramen abspielen: Italien und Spanien. Die
Fahrt über das Mittelmeer ist zweifelsohne der spektakulärste Einreiseweg, gleichzeitig jedoch ein relativ seltener:
Der größte Teil der Einwanderer kommt auf dem Luft- oder
Landweg, per Flugzeug oder mit dem Auto, die meisten von
ihnen aus Osteuropa. Rumänen sind in beiden Ländern die
größte Einwanderergruppe. Spanien und Italien blicken außerdem auf eine sehr ähnliche Migrationsgeschichte zurück:
Von traditionellen Auswanderungsländern haben sie sich in
kürzester Zeit zu Hauptzielen der internationalen Migration
gewandelt. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren stiegen
die Ausländerzahlen sprunghaft an – die jährlichen Zuwachsraten liegen ein Vielfaches über denen der mitteleuropäischen
Staaten.
Abb. 1 Umfangreiche Medienberichterstattung über Bootsflüchtlinge aus Afrika: Hier nimmt ein spanisches Rettungsschiff 93 afrikanische Immigranten im
Süden von Gran Canaria auf.
© picture alliance, dpa, 18.10.2008
Von Auswanderungs- zu Einwanderungsländern
66
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verließen Millionen von
Italienern und Spaniern ihre Heimat, vorwiegend in Richtung Lateinamerika und USA. In den 1960er-Jahren wurden Deutschland,
Frankreich und die Schweiz die Hauptziele der Migration aus Südeuropa: Italiener und Spanier wurden als »Gastarbeiter« in den
Norden geholt und nicht wenige blieben dauerhaft.
Bis in die 1970er-Jahre war der Migrationssaldo in beiden Ländern
daher negativ. Erst mit dem Anwerbestopp der Aufnahmeländer
1973 und der teilweisen Rückkehr der »Gastarbeiter« und ihrer Familien änderten sich die Vorzeichen der Migrationsbilanz. Gleichzeitig verstärkte sich der Zuzug von Ausländern in den folgenden
Jahren – allerdings in sehr geringem Maße: Noch Ende der 1980erJahre lag die Ausländerquote in beiden Ländern bei rund einem
Prozent. Während in Italien zu diesem Zeitpunkt schon weit über
die Hälfte der Einwanderer als Arbeitsmigranten gelten konnten
(vor allem aus Nordafrika und Asien), waren es in Spanien in erster Linie wohlhabende Europäer (insbesondere Briten und Deutsche), die ins Land kamen, um im mediterranen Klima ihren Ruhestand zu verbringen.
Der rasante Wandel zu bedeutenden Einwanderungsländern
setzte erst in den 1990er-Jahren ein und intensivierte sich nach
der Jahrtausendwende noch einmal deutlich. Seit 1990 hat sich
die Zahl der Ausländer sowohl in Italien als auch in Spanien mehr
als verzehnfacht und betrug Anfang 2010 circa 5,7 Millionen in
Spanien (12 % der Gesamtbevölkerung) und rund 4,3 Millionen in
Italien (7 % der Gesamtbevölkerung). Auch wenn die Zahlen der
offiziellen Melderegister inzwischen wesentlich zuverlässiger erhoben werden, kann es sich dabei nur um Näherungswerte handeln. Schätzungen für Italien gehen von etwas über 5 Millionen
Ausländer für Anfang 2010 aus.
Die Dynamik der Immigration hielt dabei auch in den letzten Jahren an. Allein seit Anfang 2008 wuchs die ausländische Bevölkerung in Spanien um 500.000, in Italien um mehr als 800.000 Personen; im gleichen Zeitraum verzeichnete z. B. Deutschland einen
Zuwachs von 38.000.
Die Herkunft der Migranten
Mit dem Anstieg der Einwanderung ging auch ein Wandel der
Herkunftsländer einher. Die Migration aus den westlichen Industriestaaten verlor an Bedeutung, da die Zahl der Migranten aus
Schwellen- und Entwicklungsländern deutlich schneller stieg. In
Spanien galt dies um die Jahrtausendwende vor allem für die Migration aus Lateinamerika, wohin aufgrund der Kolonialgeschichte
des Landes vielschichtige Verbindungen bestehen. Ecuador und
Kolumbien wurden nach dem benachbarten Marokko die wichtigsten Herkunftsländer. In Italien war das Bild der Herkunftsregionen diversifizierter: Hinter Albanern und Marokkanern bildeten im Jahr 2000 z. B. Chinesen, Filipinos, Serben, Polen und
Senegalesen wichtige Einwanderergruppen. Die jüngste Entwicklung ist in beiden Ländern geprägt von einem außerordentlichen
Anstieg der osteuropäischen Bevölkerung: Rumänen (darunter
auch ein nennenswerter Anteil Roma) stehen mit deutlichem Abstand an der Spitze der Herkunftsländer, auch Ukrainer und
Polen finden sich in beiden Ländern in großer Zahl, während Albaner fast ausschließlich Italien zum Zielland hatten.
Das Hauptmotiv: Arbeit
Migrationsmotive werden zumeist in Push-Faktoren im Heimatland und Pull-Faktoren im Zielland unterteilt. In der Realität sind
individuelle Migrationsentscheidungen meist jedoch von einem
Bündel unterschiedlicher Motive abhängig. Wichtige Push-Faktoren im Herkunftsland können wirtschaftlicher Natur (hohe Arbeitslosigkeit, geringe Löhne, mangelnde Entwicklungsperspektive), politischer, gesellschaftlicher oder demografischer Natur
sein. Mit Blick auf Osteuropa spielten die wiedererlangte Reisefreiheit nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs um 1990 und die
nach dem Systemwandel zu beobachtende Massenarbeitslosigkeit eine zentrale Rolle bei den Auswanderungsentscheidungen.
In den Entwicklungsländern Lateinamerikas waren solche Push-
Europa s neue Einwanderungsl änder – Migr ation in Spanien und Italien
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Faktoren insbesondere die Folgen der
ökonomischen Krisen ab 2002.
Auch die »Pull-Faktoren«, die Spanien
und Italien als Zielländer attraktiv machen, sind in erster Linie wirtschaftlicher
Natur: Die Einwanderung in diese beiden
Länder ist zum aller größten Teil eine Arbeitsmigration. Mit Ausnahme der europäischen Residenztouristen, die sich
häufig im Rentenalter befinden, ist der
Großteil der Immigranten im erwerbsfähigen Alter, meist zwischen 20 und
40 Jahren. Die Migranten geben bei Umfragen »Arbeit« als wichtigsten Grund zur
Einwanderung an. Andere Motive wie
z. B. Studienaufenthalte spielen – ebenso
wie Anträge auf Asyl – eine zahlenmäßig
sehr geringe Rolle.
Ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum ab den 1960er-Jahren sorgte in Spanien und Italien für zunehmenden Wohlstand. Beide Länder durchliefen, wenn
auch etwas verspätet, rasch den wirtschaftlichen Strukturwandel hin zu Industrie- und Dienstleitungsökonomien.
Es entstanden neue Arbeitsplätze, die –
bei stagnierenden Geburtenraten der
einheimischen Bevölkerung – zumindest
in wirtschaftlich prosperierenden Regionen nicht mehr ausschließlich durch die
dortige Wohnbevölkerung abgedeckt
werden konnten. Zudem kristallisierten
sich mit wachsendem Wohlstand Arbeitsbereiche heraus, die für Einheimische
Abb. 2 »Die neue Völkerwanderung«
aufgrund schlechter Entlohnung oder
© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die demografische Zukunft Europas, Kurzfassung. 2008, S. 11
ungünstiger Arbeitsbedingungen nicht
mehr attraktiv waren. Neben saisonalen
und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sprechen sich in der
Beschäftigungen in der Landwirtschaft und im Tourismussektor
Heimat herum; das Zielland entwickelt ein positives Image, inssowie unqualifizierten, oft körperlich anspruchsvollen Arbeiten
besondere, wenn Ausgewanderte von einer gelungenen Integraim Baugewerbe trifft dies vor allem auf den Bereich der Pflege
tion in den Arbeitsmarkt berichten können. Ein funktionierendes
und Betreuung zu. Die höhere Lebenserwartung, die Auflösung
Gesundheits- und Sozialsystem, zu dem je nach Aufenthaltsstatraditioneller großfamiliärer Strukturen und eine vermehrte Betus in Spanien und Italien ein mehr oder weniger unbeschränkter
rufstätigkeit der Frauen ließen hier einen immensen Bedarf an
Zugang besteht, kann die Attraktivität ebenfalls erhöhen. Vor
Tätigkeiten entstehen, für die sich einheimische Arbeitskräfte
allem aber können bereits eingewanderte Freunde und Verkaum gewinnen lassen. In diesem Sektor finden fast ausschließwandte wichtige Unterstützung leisten, bei der Einreise, der Einlich Frauen, vorwiegend aus Osteuropa, in Spanien auch aus Ecugewöhnung und der Suche nach einem Arbeitsplatz.
ador und Kolumbien, eine Anstellung. Dazu kommt, dass viele
der genannten Beschäftigungen »informell« in Form von
»Schwarzarbeit« organisiert sind: Dies eröffnet Migranten die
Legale und illegale Formen der Einreise
Möglichkeit einer schnellen Arbeitsaufnahme, auch wenn sie
(noch) über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen, was die
Die Einführung restriktiver Regelungen in bisherigen EinwandeSogwirkung der Arbeitsmärkte noch verstärkt.
rungsländern wie Frankreich und Deutschland machte Südeuropa zu einer attraktiven Alternative. Die ersten EinwanderungsFamiliennachzug und Migrationsnetzwerke
bewegungen wurden außerdem dadurch begünstigt, dass weder
Italien noch Spanien bis Mitte der 1980er-Jahre über eine präzise
Ein zweites Hauptmotiv der Einwanderung war und ist – sowohl
definierte Grenz- oder Immigrationspolitik verfügte. So war das
mit Blick auf die erteilten Aufenthaltsgenehmigungen als auch
Hauptziel der ersten Ausländergesetze (Spanien 1985, Italien
laut Umfrageergebnissen – »die Familie«. Ehepartner, Kinder und
1986) sowie weiterer Maßnahmen in den 1990er-Jahren auch eine
Geschwister folgen einander ins Zielland. Dieses Motiv ist von der
stärkere Kontrolle der Einwanderung. Es wurden nun auch hier,
Arbeitsmigration nicht zu trennen, da die Familien in der Regel
nicht zuletzt auf Drängen der Europäischen Union, Einreisebeeinem ersten Familienmitglied folgen, nachdem es eine Beschäfstimmungen und Visapflichten eingeführt bzw. verschärft und
tigung gefunden hat. Zählt man den Familiennachzug daher
die Grenzkontrollen schrittweise intensiviert.
ebenso zur Migration aus wirtschaftlichen Motiven, so sind diese
Möglichkeiten zur legalen Einreise bestanden kaum. Die in den
für über 80 % der Migranten ausschlaggebend.
1990er-Jahren eingeführten Quotensysteme erwiesen sich zudem
Die Wirkung bereits im Zielland lebender Migranten geht dabei
als ineffizient. Die von den Regierungen festgelegten branchenweit über die Familie hinaus. In allen Einwanderungsländern bilspezifischen Kontingente zur Anwerbung ausländischer Arbeitsden sich »communities« aus den jeweiligen Herkunftsländern,
kräfte (in Spanien jährlich 15.000–20.000 Personen) unterschätzderen Wachstum eine Eigendynamik entwickelt. Wirtschaftliche
ten die Nachfrage am Arbeitsmarkt um ein Vielfaches und wurden
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aufgrund komplizierter bürokratischer Verfahren nicht einmal
voll ausgeschöpft.
Das Fehlen legaler Einwanderungsmöglichkeiten, bei gleichzeitig
hohem Bedarf der einheimischen Arbeitsmärkte und anhaltendem Migrationsdruck in den Herkunftsländern, hatte zur Folge,
dass die irreguläre Einwanderung nach Spanien und Italien eher
der Regelfall als die Ausnahme wurde. Der häufigste Weg ist
dabei, legal mit einem Touristenvisum einzureisen und das Land
nach Ablauf der Visumsfrist nicht wieder zu verlassen, das sogenannte »overstaying«.
Die EU-Erweiterungen 2004 und 2007 ermöglichten zudem den
osteuropäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die legale Immigration, zumal die Übergangsregelungen zur Beschränkung der Freizügigkeit in Spanien und Italien frühzeitig aufgehoben wurden. Allerdings finden auch legal eingereiste Einwanderer
nicht immer eine reguläre Beschäftigung.
Regularisierungen als Konstante der Migrationspolitik
68
Unabhängig von der jeweiligen Regierung war und ist in beiden
Ländern die Bekämpfung der irregulären Migration und Beschäftigung ein erklärtes Ziel. Dabei etablierte sich ein Grundmuster:
Die nachträgliche Legalisierung von Einwanderern ohne gültige
Aufenthaltsgenehmigung. In solchen Verfahren erhalten Migranten, die sich an einem Stichtag im Land befinden, eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Und obwohl sich fast alle politischen Parteien gegen diese Maßnahmen aussprachen (und,
sollten sie doch stattfinden, ankündigten, es sei nun »die letzte«)
wiederholten sich diese Legalisierungen seit Mitte der 1980erJahre mehrfach. Die Bedingungen, unter denen diese »Regularisierungen« erfolgten, variierten zwar, in der Regel waren jedoch
die Legalisierungen von informell bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen die Konsequenz.
Die Auswirkungen dieser »Regularisierungsmaßnahmen« sind
vielfältig und werden bis heute kontrovers diskutiert. Einerseits
verbessern sie die Situation der ausländischen Arbeitnehmer, die
nun über einen regulären Arbeitsvertrag verfügen und sozial- und
krankenversichert sind. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive erhöht sich die Zahl der Beitragszahler in den sozialen Sicherungssystemen und die Steuereinnahmen steigen an. Andererseits
sehen Kritiker die Gefahr einer Sogwirkung der Regularisierungen, die die Bemühungen um eine Begrenzung der Migration
konterkariert. Zahlen aus Italien zeigen, dass die Maßnahmen
größtenteils Menschen betrafen, die schon vor Bekanntwerden
der Maßnahme im Land waren, die konkrete Regularisierung also
zumeist nicht ursächlich für die Einwanderung war. Durch ihre
Regelmäßigkeit besteht jedoch für weitere Immigranten die berechtigte Aussicht, von der nächsten Regularisierung zu profitieren.
Die Bedeutung eines Arbeitsplatzes, sowohl bei der legalen Kontingent-Einwanderung als auch als Kriterium für eine Regularisierung legt ein zweites Grundmuster der Migrationspolitik der beiden Länder offen: Die Einwanderung soll sich an den Bedürfnissen
des heimischen Arbeitsmarktes orientieren und dementsprechend gesteuert werden.
Italiens Einwanderungspolitik
Eine Mitte-Rechts-Koalition unter Ministerpräsident Silvio
Berlusconi regierte Italien zwischen 2001 und 2006 sowie erneut
seit 2008. Bereits 2002 verabschiedete sie ein Ausländergesetz,
das die Frage der Inneren Sicherheit ins Zentrum der Migrationspolitik stellte. Nicht selten greifen Vertreter der Regierungsparteien dabei öffentlich auf scharfe Rhetorik zurück. Insbesondere
Vertreter der regionalistischen Partei »Lega Nord« stellen sich
offen gegen die Einwanderung und schrecken auch vor rassisti-
schen Beschimpfungen nicht zurück. Gleichzeitig unterschied
sich die migrationspolitische Praxis nur bedingt von derjenigen
der Mitte-Links-Regierungen in Italien. So fand z. B. die umfassendste Legalisierung irregulärer Einwanderung der italienischen
Geschichte 2002 in der Regierungszeit der Mitte-Rechts- Koalition statt. Auch wurde das von der Mitte-Links-Koalition unter
Romano Prodi 2007 eingeführte neue Quotensystem, das nun
deutlich größere Einwanderungs-Kontingente vorsah, nicht rückgängig gemacht.
Im Jahr 2008 führte eine Gesetzesreform jedoch zu Verschärfungen beim Kampf gegen irreguläre Migration: Der illegale Aufenthalt in Italien wurde zum Straftatbestand erklärt und kann von
nun an mit Geldstrafen belegt werden. Gefängnisstrafen drohen
Vermietern, die Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung eine
Unterkunft gewähren. Zudem können Migranten vor ihrer Abschiebung nun sechs statt bisher zwei Monate in den Auffangzentren, die nun »Identifikations- und Abschiebezentren« heißen,
festgehalten werden. Intensiviert wurden auch die Grenzkontrollen im Mittelmeer, unterstützt durch die EU-Grenzsicherungsagentur FRONTEX.
Besonders umstritten ist in diesem Zusammenhang ein Abkommen mit Libyen. Es sieht unter anderem vor, dass Italien Migranten, egal welcher Herkunft, noch auf dem Meer oder direkt nach
der Ankunft nach Libyen zurückbringen kann. Zudem verpflichtet
sich Libyen durch schärfere Kontrollen, bereits das Ablegen der
Boote zu verhindern. Im Gegenzug erhält das von Staatschef AlGaddafi autokratisch geführte Land finanzielle Unterstützung
und privilegierte Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Italiens
Regierung feierte die Ergebnisse des Abkommens als Erfolg: Und
2009 ging tatsächlich die Zahl der an italienischen Küsten aufgegriffenen Bootsflüchtlinge von 37.000 auf 9.500 dramatisch zurück. Menschenrechtsorganisationen kritisierten diese Praxis
scharf: Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterschrieben; es findet auf See keine Prüfung statt, welche der Migranten berechtigt wären, einen Asylantrag zu stellen. Über die
Methoden, mit denen die Behörden eine Ausreise verhindern,
herrscht keine Klarheit. Journalisten berichteten außerdem über
verheerende hygienische Bedingungen in libyschen Abschiebelagern und von Abschiebungen, die mitten in der Wüste endeten.
Spaniens Einwanderungspolitik
Im Gegensatz zu Italien gibt es in Spanien keine rechtspopulistische Partei, die die Einwanderungsdebatte populistisch ausschlachtet. Jedoch legt auch hier die konservative Volkspartei
Partido Popular den Fokus stärker auf Innere Sicherheit, während
die sozialdemokratische PSOE von Ministerpräsident José Luis
Zapatero auch die positiven Effekte, vor allem die der legalen Migration, hervorhebt und inzwischen verstärkt das Thema Integration auf die Agenda setzt. Bezeichnenderweise wurde mit dem
Regierungswechsel 2004 zur PSOE die Zuständigkeit vom Innenministerium auf das neu zugeschnittene »Ministerium für Arbeit
und Immigration« verlagert. Erstmals stehen im Rahmen eines
»Nationalen Integrationsplans« nennenswerte finanzielle Mittel
für Integrationsmaßnahmen zur Verfügung.
Eingeführt wurde außerdem die Möglichkeit, einen legalen Aufenthaltsstatus durch »Verwurzelung« zu erlangen: d. h. durch
einen zwei- bis dreijährigen irregulären, aber nachweisbaren Aufenthalt im Land und die Vorlage eines Arbeitsvertrages.
Allerdings hat auch Spanien die Kontrollen der Mittelmeerküste
ausgeweitet, die Zusammenarbeit mit FRONTEX intensiviert und
bilaterale Abkommen, z. B. mit Marokko, zur Eindämmung der
Migration geschlossen. Durch die Kontrollen kam es dabei zu
einer Verschiebung der Migrationsrouten, zunächst von Gibraltar
und der andalusischen Küste in Richtung der Kanaren. Nachdem
auch dort die Kontrollnetze immer dichter wurden, nahm die Anzahl der gestrandeten Boote auch in Spanien rapide ab.
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Ergebnisse und Folgen der Migrationspolitik
Die Anzahl der irregulären Auswanderer
dürfte durch die Kontrollen der westlichen
Mittelmeerküste kaum gesunken sein. Vielmehr verlagerten sich die Migrationsrouten
weiter in Richtung Griechenland und die Türkei. Die deutlich längere Überfahrt erhöhte
das Risiko der Reise weiter. Genaue Zahlen
darüber, wie viele Tausend Menschen jedes
Jahr im Mittelmeer ihr Leben lassen, liegen
nicht vor.
Auf die Gesamtzahlen der Migranten in Spanien und Italien hat die Kontrolle des Mittelmeers jedoch nur geringe Auswirkungen.
Vergleicht man die Ziele der Migrationspolitik, die schon in den 1990er-Jahren eine Begrenzung der Einwanderung vorsahen, mit
der tatsächliche Entwicklung hin zu zwei der
Abb. 3 Rumänische Erntehelferinnen in »Palos de la Frontera« bei Huelva, Spanien.
bedeutendsten und dynamischsten Einwan© picture alliance, dpa, 12.4.2009
derungsländer der Welt, so wird die Diskrepanz offensichtlich. Die Einwanderung nach
die Anzahl der auswandernden Ausländer 2009 deutlich; der MigItalien und Spanien hat alles in allem wenig mit politischen Abrationssaldo war mit einem Plus von ca. 100.000 der niedrigste
sichtserklärungen, aber viel mit den wirtschaftlichen Notwendigseit 15 Jahren.
keiten der beiden Länder zu tun.
Etwas weniger stark zeigen sich bisher die Auswirkungen der
Die politischen Parteien stehen dabei stets vor einem schwieriKrise in Italien, das auch 2009 einen starken Anstieg der ausländigen Balanceakt: Sie wissen um die Eigendynamik der Migration
schen Bevölkerung verzeichnete. Die Entwicklung der Arbeitslound die Bedeutung der Einwanderung für den Arbeitsmarkt.
sigkeit (Juni 2010: 8,5 %) war dort weit weniger dramatisch.
Gleichzeitig kennen sie die ablehnende Haltung der BevölkerunZudem war die Einwanderung nach Italien, ganz im Gegensatz zu
gen, die – ohne in besonderem Maße xenophobe Tendenzen erSpanien, nie von einem hohen Wirtschaftswachstum begleitet:
kennen zu lassen – den Wunsch nach Kontrolle der Einwanderung
Die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften stieg trotz
zum Ausdruck bringen.
eines geringen Wachstums von durchschnittlich 1,2 % pro Jahr.
Eine explizite Integrationspolitik hat in beiden Ländern noch
Auch wenn sich der Zuzug weiterer Arbeitsmigranten in den
keine lange Tradition. Integration wurde zumeist mit Eingliedenächsten Jahren wegen der ungünstigen Wirtschaftslage und der
rung in den Arbeitsmarkt gleichgesetzt. Jüngste Zahlen zur Bilin Form der zahlreichen Arbeitslosen vorhandenen Reserve an Ardungsbeteiligung von Migranten, aus denen eine deutliche Bebeitskräften abschwächen wird, werden Spanien und Italien Einnachteiligung ausländischer Schüler insbesondere beim Besuch
wanderungsländer bleiben. Allein der Familiennachzug und das
weiterführender Schulen hervorgeht, belegen die Notwendigkeit
Weiterwirken der Migrationsnetzwerke sowie die anhaltend hohe
weiterführender Schritte. In Stadtvierteln mit hohem AusländerNachfrage in Sektoren wie der Pflegebranche werden dafür soranteil gibt es immer mehr Schulen, die von der einheimischen Begen, dass die Immigration nicht zum Erliegen kommt. Die Hervölkerung bewusst gemieden werden und in deren Klassen aufausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird die Integragrund sprachlicher und sozialer Probleme das durchschnittliche
tion der schnell anwachsenden ausländischen Bevölkerung sein,
Bildungsniveau nur schwer zu erreichen ist.
wobei immer mehr die inzwischen heranwachsende zweite GeneNegativ auf den Integrationswillen wirken sich dabei die zunehration in den Fokus rücken dürfte.
menden kurzfristigen Aufenthaltsgenehmigungen aus, deren
Verlängerung meist vom Nachweis eines Arbeitsplatzes abhängt.
Auch die restriktiven Möglichkeiten zur Erlangung der StaatsbürLiteraturhinweise
gerschaft (u. a. mindestens 10 Jahre ununterbrochener Aufenthalt) sind für eine Verwurzelung im Zielland wenig förderlich.
Bonifazi, Corrado (2010): Italien – ein Einwanderungsland wider Willen? In:
Der Bürger im Staat/Heft 2–2010: Italien. www.buerger-im-staat.de
Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die
Einwanderung
Spanien und Italien zählen zu den von der aktuellen Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen europäischen Volkswirtschaften.
Gravierende Auswirkungen auf eine in erster Linie wirtschaftlich
begründete Einwanderung bleiben da nicht aus: Die Arbeitslosigkeit in Spanien stieg von 8,6 % Ende 2007 auf 18,8 % Ende 2009.
Die ausländische Bevölkerung war schnell und in besonderem
Maße von der Zunahme betroffen, ihre Arbeitslosenquote stieg
im selben Zeitraum von 12,4 % auf 29,7 %. Ausländische Arbeitnehmer befinden sich immer noch häufiger in unqualifizierten,
temporären und prekären Beschäftigungsverhältnissen, die von
einem konjunkturellen Abschwung zuerst betroffen sind. Außerdem ist die Baubranche, in der überproportional viele Ausländer
beschäftigt sind, wegen der anhaltenden Immobilenkrise in besonderem Maße geschwächt. In Folge der Krise erhöhte sich so
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Bonifazi, Corrado ed. al. (2009): The Italian transition from emigration to
immigration country. IRPPS Working Paper No. 24. Rom.
Gatti, Fabrizio (2010): Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Verlag
Antje Kunstmann. München.
Guarneri, Antonella (2005): Le Politiche Migratorie nei paesi mediterranei
dell’Unione Europea nell’ultimo quindicennio: dimensione comunitaria e
pecularità nazionali. IRPPS Working Paper 2005/05. Rom.
Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Border Politics. Migration in the Mediterranean. 2009. www.migration-boell.de
Kreienbrink, Axel (2008): Spanien als Einwanderungsland: Eine Zwischenbilanz nach zwei Jahrzehnten. In: Bernecker, Walther L. (Hrsg.) Spanien
heute. Politik – Wirtschaft – Kultur. Vervuert Verlag. Frankfurt am Main.
Moré Corral, Paloma (2009): Emigrar para cuidar. Informe. Universidad
Complutense de Madrid.
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BORIS KÜHN
Materialien
M 1 Anzahl der Einwanderer – Herkunftsland, 2010
Ziellland
Italien
1
Rumänien (953.000)
Spanien
Rumänien (830.000)
2
Albanien (472.000)
Marokko (747.000)
3
Marokko (433.000)
Ecuador (395.000)
4
China ( 181.000)
Groß-Britannien (387.000)
5
Ukraine (172.000)
Kolumbien (289.000)
6
Philippinen (120.000)
Bolivien (210.000)
7
Moldawien (109.000)
Deutschland (196.000)
8
Polen (107.000)
Italien (184.000)
9
Tunesien (105.000)
Bulgarien (169.000)
10
Indien (104.000)
China (157.000)
nach Daten von Istat (2010) (für Italien) und INE: Padrón Municipal 2010 (für Spanien)
M 3 Demonstration am 13.10.2005 in Almería im Süden Spaniens, als immer
mehr Immigranten über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in
Marokko ans Festland kamen.
© picture alliance, dpa
M 2 »Jede zehnte italienische Familie benötigt eine Pflegekraft«
70
Eine von zehn italienischen Familien könnte auf Pflege- und Betreuungskräfte inzwischen nicht mehr verzichten. 2,451 Millionen
Familien nehmen bezahlte Hilfe im Haushalt oder bei der Pflege
von alten oder behinderten Familienmitgliedern in Anspruch, das
entspricht 10,5 % aller italienischen Familien. Laut dem Forschungszentrum für Wirtschaft und Soziales Censis arbeiten in
Italien rund 1,5 Millionen Haushaltshilfen und Pflegekräfte, 37 %
mehr als noch 2001. 71,6 % von ihnen haben Migrationshintergrund; ihre Arbeitszeit beträgt durchschnittlich 35 Stunden pro
Woche, ihr Netto-Verdienst beläuft sich auf 930 Euro monatlich.
Etwas weniger als die Hälfte (41,9 %) arbeitet für mehr als eine Familie, in der Mehrheit (58,1 %) der Fälle sind Haushalts- und Pflegekräfte nur für eine Familie tätig. […] 35,6 % der ausländischen
Pflegekräfte leben fest bei der Familie, in der sie beschäftigt sind
und organisieren dort den Alltag – mit allem was dazu gehört: ein
Großteil (82,9 %) putzt, 54,3 % bereiten die Mahlzeiten vor, 42,7 %
kümmern sich auch um die Einkäufe der Familie. 49,5 % sind mit
der Pflege älterer Familienmitglieder beschäftigt, 32,4 % unterstützen Menschen mit Behinderung, 28,8 % leisten auch spezifische medizinische Versorgung für mindestens ein Familienmitglied. […] Mehr als ein Drittel der Haushalts- und Pflegekräfte hat
die Möglichkeit, auch dauerhaft in Italien zu bleiben (dabei handelt es sich um EU-BürgerInnen, Eingebürgerte oder Personen
mit einer unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung). Alle anderen
sehen sich mit regelmäßigen Verlängerungsanträgen für ihre Aufenthaltsgenehmigungen konfrontiert oder sind illegal beschäftigt. Und das, obwohl es sich laut Censis vorwiegend um Personen mit dauerhaftem Aufenthalt in Italien handelt – sie leben seit
durchschnittlich 7,5 Jahren im Land […].
Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore, 12.08. 2009 (Übersetzung: Boris Kühn) www.ilsole
24ore.com/art/SoleOnLine4/Italia/2009/08/censis-badanti-dipendente-famiglieitaliane-indagine.shtml?uuid=bd583580–8722–11de-8d7d-73bbbbb8773c
M 4 Interviews mit ecuadorianischen Haushalts- und Pflegekräften, die in Madrid in der häuslichen Pflege arbeiten.
a) Das Schwierigste? Das ist die Angst, dass dich die Polizei erwischt –
ohne Papiere – wenn du raus auf die Straße gehst. Man erzählt mir
oft von Leuten, denen das passiert ist. Es ist vor allem diese Angst, die
ganze Zeit, als ich keine Papiere hatte, hatte ich Angst, auf die Straße
zu gehen. Meine Mutter hat schon gesagt »Du gehst nie raus.«
b) Wenn sich das Ende eines Arbeitsvertrags nähert, wirst du schon sehr
nervös, wenn 10 Monate rum sind, fragst du dich »Werden sie verlängern oder nicht? Soll ich sie fragen oder lieber nicht?«. Wenn dann –
peng! – das Entlassungsschreiben kommt, muss man es einfach akzeptieren, so es ist es halt – man gewinnt oder verliert. Die Arbeit ist
sehr schlecht angesehen, wir haben keine Versicherung und keinen
Schutz; wir pflegen Alte als wäre es ein Putzdienst … aber es ist viel
härter als Putzen. Mit einem alten Menschen kannst du nie für dich
sein oder mal nichts reden, du musst dich an seinen Rhythmus anpassen, ihm gut zureden, dich um ihn kümmern … und das alles für eine
sehr schlechte Bezahlung, ohne Absicherung, ohne Arbeitslosenversicherung oder irgendetwas. Wenn wir arbeitslos werden, bleibt uns
nichts.
c) Ich werde so viel arbeiten, wie ich kann, bis ich meine Papiere für die
Einbürgerung habe – und dann werde ich erstmal verschnaufen, und
zwar bei meinem Kind; denn die habe ich zurückgelassen, als sie zehn
war und jetzt ist sie 21. Sie ist die einzige, die noch zu Hause ist von
meinen drei Kindern. Sie ist die jüngste und ich habe gar nichts von ihr
gehabt, weder ihre Kindheit noch ihre Jugend habe ich mit ihr geteilt.
d) »Mir wurden zuvor 8 Euro die Stunde gezahlt, aber dann sind sie
Preise gefallen … weil andere gekommen sind, die für weniger gearbeitet haben. In den Haushalten, in den ich gearbeitet habe, haben sie
eine andere Person eingestellt, die nur 5 oder 7 Euro nimmt. Ich will ja
nichts sagen, aber auf einmal kamen diese Mädchen … diese Rumäninnen … die waren billiger und, klar, die Leute haben lieber sie eingestellt. Natürlich haben sie auch das Recht zu arbeiten … aber wenn
man uns allen 8 Euro zahlen würde … dann würden sie doch auch
mehr davon haben.
Nach: Moré Corral, Paloma (2009): Emigrar para cuidar. Informe. Universidad Complutense de Madrid. (Übersetzung: Boris Kühn)
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M 5 Einwanderung nach Spanien nach Herkunftsländern
© http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Inmigracion_en_Espa%C3 %B1a_por_pais.png
M 6 »Morde, Gewalttaten, Diebstähle: der »rumänische Fall«
Mit den vielen Bürgern auf der Suche nach Arbeit sind auch zahlreiche Kriminelle nach Italien gekommen (Corriere de la Sierra).
Sie stellen 15 % der Angeklagten wegen Mordes und 37 % der des
Diebstahls Beschuldigten. »Die derzeitige Angst, die Rumänen
entgegen gebracht wird, geht über die statistischen Fakten hinaus«, meint Franco Pittau, wissenschaftlicher Leiter des Dossiers
zur Einwanderung der Caritas, die als einzige demografische
Daten und Kriminalitätsstatistiken über die in Italien ansässigen
Rumänen ausgewertet hat. Das Problem ist tatsächlich nicht die
Kriminalitätsrate, also das Verhältnis zwischen den eines Verbrechens beschuldigten Rumänen und der Gesamtzahl der Rumänen. In Italien leben und arbeiten, in Folge des enormen Zustroms
an Einwanderern, insbesondere nach dem EU-Beitritt Bukarests
zum 1. Januar 2007, über eine Million Rumänen. Die Zahl der Festgenommenen betrug Ende 2006 1.650, heute sind es 2.729, das
entspricht 0,27 %. […]
Corriere della Sera, www.corriere.it/cronache/09_febbraio_23/calabro_d5e96f52–0189–
11de-91dc-00144f02aabc.shtml (Übersetzung: Boris Kühn)
M 7 Legalisierung (»Regularisierungen«) von irregulär
Eingewanderten
Spanien
Italien
38.000 (1985)
M 8 Meinungsumfragen in der spanischen Bevölkerung
(Angaben in %)
Sollen alle Menschen, die Freiheit haben in jedem Land ihrer Wahl
zu leben und zu arbeiten?
Ja
Nein
Weiß nicht
89
8
3
Glauben Sie, dass Spanien ausländische Arbeitskräfte benötigt?
Ja
Nein
Weiß nicht
54
35
11
71
Wie beurteilen Sie die Anzahl eingewanderter Personen in Spanien?
Es sind:
Zu viele
Viele, aber nicht zu viele
Wenige
53
36
3
Was wäre eine angemessene Politik gegenüber ausländischen
Arbeitskräften?
Freie Einreise ohne
Hindernisse
Einreise für diejenigen, die Einwanderung ganz
einen Arbeitsvertrag
verbieten
haben
7
85
4
© Daten: Centro de Investigaciones Sociológicas: Datos de opinión, 2005, (Übersetzung:
Boris Kühn), www.cis.es/cis/opencms/-Archivos/Boletines/36/BDO_36_index.html
Frankreich
105.000 (1988)
132.000 (1982)
109.000 (1991)
220.000 (1990)
87.000 (1997)
21.000 (1996)
246.000 (1996)
7.000 (2006)
164.000 (2000)
218.000 (1998)
235.000 (2001)
647.000 (2002)
578.000 (2005)
295.000 (2009)
© nach Daten von Istituto di ricerche sulla popolazione e le politiche sociali, (für Italien
1988–2002), Ministero dell’Interno (für 2009; Eingegangene Anträge, Daten über Bewilligungen liegen noch nicht vor), Real Instituto Elcano (für Spanien), www.focus-migration.
de (für Frankreich) – Deutschland kennt keine solche »Regularisierungen«.
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II. INTEGRATIONSSTRATEGIEN IN DEN EU-MITGLIEDSLÄNDERN
10. Emigration aus Polen – eine besondere
Dynamik im letzten Jahrzehnt
ANDRZEJ KALUZA | MANFRED MACK
P
olen ist – neben Ländern wie Italien, Irland oder Griechenland – ein typisches
Emigrationsland, eine Gesellschaft, die
sich infolge einer Reihe von historischen,
ökonomischen und politischen Faktoren
nicht in die administrativen Grenzen eines
Staates einschließen lässt; eine in einem
transnationalen Raum funktionierende Gesellschaft, die über ein eingegrenztes Territorium hinausreicht. Fast zwei Millionen
Menschen sind seit dem EU-Beitritt Polens
ausgereist, und diese letzte Welle ist nur
ein weiteres Kapitel in der Geschichte der
polnischen Migration. Die Migrationserfahrungen der Polen, die sich über 150 Jahre
erstrecken, lassen somit den Schluss zu,
dass die polnische Kultur gewisse Mechanismen, Verhaltensmuster, Diskurse und
symbolische Begriffe herausgebildet hat,
um mit diesem seit vielen Generationen andauernden, ständigen Bevölkerungsabfluss fertig zu werden.
Abb. 1
72
Emigration aus Polen (2007): 2/3 der Migranten im Jahr 2007 arbeiteten in Großbritannien,
Deutschland und Irland. Die erste Zahl beruht auf Umfragen, die zweite auf Schätzungen des polnischen
»Deshalb ist es schwierig, über die Migration aus
Hauptamts für Statistik (GUS)
© Polskie Badania Internetu, ARC Rynek i Opinia, Starcom: Emigranci 2007,
Polen zu reden, ohne daran zu erinnern, wie stark
www.pbi.org.pl/s/p/pliki/13/13/Emigranci_2007_Konferencja_Prasowa_teaser.pdf
diese zurückwirkt auf die Kultur, die Selbstwahrnehmung, die öffentlichen Debatten und die Verdas die Polen überall im Westen zu Menschen 2. Klasse machte,
suche, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wer sind die Polen im heutidie sie in Illegalität und Schwarzarbeit drängte, um sich über
gen Europa, und wer sind sie auch als Gemeinschaft und als Gesellschaft?
Wasser zu halten.
Deshalb enden die akademischen Analysen oder der öffentliche Diskurs in
Wären Piotr und Marek 2004 nach Großbritannien eingereist,
solch starken Verallgemeinerungen, in solch weit ausholenden Narratiohätten sie es um vieles einfacher gehabt. Kurz nach Polens EUnen, in denen die Migration aus Polen entweder als nationale Tragödie
Beitritt öffneten Großbritannien, Irland und Schweden ihre Arund, wie dies polnische Politiker vor dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu Jabeitsmärkte, während andere Länder wie z. B. Deutschland erst in
roslaw Kaczynski ausdrückten, als die Existenz der Gesellschaft bedroden nächsten 7 Jahren nachzogen. Hunderttausende junger
hender »Aderlass« angesehen wird – die Migranten werden dementsprePolen gingen von heute auf morgen weg – zum ersten Mal in der
chend als »verlorene Generation« bezeichnet – oder aber als große Chance
Nachkriegszeit fühlten sie sich im Westen willkommen, durften
für die Modernisierung, für die »Zivilisierung« der Polen, die endlich im
sich nicht nur niederlassen, sondern auch legal um einen Job beAusland lernen, »echte Europäer« zu sein und in den Salons der großen
werben. Offensichtlich passten da gerade einige Dinge zusamweiten Welt das Stigma des armen Hinterwäldlers abzustreifen.« (Mimen, die als Ursachen für diese beispiellose Migrationsbewegung
chael P. Garapich, in: Jahrbuch Polen Migration, 2010, S. 65f.)
gelten. Diese erreichte bald eine Dimension von 1 bis 2 Millionen.
Die Filmhelden brachten es auf den Punkt: Was sie wollten,
Migration als Phänomen des letzten Jahrzehnts
deckte sich mit den Träumen einer ganzen Generation, die nach
der Wende groß geworden ist, und die in der Heimat – vor allem
»Das ist einfach: Geld, eine ordentliche Wohnung, einen flotten Schlitten
auf dem Lande und in kleineren Städten – keine Chancen sah, ein
und eine Familie, die in Ordnung ist« – wünscht sich Piotr. Sein Kumpel
in ihrem Sinne »normales« Leben zu führen, mit all dem, was daMarek fügt hinzu: »Ein kleines Geschäft wäre vielleicht auch nicht
zugehört. Was das sein kann, das zeigt täglich das Fernsehen und
schlecht …, na ja, und einen Sohn großziehen, das wäre fantastisch!«.
weck so Appetit auf vieles, was man sich ohne, aber auch mit ArPiotr und Marek, beide um 25, sprachen so am Anfang des neuen
beit in Polen nicht wird leisten können, denn Anfangsverdienste
Jahrtausends über ihre Träume in die Kamera des Filmemachers
in Höhe von 200 bis 300 Euro lassen selbst bei geringen Kosten
Leszek Dawid in einer Plattenbausiedlung in der polnischen Prokeine größeren Sprünge zu. Dabei hatten nur einige wenige das
vinz. Dawid begleitete sie auf ihrer Odyssee nach Großbritannien,
Glück, nach der Schule oder Ausbildung einen Job zu ergattern.
dem gelobten Land für Hunderttausende, wenn nicht von MillioDie registrierte Arbeitslosigkeit lag 2004 um 20 %, unter den
nen von Osteuropäern. So entstand 2003 ein viel beachteter Do25-Jährigen sogar um 25 %. Diese sog. »Generation Nichts« bekumentarfilm »Bar on Victoria Station«, der die harte Konfrontastand demnach aus jungen Menschen, die keinen Zugang zum
tion zwischen jugendlichem Traum vom besseren Leben im
Arbeitsmarkt fanden sowie aus durchaus gut ausgebildeten IndiWesten und ungeschminkter Realität ohne Geld, ohne Kontakte
viduen, deren materielle Ansprüche an der Wirklichkeit scheiterund ohne Sprachkenntnisse vor Ort problematisiert. Und er nennt
ten. Um nicht mehr von den Eltern materiell abhängig zu sein,
das wichtigste Problem: keine Arbeitserlaubnis, d. h. ein Stigma,
wählten sie die sich anbietende Möglichkeit der Migration, die
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Freiheit, Unabhängigkeit und Abenteuer versprach. Bald verabredeten sich ganze Abi-Klassen nach den Ferien in London, Birmingham oder Glasgow. Die Auswanderung wurde zur Mode,
zum Lebensstil, zum Muss.
»Sie kamen und sie wurden gebraucht.«
Die Britischen Inseln kennen seit langem einen flexiblen Arbeitsmarkt nach der »Hire & Fire«-Devise, was vielen Polen ohne Berufsausbildung den Einstieg erleichterte. Fest steht, dass anfangs
viele neue Migranten schnell einen Job fanden: In Schnellrestaurants, auf Baustellen, als Haushaltshilfen. Jungen Polen und ihren
Schicksalen in London fieberten auch Millionen an den Bildschirmen zu Hause nach: Die Fernsehserie »Londoner« fand schnell ihr
treues Publikum. Näher an der Realität war allerdings Ken Loach
mit seinem Sozialdrama »It’s a Free World« (2007), das unverblümt die Ausbeutungspraktiken: Bezahlung unter Mindestlohn,
schlechte Arbeitsbedingungen, überteuerte und menschenunwürdige Unterbringung, aufzeigte. Dann kam auch noch die dramatische Finanzkrise im Jahr 2008 und viele der neuen Migranten
lernten am eigenen Leib kennen, dass die britischen Verhältnisse
nach einem einfachen »Hire« auch ein schnelles »Fire« kennen.
Dennoch waren die meisten Migranten mit ihren materiellen Verhältnissen zufrieden. Auch hatten die meisten von ihnen noch im
Jahr 2007 eine Beschäftigung (93 %). Nach und nach ließen die
Festangestellten ihre Familien nachkommen, die Zahl polnischer
Schüler stieg sprunghaft an. Experten sprechen bei Migranten oft
von einer 3- bis 5-jährigen Frist, nach der sie über ihre Zukunft
entscheiden. Menschen, die in ihrem beruflichen Umfeld angekommen sind, bleiben im Zielland, andere kehren zurück, um die
Chancen im Heimatland nicht zu verpassen, allerdings erst dann,
wenn sie genügend Startkapital gespart haben.
Bei den Migranten handelte es sich zumeist um junge Menschen,
die zum Zeitpunkt ihrer Ausreise zwischen 18 und 35 Jahre alt
waren und einen mittleren oder hochqualifizierten Abschluss
vorweisen konnten. Nur etwa ein Drittel hatte eine Berufsausbildung, mit der man in der Regel einfacher einen Job im gelernten
Beruf findet. Ihre Situation war vorteilhafter, denn bei einem Abschluss als Mechaniker, Busfahrer oder Krankenschwester hatten
sie einen sicheren und im Verhältnis zum Heimatland besser bezahlten Job.
Anders erlebten es Abiturienten, Studenten und frischgebackene
Hochschulabsolventen. So wie sich in Polen niemand für ihren
Abschluss interessierte, so konnten sie auch in der Fremde auf
eine »richtige« Karriere, die ihrer Qualifikation entsprechen
würde, nicht zählen. Die Migrationsforscherin Krystyna Iglicka
spricht von einer »verlorenen Generation« der heute 25- bis
30-Jährigen und scheut nicht vor dem Begriff »brain waste«. Viele
hochqualifizierte Polen finden sich nämlich heute in einer Falle
wieder: Sie schämen sich zurückzukehren, weil sie nicht genügend gespart hatten, und wissen gleichzeitig, dass sie in Polen
keine Chancen für einen Job haben, bei dem sie wie in England
verdienen würden, so Iglicka. Diese Situation löste in Polen eine
Diskussion über das gegenwärtige Schulsystem aus, in dem etwa
70 % eines Jahrgangs Abitur machen und später sozialwissenschaftliche Fächer studieren, die der Arbeitsmarkt nicht nachfragt. So entsteht ein »mismatch« zwischen vorhandenen und
nachgefragten Qualifikationen, der die jungen Polen doppelt – in
Polen wie in England – trifft. Noch verheerendere Folgen hat die
Vernachlässigung der Berufsausbildung bei einem Mangel an
Fachkräften im Inland und ihrer hohen Auswanderungsbereitschaft.
Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung
Abb. 2 »Die 17. Woiwodschaft Polens: »Woiwodschaft London«. Schon
300.000 Londoner sind Polen.«
© Titelbild der Zeitschrift »Wprost«, 31.7.2005
delt sich zur Zeit die Meinung der Experten. Die Vorteile waren
unübersehbar: sinkende Arbeitslosigkeit und geringere soziale
Ausgaben, hohe Einkommen für Betroffene und deren Geldtransfers an Familienangehörige, neue berufliche Erfahrung und die
(unrealistische) Annahme, dass Migranten nach einigen Jahren
mit einem Startkapital zurückkehren und das wirtschaftliche
Leben antreiben, treten angesichts der Nachteile der andauernden Migration zurück. Krystyna Iglicka nennt die ökonomischen
und sozialen Risiken: »Drain-Brain«, »Entvölkerung ganzer Landstriche«, was angesichts der demografischen Situation auf dem
Lande fatale Folgen hat, anhaltender Fachkräftemangel (vor
allem in medizinischen Berufen), steigende Arbeitskosten wegen
höherer Löhne im Inland, die gleichzeitig geringere Konkurrenzfähigkeit verursachen. Ebenso wichtig sind die gesellschaftlichen
Kosten der andauernden Trennung: Trotz Billigflieger, Mobiltelefone, Kommunikationsdiensten wie Skype und sozialer Netzwerke wie Facebook und Nasza-Klasa leiden soziale Bindungen
unter der Trennungssituation, immer mehr Familien fallen auseinander, eine hohe Zahl sog. »Euro-Waisen« bleibt im Lande zurück.
Krisenzeiten ermuntern nicht zu Veränderungen: Seit 2008 ist der
Strom polnischer Zuwanderer nach Großbritannien gestoppt.
Zurzeit gibt es immer wieder Berichte über Rückkehrer, deren
Zahl allerdings noch gering ist (2010: ca. 40.000). Die meisten
haben beschlossen, die aktuelle Krise vor Ort zu »überwintern«,
indem sie in schlechtere Arbeitsverhältnisse einwilligen oder von
staatlicher Unterstützung leben. Umfragen unter Rückkehrern
zufolge will die Mehrheit von ihnen wieder ins Ausland zurück,
40 % der Befragten wollen eventuell weiter nach Deutschland,
das im Mai 2011 offiziell nunmehr seinen Arbeitsmarkt laut EUÜbereinkunft öffnet. »Offiziell«, denn auch jetzt gibt es bereits
für viele Polen Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten.
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Während die polnische Politik, Öffentlichkeit und Medien zunächst auf die positiven Aspekte der Migration hinwiesen, wan-
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siedelten. Sie erhielten volle Bürgerrechte
und wurden in den Arbeitsmarkt und in die
sozialen Systeme integriert. Mit etwa 2 Millionen stellen sie den Löwenanteil dieser
Gruppe, wobei es auch unter den Aussiedlern
unterschiedliche Biografien und viele sogenannte »hybride Identitäten« gibt. Während
etwa die Hälfte dieser Gruppe bereits seit
Mitte der 1950 Jahre in verschiedenen »Ausreisewellen« die Möglichkeit erhielt, offiziell
(durch Ausbürgerung) in die Bundesrepublik
auszureisen, und sich bis heute in ihrem
Selbstverständnis als Deutsche versteht, so
kamen seit Mitte der 1980 Jahre zudem Hunderttausende junger Menschen aus Polen,
die zwar formell ihre deutsche Abstammung
nachweisen konnten, aber der Familientradition und der Sozialisation nach bis heute eine
starke polnische Identität besitzen. Ein Teil
dieser Migranten – die heute deutsche
Staatsbürger sind – verlangt von der Bundesregierung den Status einer nationalen MinAbb. 3 Deutsche Fußballnationalspieler mit polnischen Wurzeln: Lukas Podolski, Miroslav Klose und
derheit mit weitreichenden kulturellen und
Piotr Trochowski
© picture alliance, dpa, 2010
politischen Rechten. Dagegen sind die meisten Vertreter der sog. »Podolski-Generation«
(Kinder von Aussiedlern) hierzulande sozialiPolnische Migration nach Deutschland
siert und sprachlich wie sozial vollkommen integriert (manchmal
sogar »unsichtbar«). Langsam erobern sie nun auch die deutsche
Auch wenn viele polnische Stimmen – aber auch deutsche WirtÖffentlichkeit: Im Bundestag sitzt als jüngste Abgeordnete Agnes
schaftsverbände – die deutsche Entscheidung kritisierten, an der
Malczak (Bündnis 90/Die Grünen), in der »ZEIT« schreibt Adam Somaximalen 7-jährigen Karenzzeit für polnische Arbeitnehmer
boczynski, die Herzen deutscher Teenies eroberte 2008 Thomas
festzuhalten (bis 1. Mai 2011), so hatten in Wirklichkeit viele Polen
Godoj, auf dem Fußballfeld kicken für Deutschland Lukas Podolschon lange vor diesem Datum Zugang zum deutschen Arbeitsski, Miroslav Klose und Piotr Trochowski und auf der Leinwand
markt. Bis 2004 war Deutschland sogar das einzige Land, das polüberzeugt die aus Schlesien stammende Natalia Avalon, die im
nischen Arbeitskräften erlaubte, durch bilaterale Kontingent-LöFilm die Ikone der 68er-Bewegung – Uschi Obermaier – in »Das
sungen festgelegte oder eine gesteuerte saisonale Beschäftigung
wilde Leben« spielte.
in der Landwirtschaft anzunehmen. Von dieser Möglichkeit hatDer Migrationsforscher Michal Garapich meint gar, dass die Polen
ten mehr als 300.000 Polen jedes Jahr seit 1990 Gebrauch geeine Art »Mobilitätsgen« in ihrer gesellschaftlichen DNA hätten –
macht. Weitere 170.000 fanden eine reguläre Beschäftigung aufund tatsächlich gehört Migrationen zur tagtäglichen Erfahrung
grund ihres Aufenthaltstitels in Deutschland und ca. 30.000
des polnischen Volkes seit mehr als 200 Jahren. Man findet nur
gründeten eine eigene Firma. Viele der letztgenannten führten
schwer eine Familie, die nicht gegenwärtig oder in der Verganvor 2004 ein Schattendasein, danach konnten sie ihren Status
genheit von diesem Phänomen betroffen wäre. Auf etwa 10 Milliodurch die Anmeldung eines eigenen Gewerbes oder Handwerks
nen Menschen wird heute die polnische Diaspora ingesamt in der
deutlich verbessern. Trotz dieser Möglichkeiten verbleiben noch
Welt geschätzt.
viele Tausend Polen in Deutschland in einer Grauzone und arbeiten schwarz in schwer kontrollierbaren Bereichen als Kindermädchen, Haushaltshilfen,
Altenpflegerinnen oder Bauarbeiter. Wie
viele es genau sind, lässt sich nicht ermitteln.
Sie werden weder in deutschen noch in polnischen Statistiken erfasst, sie tauchen auch
nicht in den Statistiken von Eurostat auf.
So leben nach offiziellen Angaben in
Deutschland nur etwa 390.000 Polen (3. Platz
hinter Türken und Italienern), aber diese Zahl
erfasst nur Menschen mit ausschließlich polnischem Pass. Das täuscht darüber hinweg,
dass Deutschland das bedeutendste Zielland
für Migranten aus Polen nach 1945 darstellt.
Da es sich dabei um eine sehr heterogene
Gruppe handelt, wird hierfür oft der Begriff
»Polnischsprachige« verwendet, der auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner dieser
Gruppe – die Kenntnis der polnischen Sprache – hinweist. Die meisten Migranten aus
Polen sind Aussiedler, d. h. Menschen, die
sich aufgrund ihrer deutschen Abstammung
und ihres Bekenntnisses zur deutschen NatiAbb. 4 »Grenzöffnung an Polens West-Grenzen«
© Jan Tomaschoff, 2004
onalität in der Bundesrepublik dauerhaft an-
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Abb. 5 »Danuta, unsere preiswerte Trösterin«
© Jan Tomaschoff, 2007
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts reiht sich in diese Auswanderungstradition ein, auf die die Politik und Gesellschaft in
Polen eine Antwort geben müssen, denn ihre Folgen sind nicht
nur für das private Leben der Betroffenen entscheidend, sondern
auch für die sozialen Ressourcen der polnischen Gesellschaft, die
demografische Entwicklung, die sozialen Sicherungssysteme,
das wirtschaftliche Wachstum und das politische Leben.
In Deutschland, aber auch in Polen wird gegenwärtig viel darüber
spekuliert, wie sich die Situation nach dem 1. Mai 2011 entwickeln
wird, wenn nach der siebenjährigen Übergangsfrist der deutsche
Arbeitsmarkt für Polen geöffnet wird. Der polnische Journalist Jedrzej Bielecki wagt eine Prognose: »Nach Ansicht der Experten werden etwa 400.000 Personen die Chance zum Überschreiten der Grenze
nutzen. Die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes bedeutet jedoch eine
große Veränderung für hunderttausende Polen, die jenseits der Oder illegal arbeiten. Zumindest ein Teil von ihnen hat die Chance, aus der schwarzen Zone heraus zu kommen und eine legale Beschäftigung zu finden. […]
Experten erwarten, dass in der Zukunft, Jahr für Jahr mehrere Zehntausend Polen entscheiden werden, sich in Deutschland auf Dauer nieder zu
lassen, vor allem Menschen aus Regionen, die traditionell mit Deutschland verbunden sind (Schlesien, Ermland, Pommern, Großpolen).«
Dagegen ist die Immigration nach Polen zurzeit nur eine Randerscheinung: Während offiziell etwa 4.–6.000 Flüchtlinge aufgenommen werden und die Zahl der Einbürgerungen bei 2.000 pro
Jahr liegt, können Polens östliche Nachbarn (vor allem Ukrainer)
dank eines vereinfachten Verfahrens ein Visum für Saisonarbeit in
Polen bekommen. Ihre Zahl wird auf ca. 0,5–1 Million geschätzt,
in der Regel handelt es sich dabei um Pendler, die ihren Lebensmittelpunkt nicht nach Polen verlegen. Anders dagegen die Vietnamesen: Etwa 50.000 leben zumeist legal in Polen und betreiben
in Warschau und anderen Großstädten Schnellrestaurants und
einen regen Textilhandel. Auch wenn Wirtschaftsexperten vor
den demografischen Herausforderungen warnen und eine geregelte Einwanderung fordern, wird das Land an der Weichsel wahrscheinlich noch lange kein bedeutendes Zielland für Einwanderer
bleiben.
Abb. 7 »Nicht Unsichtbarkeit, sondern Heterogenität ist das wahre
Charakteristikum der polnischen Gemeinden im Ausland« (FAZ) – Jahrbuch des
Deutschen Polen-Instituts zum Thema »Migration«
© Jahrbuch Polen 2010, Migration, Wiesbaden.
75
Pallaske, Christoph (2001): Die Migration von Polen nach Deutschland.
Zu Geschichte und Gegenwart eines europäischen Migrationssystems.
Baden-Baden.
Nagel, Sebastian (2009): Zwischen zwei Welten. Kulturelle Strukturen der
polnischsprachigen Bevölkerung in Deutschland; Analyse und Empfehlungen. Stuttgart.
Deutsches Polen-Institut (Hrsg.),(2010): Jahrbuch Polen 2010 Migration.
Wiesbaden.
Dutkiewicz, Rafał: Eine neue »große Emigration«? Hintergründe und Chancen der polnischen Arbeitsmigration, übers. von Anna Pittlik, Beiträge zu
Migration und Politik, Universität Bremen, Heft 1/2007, S. 16–17. 2007
www.stefanluft.de/beitraege_mp1.pdf
Internethinweise
www.lehrer-online.de/zuwanderer-polen.php (Polen in Deutschland.
Unterrichtsmaterialien)
www.isp.org.pl/files/17329701940940852001254131529.pdf (Frelek, Justyna; u. a.: Polnische Arbeitsmigration nach Deutschland. Warschau: Institut
für Öffentliche Angelegenheiten 2009)
Literaturhinweise
Becker, Jörg (2010): Erdbeerpflücker, Spargelstecher, Erntehelfer. Polnische
Saisonarbeiter in Deutschland – temporäre Arbeitsmigration im neuen
Europa. Bielefeld.
Glorius, Birgit (2007): Transnationale Perspektiven. Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland. Bielefeld.
www.deutsches-polen-institut.de/Projekte/Projekte-Aktuell/KopernikusGruppe/raport16.php (Materialien des Deutschen Polen-Instituts)
www.focus-migration.de/Polen_Update_02_200.2810.0.html (Focus
Migration: Polen)
Nowicka, Magdalena (2007): Von Polen nach Deutschland und zurück.
Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa. Bielefeld.
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Materialien
M 1 »Emigration als Lebensform«
Mittlerweile ist die Emigration zu einer Lebensform geworden,
geradezu eine Mode, denn unter den jungen Leuten herrscht die
Überzeugung, dass sich bloß Angsthasen davor fürchten auszuwandern. Zu einem Trip nach Irland, und sei es bloß in den Ferien,
verabreden sich schon die Abiturienten, und die Studenten packen ihre Habseligkeiten direkt nach der Verteidigung ihrer Examensarbeiten. Der Westen lockt, obwohl die meisten durchaus
nicht in den Bereichen arbeiten werden, die ihrer Qualifikation
entsprechen. Am Anfang erwartet sie ein billiges Hotel, manchmal sogar ein paar Nächte im Auto oder gar auf dem Fußboden.
Dann Arbeit auf dem Bau, im Supermarkt, bei McDonalds – die
Hälfte der Migranten verrichtet körperliche Arbeit. Allerdings
verdient man deutlich mehr als in Polen und macht das auch nur
am Anfang. »Ich habe mich nach dem Studium aus dem Staub gemacht,
habe noch nicht mal mein Diplom abgeholt, denn nur 800 bis 1000 Zloty
(= 200–250 Euro) auf die Hand zu bekommen, ging mir gegen den Strich.«
© Bartosz T. Wielinski: Generation »Migration«, übers. von Jutta Conrad, in: Deutsches Polen-Institut 2008: Jahrbuch Polen 2008 – Jugend. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, S. 69–
70.
M 2 »Kurzporträts von erfolgreichen polnischen
Emigranten«
76
Aufgrund der politischen Situation und der materiellen Engpässe entschlossen sich viele junge Menschen in den 1980er-Jahren, Polen mit Touristenvisa zu verlassen, um nach einer langfristigen Perspektive für sich
und ihre Familien zu suchen. Diesen Wunsch konnten sich etwa 1 Mill.
Auswanderer aufgrund des »Aussiedlerstatus« in der Bundesrepublik sichern; viele von ihnen haben heute einen deutschen und einen polnischen
Pass und sind sozial und wirtschaftlich in Deutschland integriert. Ihre
Kinder sind hierzulande sozialisiert und werden heute als die »Generation
Podolski« bezeichnet.
(1) DJ Tomekk
Tomasz Kuklicz – so sein bürgerlicher Name – ist ein in Krakau
geborener und in Berlin Wedding aufgewachsener Hip-Hop-DJ
und Musikproduzent. Durch seine Arbeit beim Radiosender Kiss
FM lernte er die Szenegröße Kurtis Blow kennen, den er auf einer
US-Tour begleitete. Der zu der Zeit in Deutschland noch kaum bekannte DJ trat hier mit Run DMC oder dem Wu-Tang-Clan auf, was
ihm als erster Nicht-Amerikaner eine Nominierung für den »1st
Annual Rap Musik Award« einbrachte. In Deutschland gelangen
ihm danach einige gute Platzierungen in den Media-ControlCharts, darunter 1, 2, 3 Rhymes Galore oder Kimnotyze. Er produzierte mehrere Alben und Remixes, u. a. mit Künstlern wie Sido,
www.djtomekk.com
Fler und Bushido.
(2) Natalia Avelon
Die 29-jährige Deutsch-Polin hat sich vor allem durch ihre Rolle
als Uschi Obermaier in »Das wilde Leben« und ihre damit verbundene Neuauflage des Hits »Summervine« von Lee Hazlewood und
Nancy Sinatra einen Namen gemacht. Die in Breslau geborene
und im Landkreis Karlsruhe aufgewachsene Sängerin und Schauspielerin, die mit bürgerlichem Namen Natalia Siwek heißt, hatte
bereits zahlreiche Auftritte in deutschen TV-Serien, beispielsweise in »Rosa Roth«, »Verbotene Liebe«, »Marienhof« oder auch
»Der Bulle von Tölz«. 2008 erhielt sie den DIVA-Award in der Kategorie »New Talent of the Year«.
(3) Thomas Godoj
Godoj kam 1978 im schlesischen Rybnik zur Welt und ist einer der
erfolgreichsten deutschen Pop- und Rock-Sänger, nachdem er
M 3 Thomas Godoj
2008 die Castingshow »Deutschland sucht den Superstar« gewonnen hat. Mit seinem Song »Love Is You« und dem Debütalbum
»Plan A!« stürmte er die deutschsprachigen Charts in Deutschwww.thomas-godoj.de
land, Österreich und in der Schweiz.
© in: Jahrbuch Polen 2010 Migration, S. 48ff.
M 4 Jacek Kaczmarski »UNSERE KLASSE« (ein Gedicht)
Was ist aus unserer Klasse geworden,
Fragt Adam in Tel Aviv,
Schwer ist es, solchen Zeiten gewachsen zu sein,
Schwer ganz allgemein, anständig zu leben –
Was ist aus unserer Klasse geworden?
Wojtek ist in Schweden, im Porno-Club
Er schreibt – sie bezahlen mich hier gut
Für das, was ich sowieso mag.
Kasia und Piotr sind in Kanada,
Denn dort haben sie Perspektiven,
Staszek schlägt sich in den Staaten durch,
Paweł hat sich an Paris gewöhnt,
Goka und Przemek kommen kaum über die Runden,
Im Mai kommt ihr dritter Balg zur Welt,
Vergeblich beschweren sie sich bei den Behörden,
Dass sie auch gern in den Westen gehen würden,
Dafür ist Magda in Madrid
Und wird einen Spanier heiraten,
Maciek ist umgekommen im Dezember,
Als sie die Wohnungen durchkämmten,
Janusz, auf den wir immer neidisch waren,
Weil ihn jede Welle trug,
Ist jetzt Chirurg und heilt Menschen,
Sein Bruder aber hat sich aufgehängt,
Marek sitzt, weil er sich geweigert hat,
Auf Michał zu schießen,
Und ich schreibe ihre Geschichte auf,
Und das ist schon die ganze Klasse.
Nein, noch Filip, Physiker in Moskau –
Heute sammelt er verschiedene Preise,
Fährt, wann er will, nach Polen,
Wurde vom Premierminister empfangen.
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Finanzielle Situation vor und nach der Ausreise
1%
2%
100 %
Ich habe die ganze Klasse gefunden –
In der Verbannung, im Land, im Grab,
Aber irgendwas hat sich verändert,
Jeder kritzelt sich sein Leben –
Ich habe die ganze Klasse gefunden
Groß geworden und erwachsen,
Ich hab unsere Jugend aufgekratzt,
Aber allzu weh hat es nicht getan …
90 %
Keine Jungs mehr, sondern Männer,
Schon Frauen – keine Mädchen mehr.
Die Wunden der Jugend heilen schnell,
Da ist niemand dran schuld;
Alle sind verantwortungsbewusst,
Alle haben Ziele im Leben,
Alle sind, in Maßen – normal,
Aber das ist eben – nicht gerade viel …
20 %
12 %
29 %
80 %
völliger Geldmangel
28 %
70 %
Verzicht auf Anschaffungen
60 %
kein größeres Vermögen
50 %
34 %
40 %
65 %
30 %
wohlhabend
18 %
10 %
3%
6%
6%
7%
vor der Ausreise
nach der Ausreise
0%
ausreichend für alles
schwer zu sagen
Quelle: Emigranci 2007; N=11.151
M 6 Finanzielle Situation der Emigranten vor und nach der Ausreise
Ich weiß selbst nicht, was mir vorschwebt,
Welcher Stern über mir strahlt,
Wenn ich unter den – nicht fremden – Gesichtern
Immerfort nach Gesichtern von Kindern suche,
Warum ich mich immerfort umschaue,
Obwohl niemand ruft – hallo, mein Freund!
Ob jemand mit mir Fangen
Oder zumindest Verstecken spielt …
Eigene Triebe, eigene Blätter
Lassen wir wachsen – jeder für sich
Und Wurzeln selbstverständlich
In der Verbannung, im Land, im Grab,
Hinunter, zur Seite, zur Sonne hinauf,
Zur Hinrichtung, nach rechts – nach links …
Wer erinnert sich daran, dass das letztlich
Ein und derselbe Baum ist …
7.5.1983/3.6.1987
© Zahlen nach: Polskie Badania Internetu, ARC Rynek i Opinia, Starcom: Emigranci 2007,
Iwona Lenartowska, Koordinatorin der Zentren für Migrantenintegration, sagt: »Wir haben einen eigenen Minibus, den wir hinschicken.
Dort tragen sich Personen auf einer Liste ein, die gern zurückfahren würden, aber kein Geld für eine Fahrkarte haben. […] Unsere Schützlinge
fahren auf der Suche nach Brot in die Welt hinaus. Es handelt sich in der
Regel um Personen mittleren Alters, die von polnischen Arbeitgebern
trotz ihres Wissens und ihrer Erfahrung nicht respektiert werden. Im Westen ist der Arbeitsmarkt für solche Menschen offener und sie wissen das.
Darüber hinaus stammen die Personen, denen wir helfen, aus Regionen,
die von einer gigantischen Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie befinden
sich an einer Lebenswende, haben Scheidungen hinter sich, verfügen über
keine Sprachkenntnisse. Meistens haben sie einen konkreten Beruf, doch
sie kommen, ohne jemanden hier zu kennen, oder werden von dieser Person enttäuscht. Na, und leider sind sie manchmal naiv, weil sie glauben,
dass die Britischen Inseln das Eldorado sind.«
© Katarzyna Kulczycka: »To go or not to go«, in: Jahrbuch Polen 2010 Migration, S. 123ff.
77
© Copyright by Jacek Kaczmarski. Mit freundlicher Genehmigung von Alicja Delgas, Patrycja Volny-Kaczmarska und Kosma Kaczmarski. Aus dem Polnischen von Manfred Mack
M 7 »Kehrt zurück!«
M 5 Katarzyna Kulczycka: »To go or not to go«
Das Wort »Migration« wird in Polen seit dem Beitritt des Landes
zur Europäischen Union in allen Personen und Kasus durchdekliniert, jeder hat eine vorgefasste Meinung dazu. Hier einige
Schlagzeilen aus polnischen Tageszeitungen von 2009:
»Zahl der Selbstmorde unter polnischen Migranten steigt«, »Ich bleibe in
Großbritannien!«, »Furchtbare Schnitzer eines Migranten«, »Kann man
aus England einen (…) Kredit mitbringen?«, »Tötet die Migration jede
Liebe?«, »Briten streiken wieder wegen Polen«, »Polnischer Laden bedient
keine Briten«, »Eltern mit Kindern bleiben auf den Inseln«.
Unter dem Artikel beginnt meist der Krieg der Emigranten gegen
diejenigen, die geblieben sind. Die ersten haben nicht vor, ihr
Leben mit Warten darauf zu verbringen, dass Polen den Westen
einholt, und die anderen erwidern, dass Klo, Spüle und Besen die
richtige Beschäftigung für die Migranten sind. Auf jedem Internetportal hinterlassen die Nutzer unter einem Artikel über Migration im Schnitt dreimal so viele Eintragungen wie bei anderen,
und das Niveau der Äußerungen und die Emotionen sind nur mit
politischen Kommentaren vergleichbar. Besondere Kontroversen
ruft die Tatsache hervor, dass, abgesehen von den in ihrem Beruf
arbeitenden Polen, viele Menschen bleiben, die einfache körperliche Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation ausüben. Ein ganzes
Heer von Barkeepern, Kellnerinnen, Bauarbeitern, Putzfrauen,
Lieferanten und Supermarktangestellten hat die ethnische Landschaft der Großstädte Englands und Irlands verändert.
Obwohl nicht laut darüber gesprochen wird, gibt es auch Migranten, die in der Fremde eine völlige Niederlage erlitten haben.
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Unsere Breslauer Medienkampagne, die wir an die polnischen
Emigranten richteten, nannten wir: »KEHRT ZURÜCK!« Wir sagten nicht »Verlasst das Land nicht«, obwohl wir es selbstverständlich vorzögen, wenn niemand die Heimat verließe. Es ist gut, dass
die Menschen auswandern können (ich betone: können!). Keine
Sekunde vermisse ich die Zeiten, in denen der Besitz eines Reisepasses nicht ein Recht, sondern ein Privileg war, zugeteilt vom
Sicherheitsapparat. Ich bin ein großer Befürworter des individuellen Rechts auf eigene freie Entscheidungen und eingeschworener Befürworter des freien Europa. Es tut mir jedoch jedes Mal
sehr leid, wenn jemand Polen verlässt, weil es mir lieber wäre, er
könnte hier seine Zukunft sehen, für sich und seine Familie. Wir
sollten alles tun, damit es möglichst viele Rückkehrer gibt. Und
wenn uns das gelingt, halten wir gleichzeitig die Emigration auf.
Die Auswanderungswelle ebbt nach einiger Zeit von alleine ab,
obwohl sie ihren Höhepunkt leider noch nicht erreicht hat. Die
Arbeitsmärkte im Westen werden gesättigt sein, erst recht nach
ihrer Öffnung für Rumänen und Bulgaren. Deswegen ist es wichtig, dass wir sowohl heute als auch morgen wirksam die Menschen zur Rückkehr bewegen. Es wird uns gelingen, wenn wir
überzeugend dafür eintreten, wenn Polen sich schneller und sinnvoller entwickelt, wenn wir zum Heimweh der Emigranten einen
stärkeren Glauben an den Sinn der gemeinsamen Zukunft zwischen Oder und Bug hinzufügen, wenn wir zeigen, dass es zumindest in einigen Teiles des alten Landes der Sinn über den Unsinn
herrscht.
Rafał Dutkiewicz: Eine neue »große Emigration«? Hintergründe und Chancen der polnischen Arbeitsmigration, übers. von Anna Pittlik, Beiträge zu Migration und Politik, Universität Bremen, Heft 1/2007, S. 16–17. Rafał Dutkiewicz ist Breslaus Stadtpräsident.
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M 8 »Polen retten den Londoner Arbeitsmarkt«
M 10
Die Besonderheit des britischen Arbeitsmarktes
Über 200.000 Arbeitsmigranten aus Polen sind seit 2004 nach
London ausgewandert. Das ist in Europa die größte Wanderung
in friedlichen Zeiten. Unwillkommen sind sie nicht. Die Briten halten ihre neuen Mitbewohner für fleißig und einsatzwillig. WELT
ONLINE besuchte eine der wachsenden Gemeinden in London.
(…) Es gilt unter Briten inzwischen als ausgemacht, dass das Gros
der Polen ausgepicht, fleißig und einsatzwillig ist, über dem
Durchschnitt der Einheimischen. Das hielt im Herbst letzten Jahres das Innenministerium in einem offiziellen Report, »Die wirtschaftlichen und fiskalischen Folgen der Einwanderung«, eigens
fest. »Einheimische Arbeitskräfte erweisen sich manchmal in bestimmten
Sektoren als unzuverlässig«, stand da schwarz auf weiß, »besonders in
der Landwirtschaft, im Hotel- und Catering-Gewerbe. Einige Firmen, die
Arbeitskräfte über Jobzentren gesucht hatten, mussten feststellen, dass
die Bewerber oft nur auftauchten, um ein unterschriebenes Papier als
Jobsucher zu ergattern, mit dessen Hilfe sie dann die entsprechende Unterstützung kassieren konnten.«
Nicht nur werden Polen als fleißig geschildert und gewillt, Überstunden zu leisten, viele von ihnen »füllen auch Vakanzen bei Jobs,
die von Einheimischen einfach nicht angenommen werden.« Die schonungslose Offenheit der Regierung in dieser Frage ist reine Defensivstrategie gegenüber der eigenen Bevölkerung. Die BlairRegierung unterlag nämlich einer grotesken Fehlkalkulation, als
man bei der Öffnung der Grenzen gegenüber den zehn neuen EUMitgliedern im Jahr 2004 die Öffentlichkeit zu beruhigen suchte,
es würden nicht mehr als etwa 13.000 Migranten im Jahr aus Osteuropa nach England kommen. Einen größeren amtlichen Fauxpas kann man sich schlecht vorstellen. Allein 800.000 Polen werden bislang als Neuankömmlinge hochgerechnet, genaue Zahlen
gibt es nicht, da neben den angestellt Arbeitenden – und Registrierten – zahlreiche Selbstständige hinzukommen, viele davon
Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmer. Sie alle bilden zusammen
mit den etwa 200.000 Exil-Polen, die nach dem Kriege wegen des
kommunistischen Umsturzes in ihrer Heimat in England blieben,
das Wurzelwerk einer neuen Arbeitskultur, von der es heißt, sie
verdränge viele der heimischen Briten aus ihren Stammplätzen im
Arbeitsmarkt. Falsch, kontert die Labour-Regierung bei jeder sich
bietenden Gelegenheit: Es gibt genug Arbeit auf der Insel, ja,
ohne Einwanderung müsste die britische Wirtschaft zusammenbrechen. (…)
Die Besonderheit des britischen Arbeitsmarktes und des angelsächsischen Kapitalismus erleichtert sicher auch eine solch individualistische Sichtweise – wenig Staat, wenig Bürokratie, Profit
als Hauptantrieb der Gesellschaft. Deshalb ist auch der Anteil der
Selbstständigen so hoch – fast ein Drittel der polnischen Migranten arbeitet auf eigene Rechnung, und in den letzten Jahren sind
in Großbritannien fast 40.000 polnische Firmen entstanden. Ob
es um den Bauunternehmer geht, der mit seinem eigenen Werkzeug seine Arbeit anbietet, oder um eingespielte Teams mehrerer
Arbeiter – übereinstimmend loben die polnischen Migranten die
Unkompliziertheit von Existenzgründungen, die Einfachheit, die
fehlende Bürokratie und zugleich das Wohlwollen, das dem Steuerzahler von Seiten des Staates entgegengebracht wird. »Hier erlaubt man den Leuten, sich zu entwickeln. In Polen muss man einfach Beziehungen haben, muss sich alles zurechtbiegen …« – Diese verbreitet
von mir gehörte Behauptung sagt in Wirklichkeit mehr über die
Bedingungen aus, die die Leute aus ihrer Vergangenheit kennen,
als über die in Großbritannien. Deshalb setzt die überwiegende
Mehrheit der polnischen Migranten räumliche Mobilität mit sozialer Mobilität gleich. Aus-reisen heißt, auf der Leiter nach oben
klettern. Schneller oder langsamer, aber jedenfalls nach oben,
während man in Polen eher nach unten abrutschte. Diese Sicht
beruht auf einem stark negativen und antiinstitutionellen Verhältnis zum Staat – nach Meinung dieser Menschen besteht Polen
vor allem aus einer Verwaltung, die die Entwicklung des Unternehmergeistes behindert, aus Korruption und Seilschaften,
daher ist die einzige Möglichkeit vorwärtszukommen die physische Loslösung von diesem Land. Diese Frage berührt ein wesentliches Merkmal der Narration der polnischen Migranten, das in
starkem Widerspruch zu den Erkenntnissen von Ökonomen oder
Arbeitsmarktforschern steht. Aus den Daten geht hervor, dass die
Polen generell die am geringsten verdienende Gruppe von Ausländern sind und dass sie gleichzeitig am meisten arbeiten.
© Michal P. Garapich, in: Jahrbuch Polen 2010 Migration, S. 70
© Thomas Kielinger: Polen retten den Londoner Arbeitsmarkt, Weltonline, 16.1.2008
46
In which country/countries did you ork or in which countries do you work currently?
48
44
IX–XI 2007
X 2008
X 2009
%
18
15 16
4
8 7 8
2 2
2 2 2
1 2 2
2 1 2
0 0 1
1 1 0
1 1 0
0 1 0
1 0 0
Other
2 3 2
Canada
3
Slovakia
7
3
Hungary
4 3 5
Finland
5
Portugal
3
Denmark
5
Switzerland
6
1
Greece
the United States
France
the Netherlands
Italy
Great Britain
Germany
3
Belgium
6 6 6
0
the Czech Republic
8
5
Norway
8 7 8
Austria
8
Ireland
10
Spain
8
The responses of people declaring that they currently work abroad or used to work abroad in the last 10 years.
M 9 »In welchem Land arbeiteten Sie in den letzten 10 Jahren« (Demoskopische Befragung in Polen, November 2009)
© CBOS, Polish Public Opinion November 2009
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M 11
Warum die polnischen Migranten in Deutschland
»unsichtbar« sind
»Diese Bereitschaft«, so Pallaske, »ist keine Auseinandersetzung nur um
polnische Identität hier, deutsche Identität dort, Anpassung wird vor
allem bestimmt durch den Wunsch, sich in fremder Umgebung zurechtzufinden, durch schulische oder berufliche Aufstiegsstrategien, durch Absicherung der aufenthaltsrechtlichen und sozialen Existenz oder durch das
Bedürfnis, soziale Kontakte in seiner neuen Umgebung zu entwickeln. […]
Wenn die Mehrheit der Migranten aus Polen offenbar einen hohen Grad
an Anpassungsbereitschaft zeigt und relativ selten dafür einsteht, ihre
polnische Identität zu ›verteidigen‹, liegt dies vor allem an der nach-vollziehbaren pragmatischen Anpassung an ihre neue Lebenswelt.«
Diese Anpassungsstrategie, die besonders spürbar ist in einer
Gesellschaft wie der deutschen, die mehrheitlich keine positive
Einstellung zu den polnischen Migranten hat, muss Pallaske zufolge nicht automatisch gleichbedeutend sein mit Assimilation an
die deutsche Kultur und dem völligen Verzicht auf die polnische
kulturelle Identität. Sie kann ganz im Gegenteil bedeuten, dass
man die Spielregeln der offenen und pluralistischen Gesellschaft
kennt, in der jedem Einzelnen das Recht zusteht, sich auf seine
Herkunft und auf die eigene Identität zu berufen, egal, ob diese
auf der nationalen Identität oder auf einer x-beliebigen anderen
Identität aufbaut.
© Basil Kerski, in: Jahrbuch Polen 2010 Migration, S. 20f.
M 12
»Osteuropa-Beschäftigte. Koalition ist uneins«
Der grenzenlose Arbeitsmarkt in Europa bringt Zündstoff in die
schwarz-gelbe Koalition. Nach mehrmonatiger Debatte ist weiter
unklar, wie die Politik auf die Freizügigkeit von Arbeitnehmern im
EU-Raum reagiert. Vom 1. Mai 2011 an können die Beschäftigten
aus acht mittel- und osteuropäischen Ländern ohne Beschränkungen in Deutschland arbeiten. Deutschland hatte den freien
Zugang für Arbeitnehmer aus den EU-Beitrittsstaaten immer wieder verschoben. Die Beschränkungen dürfen nicht mehr verlängert werden. In der Union werden Stimmen laut, die vor einem
Lohndumping in bestimmten Branchen warnen. »Wenn wir nicht
für Verwerfungen sorgen wollen, müssen wir einen Mindestlohn
für die Zeitarbeit schaffen«, sagt Peter Weiß, der Vorsitzende der
CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe im Bundestag. Die Liberalen lehnen Mindestlöhne ab, wollen aber die Bedingungen für Leiharbeiter verbessern.
Der CDU-Parlamentarier Weiß erwartet nach dem 1. Mai 2011
zwar keinen Migrationsboom, aber er informierte sich auf einer
Polenreise bei Gewerkschaften, Arbeitgebern und Politikern in
Warschau über deren Erfahrungen. »Die Zuwanderung wird so
stark sein, dass punktuelle Auswirkungen zu spüren sein werden«, sagte Weiß. Es sei damit zu rechnen, dass sich die Zahl der
200.000 in Deutschland lebenden Polen verdoppele. Allerdings
dürften es sich nach Meinung von Experten häufig um einen rechnerischen Zuwachs handeln, da bereits hier lebende Osteuropäer
ihr Arbeitsverhältnis legalisierten. (…)
© Roland Pichler, »Koalition ist uneins«, Stuttgarter Zeitung, 3.9.2010
Is ther anyone in your household who works abroad?
yes
no
IX–XI 2007
7%
93 %
X 2008
7%
93 %
X 2009
10 %
90 %
M 13 »Arbeitet jemand in Ihrem Haushalt im Ausland?«
© CBOS, Polish Public
Opinion 11/2009
M 14
Anna Kicinger: »Einwanderer in einem Auswanderungsland«
Nach den Massenumsiedlungen der Nachkriegszeit entwickelte
sich Polen unter kommunistischer Herrschaft zu einem Land, in
dem die Auswanderung von oben her beschränkt wurde und eine
Einwanderung praktisch nicht stattfand. (…) In den 1960er-,
1970er- und 1980er-Jahren waren durchschnittlich 1.900 Ausländer mit ständigem Aufenthalt in Polen gemeldet. Bei einem so
geringen Zustrom, der zum großen Teil (genaue Zahlen liegen
nicht vor) aus heimkehrenden Polen bestand, war ein Ausländer
in der Volksrepublik Polen eine außergewöhnliche und exotische
Erscheinung. (…) Eine erste wichtige Weichenstellung, die sich als
schwerwiegend für die Entwicklung der Zuwanderung nach Polen
erwies, war die Entscheidung der polnischen Regierung, den visumsfreien Verkehr mit Angehörigen der Nachfolgestaaten der
UdSSR beizubehalten. Ukrainer, Belarussen und Russen kamen,
als die Ausreisebeschränkungen für sie entfielen, massenweise
nach Polen und entwickelten dort vor allem einen grenznahen
Handel in großem Stil. Unter ihnen waren und bleiben die Ukrainer die größte Gruppe. Die polnische Ostgrenze belebte sich und
die Basare und Märkte in den Grenzstädtchen füllten sich mit
Händlern aus dem Osten. (…) Das beschleunigte Wachstum der
polnischen Wirtschaft nach dem EU-Beitritt, die sinkende Arbeitslosigkeit und die erhöhte Auswanderung führten nach dem
Beitritt dazu, dass die Arbeitgeber Druck auf die Regierung ausübten, die Beschäftigung von Arbeitnehmern aus dem Ausland zu
erleichtern. (…) Ein weiterer Faktor, der die Regelung der Arbeitsmigration in Polen unabdingbar machte, war der bevorstehende
Beitritt Polens zum Schengener Abkommen. Die Kriterien für die
Erteilung eines Schengen-Visums sowie sein Preis würden zweifellos den Verkehr an der polnischen Ostgrenze bremsen und sich
so negativ auf die Wirtschaftszweige auswirken, die Migranten
aus dem Osten beschäftigten.
Daher wurde 2006 die Möglichkeit der Saisonarbeit (bis zu drei
Monate im Jahr) in der Landwirtschaft für Bürger aus den östlichen Nachbarstaaten eingeführt. Dies war eine Revolution im
polnischen Migrationssystem, weil hier zum ersten Mal ein offizieller Weg der legalen Arbeitsmigration entstand, der nicht vom
restriktiven Verfahren der Arbeitsbewilligung beschränkt wurde.
(…) Ist Polen nach 1989 zu einem Einwanderungsland nach dem
Vorbild der Staaten West- und Südeuropas geworden? Eindeutig
nein. Die nach wie vor hohe Emigration und die – im Vergleich zu
anderen europäischen Staaten – verschwindend geringe Einwanderung stützen die Behauptung, dass Polen trotz des Ausländerzustroms der letzten 20 Jahre kein Einwanderungsland geworden
ist. Die Einwanderung in Polen ist im Gegensatz zu den Staaten
Westeuropas nach wie vor kein Thema in der öffentlichen Debatte.
79
© Anna Kicinger: »Einwanderer in einem Auswanderungsland«, in: Jahrbuch Polen 2010 Migration, S. 102–113
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III. PLANSPIEL ZUR MIGRATION IN EUROPA
11. »Mobil in Europa?« – ein Planspiel zur
Migration im EU-Binnenmarkt
HOLGER-MICHAEL ARNDT | MARKUS W. BEHNE | GOCE PEROSKI
E
uropa wächst zusammen. Seit vielen
Jahren ist es für die Menschen in der
Europäischen Union selbstverständlich,
ohne Beschränkungen zu reisen – in den
meisten Fällen sogar ohne noch einen Ausweis an einer Grenze vorzeigen zu müssen.
Die Möglichkeit wird dabei nicht nur von
Menschen in ihrer Freizeit wahrgenommen,
wenn es gilt, den Urlaub zu planen und zu
verbringen. Immer mehr Menschen nutzen
diese Freiheit auch, um in einem anderen
Mitgliedstaat der Europäischen Union zu
arbeiten, Arbeit zu suchen und vielleicht
auch dauerhaft zu leben. Mobilität wird so
zu transnationaler Migration. Dieses Recht
einzuschränken kann bis zu einer Klage der
»Europäischen Kommission« vor dem »Europäischen Gerichtshof« führen, wie der
Fall der Abschiebung von Roma aus Frankreich im Sommer 2010 zeigt. Ein Planspiel
zur Migration im EU-Binnenmarkt kann
hier Einsichten und Erfahrungen aus ganz
unterschiedlichen Perspektiven vermitteln.
Abb. 1 »Planspiel »Mobil in Europa«, Eröffnungsrede des Kommissionspräsidenten, Haus auf der Alb,
Tagungszentrum der LpB Baden-Württemberg, Bad Urach
© Jürgen Kalb, 2010
80
»Szenario des Planspiels«
Seit vielen Jahren ist es für die Menschen in der Europäischen
Union selbstverständlich, ohne Beschränkungen zu reisen – in
den meisten Fällen sogar ohne einen Ausweis an einer Grenze
vorzeigen zu müssen. Die Möglichkeit wird allerdings nicht nur
von Menschen in ihrer Freizeit wahrgenommen, wenn es gilt, den
Urlaub zu planen und zu verbringen. Immer mehr nutzen diese
Freiheit auch, um in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu arbeiten und vielleicht auch dauerhaft zu leben.
Die Europäische Union (EU) besteht in ihrem wirtschaftlichen
Kern aus dem europäischen Binnenmarkt. Daran beteiligt sind
alle 27 Mitgliedstaaten der EU sowie die Mitglieder des »Europäischen Wirtschaftsraums«: Island, Lichtenstein und Norwegen
und darüber hinaus auch die Schweiz und Grönland.
Im europäischen Binnenmarkt gelten grundsätzlich die sogenannten »vier Grundfreiheiten«:
(1)
(2)
(3)
(4)
Feier Verkehr für Waren,
freier Verkehr für Personen,
freier Verkehr für Dienstleistungen und
freier Verkehr für Kapital.
Der europäische Integrationsprozess fördert mit seinen Maßnahmen gezielt die Mobilität innerhalb der Europäischen Union. Dies
bedeutet auf der Grundlage der Europäischen Verträge ganz konkret: Die Menschen in der Europäischen Union dürfen überall in
diesem Raum über Grenzen hinweg Waren ein- und ausführen,
Dienstleistungsservice anbieten und nachfragen, Geld genauso
wie Versicherungen, Anlagen und dergleichen bewegen und
überall als Unternehmerin und Unternehmer tätig werden oder
als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer arbeiten und Arbeit suchen.
Für Arbeitskräfte ist dies im »Vertrag über die Arbeitsweise der
EU« (AEUV, Art 45) als Teil des »Vertrags von Lissabon« (| M 1 |) formuliert. In der Realität stehen aber gerade der Personenverkehrsfreiheit auf der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer viele Hindernisse im Weg. So ist bis heute trotz vieler
Vereinheitlichungen der Vorschriften in der Europäischen Union
der soziale Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU sehr unterschiedlich
geregelt. Für die Menschen, die sich als Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern zwischen den Mitgliedstaaten der EU und des
EWR bewegen, bringen die unterschiedlichen und zum Teil unvollständigen Regelungen nicht nur Unklarheiten und Unsicherheiten. Dieses gilt ganz besonders für Fragen der sozialen Absicherung. Oftmals können hier sogar Einbußen bei finanziellen
Leistungen oder aber im Versicherungsschutz drohen. Es ist dabei
nicht nur wichtig, für die Zukunft rechtliche Möglichkeiten zu
schaffen, es ist ebenso wichtig, die sozialrechtlichen Ansprüche
abzusichern, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben.
Um trotz der unterschiedlichen Regeln eine möglichst große
Mobilität auf dem Binnenmarkt zu ermöglichen, macht die »Europäische Kommission« hier deshalb Vorschläge für eine »Verbesserung der sozialen Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Binnenmarkt der Europäischen Union«, die sogenannten
»Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern«.
Im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU
(»Art. 294 AEUV«) sollen nunmehr unter Beteiligung des »Europäischen Parlaments« und des »Europäischen Rats« der Europäischen Union gemeinsame Regeln für den sozialen Mindestschutz
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die die Grundfreiheiten für sich nutzen wollen, aufgestellt werden.
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Materialien
M 1 Rechtliche Grundlagen: »Charta der
Grundrechte der EU«, Artikel 15
»Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten: (1)
Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen
frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. (2) Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen
oder Dienstleistungen zu erbringen. (3) Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen.«
Abb. 2
Coaching durch den Planspielleiter Holger-Michael Arndt (links)
M 2 »Vertrag über die Arbeitsweise der
EU (AEUV)«, Artikel 45: Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungsund Kapitalverkehr/Die Arbeitskräfte.
1) Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. (2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit
beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige
Arbeitsbedingungen. (3) Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht, a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben; b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen; c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden
Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission
durch Verordnungen festlegt. (4) Dieser Artikel findet keine Anwendung
auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.«
M 3 »Verlauf des »Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens«
(1) Entstehung eines Vorschlags: Die Europäische Kommission
erarbeitet grundsätzlich einen Vorschlag für den zu beschließenden Rechtsakt (Gesetz), mit dem für die EU ein Sachverhalt neu
bzw. anders geregelt werden soll (»Initiativrecht«). Dies geschieht
in der jeweils zuständigen Abteilung der »Europäischen Kommission« (der sog. Generaldirektion), wobei häufig auch Sachverständige von außen beratend mitarbeiten. Die Europäische Kommission ist bei der Ausarbeitung aber nicht an die Ergebnisse der
Beratungen mit den Sachverständigen gebunden. Der von der jeweiligen Generaldirektion ausgearbeitete Entwurf wird von allen
27 Kommissionsmitgliedern erörtert und schließlich mit einfacher Mehrheit (50 % plus 1 der anwesenden Mitglieder) beschlossen. Als »Vorschlag der Kommission« wird er zeitgleich dem »Rat«
und dem »Europäischen Parlament« (EP) sowie dem anzuhörenden »Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss« (WSA) und
bzw. dem »Ausschuss der Regionen« (AdR) zusammen mit einer
ausführlichen Begründung übermittelt.
(2) Erste Lesung im EP und im Rat: Die Präsidentin oder der Präsident des Europäischen Parlaments weisen den Vorschlag einem
Ausschuss des EP zur Bearbeitung zu. Das Ergebnis der Beratungen wird vom gesamten Plenum des EP beraten und anschließend
in einer Stellungnahme formuliert. Das EP kann dem Vorschlag
zustimmen, ihn ablehnen, die einen oder anderen Vorschläge zur
Änderung unterbreiten. Dann übermittelt das EP seinen Standpunkt dem Rat. Der Rat kann nun ebenfalls in erster Lesung folgendermaßen vorgehen: Er kann den Standpunkt des EP billigen,
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© Jürgen Kalb
so ist der Vorschlag in der Fassung des EP erlassen. Das Gesetzgebungsverfahren wäre damit beendet. Billigt der Rat aber den
Standpunkt des EP nicht, so legt er nun seinen Standpunkt in erster Lesung fest und sendet diesen wiederum an das EP. Der Rat
teilt dabei dem EP die Gründe mit, weshalb dieser sich für einen
anderen Standpunkt entschieden hat.
(3) Zweite Lesung im EP und im Rat: Das EP hat in der anstehenden zweiten Lesung binnen der nächsten drei Monate nach der
Übermittlung des Standpunktes des Rates drei Möglichkeiten
zum Tätigwerden: (a) Das EP kann den übermittelten Standpunkt
des Rates billigen oder sich gar nicht äußern: Der betreffende
Rechtsakt gilt dann als in der Fassung des Standpunkts des Rates
als erlassen; (b) Das EP kann den übermittelten Standpunkt des
Rates mit der Mehrheit seiner Mitglieder (absolute Mehrheit, derzeit 369 Mitglieder des EP notwendig) ablehnen: Der betreffende
Rechtsakt ist nicht erlassen und das Gesetzgebungsverfahren ist
beendet. © Das EP ändert mit der Mehrheit seiner Mitglieder wiederum den Standpunkt des Rates: Dann wird die geänderte Fassung an den Rat und die Europäische Kommission geleitet; die
Kommission gibt eine Stellungnahme zu dieser Abänderung ab.
Der Rat berät über den seitens des EP abgeänderten Standpunkt
und hat binnen drei Monaten nach Eingang der Abänderungen
des EP zwei Handlungsmöglichkeiten: Der Rat kann alle Änderungen des EP annehmen: Dann gilt der betreffende Rechtsakt als
erlassen. Es genügt dann die qualifizierte Mehrheit im Rat, wenn
auch die Kommission mit den Abänderungen des EP einverstanden ist. Sollte dies nicht der Fall, kann der Rat nur mit Einstimmigkeit die Europäische Kommission überstimmen und die Abänderungen des EP billigen. Der Rat billigt nicht alle Abänderungen
des EP oder erreicht nicht die dafür erforderliche Mehrheit (Qualifizierte Mehrheit): Es kommt – eventuell – zum Vermittlungsverfahren.
(5) Dritte Lesung im EP und im Rat: Billigt der Vermittlungsausschuss einen gemeinsamen Entwurf, so verfügen das EP und der
Rat ab dieser Billigung wiederum über eine Frist von sechs
Wochen, um den Rechtsakt entsprechend diesem Entwurf zu erlassen, wobei im EP die Mehrheit der abgegebenen Stimmen
(50 plus 1) und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist.
Andernfalls gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen
und das Gesetzgebungsverfahren ist beendet.
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HOLGER-MICHAEL ARNDT | MARKUS W. BEHNE | GOCE PEROSKI
Abb. 3 Interne Aushandlungsprozesse in den supranationalen Fraktionen des
Europäischen Parlaments
© Jürgen Kalb
M 4 Eröffnungsrede der »EU-Kommissarin/des EU-Kommissars für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit
vor dem EP« (fiktiv)
82
»Verehrte Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedstaaten, geschätzte Mitglieder des Europäischen Parlaments. Das Europäische Projekt hat dank seines Binnenmarkts in den vergangenen
Jahrzehnten viele Vorteile und Annehmlichkeiten für die Konsumentinnen und Konsumenten sowie die Produzentinnen und Produzenten in Europa mit sich gebracht. Dies gelang schon früh
insbesondere mit der Umsetzung der Freiheit des Warenverkehrs
und später mit den Freiheiten des Kapitalverkehrs, der Dienstleistungen und des Niederlassungsrechts. Um nun aber alle Vorzüge des Binnenmarkts zu verwirklichen, müssen wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Europäischen Union dazu
befähigen, ihre Mobilität auf dem europäischen Binnenmarkt voll
M 5 Das Gesetzgebungsverfahren in der EU: »Das Mitentscheidungsverfahren«
auszuschöpfen. Dieses kann aber nur dann gelingen, wenn ein
ausreichender sozialer Schutz, so wie ihn die meisten Mitgliedstaaten der Union ihren Bürgerinnen und Bürgern bieten, auch
auf europäischer Ebene erlangt wird.
Sowohl von den Regierungen der Mitgliedstaaten als auch aus
dem Europäischen Parlament erging daher die Aufforderung an
die Europäische Kommission, Vorschläge zu unterbreiten, um gezielte Migration, also die Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten
zu einem Gewinn für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
insgesamt werden zu lassen und unsere Gesellschaften in der Europäischen Union weiter zu entwickeln. Die Chance, von den Erfahrungen der Traditionen anderer zu profitieren, neue Ideen für
Wege zur Lösungen von Herausforderungen zu sammeln oder
z. B. ganz persönliche seine Fremdsprachenkompetenz zu erweitern, wird in der Europäischen Union nur wenig wahrgenommen.
Bislang leben nur etwa 2% der Bürgerinnen und Bürger dauerhaft
in einem anderen EU-Land als ihrem Herkunftsland – dies ist ein
Prozentsatz, der sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert
hat. Um einen beruflichen Wechsel in ein anderes Mitgliedsland
der Europäischen Union zu ermöglichen, benötigen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Mut, aber auch Unterstützung
zur Flexibilität sowie die Gewissheit um einen einheitlichen Standard der sozialen Sicherungssysteme in der Europäischen Union.
Eine kürzlich durchgeführte Eurobarometer-Studie ergab, dass
die Befragten weitgehend der Meinung waren, ihre Karrierechancen könnten durch Mobilität verbessert werden. Dem ist tatsächlich so. Bei derselben Studie wurde festgestellt, dass 59 % der
Menschen, die sich außerhalb ihrer Heimatregion auf Stellensuche begaben, innerhalb eines Jahres Arbeit fanden, während diejenigen, die an Ort und Stelle verblieben, nur zu 35 % Erfolg hatten. Die Europäische Union strebt daher mehr »Wachstum und
Beschäftigung« zum Wohle aller an. Daher ist es besonders wichtig, Arbeitskräfte gerade beim freiwilligen Wechsel in andere Länder oder Berufssparten aktiv zu unterstützen. Die Europäische
Kommission schlägt daher vor, in fünf ausgewählten Bereichen,
die für die Mobilität europäischen Arbeitskräfte von besonderer
Bedeutung sind, eine Vereinheitlichung zu erzielen, um so das
System der sozialen Sicherung für diejenigen zu stärken, die berufliche Chancen des Binnenmarktes der Europäischen Union
zum Wohle aller nutzen wollen. Mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission sollen Fortschritte im Bereich (1) der Krankenversicherung, (2) der Renten, (3) den
Folgen von Arbeitslosigkeit und
(4) Berufsunfähigkeit sowie (5) der
Leistungen im Falle von Mutterschaft/Vaterschaft erzielt werden. Ich
bitte Sie daher, die Mitglieder des
Rats und die Abgeordneten im Europäischen Parlament, beraten Sie die
Vorschläge der Europäischen Kommission kritisch sowie Ziel führend
und beschließen Sie zukunftsfähige
Konzepte für eine innereuropäische
Binnenmigration, die allen Menschen
in ihren Mobilitätswünschen unterstützt und die Gesellschaften in unserem gemeinsamen Haus Europa
voran bringt. Ich bedanke mich für
Ihre Aufmerksamkeit und wünsche
Ihnen konstruktive Gespräche und
viel Glück.«
© Bergmoser + Höller Verlag
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M 6 Vorschlag der Europäischen
Kommission für eine Verordnung
(Gesetz) zur besseren Koordinierung
der Sozialsysteme (fiktiv)
»Die Rechtsetzung der Europäischen Union
über soziale Sicherheit ist eine wesentliche
Voraussetzung für die tatsächliche Ausübung
des im EU-Vertrags verankerten Rechts auf
Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten.
RECHTSGRUNDLAGE UND VERFAHREN: Die
Kommission stützt sich bei Ihrem Vorschlag
auf Art 45 AEUV zur Verbesserung der Rechte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in der Europäischen Union.
ZIEL: Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit soll die Freizügigkeit der
Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen
Abb. 4 Stellungnahmen der Fraktionen des Europäischen Parlaments
© Jürgen Kalb
Union (EU) erleichtern. Diese Koordinierung
basiert insbesondere auf der Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen der Sozialsicherungssysteme.
kein Anspruch auf diese Sachleistungen besteht, sofern nach den
Vor diesem Hintergrund verbessert und ergänzt diese VerordRechtsvorschriften des Rente zahlenden Mitgliedstaat (der auch
nung die bestehende Verordnung Nr. 1408 aus dem Jahr 1971.
eine Rente auszahlt) ein Anspruch auf eben diese Sachleistungen
ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN: Gemäß der Verordnung haben
besteht.
alle Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, die
2. Renten: Jeder Mitgliedstaat, in dem eine Person versichert war,
gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften
zahlt dieser bei Erreichen der Altersgrenze eine Altersrente aus.
eines Mitgliedstaats, wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Die Renten werden ohne Abzüge addiert.
Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird durch die neue Verord3. Arbeitslosigkeit: Bei einer Arbeitssuche in einem anderen Mitnung ausgedehnt.
gliedstaat gilt, dass eine arbeitslose Person, die sich in einen anGELTUNGSBEREICH: Die Verordnung gilt für alle Staatsangehörideren Mitgliedstaat begibt, um dort eine Beschäftigung zu sugen eines Mitgliedstaats, ebenso für alle Bürgerinnen und Bürger
chen, ihren Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit durch
des Europäischen Wirtschaftsraumes inkl. Grönland und alle
den Wohnsitzstaat während der letzten drei Monate behält.
Drittstaatenangehörige (Staatenlose, Flüchtlinge etc.), die sich
4. Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten: Eine
legal in der Europäischen Union aufhalten sowie für ihre FamiliPerson, die einen Arbeitsunfall erlitten oder sich eine Berufsenangehörigen. Demnach sind nicht nur Arbeitnehmer/-innen,
krankheit zugezogen hat und in einem anderen als dem zuständiSelbstständige, Beamte, Studierende und Rentner/-innen, songen Mitgliedstaat wohnt oder sich dort aufhält, hat Anspruch auf
dern auch Nichterwerbstätige betroffen.
die besonderen Sachleistungen bei Arbeitsunfällen und BerufsDie Systeme der sozialen Sicherheit sind das Ergebnis lange zukrankheiten. Diese werden vom Träger des Wohn- oder Aufentrückreichender Traditionen in den Mitgliedstaaten der Europäihaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erbracht,
schen Union. Daher bleibt es im Rahmen der Koordinierung weials ob die betreffende Person nach diesen Rechtsvorschriften
terhin Sache eines jeden Mitgliedstaats zu entscheiden, welche
versichert wäre.
Leistungen er seinen Bürgerinnen und Bürgern unter welchen Vo5. Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft:
raussetzungen anbieten möchte. Bestimmte gemeinsame Vor(a) Eine Person (und ihre Familie), die in einem Mitgliedstaat verschriften und Grundsätze sind aber nötig, damit die Personen,
sichert ist und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, hat Andie ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, durch die Anwendung der
spruch auf Sachleistungen vom Träger des Wohnorts.
verschiedenen Systeme der Mitgliedstaaten nicht benachteiligt
(b) Versicherte, die sich in einem anderen als dem zuständigen
werden.
Mitgliedstaat aufhalten, haben Anspruch auf die SachleistunINHALT: Die Verordnung erweitert für fünf klassische Zweige der
gen, die sich während ihres Aufenthalts als medizinisch notsozialen Sicherheit ihren Geltungsbereich: (1) Die Krankenversiwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die vorcherungen für Rentnerinnen und Rentner und deren Familienanaussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind.
gehörige, (2) die Renten, (3) die Folgen von Arbeitslosigkeit und
Diese Leistungen werden vom Aufenthaltsmitgliedstaat ge(4) Berufsunfähigkeit sowie (5) die Leistungen im Falle von Mutwährt. Geldleistungen dagegen werden von dem Versicheterschaft/Vaterschaft. Die Verordnung erkennt den Grundsatz der
rungsmitgliedstaat gezahlt.
»Addierung der Zeiten« an, d. h. die nach den Rechtsvorschriften
INSTRUMENTE ZUR KOORDINIERUNG DER SOZIALEN SICHEReines Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten, BeHEIT: Die neue Verordnung verstärkt den Grundsatz der »guten
schäftigungs- und Wohnzeiten werden in allen anderen MitgliedVerwaltungspraxis« zwischen den Mitgliedstaaten der Europäistaaten berücksichtigt. Demnach muss ein Mitgliedstaat Versischen Union. Demgemäß beantworten die mitgliedstaatlichen
cherungs- und Beschäftigungszeiten, Zeiten selbstständiger
Trägerinnen und Träger der sozialen Sicherheit alle Anfragen binTätigkeit und Wohnzeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat zunen einer angemessenen Frist und übermitteln den betroffenen
rückgelegt wurden, für einen Leistungsanspruchs heranziehen,
Personen alle erforderlichen Angaben, damit diese die ihnen
d. h:
durch die Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können. Die
1. Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner und
neue Verordnung bestimmt daher die Einrichtung einer Verwalderen Familienangehörige: Die Kosten für Sachleistungen im
tungskommission, die alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen
Rahmen der Krankenversicherung für Rentnerinnen und Rentner
behandelt, die sich aus dieser Verordnung ergeben. Der Verwalsowie deren Familienangehöriger, die ihren Wohnsitz außerhalb
tungskommission gehören je ein Vertreter der Regierung jedes
ihres Herkunftsstaats in einem anderen Mitgliedstaat der EuroMitgliedstaats sowie mit beratender Stimme der Europäischen
päischen Union inne haben, werden durch den Wohnsitzstaat
Kommission an. Diese Zusammensetzung soll die Zusammenarübernommen. Der Anspruch auf Sachleistungen bleibt auch dann
beit und Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten und der
bestehen, wenn nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats
Kommission fördern.«
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»Mobil in Europa?« – ein Pl anspiel zur Migr ation im EU -Binnenmark t
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HOLGER-MICHAEL ARNDT | MARKUS W. BEHNE | GOCE PEROSKI
(2) EU-Kommissarin/EU-Kommissar für Beschäftigung,
Soziales und Chancengleichheit
Abb. 5 Pressevertreter stellen kritische Fragen an die Mandatsträger der EU
© Jürgen Kalb
M 7 Ausgewählte Rollenprofile (Auszüge)
(1) Sozialministerin aus Dänemark (»Europäischer Rat«)
84
Hintergrund: Dänische Regierungen sind seit vielen Jahren Befürworterinnen des europäischen Einigungsprozesses und dem
damit verbundenen Ausbau des Binnenmarkts. Allerdings wird
in Dänemark nicht das Ziel verfolgt, dass die EU selbst ein soziales Sicherungssystem aufbaut. Es geht aus der Sicht Dänemarks lediglich um eine effiziente Nutzung der vorhandenen
mitgliedstaatlichen Systeme für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Traditionell hat Dänemark, so wie die anderen
skandinavischen Staaten auch, ein ausgeprägtes Sozial- und
Gesundheitssystem, das ausschließlich durch Steuereinnahmen finanziert wird. Ein Rentenanspruch gründet sich in Dänemark allein auf Wohnzeiten von mindestens drei Jahren im
Land, die zwischen dem 15. und dem 65. Lebensjahr nachgewiesen wurden. Diese Regelung gilt für Dänen und die Bürgerinnen und Bürger der EU sowie des EWR. Nichterwerbstätige,
also z. B. Angehörige, müssen dagegen Wohnzeiten von insgesamt zehn Jahren in Dänemark nachweisen, von denen mindestens fünf unmittelbar vor der Stellung des Rentenantrags
liegen müssen. Außerdem wird die Rente für diese Personengruppe wiederum nicht in einen anderen Staat der EU oder des
EWR ausgezahlt.
Ihre Rolle: Sie gehen davon aus, dass die dänische Wirtschaft
auch in Zukunft Arbeitskräfte aus anderen Staaten Europas
brauchen wird. Deshalb ist für Sie die Frage wichtig, ob das
steuerfinanzierte Sozialsystem Dänemarks in Zukunft zusätzliche Lasten tragen muss. Eine Senkung der Zahlungen aus dem
Sozialsystem lehnen Sie ab, da dies Ihren eigenen Prinzipen widerspricht und den Interessen Ihrer dänischen Wählerinnen
und Wähler. Einerseits treten Sie einem Absenken des Sozialniveaus auf europäischer Ebene entschieden entgegen. Gleichwohl vertreten Sie die Ansicht, dass Menschen, die zu Ihnen
nach Dänemark kommen, nicht auf ihre Arbeitsleistung in anderen Staaten der Europäischen Union pochen können, um
einen direkten Anspruch auf Rentenzahlungen in Dänemark
durchzusetzen. Sie bestehen daher auf einer Regelung, die es
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Angehörigen
abverlangt, für den Anspruch auf eine Rentenzahlung in Dänemark eine Mindestzahl von Arbeitsjahren auch in Dänemark
verbracht haben zu müssen. (…)
Taktik: Suchen Sie für Ihre Position Verbündete sowohl unter den
anderen Mitgliedern des Rats als auch im Parlament. Denken Sie
auch daran, über die Presse Stimmung für Ihre Position zu machen und die Kommission von Ihrer Meinung zu überzeugen.
Hintergrund: Die Kommission will den Binnenmarkt nicht nur
erfolgreicher machen, sondern auch zu einem Projekt für die
Bürgerinnen und Bürger. Europa soll für die Menschen ein
Raum zum freien Warenaustausch und Kapitalverkehr sein. Die
Menschen sollen auch als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa mobil sein, Arbeit suchen und aufnehmen können. Diese Form von Migration wird ausdrücklich gewollt. Um
den Menschen ausreichend Sicherheit in ihrem neuen Wohnort
bieten zu können, sollen die sozialen Sicherungssysteme der
einzelnen Mitgliedstaaten auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten geöffnet werden. Grundsätzlich ist die Kommission davon überzeugt, es solle für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Europa unterwegs sind, eine eigene Sozialversicherung aufgebaut werden.
Da dies aber nicht gegen die Interessen der Mitgliedstaaten
durchzusetzen ist, strebt die EU-Kommission eine möglichst
nachhaltige Nutzung der nationalen Systeme an.
Ihre Rolle: Sie tragen den Entwurf der Kommission vor. Sie sind
davon überzeugt, dass bereits dieser Vorschlag die besten Formulierungen enthält. Sie wissen, dass die »linken und progressiven« Gruppen im Rat und im Parlament gerne mehr Sicherung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreichen
wollen und dass die liberalen und konservativen Gruppen dagegen weniger Kosten für die einzelnen Mitgliedstaaten sinnvoll finden. Nationale und EU-kritische Gruppen wollen keine
Form von Migration fördern.
Taktik: Sie zeigen sich offen für die Interessen der unterschiedlichen Mitglieder des Rates und des Parlaments und notieren
sich diese. Sie versuchen zum Ende der einzelnen Sitzungen
klar zu machen, dass Ihr Vorschlag der ideale Mittelweg ist. Als
Druckmittel können Sie im Rat darauf hinweisen, dass eine negative Stellungnahme von Ihrer Seite die Einstimmigkeit im
Gremium gefährdet. Dies würde dazu führen, dass einzelne Positionen nicht durchsetzungsfähig wären. Die Presse ist aus
Ihrer Sicht eine natürliche Partnerin für Ihre bürgerfreundliche
Politik. Sie sprechen daher gerne und oft mit Vertretern und
Vertreterinnen der Presse. Eine Einigung zwischen Parlament
und Rat stehen Sie letztlich nicht im Weg, da Ihnen bewusst ist,
dass die beiden Organe sehr unterschiedliche Interessen vertreten und Europa nur gelingen kann, wenn die Interessen ausgeglichen werden.
(3) Vertreterin/Vertreter der Presse
Hintergrund: Die Presse in Europa ist frei. Dies bedeutet, dass
die Vertreterinnen und Vertreter der Presse nicht dazu da sind,
die Meinungen einzelner Akteure und Akteurinnen der Politik
zu verbreiten. Die Presse ist allerdings davon abhängig, weitere
Leserinnen und Leser oder Zuschauerinnen und Zuschauer zu
finden. Damit stehen die einzelnen Presseorgane in einem direkten Wettbewerb zu anderen Medien.
Ihre Rolle: Sie sind daran interessiert, die Meinungen der Mitglieder des Parlaments, des Rats und der Kommission kennen
zu lernen und so – zugespitzt – darüber zu berichten, dass dies
Ihre Leserinnen und Leser direkt interessiert. Seien Sie sich bewusst, dass Sie mit Ihrer Berichterstattung, Ihren Fragen und
Kommentaren oder durch Ihre bloße Präsenz die politischen
Akteure und Entscheidungen beeinflussen können. Als erfahrene Journalisten bieten sich Ihnen verschiedene Möglichkeiten, Informationen zu sammeln und zu verbreiten. Dabei können Sie sich auch auf Formen des Boulevardjournalismus, vor
allem aber auf die des seriösen Qualitäts-Journalismus spezialisieren.
»Mobil in Europa?« – ein Pl anspiel zur Migr ation im EU -Binnenmark t
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Taktik: Sie sollten die Akteure (Mitglieder des Europäischen
Parlaments, Minister des Rats, Mitglieder der Europäischen
Kommission) interviewen, an Pressekonferenzen, die von den
Akteuren angeboten werden, teilnehmen und Berichte erstellen, Hintergrundinformationen präsentieren und Fragen stellen, die für die europäische Öffentlichkeit von Interesse sind,
an öffentlichen Sitzungen der verschiedenen Gremien teilnehmen; über die Verhandlungen berichten und Ihre Beiträge in
einer ständig aktualisierten Wandzeitung veröffentlichen.
Möglich sind auch eine Live-Tagesschau mit aktuellen Berichterstattungen aus den Institutionen sowie eine Talk-Show mit
Politikern. Das bietet sich vor allem dann an, wenn sich der Rat
und das Europäische Parlament zur Beschlussfassung zurückziehen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit in Brüssel, Straßburg und Luxemburg!
M 8 Ablauf des Planspiels (ca. 7 Zeitstunden)
(1) Die »Europäische Kommission« stellt der Öffentlichkeit
einen Vorschlag für einen Rechtsakt (Gesetz/Richtlinie) zur
Anhebung des Niveaus der sozialen Sicherung in der Europäischen Union vor. Der Entwurf wird an den »Fachausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheit des
Europäischen Parlaments« und den«Europäischen Rat« weitergeleitet.
(2) Der Fachausschuss des »Europäischen Parlaments« berät
den Vorschlag der »Europäischen Kommission« und erarbeitet eine erste Stellungnahme. Diese Stellungnahme wird zur
weiteren Beratung an den »Europäischen Rat« übermittelt.
Der »Rat« befasst sich mit der Stellungnahme und leitet das
Ergebnis der Beratungen zurück an das »Europäische
Parlament«(Erste Lesung). Die »Europäische Kommission«
befasst sich ebenfalls mit den Ergebnissen des Rats.
(3) Im Rahmen einer Pressekonferenz stellen sich die Vertreterinnen und Vertreter der europäischen Institutionen Fragen
der Mitglieder der Presse. Eine erste Zeitung erscheint und
es ist Zeit für informelle Gespräche.
(4) Der »Fachausschuss des Europäischen Parlaments« befasst
sich mit den Änderungsvorschlägen des »Rats« und der Reaktion der »Europäischen Kommission«. Das »Europäische
Parlament« erarbeitet nun einen aktualisierten Vorschlag
für einen europäischen Rechtsakt. Der »Rat« hat erneut die
Möglichkeit, sich mit den Vorschlägen des »Europäischen
Parlaments« zu befassen und seine Wünsche zu Änderung
dem EP und der Kommission vorzustellen. Sollte keine Einigung zwischen beiden Institutionen erzielt werden, wird
der Vermittlungsausschuss einberufen (Zweite Lesung).
(5) Im Rahmen einer weiteren Pressekonferenz stellen sich die
Vertreterinnen und Vertreter der europäischen Institutionen Fragen der Mitglieder der Presse. Eine zweite Zeitung
erscheint und es ist wiederum Zeit für informelle Gespräche.
(6) Der »Vermittlungsausschuss« tagt unter Beteiligung des
»Europäischen Parlaments« und des »Rats«. Die Ergebnisse
aus dem Vermittlungsausschuss werden abschließend in
den Institutionen beraten und zur Abstimmung gestellt
(Dritte Lesung).
(7) Das Ergebnis der Abstimmungen wird der Öffentlichkeit
vorgestellt.
(8) Eine abschließende Pressekonferenz mit allen Vertreterinnen und Vertreter der europäischen Institutionen findet
statt.
Abb. 6 Feierliche Unterzeichnung der neuen »EU-Richtlinie« durch den Kommissionspräsidenten sowie die Präsidentinnen des Europäischen Rats und des
Europäischen Parlaments
© Jürgen Kalb
Das »Juniorteam Europa der LpB« ist ein Netzwerk von europainteressierten jungen Menschen, deren Ziel die Vermittlung der
europäischen Integration und der Europäische Union ist. Es beruht auf dem Ansatz der »peer-group education«. Da zwischen
den Referentinnen und Referenten und den Schülerinnen und
Schülern in der Regel nur ein relativ geringer Altersunterschied
besteht, wird schnell Nähe und Vertrautheit erreicht, die Lernbarrieren abbaut und den Zugang zum Thema Europa erleichtert.
Gleichzeitig werden vorwiegend interaktive und handlungsorientierte Lernmethoden verwendet, um Europa konkret erfahrbar zu
machen.
Das Juniorteam übernimmt auf Anfrage die Vorbereitung und
Durchführung von Kurz-Workshops (zwei bis vier Stunden) sowie
ein- und mehrtägigen Veranstaltungen in der nationalen und internationalen Jugendbildung und Jugendbegegnung. Anfragen
zum Einsatz der Juniorteams, aber auch zur Mitarbeit im [email protected]
team unter:
85
Literatur
Arndt, Holger-Michael/Behne, Markus W./Halbritter, Ingrid/Müller, Ragnar
(2009): »Europa neu gestalten«. In: Handreichung für Leiterinnen und Leiter
des EU-Planspiels
Arndt, Holger-Michael/Berger, Wolfgang/Rappenglück, Stefan (2009):
»Focus Balkan. Ein Planspiel zur Südosterweiterung der EU«. In: D& E, Heft
57/2009, S. 32–41.
Gerhards, Jürgen/Lengfeld, Holger (2009): Europäisierung von Gerechtigkeit
aus Sicht der Bürger. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 47/09, S. 21–26.
Pries, Ludger, (2006): Transnational Migration: New Challenges for Nation
States and New Opportunities for Regional and Global Development. In:
Iglicka, Krystyna (ed.), Transnational Migration – Dilemmas. Warszawa:
Center for International Relations, pp. 9–28.
Internethinweise
http://ec.europa.eu/eures/ (EURES – Das europäische Portal zur beruflichen Mobilität)
www.civic-institute.eu (Civic – Institut für internationale Bildung)
Vollständige Materialien des Planspiels zum kostenlosen Download unter:
www.deutschlandundeuropa.de (Heft 60)
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Heft 60 · 2010
www.deutschlandundeuropa.de (Planspiel zum kostenlosen Download)
»Mobil in Europa?« – ein Pl anspiel zur Migr ation im EU -Binnenmark t
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
»EU-Reflexionsgruppe Horizont 2020–30«
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86
ie »Reflexionsgruppe Horizont 20202030« übergab am 8. Mai 2010 dem
Präsidenten des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, in Brüssel ihren Abschlussbericht. Das Gremium erstellte in
18 Monaten eine Analyse zur Zukunft der
EU. Stuttgarts Oberbürgermeister Dr.
Wolfgang Schuster wurde auf Vorschlag
von Bundeskanzlerin Angela Merkel als
Vertreter Deutschlands und Experte für
Kommunalpolitik in den so genannten »Rat
der Weisen« entsandt. Die Ergebnisse des
Berichts sind, so Schuster, »weder für die
Union noch für ihre Bürger beruhigend«.
Als Kernfragen nennt der Text: »Wird es
der EU gelingen, ihren Wohlstand in dieser
Welt, die sich im steten Wandel befindet,
zu erhalten und zu mehren? Wird sie in der
Lage sein, die Werte und Interessen Europas zur Geltung zu bringen und zu verteidiAbb. 1 Übergabe des Abschlussberichts der »EU-Reflexionsgruppe Horizont 2020–2030« an
gen?« Aktuelle und künftige HerausfordeHerman van Rompuy, Präsident des Europäischen Rats. Von links: OB Wolfgang Schuster, Herman van
rungen könnten nur bewältigt werden,
Rompuy, Felipe González Márquez (Vorsitzender der Reflexionsgruppe und ehemaliger spanischer
»wenn wir alle – Politiker wie Bürger, ArMinisterpräsident) sowie Rainer Münz, Bevölkerungswissenschaftler aus Wien.
© Stadt Stuttgart, 2010
beitgeber wie Arbeitnehmer – in der Lage
sind, im Interesse eines neuen gemeinsaWandel, der Forschung sowie der Migration und der Integration.
men Ziels, das von den Erfordernissen der Gegenwart beDazu bedarf es in Europa eines Regierungsmodells, das weniger
stimmt wird, an einem Strang zu ziehen.«
auf Hierarchie und Bürokratie, sondern stärker auf Partnerschaft
und Beteiligung beruht.«
Wolfgang Schuster: »Nun gilt es, die bürokratische Kultur in EuNeben Vertretern der Universitäten Tübingen und Stuttgart
ropa zu ändern. Es geht darum, Kommunen und Bürger von Bewurde Wolfgang Schuster in einem internen Beirat auch von
troffenen zu Beteiligten zu machen. Manche bisherige europäieinem Vertreter der Robert-Bosch-Stiftung, dem Generalsekretär
sche Strategie oder Verordnung war von oben herab erlassen,
des Institut für Auslandsbeziehungen sowie dem Chefredakteur
ohne dass auf ihre Verankerung und Möglichkeiten der Umsetvon D&E beraten. Der Bericht steht unter www.stuttgart.de/item/
zung geachtet wurde. Der Reformvertrag von Lissabon eröffnet
show/399160 zum kostenlosen Download in mehreren Sprachen beuns mehr Chancen, Aufgaben gemeinsam anzupacken, z. B. bei
Sven Matis, Stadt Stuttgart
reit.
der Energieversorgung, dem Klimaschutz, dem demografischen
Siegfried Frech und Reinhold Weber (Hrsg.)
Handbuchreihe „Politik in Baden-Württemberg“
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Die Handbuchreihe „Politik in
Baden-Württemberg“ liefert Basisund Fachwissen über die politischen
Ebenen, auf denen das Land agiert.
Alle Bände sind mit Gesetzestexten
und statistischem Teil praktische
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Handbuch Kommunalpolitik die
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umreißt die zentralen Akteure und politischen Themen in Baden-Württemberg.
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• Inwiefern die Europäische Union
für das Land Baden-Württemberg
von Bedeutung ist, skizziert das
Handbuch Europapolitik.
»EU-Refle xionsgruppe Horizont 2020 –30«
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
»Islam und muslimisches Leben« –
eine Wanderausstellung der LpB
D
ie Ausstellung »Islam und muslimischen Leben« der LpB
Baden-Württemberg will eine Plattform bieten, um Brücken zwischen den Kulturen und Religionen zu bauen. Dabei
wirft sie Schlaglichter auf die Weltreligion Islam - in der Welt
und hier in Deutschland. Die Ausstellung präsentiert die religiöse Vielfalt des Islam und informiert über religiöse Grundlagen und Glaubenspraxis. Ermöglicht wurde diese Wanderausstellung der Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg durch eine finanzielle Unterstützung
der »Baden-Württemberg Stiftung«.
In Deutschland leben heute circa vier Millionen Muslime, viele
seit mehreren Generationen. Doch das Wissen über den Islam
und die Lebenswelt von Muslimen hat noch immer große Lücken
und ist oftmals von Stereotypen und Verallgemeinerungen geprägt, die der Vielschichtigkeit der islamischen Religion und Kultur nicht gerecht werden.
Eine Spurensuche in die Vergangenheit führt deshalb die Einflüsse vor Augen, die vom Islam nicht nur für die Künste und Wissenschaften in Europa ausgegangen sind. Aber auch die gegenwärtige islamische Welt wird in ihrer Vielschichtigkeit und ihrer
Widersprüchlichkeit präsentiert. Die Ausstellung zeigt zudem
Ausschnitte aus der Vielfalt muslimischen Lebens und Beispiele
für gelungene Integration in Baden-Württemberg.
Nähere Informationen sowie aktuelle Termine finden sich unter:
www.lpb-bw.de/islam_muslimisches_leben.html
Dr. Iris Häuser, LpB
Abb. 1 Infoportal der LpB Baden-Württemberg zur Wanderausstellung »Islam
und muslimisches Leben«
www.lpb-bw.de/islam_muslimisches_leben.html
• »Große« Islamausstellung: »… mehr als nur Gäste«:
15.10.2010 bis 15.12.2010 in der VHS Heilbronn sowie
26.1.2011 bis 17.3.2011 im »Goetheinstitut« in Schwäbisch
Hall
• »Kleine« Islamausstellung: 25.10.2010 bis 25.11.2010 im
»Haus auf der Alb«, dem Tagungszentrum der LpB, Bad
Urach. Als Wanderausstellung abrufbar auch für Schulen
und andere Bildungseinrichtungen. Kontakt: [email protected]
87
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+OMPETENZORIENTIERTER'EMEINSCHAFTSKUNDEUNTERRICHT
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RINNENùUNDù3CHÞLERùPOLITISCHEùGESELLSCHAFTLICHEùUNDù
ÙKONOMISCHEù0ROBLEMEùZUùANALYSIEREN
nùùMITù(ILFEùVONùAKTUELLENù-ETHODENùUNDù!RBEITSWEISENù
VERSTEHENùSIEù:USAMMENHÈNGEùKÙNNENùDIESEùBEURTEILENù
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»Isl am und muslimisches Leben« – eine Wander auss tellung der LpB
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DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN
D&E Autorinnen und Autoren – Heft 60
Abb. 1 Autoren der neuen Ausgabe von »Deutschland & Europa« (von rechts): Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wertheim;
Dr. Martin Große Hüttmann, Akademischer Oberrat an der Universität Tübingen; Dr. Uwe Berndt, Fachreferent am Studienhaus Wiesneck bei Freiburg und Lehrbeauftragter am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg; Boris Kühn, evangelische Landeskirche Baden, Arbeitsstelle Frieden; Jürgen Kalb, Studiendirektor, Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium Stuttgart Bad Cannstatt, Fachberater für Geschichte und Gemeinschaftskunde mit Wirtschaft am Regierungspräsidium Stuttgart,
Chefredakteur von »Deutschland & Europa« bei der LpB Baden-Württemberg.
Foto: Sylvia Rösch
88
Abb. 2 Dr. Petra Bendel,
Akademische Oberrätin an der
Universität Erlangen-Nürnberg,
Geschäfts führerin des Zentralinstituts für Regionenforschung
Abb. 3 Prof. Dr. Rainer Münz.
Bevölkerungswissenschaftler, Wien,
Mitglied der »EU-Reflexionsgruppe
Horizonte 2020–2030«
Abb. 4 Prof. Dr. Dirk Wentzel,
Hochschule Pforzheim für Gestaltung, Technik, Wirtschaft und Recht
Abb. 5 Manfred Mack, Deutsches
Polen-Institut, Darmstadt
Abb. 6 Dr. Adrzey Kaluza,
Deutsches Polen-Institut, Darmstadt
Abb. 7 Holger-Michael Arndt,
Rechtsanwalt und Mediator,
Geschäftsführer des Civic-Instituts
für internationale Bildung
Abb. 8 Markus W. Behne, M. A.,
Geschäftsführer des Civic-Instituts
für internationale Bildung
Abb. 9 Goce Peroski, Studienreferendar, Civic-Institut für internationale Bildung
D&E Autorinnen und Autoren – Hef t 60
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D&E
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Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77
[email protected], www.lpb-bw.de
Direktor: Lothar Frick
Büro des Direktors:
Thomas Schinkel/Sabina Wilhelm
Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ
Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Leiter: Werner Fichter
Susanne Krieg
-60
-62
-40
-63
-64
Abteilung Zentraler Service
Abteilungsleiter: Günter Georgi
-10
Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer
-12
Personal: Sabrina Gogel
-13
Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14
Siegfried Kloske, Haus auf der Alb, Tel.: 07125/152-137
Zentraler Service: Andreas Hofsäß
-59
Abteilung Demokratisches Engagement
Abteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug* -30
Politische Landeskunde: Dr. Iris Häuser*
-20
Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner*
-25
Thomas Schinkel*
-26
Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel
-29/-32
Jugend und Politik: Angelika Barth*
-22
Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel*
-35
Alexander Werwein*/Charlotte Becher*
-36/-34
Stefan Paller*
-37
Abteilung Medien und Methoden
Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ
-40
Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber
-42
Deutschland & Europa: Jürgen Kalb
-43
Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe:
Siegfried Frech
--44
Unterrichtsmedien: Michael Lebisch
-47
E-Learning: Susanne Meir
-46
Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik,
Haus auf der Alb,
Tel.: 07125/152-136
Internet-Redaktion: Klaudia Saupe, Julia Maier
-49/-46
Abteilung Haus auf der Alb
Tagungszentrum Haus auf der Alb,
Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach
Telefon 07125/152-0, Fax -100
www.hausaufderalb.de
Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik:
Dr. Markus Hug
Schule und Bildung/Integration und Migration:
Robert Feil
Internationale Politik und Friedenssicherung/
Integration und Migration: Wolfgang Hesse
Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr
Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann
Hausmanagement: Nina Deiß
DuE60_Ums.indd Ums3
Außenstellen
Regionale Arbeit
Politische Tage für Schülerinnen und Schüler
Veranstaltungen für den Schulbereich
Außenstelle Freiburg
Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg
Telefon: 0761/20773-0, Fax -99
Leiter: Dr. Michael Wehner
Felix Steinbrenner
-77
-33
Außenstelle Heidelberg
Plöck 22, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/6078-0, Fax -22
Leiter: Wolfgang Berger
Alexander Ruser
-14
-13
Außenstelle Tübingen
Haus auf der Alb, Hanner Steige 1,
72574 Bad Urach
Telefon: 07125/152-133, -148; Fax -145
Klaus Deyle
Projekt Extremismusprävention
Stuttgart: Stafflenbergstraße 38
Leiterin: Regina Bossert
Assistentin: Lydia Kissel
-134
-81
-82
* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-0, Fax -55
LpB-Shops/Publikationsausgaben
Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0
Montag bis Freitag
8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr
Freiburg
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Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr
-146
Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11
Dienstag, 9.00–15.00 Uhr
Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr
-139
Stuttgart
-140
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-121
-109
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LpB, Redaktion »Deutschland & Europa«, [email protected],
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