2/2004 - Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
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2/2004 - Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
2/2004 Juni/Juli/ August ZEITSCHRIFT DER AUSLÄNDERBEAUFTRAGTEN DES LANDES NIEDERSACHSEN H 5957 MEHR HEITEN MINDER HEITEN MEDIEN: Von Botschaften und Bildern Niedersachsen Medien: Von Botschaften und Bildern Liebe Leserinnen, liebe Leser, Es ist gewagt, ein ganzes Schwerpunktthema den Medien in Zusammenhang mit Migration zu widmen. Nicht, weil es kein Thema wäre, sondern gerade weil es ein großes Thema ist, über das man ganze Buchreihen verfassen könnte. Aber wie immer ist der Platz dieser Zeitschrift beschränkt, und so kann sie relevante Fragen nur anreißen und nur einige Schattenseiten ausleuchten. Aber das zumindest. Der Medienexperte Prof. Georg Ruhrmann hinterfragt, wie oft und in welcher Form über Ausländer im deutschen Fernsehen berichtet wird. Eine andere, eher verborgene Seite des Fernsehens illustriert der türkische Schriftsteller Osman Engin mit seiner Kurzgeschichte „Getürkter Türk“. Agnes Koller führt mit ihren Beobachtungen durch verschiedene Alltagsbereiche und beschreibt, welche Informationen und Medien dort auch für Migranten zu entschlüsseln sind. Prof. Sigrid Luchtenberg fokussiert ihren Blick auf Medien für Kinder und Jugendliche und legt dar, wie sich die Einwanderungsgesellschaft darin spiegelt. Isabel Rodde hat die diesjährige Berlinale besucht und sich dort nach Filmen zum Migrationsthema umgesehen. Schließlich beschreibt Swaantje Düsenberg, ob und wie Werbung und Marketing Ausländer präsentieren. Auf ein Wort Gefühlte Bedrohung von Gabriele Erpenbeck ............................................................................3 Thema Migranten im Fernsehen: Mittendrin oder außen vor? von Georg Ruhrmann ................................................................................4 Fernsehen mit Migranten: Getürkter Türk von Osman Engin .......................................................................................6 Informationen im Alltag: Gewollt oder unerwünscht? von Agnes Koller........................................................................................8 Medien für Kinder und Jugendliche: Kleine Lichtblicke von Sigrid Luchtenberg ...........................................................................10 Kino: Raus aus der Migranten-Ecke von Isabel Rodde......................................................................................12 Werbung und Marketing: Sportlich und exotisch von Swaantje Düsenberg ........................................................................14 Forum Entwicklung: Europa und die Neuen von Monika Wolff ....................................................................................16 Mehrsprachigkeit: Adesso vai ins Bett von Claudio Nodari ..................................................................................18 Portrait: „Herzklopfen“ in Linden von Rena Bürger ......................................................................................20 Nachrichten ..............................................................................................21 Impressum Herausgeberin/Verlegerin (ViSdP) und Redaktionsanschrift: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte, Postfach 2 21, 30002 Hannover Produktion: Liza Yavsan, Tel. (05 11) 1 20-48 65, E-Mail: [email protected] Redaktion: Swaantje Düsenberg, Gabriele Erpenbeck, Anette Hoppenrath, Dieter Schwulera, Liza Yavsan Titelfoto: Katerina M. Agsten Gestaltung: set-up design.print.media, Hannover · Druck: Sponholtz Druckerei GmbH & Co. KG, Hemmingen · Vertrieb: Lettershop Brendler GmbH, Laatzen Erscheinungsweise: jeweils Ende März, Juni, September, Dezember Bezugspreis: Die Zeitschrift kann gegen einen Kostenbeitrag (Einzelexemplar 2 € inkl. Versandkosten) bezogen werden. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin (wird gern erteilt). Alle Rechte vorbehalten. © Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeberin und der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Materialien übernimmt die Redaktion keine Haftung; im Falle eines Abdrucks kann die Redaktion Kürzungen ohne Absprache vornehmen. Betrifft wird auf chlorfrei gebleichtem Material gedruckt. ISSN 0941-6447 2 BETRIFFT 2/2004 Auf ein Wort Foto: Agsten Gefühlte Bedrohung Kaum ein Thema wird derzeit so kontrovers diskutiert wie muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch in der Schule. Was steckt hinter dieser Debatte? Integration wurde lange als Anpassung an die hiesige Gesellschaft verstanden, manchmal bis zur Assimilation. Dann verengte die Debatte um das Zuwanderungsgesetz den Integrationsbegriff auf die Beherrschung der deutschen Sprache. Inzwischen geht vielen auf, dass deutsche Sprachkenntnisse zwar eine Voraussetzung für Integration sind, sie aber weder bewirken noch belegen können. Nun haben die Auseinandersetzung um die Kopftücher und nicht zuletzt die Terroranschläge im Namen eines vollkommen auf Abwege geratenen Islams zu einer neuen Wendung im öffentlichen Diskurs geführt. Integration von Nicht-Muslimen ist anscheinend kein Problem. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass sie unsere Werteordnung akzeptieren und leben. Der Stand der Integration von Muslimen wird aber mittlerweile oft am Tragen des Kopftuchs festgemacht. Die Rechtsordnung verlangt zunächst das, was häufig abwertend als „nur formale Integration“ bezeichnet wird: nämlich das Einhalten eben dieser Rechtsordnung. Wer stellt nun – und vor allem wie – fest, ob generell oder im Einzelfall das Kopftuch ein politisches Symbol gegen die hiesige Rechtsordnung oder die Gesellschaftsform ist? In das niedersächsische Schulgesetz wurde kürzlich folgender Passus aufgenommen: „Das äußere Erscheinungs- bild von Lehrkräften in der Schule darf, auch wenn es von einer Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird, keine Zweifel an der Eignung der Lehrkraft begründen, den Bildungsauftrag der Schule (§ 2) überzeugend erfüllen zu können.“ Folgende Fragen müssen aber weiter diskutiert werden: Wie werden die Länder mit männlichen Lehrkräften muslimischen Glaubens umgehen, wenn sie fundamentalistische oder islamistische Ansichten vertreten sollten? Und wohl noch wichtiger: Was geschieht mit anderen religiösen Symbolen, die Lehrkräfte im Unterricht tragen? Welche Stellung kommt der Religion überhaupt in der Öffentlichkeit zu? Soll die Religionsfreiheit auch zukünftig öffentliche und – im weiteren Sinne des Wortes – politische Aktivitäten von Religionsgemeinschaften umfassen können, wie nicht nur von den christlichen Kirchen in Deutschland immer wieder praktiziert und als selbstverständlich vorausgesetzt? Die Kopftuchdiskussion scheint auch ein Ventil für Probleme mit der Religion und Religiosität überhaupt zu sein. Zwischen den Argumenten schwingt nämlich Unsicherheit über den Zustand der eigenen christlich geprägten Kultur mit. Vieles Selbstverständliche ist der Mehrheitsgesellschaft anscheinend abhanden gekommen. Jedenfalls vermutet oder registriert sie einerseits ein immer größer werdendes religiöses Vakuum – und andererseits unter den Kopftüchern einen anscheinend selbstgewissen Islam, der sich der tatsächlichen oder angenommenen Leerräume bemächtigen will. So schwebt über der Kopftuchdebatte nicht nur an Muslime, sondern auch an Christen und Atheisten die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Religion? Gabriele Erpenbeck BETRIFFT 2/2004 3 Thema: Medien Migranten im Fernsehen: Mittendrin oder außen vor? Fernsehen ist das politische Leitmedium. Hier entscheidet sich, wer öffentlich gesehen und gehört wird. Wer nicht im Fernsehen ist, kann politisch auch keinen Einfluss entfalten. Dabei spiegelt Fernsehen die soziale Wirklichkeit nicht einfach wieder. Denn es wählt aus, setzt Akzente und focussiert auf aktuelle Ereignisse. Aus tausenden von Agenturmeldungen wählt z. B. die Tagesschau täglich gerade einmal 15 Nachrichten aus. Szene aus: „Outlaws“ Quelle: © ORB/ZDF Sensationelle Berichterstattung „Only bad news are good news“. Dieser journalistische Lehrsatz beeinflusst die TV-Präsenz von Migranten. Gerade im Fernsehen treten „Ausländer“ häufig nur ausnahmsweise auf: nämlich überwiegend als „Opfer“ oder als „Täter“. Als aktive „Mitbürger“ bleiben sie weitgehend unsichtbar. 4 BETRIFFT 2/2004 Doch Medienanalysen belegen hier ein typisches Negativsyndrom. Denn je aktueller die Berichterstattung präsentiert wird, desto eher fallen sensationelle Aussagen über Migranten auf: sie werden entweder als Straftäter oder aber als Opfer von Diskriminierung sichtbar. Fernsehen verstärkt diese Tendenzen. Denn uns Zuschauern werden meistens nur einfache Ursachen-Wirkungszusammenhänge präsentiert. Die Folge ist eine angstvoll besetzte Kommunikation. Das Thema „Ausländerkriminalität“ ist dafür nur ein Beispiel – aber mit ihm können sogar Landtagswahlen gewonnen werden! Kommunikationswissenschaftler haben die Fernsehberichterstattung über Migranten erst seit Mitte der 90er Jahre analysiert. Gefragt wird u. a. wie es möglich ist, dass nach fremdenfeindlichen Schlüsselereignissen (z. B. Hoyerswerda und Rostock) vermehrt Nachahmungstaten zu verzeichnen sind. Offensichtlich trägt vor allem die aktuelle TV-Berichterstattung zur weiteren Ausbreitung von fremdenfeindlichen Straftaten bei. Insbesondere die privaten Sender zeigen nur kurze, plakative Nachrichten. Neueste Studien zeigen zudem, dass die privaten Sender den Anteil politischer Informationen in den Nachrichten zurückfahren. Stattdessen präsentieren RTL, RTL2, SAT1, VOX oder Kabel1 in den letzten 10 Jahren zunehmend Meldungen mit „Human-Touch“, also Personality-News – und schüren auch Angst, vor allem vor der Ausländerkriminalität. Neun Thesen zum Negativ-Image Man kann aufgrund bisheriger internationaler Forschungsergebnisse in den USA und in Westeuropa neun Thesen zum öffentlichen Negativimage von Migranten formulieren: 1. Wenn überhaupt über Migranten im Fernsehen berichtet wird, dann häufig im Zusammenhang mit Kriminalität. Die Schwere der Delikte wird dabei im Vergleich zur Inländerkriminalität besonders hervorgehoben. 2. Unerwünschte Migranten (vor allem hierzulande die Türken und Ausländer aus nicht europäischen Ländern) sind in der Berichterstattung zum Teil deutlich überrepräsentiert. Das führt in der Bevölkerung auch zu dramatischen Fehleinschätzungen: so nehmen „Inländer“ in Großstädten schon mal doppelt so viele Ausländer wahr, als tatsächlich in der Stadt leben. 3. Die Medien definieren das „Ausländerproblem“ über zwei Jahrzehnte hinweg in ein „Türkenproblem“ bzw. „Asylantenproblem“ um. Derzeit wird die Debatte um ein neues Einwanderungsgesetz zunehmend von sicherheitspolitischen Gesichtspunkten der Bekämpfung des internationalen Terrorismus überlagert. 4. Boulevardmagazine und -formate berichten über besonders „fremd“ erscheinende Kulturen in einem exotischen Rahmen. Dies reduziert die Anstrengungen, sich auf die Globalität der Welt einzulassen, enorm. 5. Die Presse- und vor allem die Fernsehberichterstattung über Migranten orientiert sich an aktuellen Ereignissen und vernachlässigt Hintergrundinformationen. Unklar bleiben also die Bedingungen der Migrationsursachen sowie die mit ihnen verbundenen Folgerisiken und -chancen der gesellschaftlichen Entwicklung, etwa im Hinblick auf die demographische Situation in Deutschland und in Europa. 6. Negative Ereignisse werden besonders im Fernsehen dramatisiert und führen bisweilen – vor allem nach so genannten spektakulären Zwischenfällen – zu einer eskalierenden Ent- Quelle: WDR Szene aus: „Lindenstraße“ Sind Verbesserungen denkbar? Über diese Situation hat man nachgedacht. Lassen sich etwa – wie Anfang der 90er Jahre vielfach versucht – durch Toleranzkampagnen das Negativimage und die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit verändern? Die Medienwirkungsforschung zeigt, dass Form und Inhalt der Kampagnen die Fremdenfeindlichkeit in ausländerfeindlich gestimmten Bevölkerungsgruppen nicht reduzieren konnten. Ähnliches gilt auch für die Rezeption von ausländer- bezogenen Themen im Hörfunk: Je größer die Vorbehalte bzw. das Unwissen gegenüber fremden Kulturen, desto geringer das Interesse an Sendungen mit interkulturellen Inhalten. Kann die Medienpraxis – so werden Wissenschaftler gefragt – angesichts dieser ernüchternden Diagnosen etwas „besser“ machen? Die Antwort erscheint paradox, sie sollte hier daher nicht als Patentrezept missverstanden werden. Anregungen für die Medienpraxis Moralisierung: Bemühte Versuche, Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile und Diskriminierung von Minderheiten umstandslos per Parteitags- oder Redaktionsbeschluss einfach vermeiden zu wollen, funktionieren nicht wirklich. Sie könnten aufgegeben werden. Idealisierung: Beziehungen zwischen Ausländern und Inländern sind durch Beunruhigungen, vielfältige Irritationen und Konflikte gekennzeichnet. Diese Spannungen sollten dargestellt und erklärt werden, bevor man sie zu lösen versucht. Aktualisierung: Nicht nur Konflikte, sondern auch geglückte Verständigung und erfolgreiche Zusammenarbeit von Aus- und Inländern ließen sich zum Medienthema machen. Dies setzt allerdings eine veränderte journalistische Souveränität beim Umgang mit dem Aktualitätskonzept voraus. Nennung von Staatsangehörigkeit und Hautfarbe: Bereits vor über 25 Jahren empfahlen amerikanische Militärdienststellen in Frankfurt, bei der Berichterstattung über Kleinkriminalität den Informationswert der Bezeichnung „farbiger GI“ zu überprüfen. Solche Anregungen fallen in eine Zeit verschärfter Konkurrenz der Sender um Einschaltquoten. Aber ein angemesseneres Image der Migranten hierzulande würde auch das Bild von Deutschland in der Welt verändern. Prof. Dr. Georg Ruhrmann Lehrstuhl für Grundlagen der medialen Kommunikation und der Medienwirkung an der FriedrichSchiller-Universität Jena Die Sendung läuft freitags um 21.15 Uhr bei Sat1 Quelle: Sat1/Ralf Jürgens wicklung. Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund geänderter journalistischer Wahrnehmungs-, Auswahl- und Präsentationsstrategien. 7. Die Folgen weltweiter Migrationsprozesse und die entsprechenden interkulturellen Veränderungen werden über Jahrzehnte hinweg in einer Semantik der Bedrohung dargestellt. Das bedeutet: Migration wird nicht als Ergebnis von Akteuren, zurechenbaren Entscheidungen oder als politisches Risiko begriffen. Vielmehr wird von nicht zurechenbaren Gefahren, ja sogar von Katastrophen im Sinne von Hochwasser und Stürmen gesprochen. 8. In ihrer aktuellen Berichterstattung ignorieren die Medien die tieferen sozialen und psychologischen Ursachen rechtsradikaler Entwicklungen, insbesondere auch in den neuen Bundesländern. Außerdem berichtete das Fernsehen bisher eher selten über die rechtsextreme Propaganda im Internet und die damit verbundene juristische Sanktionierung und polizeiliche Verfolgung. 9. Seit dem 11. September 2001 dominieren im Fernsehen die Themen „Islamismus“ und „Terrorbekämpfung“. Wirtschafts- und Sozialberichterstattung: Sie kann aufzeigen, wie ausländisches Kapital und Migranten als Arbeitskräfte zur Wirtschaft beitragen und nicht nur in soziale Sicherungssysteme einwandern. Personalpolitik in Redaktionen: Hier wird darüber entschieden, inwieweit Migranten überhaupt als Journalisten, Darsteller und Sprecher wahrgenommen werden. Wichtig ist dabei, dass Migranten nicht nur mit Sendungen und Verantwortlichkeiten für Migranten befasst sind, sondern mit dem gesamten Programm. Audiovisuelle Medien können Migranten – wie das Beispiel USA zeigt – vor allem in Unterhaltungssendungen als positive Identifikationsfigur darstellen. Programmangebote: Sie sollten bei öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Fernsehsendern im Hinblick auf Nutzung und Wirkung überprüft und ggf. modifiziert werden. BETRIFFT 2/2004 5 Thema Fernsehen mit Migranten: Osman Engin Das Fernsehteam hat sich im Wohnzimmer breit gemacht, und alle meine Nachbarn, Freunde und Kollegen haben in den übrigen Räumen Stellung bezogen. Der hiesige Regionalsender will einen großen Bericht über den berühmtesten Sohn unserer Stadt drehen. Stolz frage ich meine Tochter: „Na, Hatice, wer ist wohl die berühmteste Persönlichkeit unserer Stadt, über die jetzt ein Film gedreht wird?“ Mit einer unscheinbaren Augenbewegung deutet Hatice auf ihr Sparkamel (türkische Kinder haben keine Sparschwei- 6 BETRIFFT 2/2004 Foto: privat Getürkter Türk ne!). Wie kann denn ein sechsjähriges Mädchen so materialistisch sein?! Als ich so alt war wie sie, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Geld dafür zu verlangen, meinen leiblichen Vater öffentlich zu loben. Eine Tracht Prügel war damals völlig ausreichend. Wie zufällig lasse ich unbemerkt ein 50-Cent-Stück in ihr Sparkamel fallen. „Nun sag schon, Hatice, wer ist wohl der berühmteste und bestaussehendste Papa in unserer Stadt?“ Aber Hatice verdreht nur die Augen. Ich weiß genau, was sie sagen will: „Für ein paar Cent putze ich mir nicht mal die unteren Zähne!“ Seit kurzem müssen wir sie nämlich dafür bezahlen, dass sie sich ihre Zähne putzt. Meine Tochter ist geldgierig, bösartig und durchtrieben: ich bin stolz auf sie. Sie wird‘s weit im Leben bringen! Weiter als ihr Vater! Als noch ein blitzendes Zwei-EuroStück in ihrem Porzellankamel verschwindet, wird Hatice schlagartig gesprächiger: „Sie wollen einen Film über dich drehen, hoch verehrter Papa! Denn du bist der berühmteste Mann in unserer Stadt! Osman Engin, das größte Genie unter Allahs Sonne! Ögh, ich muss aufs Klo, kotzen!“ „Ich will sofort meine zwei Euro fünfzig wieder haben“, tobe ich. Den ,Partnertausch‘ hat man bereits erfunden, wer erfindet endlich den ,Kindertausch‘? „Ja, liebe Nachbarn, das sind halt die negativen Seiten des Berühmtseins. Jeden Tag ist ein anderes Fernsehteam hier“, sage ich in die Runde. Meine Kumpels brauchen doch nicht zu wissen, dass ich heute zum ersten Mal in meinem Leben eine leibhaftige Fernsehkamera zu sehen bekomme. Ich rufe meine Eltern im Kaukasus an und erzähle denen 20 Minuten lang, dass ich leider sofort wieder auflegen muss, weil gerade von mir erneut Fernsehaufnahmen gemacht werden. Wenn sie wollen, können sie das auch allen Bekannten im Dorf erzählen, sage ich gönnerhaft. Als mein Vater zu schimpfen anfängt, weshalb ich mich seit einem Jahr nicht gemeldet hätte, lege ich schnell auf. „Wieso denkst du eigentlich, dass sie wegen deinem Buch da sind?“, stänkert mein Sohn Mehmet, dieser ewige Student. „Dein Buch ist doch kein einziges Mal verkauft worden. Für den Quatsch interessiert sich kein Schwein. Nicht mal der Altpapiersammler!“ „Wann wirst du endlich kapieren, dass nicht die Verkaufszahlen wichtig sind, sondern nur mein künstlerisches Genie!“ „Kein Mensch will dein Buch haben, nicht mal als Geschenk“, lästert mein Sohn, den ich hiermit offiziell zum Kindertausch anbiete. Ich bin mit allem einverstanden, was als Tauschobjekt angeboten wird. Egal ob Ziege, Katze, Hamster oder Kakerlake. Hauptsache gleichwertig! Eine große, blonde Frau schüttet mir im Flur zwei Pfund Puder über den Kopf. „Herr Engin, ich kann machen, was ich will“, ruft sie verzweifelt, „Ihre Glatze glänzt immer noch wie der Vollmond!“ „Soll ich nicht doch meinen Hut aufbehalten?“, frage ich. Nachdem sie ihr gesamtes Pulver verschossen hat, ist sie damit einverstanden. Der Aufnahmeleiter brüllt in sein Megafon und fordert alle auf, ihre Plätze einzunehmen. Der Regisseur nimmt mich zur Seite und sagt: „Herr Engin, Sie gehen jetzt ganz locker in Ihr Wohnzimmer, setzen sich zu Ihrer Frau aufs Sofa und schauen dann in den Fernsehapparat. Los geht‘s!“ Ich will in mein Wohnzimmer rein, aber lande prompt in einem orientalischen Basar aus dem 16. Jahrhundert. „Was ist denn hier passiert?“ stottere ich ungläubig. „Wir haben Ihr Wohnzimmer etwas umdekoriert“, sagt der Regisseur, „für einen türkischen Gastarbeiter passend.“ Die haben mein Wohnzimmer total getürkt: neonfarbene Teppiche mit Atatürk- und Bosporusbildern hängen an allen Wänden. In jeder Ecke hat man einen Riesen-Samovar hingestellt und auf dem großen Marmortisch haben sie einen kompletten Döner-Stand aufgebaut. Meine Töchter tragen große Tischdecken als Kopftücher. Kindergeschrei wie auf einer Geburtsstation plärrt aus einem Kassettenrekorder neben der Kamera. Auf dem Sofa sitzen neben meiner Frau Emine noch zwei weitere wildfremde, potthässliche Frauen mit schwarzem GanzkörperSchleier. „Wer sind die denn?“, frage ich überrascht. „Das sind Ihre beiden anderen Ehefrauen“, klärt mich der Regisseur auf, „welcher Orientale hat denn schon nur eine Ehefrau?! Außerdem sind die beiden keine Frauen, sondern unser Beleuchter und Fahrer. Setzen Sie sich einfach hin zu denen und schauen Fernsehen.“ „Kann ich nicht wenigstens rein zufällig mein Buch in die Kamera halten?“ „Nein, nein, das ist untypisch! Welcher Türke kann denn schon lesen oder schreiben? Bleiben Sie zwischen den drei Frauen so sitzen und hauen Sie denen beim Fernsehgucken ab und zu brutal auf den Kopf!“ „Kann ich den dreien nicht wenigstens mit meinem Buch auf den Kopf hauen?“ „Ruhe jetzt! Wir drehen schon längst.“ In dem Moment springt unser Hausverwalter, Herr Sievers, vor die Kamera und rudert mit beiden Armen wie wild durch die Gegend: „Ich grüße alle meine Kumpels aus dem Kegelverein, meine Neffen Heinz und Hubert, alle Spieler des SV Werder …“ „Schmeißt den Idioten sofort raus“, brüllt der Regisseur mit hochrotem Kopf. Mit einer Wasserpfeife und einem Kebap-Spieß vom Döner-Stand prügeln die Techniker Herrn Sievers aus dem Wohnzimmer raus. „Halt, halt, ich muss mal eben aufs Klo“, rufe ich und springe vom Sofa auf. Aus dem Fernsehen weiß ich, dass berühmte Persönlichkeiten unheimlich schwierig und zickig sind. Ich muss meinem Ruf gerecht werden. Die Presse darf nicht annehmen, ich wäre weniger arrogant und dadurch eine weniger berühmte Persönlichkeit. Die Sensationsblätter sollen ihren Stoff bekommen: Von Osman Engin ist bei dtv gerade der satirische Roman „GötterRatte“ erschienen. „Meisterregisseur bekniete Osman Engin aus dem Badezimmer zu kommen“, wird BILD morgen schreiben. Auf der Toilette überlege ich mir tolle Sätze für die Kamera: „Aus jeder meiner Zeilen spricht das Leid der unterdrückten Massen! Ich will im Hintergrund bleiben, meine Bücher sprechen für die Armen dieser Welt! Ich muss damit leben, dass die Menschheit sich dafür entschieden hat, dass mein Buch die Bibel des neuen Jahrtausends sein soll!“ Als ich wieder zurückkomme, ist die Wohnung völlig leer. Ich laufe sofort raus und erwische den Regisseur gerade noch, als er in den Aufnahmebus einsteigt. „Halt, halt, kommen Sie wieder zurück! Ich will nicht mehr zickig sein. Sie wollten mich doch filmen!“ „Wir haben schon mehr als genug aufgenommen“, ruft er genervt. „Aber was ist mit meinem Buch? Ich habe es noch gar nicht erwähnen können. Deswegen sind Sie doch gekommen!“ „Der Sender hat mich losgeschickt, um von möglichst vielen ausländischen Familien in der Stadt dokumentarische Kurzberichte zu erstellen. Und zwar für den Fall, dass deren Häuser irgendwann mal abgefackelt werden!“ Osman Engin Schriftsteller, Bremen BETRIFFT 2/2004 7 Thema Informationen im Alltag: Gewollt oder unerwünscht? Was passiert, wenn man ohne Fahrschein erwischt wird, ist in den „Öffis“ gleich in 12 Sprachen zu lesen. Doch wie man an hochmodernen Automaten jenen kleinen Schein erwerben kann, steht da nur auf Deutsch. Auf die Toilette (und an andewie überall auf der Welt per Piktogramm geleitet, in anderen wichtigen Alltagsbereichen bleibt die Information so einsilbig wie einsprachig. Hat das etwa System? 8 BETRIFFT 2/2004 Foto: Hoppenrath re Orte) werden Mann und Frau Als vor rund 45 Jahren die ersten sogenannten „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, dachten Länder und Kommunen noch wenig darüber nach, wie Alltagsinformationen an die ausländische Frau oder den ausländischen Mann gebracht werden könnten. Das Lotsen durch den deutschen Bürokratie-Dschungel und manchmal auch durch das Alltagsleben übernahmen im besten Fall Sozialbetreuer, die aus den jeweiligen Anwerbeländern ins Land geholt wurden, einige wohlmeinende Deutsche sowie wenige Landsleute, die schnell Deutsch gelernt hatten. Industrie und Teile der Dienstleistungsbranche reagierten anders. In Wolfsburg übergab z. B. Volkswagen jedem neu ins Werk kommenden Italiener ein kleines Bildwörterbuch, das „Dizionario figurato“. Darin waren sehr anschaulich die italienischen Begriffe mit der deutschen Übersetzung und einem kleinen Bild für die wichtigsten Werkzeuge verzeichnet. Viele Hinweisschilder auf dem Werksgelände, die der Sicherheit dienten oder bestimmte Verhaltensregeln enthielten, wurden zweisprachig angebracht. Auch in den Kohlebergwerken im Ruhrgebiet finden sich zahlreiche Gefahrenhinweise in mehreren Sprachen, vor allem Türkisch, Serbokroatisch und Polnisch. Damit wollten die Arbeitgeber Arbeitsunfälle vermeiden, die neuen Mitarbeiter, die andere „Sitten und Gebräuche“ mitbrachten, über den „richtigen“ Umgang mit ihren deutschen KollegInnen informieren und so den sozialen Frieden sichern. Das diente auch dem Betriebsklima und damit der Ertragssteigerung. Interessanterweise gab es bei Volkswagen zwar in den siebziger Jahren weitere Anwerbung in Tunesien, an entsprechende Bildwörterbücher oder Hinweisschilder dachte da jedoch nie- Gerade im Gesundheitssektor gibt es gut aufgearbeitetes Material, herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Und das Amt für Abfallwirtschaft hat großes Interesse an der Übersetzung von Mülltrennungsregeln. Öffentliche Museen beschriften ihre Exponate zusätzlich noch in Englisch, um Weltläufigkeit zu demonstrieren. Doch überall da, wo es um die Erleichterung des Zurechtfindens gehen kann, um besondere Servicehinweise oder auch um Anträge auf Unterstützungsleistungen, dort herrscht noch immer die deutsche Sprache vor. Dabei gilt schon lange nicht mehr „Amtssprache ist Deutsch“. Denn durch eine steigende Anzahl von Beschäftigten im Öffentlichen Dienst mit Migrationshintergrund wird sich langfristig auch der Umgang mit Neu- und Altbürgern aus anderen Ländern verändern. Behörden werden entdecken, dass mehrsprachige Ausweispapier- oder Sozialhilfeanträge auch den SachbearbeiterInnen das Leben erleichtern und zum Beispiel bauwillige BürgerInnen inzwischen auch Italiener und Türken sein können. Hier gehen die Beauftragten für Migration und Integration für Bund, Länder und Kommunen schon lange mit gutem Beispiel voran. Ganz druckfrisch auf dem Markt ist das „Handbuch für Deutschland“, herausgegeben von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Marieluise Beck. Dieses Handbuch ist zweisprachig jeweils auf Deutsch und Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch oder Türkisch erschienen und führt kurz in alltagsrelevante Themen zum Leben in Deutschland ein. Der deutsche Gartenzwerg wird darin ebenso vorgestellt wie die Gebühreneinzugszentrale, das deutsche Schulsystem oder berühmte deutsche Dichter. Bereits in vielen Kommunen gibt es so genannte Gesundheitswegweiser, in denen mehrsprachige Ärzte und andere Gesundheitsdienstleister aufgeführt sind, die auch Migranten ansprechen. Ein Novum bilden die Wegweiser, die umfassend alle Einrichtungen einer Kommune mit allen relevanten Dienstleistungen für Migranten vorstellen. Ein vorbildliches Werk ist jetzt in einem Projekt in Wolfsburg in Form einer Losen-Blatt-Sammlung entstanden, die einfach und kostengünstig aktualisiert werden kann. Die deutsche Ausgabe dient dabei allen MultiplikatorInnen und Beratungseinrichtungen. Auszüge davon sind bisher auf Italienisch und Russisch erschienen, an der arabischen Version wird derzeit gearbeitet. Bisher völlig vernachlässigt wurde die Nachwuchswerbung im Öffentlichen Dienst (sei es bei der Polizei oder im Rathaus) für MigrantInnen in deren Herkunftssprachen. Selbst wenn zumindest die MigrantInnen der zweiten und dritten Generation genug Deutsch sprechen, um die Bewerbungsankündigungen zu lesen und zu verstehen – so werden doch meistens ihre Eltern nicht erreicht, die bei der Berufsfindung ihrer Kinder aber ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Wenn wir also künftig auch türkischsprachige Polizistinnen und Polizisten und russischsprachige Beamtinnen und Beamte möchten, weil wir feststellen, dass sie wichtige Zugänge zu einem Drittel unserer Bevölkerung herstellen können, dann müssen wir auch in diesem Bereich an mehrsprachiges Informationsmaterial und Veranstaltungen zur Berufsfindung denken. Agnes Koller Ausländerreferentin der Stadt Wolfsburg Foto: Agsten mand mehr. Über die Wertschätzung oder Absicht darüber kann nur spekuliert werden. Auch bestimmte Dienstleister wie beispielsweise eine einheimische Bank erkannten schon früh die neuen Einwanderer als neue Kunden. Die Frage, wie lange diese Menschen im Land bleiben sollten oder wollten, interessierte sie dabei nicht – sie bediente nur den Wunsch der Migranten, möglichst billig und einfach kleine oder auch größere Geldmengen in die jeweiligen Heimatländer zu transferieren. Um für ihren Service zu werben, plakatierte sie große Wände mit türkischen oder italienischen Eheleuten und Familien, die in den jeweiligen Sprachen für den Geldtransfer mit eben dieser Bank warben. Bald boomte das Geschäft – auch dank dieser emotionalen Werbung in der Heimatsprache, durch die sich viele Menschen angesprochen fühlten. Heute ringt Deutschland um die Anerkennung als Einwanderungsland. Im Hinblick auf die Präsenz von Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum tut sich aber viel. Zahlreiche nicht migrantenspezifische Beratungsstellen wie beispielsweise die Erziehungsberatungsstellen erkannten, dass sie Migranten bisher kaum erreichen konnten. Gerade dort wird jedoch auf einen Beratungsbedarf von verschiedenen anderen Institutionen wie Schule oder Kindertagesstätte, wo die Spannungen in den Familien zu großen Problemen führen, dringlich hingewiesen. Hier gibt es im Zuge einer angestrebten interkulturellen Öffnung inzwischen mehrsprachige Flyer, die wenigstens in den hauptsächlich gesprochenen Migrantensprachen wie Russisch, Türkisch oder Italienisch auf das Beratungsangebot aufmerksam machen und kurz über die Einrichtung informieren. Dies ist ein wichtiger Schritt in einem solch sensiblen Arbeitsfeld, das in Familiengefüge eingreift. Bei besonders tabubehafteten Themen wie sexuellem Missbrauch, Gewalt- oder Drogenproblemen kann es auch sinnvoll sein, für einen Erstkontakt lediglich einige Überschriften in mehreren Sprachen zu drucken. Der Öffentliche Dienst und die Kommunen (wie übrigens auch die Deutsche Bahn AG) haben überall dort, wo es um das Einhalten von Regeln oder Gefahrenprävention geht, verschiedene Übersetzungen vorgelegt. BETRIFFT 2/2004 9 Thema Medien für Kinder und Jugendliche: Kleine Lichtblicke Wie Medien in unserer mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft mit Migrationsthemen umgehen, ist ein wichtiges Forschungsthema geworden. Medien für Kinder und Jugendliche wurden bislang aber eher selten untersucht. Wir wollen einen Die Sendung mit der Maus Blick auf sie werfen, um zu sehen, ob sie die Thematik eher ausländerpädagogisch oder interkulturell angehen – wenn überhaupt. Quelle: WDR Schulbücher Die Themen Migration und ihre Folgen spielen allgemein in den Medien seit 1945 eine Rolle, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So standen beispielsweise in den 60er Jahren die „Gastarbeiter“ oder in den 80er und 90er Jahren die Flüchtlinge im Mittelpunkt. Fest steht aber: seitdem können die Medien den Diskurs in zwei Richtungen beeinflussen: in Richtung Ablehnung oder Akzeptanz, Ausländerfeindlichkeit oder Integration, Rassismus oder Vielfalt. Zwar finden sich dabei kaum explizit rassistische Darstellungen, aber leider doch versteckter oder latenter, zum Teil unbewusster Rassismus. Diese Botschaften sind nur mit interkultureller Medienkompetenz zu entschlüsseln, deshalb ist ihre Vermittlung so wichtig – gerade an junge Menschen. Denn auch die Medien operieren mit Schlüsselbegriffen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und verengen so häufig die Argumentation. Ein gutes Beispiel dafür ist die derzeitige Integrationsdebatte. Diese hier angedeuteten Mechanismen wirken auch in Medien für Kinder und Jugendliche fort. 10 BETRIFFT 2/2004 Gerade in neueren Schulbüchern zeigt sich durchaus ein wachsendes Bewusstsein über die mehrsprachige und mehrkulturelle Gesellschaft, wenn auch unterschiedlich deutlich. So findet man z. B. häufiger Namen aus Migrantensprachen und insgesamt mehr Berücksichtigung interkultureller Aspekte wie beispielsweise die Verwendung nichtdeutscher Wörter, Sätze oder Texte aus der Migrantenliteratur in Deutschbüchern. Trotzdem bleibt es oft bei einzelnen Kapiteln statt eines durchgehenden Prinzips, das sich mit dieser Fragestellung beschäftigt. Außerdem öffnen sich ihr längst nicht alle Schulbücher, viele verbreiten auch weiterhin Klischees. Hinzu kommt, dass Kinder und Erwachsene oft als Vertreter „ihrer“ Kultur angesehen werden. Dagegen gehen beispielsweise die Materialien „Das sind wir“ (Anne-Frank-Haus 1995, erschienen im Beltz-Verlag) von der individuellen Vielfalt aus und nicht von „Kulturen“. Schulbücher bedienen sich auch immer noch – wie andere Medien – häufig einer Sprache der Ausgrenzung. Ein Beispiel: „Probiert es, zum Beispiel mit vier Zeilen, etwa in eurer Umgangssprache, in eurer Mundart oder in der Sprache eines eurer ausländischen Mitschüler”. Zwar sind neuere Werke hier etwas reflektierter, aber auch weiterhin voller Beispiele für eine trennende Sprache. In derartigen Aufgabenstellungen werden die deutschen Schüler/ innen angesprochen, die „ausländischen Mitschüler“ gelten bestenfalls als Informationsträger. So kann sich im Bewusstsein festsetzen, dass Schule offensichtlich nur für Deutsche konzipiert ist, und es kann kein Wir-Gefühl entstehen. Schulbücher sind also unterschwellige Meinungsmacher – auch in den Familien. Ihr Wahrheitsgehalt wird nur selten hinterfragt. Fernsehen Das Fernsehen ist aus der Freizeit von Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Ein Lichtblick vorweg: die „Sendung mit der Maus“! Ihr ist zu verdanken, dass viele Eltern und Lehrer/ innen glauben, das Fernsehen würde den Kindern eine durch Vielfalt geprägte Welt präsentieren. Aber bei näherem Blick ins Kinderfernsehen überhaupt werden die verpassten Chancen sichtbar. Denn Kinderfernsehen scheint die Thematik des Lebens in einer mehrsprachig-mehrkulturellen Gesellschaft immer noch sträflich zu vernachlässigen. Eine positive Ausnahme stellt die Serie „Die Kinder vom Alstertal“ dar, in der u. a. ein asiatisches Adoptivkind in einigen Folgen die tragende Rolle spielt – allerdings wird auch dort kaum auf den Spracherwerb des Kindes oder gar seine Mehrsprachigkeit eingegangen. Foto: Agsten (2) Es gibt jedoch andere interkulturelle Beiträge für Kinder, die eher eine globale Sicht transportieren: sie stammen aus dem Ausland, aus Osteuropa, Asien, Amerika oder anderen Regionen. So wichtig diese Internationalisierung auch ist – es besteht doch die Gefahr, dass die jungen Zuschauer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität dem Ausland zuordnen und nicht der eigenen Lebenswelt. Anstelle der speziell für sie aufbereiteten Programme bevorzugen Kinder und Jugendliche übrigens oft Serien. Hier finden sich nun reichlich Beispiele für Klischees wie etwa in der Serie „Dr. Specht“, in der das beliebte Thema der Verheiratung in die Türkei behandelt wird: Eine junge bilinguale Türkin ist mit einem Mitschüler liiert und von ihm schwanger. Aber als die Familie das Einhalten einer Verlobung in der Türkei verlangt, wird sie ungewöhnlich passiv. Ein Mordversuch ihres Bruders verläuft glimpflich, eine Versöhnung steht am Ende des Films. Die einzelnen Handlungsschritte wirken wenig glaubwürdig: Die plötzliche Passivität eines aktiven, fröhlichen jungen Mädchens wird nicht vermittelt; seine Passivität gegenüber der körperlichen Bedrohung durch den Bruder ist nicht nachvollziehbar; die Einsicht des Vaters kommt sehr schnell. Trotz dieser Klischees zeigt der Film aber auch, dass ein Mädchen der türkischen Mittelschicht in einem Internat als integriert und akzeptiert dargestellt wird, und unterschlägt auch ihre türkische Herkunft nicht. In Serien und „Soaps“ treten überhaupt häufiger Migranten auf. Sie nehmen damit durchaus eine wichtige Rolle im Multikulturalismusdiskurs ein – schon weil sie in vielen Aspekten Normalität aufzeigen. Andererseits stehen leider nur allzu oft eine Stereotypisierung und kulturelle Zuschreibungen im Vordergrund. Kinder- und Jugendliteratur Das Thema Einwanderung und dadurch veränderte gesellschaftliche Bedingungen hat in der Kinder- und Jugendliteratur seit langem eine Rolle gespielt, da es als gesellschaftlich relevant galt. Seit den 70er Jahren versuchen viele Kinderund Jugendbücher, bei deutschen Kindern Mitgefühl für die Situation von Migrantenkindern zu wecken und ihre Hilfsbereitschaft anzuregen. Migrantenkinder gerieten dagegen in die Rolle des „Bittstellers“, ihnen sollte „geholfen“ und Verständnis entgegengebracht werden. So mangelt es den meisten Büchern an der interkulturellen Perspektive. Sie sind eher aus einer ausländerpädagogischen Sicht verfasst, die das Anderssein zugewanderter Menschen meistens als eine Herausforderung für deutsche Kinder begreift. Sie sollen Hilfestellung bei der Integration leisten (z. B beim Deutsch lernen), zu Toleranz angeleitet werden, Verständnis für „Fremde“ aufbringen. Dieser Ansatz orientiert sich jedoch an Defiziten und befördert ein Bewusstsein für „Fremdheit“ und „Anderssein“. Der interkulturelle Ansatz richtet sich zwar auch vorwiegend an deutsche Leser/innen, nimmt aber eher Differenz statt Defizit, das Erfahren der Vielfalt sowie Verschiedenheit und Gleichheit in den Blick. Einige Bücher wollten auch direkt Migrantenkinder als Leser/innen ansprechen. Ein Weg hierzu war ihre zweisprachige Gestaltung. Dieser integrative Ansatz erkannte die Erstsprache zumindest als Hilfsmittel auf dem Weg zur deutschen Sprache an. Außer- dem signalisierten solche Bücher die Gleichwertigkeit zweier Sprachen, was wiederum auch für deutsche Leser/innen wichtig war. In den 90er Jahren rückten die Flüchtlingsthematik und mit ihr Migrantenschicksale in den Mittelpunkt. Dies war zwar für ein tieferes Verständnis wichtig, vernachlässigte aber andererseits die gesellschaftlichen Prozesse in der Bundesrepublik. Denn interkulturellen Prinzipien entsprechen erst solche Bücher, die Mehrsprachigkeit und -kulturalität als Normalität darstellen. Es gibt sie zwar, aber sie sind rar. Mein Fazit lautet: In den Medien für Kinder und Jugendliche kommt ihre mehrsprachige und mehrkulturelle Lebenswelt durchaus vor – aber eben nicht oft genug und zudem leider häufig klischeehaft oder einseitig. Die Normalität dieser Lebenswelt wird noch zu selten gezeigt, so dass auch Kinder und Jugendliche in ihren Medien Vielfalt eher als Problem denn als Selbstverständlichkeit erfahren. Dennoch sind Wege aufgetan worden, die nun weiter ausgebaut werden müssen. Prof. Dr. Sigrid Luchtenberg Germanistin und Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Duisburg-Essen BETRIFFT 2/2004 11 Thema Raus aus der Migranten-Ecke Kino: Nach 18 Jahren hat erstmals wieder ein deutscher Film den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen: Das wuchtige Liebesdrama „Gegen die Wand“ des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin begeisterte nicht nur das Berliner Publikum, sondern auch die internationale Jury. In seinem vierten Spielfilm erzählt der 30-jährige gebürtige Hamburger von der Begegnung zwischen der jungen, lebenshungrigen Sibel (Sibel Kekilli) und dem frustrierten Säufer Cahit (Birol Ünel). Beide sind türkischer Herkunft, beide haben einen Selbstmordversuch hinter sich: Er ist mit seinem Ford gegen eine Betonmauer gerast, sie hat sich in einem verzweifelten Versuch, den rigiden Moralvorstellungen ihrer traditionsbewussten Familie zu entkommen, die Pulsadern aufgeschnitten. In der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses vereinbaren Sibel und Cahit einen Deal: Eine Scheinheirat soll der 20-Jährigen die Flucht aus der Familie ermöglichen. „Ich will leben und tanzen und ficken“, stellt die junge Frau klar. „Und zwar nicht einen, sondern viele.“ Nach einer skurrilen Hochzeitsfeier, die das Brautpaar nur mit einer Prise Koks durchsteht, zieht Sibel in Cahits heruntergekommene Single-Wohnung. Sie genießt ihre neu gewonnene Frei- heit, geht auf Parties, probiert Drogen, lernt Männer kennen. Doch dann wird die Sache kompliziert: Denn Stück für Stück entdecken die beiden ihre Gefühle füreinander, Cahit bringt im Affekt einen von Sibels zahlreichen Liebhabern um und wandert in den Knast. Sibel flieht nach Istanbul, Jahre später treffen sich die beiden dort wieder. Wie schon in seinem ersten Spielfilm „Kurz und schmerzlos“ über die Freundschaft zwischen Türken, Griechen und Serben im Hamburger Kiez zeigt Regisseur Akin Facetten eines Migranten-Alltags jenseits von Opferszenarien und Multikulti-Harmonie. Seine Helden sind radikale Außenseiter in einer selbstverständlich mehrsprachigen Einwanderergesellschaft: In „Gegen die Wand“ wird Deutsch, Türkisch und Englisch geredet, im Soundtrack treffen rotzige Punkmusik und traditionelle türkische Liebeslieder aufeinander. Dass der desillusionierte Cahit durch die Begegnung mit der fiebrig lebenden Sibel seine Gefühle neu entdeckt, nimmt man dem Film gerne ab. Warum sich allerdings auch Sibel in den doppelt so alten Verlierertypen verliebt, bleibt ein Geheimnis des Drehbuchs – und damit der größte Schwachpunkt einer ansonsten packenden Inszenierung. Dennoch: Trotz solcher Ungereimtheit und manch dick aufgetragener Melodramatik überzeugt „Gegen die Wand“ als emotionsgeladenes Erzählkino mit Szene aus: „Polleke“, Kinder- und Jugendprogramm der Berlinale 12 BETRIFFT 2/2004 zwei herausragenden Hauptdarstellern – ein leidenschaftliches Plädoyer für den unbedingten Freiheitswillen einer jungen Migrantin, die aus allen Konventionen ausbricht. Auch andere Wettbewerbsfilme stellten die Situation von EinwanderInnen in den Mittelpunkt des Geschehens. „Beautiful Country“ schilderte die abenteuerliche Flucht eines Vietnamesen nach Texas, „Maria voll der Gnade“ begleitete eine 17-jährige kolumbianische Drogenkurierin auf ihrem Weg in die USA. „Ae Fond Kiss“ von Ken Loach inszenierte den Clash zwischen fundamentalistischem Katholizismus und islamischer Familientradition und warb für das Zusammenleben und -lieben unterschiedlicher Kulturen – anrührend und humorvoll. Als überaus witzig erwies sich auch die im Panorama laufende niederländische Komödie „Shouf Shouf Habibi“, die sich rasant und bissig mit den Zukunftsträumen von Immigrantenkindern der zweiten Generation auseinandersetzt. Im Forum-Programm stach ein sehr persönlich erzählter Dokumentarfilm über einen der größten Basare in Osteuropa, den „Jarmark Europa“ in Warschau, hervor. Drei Jahre lang hat die deutsche Filmemacherin Minze Tummescheit Händlerinnen begleitet, die Uhren, Henna, Putzschwämme und Bücher aus der ehemaligen Sowjetunion schmuggeln, um sie in Polen zu verkaufen. „Jarmark Europa“ dokumentiert nicht nur die Auswirkungen der EU-Osterweiterung und die Improvisationskunst und Risikobereitschaft der Wanderarbeiterinnen. Er reflektiert auch Quelle: Internationale Filmfestspiele Berlin Press Office (3) Schlammschlacht Birol Ünel, Sibel Kekilli Quelle: EIZ die massiven Behinderungen der Dreharbeiten durch die Grenzpolizei und erzählt so eine beeindruckende „Geschichte der nicht gemachten Bilder“. Im Kinder- und Jugendprogramm der Berlinale war das Thema „Migration“ besonders präsent. Rund ein Drittel der Filme thematisierte die Freundschaft zwischen Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft. In „Wondrous Oblivion“ von Paul Morrison beispielsweise freundet sich ein elfjähriger jüdischer Junge in den 60er Jahren in England trotz vieler Widerstände mit der jamaikanischen Nachbarsfamilie an. In „Polleke“ von der niederländischen Regisseurin Ineke Houtman müssen die blonde Polleke und der Araberjunge Mimoun ihre erste Liebe gegen Mimouns strengen Onkel verteidigen. Und in der deutschen Produktion „Die Blindgänger“ von Bernd Sahling versteckt die blinde Marie den kasachischen Aussiedlerjungen Herbert vor der Polizei – ein Film über die unterschiedlichen Formen, die Welt zu „sehen“, der das Thema Migration ganz selbstverständlich und quasi nebenbei einführt. Filme von und über MigrantInnen sind aus dem internationalen Kino nicht mehr wegzudenken – das hat das diesjährige Berlinale-Programm eindrucksvoll bewiesen. Nicht von ungefähr stellt auch der Bundesverband Jugend und Film seine Jahrestagung 2004 unter das Motto „Filme verbinden Kulturen: Migration – Integration – Kulturelle Vielfalt“. Der Goldene Bär für “Gegen die Wand“ hat schlagartig ins Bewusstsein gebracht , wie sehr auch Deutschland bereits kulturelles Einwanderungsland geworden ist. Allerdings: Die Reaktionen auf den Erfolg von „Gegen die Wand“ (s. Kasten) zeigen gleichzeitig, wie weit wir von einer selbstverständlichen Anerkennung kultureller Vielfalt noch immer entfernt sind. Nicht nur, dass Fatih Akin auf der Premieren-Pressekonferenz erklären musste, warum das Wort „Gastarbeiter“ in seinem Vokabular nicht existiert. Auch in den Filmbesprechungen und Interviews schien vor allem die Frage zu interessieren, ob Film und Regisseur denn nun in erster Linie deutsch oder türkisch seien … Fatih Akins‘ Antwort ist deutlich: „Ich wünsche mir, dass Filme wie „Gegen die Wand“ endlich als normaler Teil der deutschen Filmkultur akzeptiert werden.“ Isabel Rodde Journalistin, Hannover Sibel Kekilli und die Porno-Kampagne der Bild-Zeitung Am Montag nach der Verleihung des Goldenen Bären an „Gegen die Wand“ gratulierte die BILD-Zeitung nicht etwa den Gewinnern, sondern startete eine schmierige Kampagne gegen die 23-jährige deutschtürkische Hauptdarstellerin Sibel Kekilli. „Filmdiva in Wahrheit ein Pornostar?“ fragte sie auf der Titelseite und garnierte ihre Enthüllungen über das „türkische Früchtchen“, das in ihrer Vergangenheit bei sechs Hardcore-Pornofilmen mitgewirkt habe, mit zwei Nacktbildern der Schauspielerin. Einen Tag später legte BILD nach: „Eltern verstoßen sündige Filmdiva“ wusste das Blatt zu berichten – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Pornofirma „Magma“ eine Sonderedition der Filme mit „der schönen Sibel“ auflegen werde. Inzwischen hatten Sibel Kekilli und Regisseur Fatih Akin zu den Diffamierungen Stellung bezogen. „Ja, ich habe diese Filme gemacht. Aber das ist Vergangenheit“, erklärte die Debüt-Schauspielerin, die bis vor kurzem als Verwaltungsangestellte im Essener Rathaus gearbeitet hat und von einer Casting-Agentur in einem Kölner Supermarkt für „Gegen die Wand“ entdeckt wurde. Akin bezeichnete die Schmutzkampagne von BILD als „bigott“ und „ekelhaft“: „Ich wusste von Anfang an von ihrer Vergangenheit, was mich nicht im geringsten gestört hat. Ich habe Sibel Kekilli besetzt, weil sie die beste Schauspielerin beim Casting war.“ In einem Interview mit der Frankfurter Sonntagszeitung äußerte sich Sibel Kekilli selbst über den Hintergrund der Porno-Drehs. Sie habe Geld gebraucht, aber auch rebellieren wollen: „Ich wollte mir damit vielleicht selber beweisen, dass ich mein eigenes Leben leben kann, wie ich will.“ Zwei Wochen später kommentierte sie in der ARD-Talkshow „Beckmann“ das Kesseltreiben der BETRIFFT 2/2004 13 Thema Werbung und Marketing: Sportlich und exotisch Sibel Kekilli Obwohl ich das Programm immer wegzappe, wenn im Fernsehen ein Werbeblock gesendet wird, blieb ich dieses Mal doch hängen. Und das nicht nur, weil mich der neue Renault „Grand Scénic“ so faszinierte, denn ich begeistere mich eigentlich gar nicht für Autos. Nein, hier nahm mich der Werbespot selbst gefangen. Zurzeit steht Sibel Kekilli in der Hamburger Produktion „KEBAB Connection“ des Regisseurs Anno Saul wieder vor der Kamera. Weitere Informationen www.gegendiewand.de Buchtipp Fatih Akin: Gegen die Wand Das Buch zum Film, Drehbuch/Materialien/Interviews, Kiepenheuer & Witsch, 2004, 270 Seiten, 9,90 € 14 BETRIFFT 2/2004 geklopft haben. Sehr witzig, wir haben echt gelacht! Ansonsten tauchen Ausländer vor allem mit klarem inhaltlichen Bezug zum Produkt in der Werbung auf, vornehmlich in der Lebensmittelbranche. Französische Gourmets werben für Camembert, blonde Holländerinnen mit Häubchen für Käse. Pizza- und Spaghettihersteller bemühen die herzerfrischende italienische Mama samt Söhnen und Gatten in die Werbespots und der „Herr Angelo“, ein netter italienischer Migrant, beruhigt eine aufgeregte deutsche Nachbarin („Fahren Sie gefälligst Ihr Auto weg, Sie haben mich zugeparkt.“) mit Cappuccino aus der Tüte. In diesem speziellen Fall bahnt sich sogar ein kleiner Flirt an … Quelle: Langnese-Eiswerbung BILD: „Die ersten zwei Tage waren sehr hart. Aber jetzt lach‘�ich drüber. Es hat mich stärker gemacht, und ich fühle mich wie befreit.“ Tatsächlich scheint Sibel Kekilli die Schlammschlacht von BILD und anderen Trittbrettfahrern erfreulich unbeschadet überstanden zu haben. Selbst konservative türkische Medien und Politiker haben sich auf ihre Seite geschlagen: „Den Erfolg eines Künstlers berühren solche Fehler seiner Vergangenheit nicht“, erklärte beispielsweise der türkische Kulturminister Ugur Mumcu. Besonders gefreut habe sie sich über die Interviews junger DeutschTürkinnen, die sie in der BILD-Zeitung unterstützt hätten, sagt Sibel Kekilli. „Vielleicht kann ich für manche Türkinnen eine Art Vorbild sein. Nicht, dass sie mir das nachmachen sollten, das wirklich nicht, aber dass sie vielleicht sehen, da lebt eine Türkin ihr eigenes Leben.“ Die Szene war folgende: In irgendeinem afrikanischen Land sind ein paar weiße und nicht sonderlich attraktive Fototouristen unterwegs. Sie stoppen ihren Wagen vor einer Gruppe schwarzer, großgewachsener, folkloristisch ausstaffierter junger Männer und knipsen diese. Dann fahren sie davon. (Habe ich nicht auch einen schwarzen Darsteller sagen hören, das Ganze sei ihm irgendwie zu primitiv?) Jedenfalls machen sich auch die Afrikaner nun auf den Weg – das aber im Gegensatz zu den Touristen in einem nagelneuen Wagen, eben jenem Renault „Grand Scénic“. Bald darauf entdecken sie am Straßenrand die hilflosen Touristen, die dort mit ihrer alten Gurke eine Autopanne erlitten haben. Zwei Werbespots später wird mir dann gezeigt, wie die Afrikaner großzügig zum Ort des Geschehens umkehren und einem entnervten Weißen in ihrem Auto Asyl gewähren. Der Siebensitzer macht‘s möglich! Das war doch echt nett von diesen jungen Männern, die kurz zuvor noch niedere Objekte fotografischer Begierden waren. Mit ihrer sympathischen Geste und ganzen Exotik stehen sie übrigens in bester Tradition der Darstellung von Ausländern in der Werbung – auch wenn hier irgendwie wohl das brisante Bild der „Überlegenheit der weißen Rasse“ ad absurdum geführt werden sollte. Denn wenn Ausländer überhaupt in Werbespots vorkommen, dann vorwiegend als Sympathieträger, die einem Produkt ein bestimmtes Image verleihen oder einfach nur witzig sein sollen. Hihi, wie mag sich die Nation angesichts der Renault-Werbung klammheimlich auf die Schenkel Den Lebensmittelherstellern steht die Bekleidungsindustrie kaum nach. In den gängigen dicken Modekatalogen führen längst samtäugige, dunkelhaarige Schönheiten die Riege der ganze Reihe exotisch anmutender Asiatinnen im Programm führen, die wohl ein besonderes Verwöhnklima transportieren können. Denn Exotik sells, auch in Deutschland – zumindest bei bestimmten Produkten. Der „Duft der weiten Welt“ ist ja schließlich auch hier erfunden worden. Die allermeisten Werbespots, deren Darsteller offensichtlich ausländischer Herkunft sind, reduzieren das „Fremde“ jedoch in 15 Sekunden auf bestimmte Allgemeinplätze und zementieren damit bestehende Stereotype. Schwarze Werbeträger zum Beispiel sind in der Regel immer noch Musiker oder Sportler (und seit neuestem wie gesagt auch Computer-Spezialisten). Dazu fragt Anthony M., in Niedersachsen ansässiger Kellner aus Kenia: „Warum gibt es so wenige farbige Leute in der Werbung?“ Und in der Welt der weiblichen Darsteller bleibt die erotische und exotische Botschaft vorherrschend. „Experten“ dagegen – sei es für medizinische Produkte oder auch für Zahncremes und Waschmittel – sind immer Deutsche in der deutschen Werbung. Vor kurzem haben aber deutsche Unternehmen etwas entdeckt, was die Amerikaner schon seit langem zur Umsatzsteigerung nutzen: das so genannte Ethnomarketing. Denn ihnen ist plötzlich bewusst geworden, dass die hier im Lande lebenden 7,3 Millionen Ausländer – und unter ihnen namentlich die Türken – ein großes Käuferpotenzial darstellen. Und wie aus heiterem Himmel haben sie erkannt, dass viele Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“ aus Models an und suggerieren uns, dass auch wir in diesen Fummeln eine solche Ausstrahlung entwickeln könnten. Nur unter den männlichen Darstellern dominieren nach wie vor die kühlen Blonden aus dem hohen Norden, bestenfalls noch der Typ „Latin Lover“, aber offenbar nie ein Türke als Imageträger. Der Schwenk zu international agierenden Unternehmen zeigt eine noch höhere Präsenz weltläufiger Models jeglicher Hautfarbe und Nationalität. IBM wirbt mit einem dunkelhäutigen Spezialisten, Kreditkartenanbieter mit allen Ethnien, die Telecom mit Kindern aus aller Welt. Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen (wobei in der Werbung für internationale Produkte die Herkunft der Models kaum mehr auszumachen ist). Ist Multi-Kulti in der Werbebranche also „in“? Das kann man so nicht sagen. Denn Ausländer bleiben nach wie vor als Repräsentanten von Produkten rar und noch wirbt auch kein Schwarzafrikaner für Bausparverträge und keine identifizierbare Muslimin für Abendkleider. Dafür sitzt aber immerhin ein kleiner Junge asiatischer Herkunft auf einem deutschen Klo und lässt sich auch von seiner blonden Mutter nicht dazu bewegen, seine Sitzung zu beenden. Für welches Produkt dieser Werbespot gedacht war, weiß ich nicht mehr, aber irgendwie hatte er mit guter Luft im duftenden Badezimmer zu tun. Oder so ähnlich. Auch wie die Geschäfte jener in Deutschland ansässigen Agentur laufen, die „ausländische Gesichter“ vermietet, entzieht sich meiner Kenntnis. Dagegen bin ich sicher, dass sie eine Swaantje Düsenberg Foto: Düsenberg Quelle: DaimlerChrysler Vertriebsorganisation Deutschland, WFP Werbeagentur Erk Güner den 60er und 70er Jahren schon lange nicht mehr für ihre Rückkehr in die „Heimat“ sparen. Sie werden also als Goldgrube entdeckt und entsprechend direkt per Marketing und Werbung angesprochen. „Denn im Gegensatz zu den Deutschen achten gerade Türken stärker auf Qualität und Statussymbole und sind die schnelleren Konsumenten“, weiß man am Isoplan-Institut in Saarbrücken. Da war die Migrationsforschung doch wenigstens für etwas gut, sagte sich auch die Nobelmarke Mercedes Benz etwa 1994 und ließ eine Werbekampagne speziell für türkische Migranten konzipieren. Darin steht, anders als in den Botschaften an die zukünftigen deutschen Benz-Besitzer, nicht das Auto im Vordergrund, sondern z. B. sein stolzer Besitzer, Herr Zeki. Der ist genau wie sein Wagen unter seinen Landsleuten besonders beliebt, souverän und zuverlässig. Also Imagetransfer pur. Und Erfolg versprechend. Denn auch das haben Marktforscher herausgefunden: türkischstämmige Bürger sind besonders markenbewusst. Und: jeder fünfte in Deutschland lebende Türke fährt einen Mercedes. Vielleicht nicht immer den neuesten, aber wenigstens überhaupt einen. Tut sich da nicht ein grandioser Markt auf? Andere große Hersteller und Dienstleister denken zumindest darüber nach. Und dann werden auch viel mehr Ausländer in den Werbespots über unsere Kiste flimmern. Ganz bestimmt. Plakatwand im Frankfurter Hauptbahnhof BETRIFFT 2/2004 15 Forum: Entwicklung Europa und die Neuen Fragen und Antworten zur EU-Erweiterung Der 1. Mai ist vorbei, alle feierlichen Reden gehalten, der Alltag hat uns wieder. Mit einem Unterschied: noch nie war die Europäische Union (EU) so groß wie heute. Denn sie zählt jetzt 10 Mitgliedsstaaten mehr. Nicht alle haben diese Entwicklung freudig begrüßt, viele Menschen betrachteten sie auch besorgt und voller Fragen. Grund genug, hier einige davon zu beantworten. Warum wurde die EU erweitert? Um welche Länder geht es? Frieden und Wohlstand sind verletzliche Güter. Das wissen wir nicht erst seit den Terroranschlägen der letzten Jahre. Deswegen stellte die Europäische Union schon bald nach dem Zusammenbruch des Ostblocks den mittel- und osteuropäischen Ländern den Beitritt in die Gemeinschaft in Aussicht – allerdings nicht ohne Bedingungen. Mit den so genannten Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 verlangt die EU von beitrittswilligen Ländern: • eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie für die Achtung und den Schutz von Minderheiten; • eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck standzuhalten; • die Verpflichtung zur Einhaltung der Ziele der EU und die Übernahme und Umsetzung des gesamten Rechtsbestandes der EU. Die Details wurden mit jedem einzelnen Beitrittskandidaten zwischen 1998 bzw. 1999 und 2002 in 31 Kapiteln verhandelt. Seit dem 1. Mai diesen Jahres sind nun Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Zypern und Malta neue Mitglieder der EU. Die „Neuen“ werden im Juni auch an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen. Sind die neuen Länder ausreichend auf die Mitgliedschaft vorbereitet? In den vergangenen Jahren haben die neuen Mitglieder beachtliche Reformanstrengungen unternommen. Sie haben wirtschaftliche Maßnahmen ergriffen, die bisweilen für die Bevölkerung sehr schmerzhaft waren. Die EU hat diesen Umstrukturierungsprozess u. a. mit zwei Programmen unterstützt: Mit dem Phare-Programm wurden öffentliche Institutionen in den Ländern 16 BETRIFFT 2/2004 Mittel- und Osteuropas darauf vorbereitet, die Rechtsvorschriften der EU zu übernehmen und effektiv umzusetzen. Mit dem Twinning-Programm wurden Expertinnen und Experten aus den „alten“ Mitgliedstaaten in die Bewerberländer entsandt, um beim Aufbau der Verwaltungs- und Justizstrukturen zu helfen. Gehen Arbeitsplätze verloren? Einerseits profitiert die Wirtschaft der alten Mitgliedstaaten schon seit längerem von dem erwarteten Beitritt. Handelshemmnisse wurden schrittweise abgebaut, sodass die Exporte in die neuen Staaten massiv wuchsen. Das hat Arbeitsplätze bei uns gesichert und zusätzliche sind entstanden. Dieser Trend wird sich fortsetzen: es werden neue Konsumbedürfnisse und durch die Anpassung an die EU-Standards neue Märkte entstehen, z. B. für Umwelttechnologien. Schon jetzt ist Deutschland der wichtigste Handelspartner fast aller neuer Mitgliedstaaten und profitiert als stark exportorientierte Volkswirtschaft ganz erheblich. Andererseits gibt es bereits Beispiele Ist mit einer Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedstaaten zu rechnen? Studien zur möglichen Einwanderung aus Mittel- und Osteuropa ergaben, dass diese nur begrenzt einsetzen und sich hauptsächlich in den Grenzregionen mit den neuen Mitgliedstaaten abspielen wird. Je mehr Wirtschaftswachstum diese Länder selbst erzielen werden, desto weniger attraktiv wird es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, einen Arbeitsplatz in anderen EU-Staaten zu suchen. Als Spanien und Portugal 1986 der EU beitraten, löste die Stärkung der spanischen und portugiesischen Wirt- wirksam kontrolliert werden, kann die EU die Personenkontrollen an den Binnengrenzen für die einzelnen Länder aufheben. Gilt die freie Wahl des Arbeitsplatzes EU-weit? Das Recht, seinen Arbeitsplatz in der neuen, erweiterten EU frei wählen zu können, ist für die Neuen mit Ausnahme von Zypern und Malta eingeschränkt. Jeder alte Mitgliedstaat kann die so genannte Arbeitnehmerfreizügigkeit zunächst für zwei Jahre einschränken und Arbeitserlaubnisse verweigern. Wenn auch danach noch mit schweren Störungen auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen ist, kann die Frist um weitere drei, danach noch einmal um zwei Jahre, also insgesamt auf bis zu sieben Jahre verlängert werden. Für diese Übergangsregelung hatten sich insbesondere Deutschland und Österreich eingesetzt, um ihre Arbeitsmärkte schon allein aufgrund der räumlichen Nähe zu den Erweiterungsländern zu schützen. Wer kann sich niederlassen? Die Niederlassungsfreiheit gilt seit dem 1. Mai uneingeschränkt. Damit können sich Selbstständige und Firmen in den neuen Mitgliedstaaten dauerhaft niederlassen. Das gleiche gilt auch für Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten, die sich in Deutschland niederlassen wollen. Wer ist in der nächsten Erweiterungsrunde dran? Die nächste Erweiterungsrunde wird 2007 mit Rumänien und Bulgarien angestrebt. Die Verhandlungen über die einzelnen Kapitel laufen mit beiden Ländern bereits seit 1999. Die Türkei hat zwar bereits einen offiziellen Kandidatenstatus, die EU wird jedoch die Beitrittsreife im Dezember 2004 erneut prüfen. Bisher bestehen Zweifel daran, dass die Türkei die politischen Kriterien wie z. B. die Einhaltung der Menschenrechte ausreichend erfüllt. Als weiteres Land hat Kroatien im Februar 2003 einen Beitrittsantrag gestellt. Die EU-Kommission hat dem Rat am 20. April 2004 empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit Kroatien zu eröffnen. Welche Dienstleistungen aus den neuen Ländern sind eingeschränkt? Generell können Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten seit dem 1. Mai in der erweiterten EU uneingeschränkt Dienstleistungen erbringen. Für Deutschland ist die Dienstleistungsfreiheit allerdings in bestimmten Bereichen eingeschränkt: im Baugewerbe, im Industriereinigungssektor und bei den Tätigkeiten von Innendekorateuren zunächst für zwei Jahre. Diese Einschränkung kann dann um weitere fünf Jahre verlängert werden. Gilt der freie Personenverkehr? Alle EU-Bürgerinnen und -Bürger können sich in der EU frei bewegen. Sämtliche Einreisebeschränkungen fallen weg. An den Grenzen zu den neuen Mitgliedstaaten führt der Bundesgrenzschutz aber weiterhin Personenkontrollen durch. Ein gültiger Reisepass oder Personalausweis wird benötigt. Erst wenn die Außengrenzen Monika Wolff Europäisches Informations-Zentrum Niedersachsen, Hannover Quelle: EIZ (2) dafür, dass Arbeitsplätze verlagert wurden, um Lohnkostenvorteile in neuen Ländern zu nutzen. Auch dieser Trend wird sich fortsetzen. Unterm Strich allerdings – so die Prognosen – werden einige Arbeitsplätze zwar wegfallen. Dafür werden aber mehr neue hinzukommen, was die positive wirtschaftliche Entwicklung im mit 455 Millionen Menschen größten Binnenmarkt der westlichen Welt begünstigt. schaft eine Rückwanderung aus, so dass die eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit mit einer Frist von sieben Jahren verkürzt wurde. BETRIFFT 2/2004 17 Forum: Mehrsprachigkeit Adesso vai ins Bett Immer mehr Kinder wachsen auch in Niedersachsen mit zwei oder drei Sprachen auf. Denn Migration und Tourismus bringen Menschen unterschiedlicher Sprachen in Kontakt und lassen zweisprachige Familien entstehen. Für die Erziehung der Kinder stellen sich dabei grundlegende Fragen: Wirkt sich die Mehrsprachigkeit für das Kind nachteilig aus? Wie sollen sich Eltern sprachlich verhalten? Welche Konsequenzen hat Mehrsprachigkeit in der Schule? Noch bis vor wenigen Jahrzehnten nahm man an, dass sich Mehrsprachigkeit lernhemmend auswirken und den Schulerfolg beeinträchtigen kann. Heute weiß man, dass gute Kompetenzen in zwei Sprachen sogar zu besseren kognitiven Leistungen führen. Kategorien Man unterscheidet drei Kategorien von Zweisprachigkeit: Der additive Bilingualismus – Hier sind zwei Sprachen nebeneinander stark und gut ausgebildet. Ein Mädchen spricht also z. B. Deutsch und Türkisch so gut wie die Freundin ihre Muttersprache Spanisch. Diese Form der Zweisprachigkeit hat positive Folgen auf die kognitiven Leistungen. Zum Beispiel sind Abstraktionsfähigkeit oder Denkleistungen stärker ausgebildet als bei einsprachigen Menschen. Die wenigsten Menschen erreichen jedoch diese 18 BETRIFFT 2/2004 Form der Zweisprachigkeit, denn eine hohe Kompetenz in zwei Sprachen bedeutet auch, diese zwei Sprachen fast täglich intensiv zu benutzen. Der dominante Bilingualismus – Eine der zwei Sprachen ist stark ausgebildet, die andere ist eine schwache Sprache. Wenn wir im oben zitierten Beispiel bleiben, spricht das Mädchen also z. B. Deutsch sehr gut und Türkisch längst nicht so gut. Diese Form trifft auf die meisten zweisprachigen Menschen zu und ergibt weder positive noch negative Folgen für ihre kognitiven Leistungen. Sie sind in den schulischen Leistungen den einsprachigen Kindern ebenbürtig. Semilingualismus – In diesem Fall ist keine der zwei Sprachen so ausgebildet, wie es von einem gleichaltrigen einsprachigen Menschen zu erwarten ist. Beide Sprachen sind schwach ausgebildet. Diese Form der Zweisprachigkeit ist vor allem bei Kindern mit Migrationshintergrund anzutreffen. Die Erstsprache wird in diesen Fällen im familiären Umfeld zu wenig vermittelt und die Umgebungs- bzw. Schulsprache erreicht nicht das altersgemäße Niveau. In diesen Fällen ist es tatsächlich so, dass die Zweisprachigkeit zu schlechteren kognitiven Leistungen führen und schulische Probleme mit sich bringen kann. Wichtig ist dabei folgende Erkenntnis: Je besser die Erstsprache beherrscht wird, umso einfacher und schneller lernen Kinder die Sprache der Schule und der Umgebung. Dabei spielt die Familie eine zentrale Rolle in der zweisprachigen Erziehung. Familiäre Konstellationen Zweisprachigkeit kann sich durch folgende familiäre Konstellationen ergeben: Beide Elternteile sprechen eine andere Sprache als die Umgebung. Das Kind wächst in den ersten Jahren monolingual mit der Sprache der Eltern als Erstsprache auf. Erst im Kontakt mit anderen Kindern auf dem Spielplatz oder im Kindergarten lernt es die Zweitsprache Deutsch. In den meisten Fällen entwickelt sie sich nach wenigen Schuljahren zur starken Sprache. Ein Elternteil spricht eine andere Sprache als die Umgebungssprache. In diesem Fall wächst das Kind von Anfang an zweisprachig auf. Es erlebt zwei Sprachen von zwei verschiedenen Personen. In diesen Fällen wird das Deutsche als Sprache der Umgebung sehr schnell zur starken Sprache, die des anderen Elternteils zur schwachen. Beide Elternteile sprechen zwei verschiedene Sprachen, zum Beispiel Englisch und Italienisch, während die Umgebungssprache Deutsch ist. Auch hier wächst das Kind von Anfang an zweisprachig auf, hat also zwei Erstsprachen. In der Regel wird die Sprache der ter zu Schulproblemen, denn gleiche Objekte oder Handlungen können zwei verschiedenen sprachlichen Ausdrücken entsprechen. Z. B. italienisch / deutsch: Adesso vai ins Bett. / Jetzt gehst du a letto. Diese Umstände sind für das Kind lernerschwerend. Bei einer zweisprachigen Erziehung ist den Eltern deshalb zu empfehlen, sich zumindest in den ersten vier bis fünf Jahren an die Regel „Eine Sprache = eine Person“ zu halten. Sobald das Kind zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen unterscheiden und diese Sprachen auch benennen kann, wirken sich Sprachmischungen nicht mehr negativ aus. Wichtige Regeln Zwei- oder mehrsprachig aufzuwachsen, ist für Kinder eigentlich kein Problem. Wesentlich ist, dass vor allem in der Familie einige wichtige Regeln eingehalten werden: Eine Sprache, eine Person Kinder im Alter von einem oder zwei Jahren wissen nicht, was Sprachen sind. Sie imitieren das Verhalten der Bezugspersonen und erwerben so das sprachliche Verhalten. Sie sollten daher von einer Person immer nur das gleiche Verhalten kennen lernen. Wenn Bezugspersonen die Sprachen mischen, ist das für das Kleinkind verwirrend, denn es kann unmöglich unterscheiden, wann die eine oder die andere Sprache gesprochen wird. Vor allem die so genannte zweite Generation von Migrierten spricht aber oft eine Mischsprache. Wenn diese mit den eigenen Kindern gesprochen wird, kann dies zu Spracherwerbsretardierungen führen und spä- Vielfältiger, verständlicher Input Eltern sollten vom ersten Tag an mit ihren Kindern überhaupt viel sprechen. Durch das Hören und Verstehen entwickeln die Kinder die Grundlagen für das eigene Sprechen. Dass in zweisprachigen Familien mit einer traditionellen Rollenverteilung die Vatersprache wenig entwickelt ist, hat unter anderem mit dem reduzierten Input zu tun. Wenn sich aber auch ganztags erwerbstätige Väter die Zeit nehmen, abends und am Wochenende mit ihren Kindern zusammen zu sein und die eigene Sprache zu sprechen, erwerben die Kinder die Vatersprache ohne weiteres. Foto: Agsten (2) Kinder sind frei in der Sprachenwahl Auf keinen Fall dürfen Kinder gezwungen werden, die eine oder die andere Sprache in der Familie zu sprechen. Ein Zwang wirkt sich automatisch negativ auf die Einstellung gegenüber der aufgezwungenen Sprache aus. Wenn ein Kind die eine oder die andere Sprache verweigert, dann hat dies in der Regel nichts mit der Sprache an sich zu tun, sondern mit der Erfahrung, die es damit gemacht hat. Im familiären Umfeld ist deshalb genauer zu prüfen, welche Beziehungen das Kind zur verweigerten Sprache hat und wie diese Beziehungen verbessert werden können. Kontakt mit der schwachen Sprache Schwache Sprachen sind an sich kein Problem, solange eine starke Sprache vorhanden ist. Sie können aber gefördert werden, zum Beispiel durch Reisen ins Zielsprachenland oder durch Kon- takte mit Gleichaltrigen, die diese Sprache als starke Sprache sprechen. Keine künstliche Zweisprachigkeit Deutschsprachige Eltern, die während längerer Zeit in einem anderen Sprachgebiet gelebt haben (z. B. in den USA), sollten nicht versuchen, ihre Sprachenkenntnisse, seien sie noch so gut, den Kindern von Geburt an zu vermitteln. Die Wahl der Sprache sollte nämlich nicht nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Nützlichkeit erfolgen, sondern nach dem Prinzip der Beziehung. Denn mit der Sprache werden Beziehungen Foto: Bächer Mutter in den ersten drei Jahren zur starken Sprache, während die Vatersprache eher weniger ausgebildet wird. Dies ist vor allem in Familien mit einer traditionellen Rollenverteilung der Fall. Im Alter von drei bis fünf Jahren entwickelt sich die Umgebungssprache als Zweitsprache, das Kind wird somit dreisprachig. gestaltet und die elterliche Liebe ausgedrückt. Die Sprache, die man dem Kind vermittelt, sollte aus diesem Grund immer die Sprache der Gefühle und des Herzens sein. Traditionell einsprachige Gebiete und deren Schulen sind aber herausgefordert, die von den Kindern mitgebrachte Mehrsprachigkeit zu würdigen und aktiv zu fördern. Dr. Claudio Nodari Institut für Interkulturelle Kommunikation, Zürich (gekürzte Fassung aus: Starke Eltern – Starke Kinder 2004, Hrsg.: Deutscher Kinderschutzbund) BETRIFFT 2/2004 19 Forum: Portrait „Herzklopfen“ in Linden Ayse Oruç hat sich immer für soziale, politische und vor allem für Frauenthemen interessiert. Es war nicht leicht für sie, sich für einen Beruf zu Foto: privat entscheiden, denn sie hatte den Anspruch, ihre Es ist ein kalter Frühlingstag in Hannovers Stadtteil Linden. Doch schon beim Eintreten in die Erdgeschossräume in der Albertstraße wird man empfangen von angenehmer Wärme. Der Grund dafür ist der orientalisch anmutende Lehmofen, das „Herzstück“ der Hebammenpraxis „Herzklopfen“, dem neuen Wirkungskreis von Ayse Oruç. Ein leichter Flair von Orient durchzieht auch die anderen Räume. Der Gruppenraum ist großzügig geschnitten und überall dominieren warme Orange- und Rottöne. Ein Ort zum Verweilen und Entspannen. „Neben der Vor- und Nachsorge von Schwangeren bieten wir eine Reihe von Kursen an“, erklärt Ayse Oruç das Angebot der Praxis, in der zwei Hebammen und speziell für das Kursangebot ausgebildete Lehrerinnen arbeiten. „Von Yoga über Rückbildungsgymnastik bis hin zu Jazz- und Bauchtanz kann hier jede Frau etwas für sich finden. Auch NichtSchwangere!“ Ayse Oruç arbeitet schon viele Jahre als Hebamme. Zehn davon in einem Krankenhaus. Freiberuflich hat sie nebenher die Vor- und Nachsorge von Schwangeren übernommen. „Da bekommt man eine Menge zu sehen! So verschieden die Frauen sind, so un- 20 BETRIFFT 2/2004 Interessen und Überzeugungen darin verwirklichen zu können. terschiedlich erleben sie auch ihre Schwangerschaft. Und hinzu kommen noch die kulturellen Unterschiede.“ Am Anfang ihrer Berufstätigkeit hat sie fast nur deutsche Frauen betreut. Mittlerweile sind es überwiegend Frauen türkischer Herkunft. „Es gibt in Hannover fast keine türkischen Hebammen.“ Sie überlegt kurz: „Außer mir kenne ich nur noch eine weitere.“ Gleichzeitig gibt es aber viele junge türkische Frauen, die kein Deutsch verstehen und keine Kenntnis darüber haben, welche medizinischen Maßnahmen ihnen im Rahmen ihrer Krankenversicherung zustehen. „Es kommt immer mehr in Mode, dass sich türkische Männer, die in Deutschland leben, zum Heiraten junge Frauen aus ihrer Heimat kommen lassen.“ Man merkt der Hebamme ihre Missbilligung an. „Diese Frauen bekommen hier nicht nur einen Kulturschock, sondern man muss sich auch klar machen, dass es sich in der Regel nicht um eine Liebesheirat handelt.“ In der Türkei wären diese Frauen in der Schwangerschaft und nach der Geburt von ihrer Familie rundum versorgt. Hier in Deutschland sind sie hingegen oftmals auf sich allein gestellt. „Viele Frauen sind nicht einmal aufgeklärt, plötzlich schwanger von einem Mann, den sie nicht lieben, in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen.“ Bei ihren Schilderungen wird deutlich, wie engagiert Ayse Oruç sich diesem Thema widmet. Als sie vor zwei Jahren ihre Tätigkeit im Krankenhaus aufgibt, versucht sie in der Nordstadtklinik eine Sprechstunde für Migrantinnen einzurichten. Sie merkt aber schon bald, dass sie ihre Vorstellungen innerhalb der bestehenden Strukturen nicht umsetzen kann. „Ich bedauere sehr, dass türkische Frauen das Angebot der medizinischen Versorgung so wenig wahrnehmen. Oft sind es übrigens die Ehemänner, die dies verbieten“, weiß die Hebamme aus langjähriger Erfahrung. So versucht sie, Vorurteilen und auch so manchem Aberglauben rund um die Schwangerschaft und Geburt durch Aufklärung entgegenzuwirken. Ihre türkische Herkunft gibt ihr diese Möglichkeit. Und sie nutzt sie, soweit es im Rahmen ihrer Arbeit möglich ist. Rena Bürger Journalistin, Hannover Nachrichten Veröffentlichungen Kurz und knapp Beide im folgenden genannten Publikationen des Deutschen Instituts für Menschenrechte erklären kurz und knapp, wie z. B. Deutschland seinen Berichtspflichten nachkommt, welche Kritikpunkte die Expertenausschüsse an der deutschen Praxis formulieren und wie die Bundesregierung darauf antwortet. In der Publikation „Die Berichterstattung zu Deutschland in europäischen Menschenrechtsinstitutionen“, Berlin 2003, ISBN 3-9808112-5-5, werden vier europäische Überprüfungsverfahren erklärt, die Europäische Sozialcharta, das Antifolterabkommen, die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz und das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Im Mittelpunkt der Broschüre „Die deutsche Menschenrechts-Berichterstattung gegenüber den Vereinten Nationen“ (während der 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages), Berlin 2003, ISBN 3-9808112-4-2, stehen die sechs Abkommen zu Rassendiskriminierung, politischen und bürgerlichen Rechten, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, Folter, Frauenrechten und Kinderrechten. Deutsches Institut für Menschenrechte, Zimmerstraße 26/27, 10969 Berlin, [email protected] Das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) hat folgende Schriften und Beiträge herausgegeben: Fragen erlaubt „Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ Göttingen 2003, ISBN 3-89971-104-1 Fragmentierung, Undurchschaubarkeit und Schwerfälligkeit bei mangelnder Steuerungsübersicht – das kennzeichnet nach Einschätzung der von der Bundesregierung eingesetzten „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ den gesamten Bereich der Kontrolle und Gestaltung von Migration in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Reformen werden dringend angemahnt. Die Beiträge des Sammelbandes bieten Einblicke in die Entwicklung von Steuerung und Verwaltung. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach Interessen, Modellen und Versuchen zur politischen und administrativen Gestaltung von Wanderungsbewegungen sowie nach unterschiedlichen Zuwanderungs- und Integrationspolitiken gegenüber einzelnen Zu- und Einwanderergruppen. Blick in den Alltag „Kriminal- und Drogenprävention bei jugendlichen Aussiedlern“ Göttingen 2003, ISBN 3-89971-111-4 Die Integration der Zugewanderten wie der neu Zuwandernden muss ein vorrangiges Ziel einer zukunftsorientierten Migrationspolitik sein. Trotzdem zeigt ein Blick in den Alltag, dass die Maßnahmen bei jugendlichen Aussiedlern inzwischen nur bedingt reifen. Nicht zu übersehen ist, dass die Zahl der straffällig gewordenen Aussiedlerjugendlichen in den letzten Jahren gestiegen ist und dass diese Jugendlichen vielfach in für ihre Betreuer unbekannte und unzugängliche Beziehungs- und Machtstrukturen innerhalb, aber auch außerhalb des Strafvollzugs einbezogen sind. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung, die den Beziehungs- und Machtstrukturen, den neuen Ansätzen in der Integrationsarbeit sowie den Möglichkeiten der Bündelung von Kompetenzen aus den verschiedenen beteiligten Institutionen und Organisationen galt. Herausforderung „Neue Zuwanderung aus dem Osten“ Göttingen 2003, ISBN 3-89971-113-0 Die Osterweiterung wird als die größte Herausforderung für die EU angesehen. In der öffentlichen Diskussion werden allerdings vielfach Fakten und unbelegte Prognosen vermischt sowie Stereotypen bedient und Ängste geschürt. Der Band versammelt Beiträge zu den schon gegebenen und noch zu erwartenden Migrationsprozessen und zu den Zielen, die die (potenziellen) Migrantinnen und Migranten verfolgen. Dargestellt wird, wie die EU-Osterweiterung in zwei der zehn Beitrittsländer – Polen und Tschechien – diskutiert wird. Zwei Beiträge sind der Frage gewidmet, welche Integrationsangebote es gibt bzw. geben sollte, und wie hoch der Integrationsbedarf einzuschätzen ist. Alle drei Titel sind zu beziehen bei: V & R unipress, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen, f.lonz@vr-unipress. de Der Waxmann Verlag hat folgende Bücher verlegt: Plurale Schülerschaft „Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiografien“ Münster 2003, ISBN 3-8309-1279-X Wenn die Welt „globaler“ wird – wie reagieren die nationalen Bildungsinstitutionen darauf? Wie gehen sie mit den komplexen Anforderungen einer immer pluraleren Schülerschaft um? Über eine Forschung, in der solchen Fragen aus einer ungewöhnlichen Perspektive nachgegangen wird, gibt dieses Buch Auskunft. Berichtet wird über die Bildungsbedingungen von in besonderer Weise ausgegrenzten und benachteiligten afrikanischen Flüchtlingsjugendlichen. Bildungsbedingungen „Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger. Migration, Integration und schulischer Erfolg in einer vietnamesischen Exilgemeinschaft“ Münster 2003, ISBN 3-8309-1278-1 Auf der Grundlage einer mehrjährigen Feldforschung wurden die Bildungsbedingungen und Bildungserfahrungen von Schülerinnen und Schülern aus vietnamesischen Flüchtlingsfamilien in Deutschland untersucht. Vor dem Hintergrund der Fluchtmigration aus Vietnam und den Lebensbedingungen in einer norddeutschen Großstadt werden die Einflüsse von Schule, Familie und ethnischem Netzwerk auf die Bildungspartizipation aus der Perspektive der Akteure analysiert. Die Studie macht deutlich, dass der Wahrnehmung der in der Aufnahmegesellschaft offerierten Lebenschancen eine herausragende Bedeutung für das Ver- BETRIFFT 2/2004 21 Nachrichten ständnis des schulischen Erfolgs dieser Zuwanderergruppe zukommt. Beide Titel zu beziehen bei: Waxmann Verlag GmbH, Steinfurter Straße 555, 48159 Münster, [email protected] Arbeitshilfen Anregungen „Gefährlich fremd?“ Zum kritischen Umgang mit Medien Düsseldorf 2003 Der Flyer thematisiert die problematische Berichterstattung in den Medien über Menschen mit Migrationshintergrund und gibt Beispiele, Erläuterungen und Anregungen zur kritischen Lektüre von Medienberichten. Durch die verschiedenen Ebenen der medialen Sprache, den Rekurs auf den Alltag sowie die abschließenden Tipps eignet sich der Flyer als begleitendes Seminarmaterial in Schule und Jugendarbeit. Er kann bis zu einer Stückzahl von 30 Exemplaren kostenlos bestellt werden. IDA e. V., Volmerswerther Straße 20, 40221 Düsseldorf, Tel. (02 11) 1 59 25 55, Fax (02 11) 15 92 55 69, [email protected] Integrationspolitik „Zuwanderung und Integration gestalten. Bausteine für ein zukunftsweisendes Integrationsprogramm für Deutschland“ Mit diesem Papier stellt der Deutsche Caritasverband seine Überlegungen in Bezug auf eine künftige Integrationspolitik in Deutschland vor, die Migrantinnen und Migranten und Einheimische mit einbezieht. Deutscher Caritasverband, Postfach 4 20, 79004 Freiburg, Telefon-Zentrale: (07 61) 2 00-0 Mehr als zwei Sprachen „Bilinguales Lernen im interkulturellen Kontext“ Braunschweig 2003, ISBN 3-14-162059-8 Bilinguales Lernen ist mehr als das Lernen in zwei Sprachen vom ersten Schuljahr an. Das Konzept beinhaltet darüber hinaus die Möglichkeit, im Sinne einer interkulturellen Erziehung voneinander zu lernen. Wie aber kann ein bilinguales Konzept in das Schul- 22 BETRIFFT 2/2004 programm eingebunden werden? Welche Wege der bilingualen Alphabetisierung gibt es? Wie kann eine Fremdsprache in den Sach- und Fachunterricht integriert werden? Diese und weitere Fragen werden erörtert und mit praktischen Beispielen aus bilingualen deutsch-italienischen Schulprojekten bereichert. Dabei werden auch die Möglichkeiten aufgezeigt, die dieser Ansatz im Sinne einer interkulturellen Erziehung bietet. Westermann Schulbuchverlag GmbH, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig, schulservice@ westermann.de Dokumentationen Perspektiven „Sonderpädagogik oder Pädagogik der Vielfalt?“ Dokumentation einer Fachtagung, Hannover 2004 Bisher werden Menschen mit Behinderung in den Angeboten für MigrantInnen und Flüchtlinge kaum wahrgenommen. Auch die deutsche Behindertenhilfe begegnet ihren Bedürfnissen eher unzureichend. Dieses aktuelle integrationspolitische Thema hat die Landeshauptstadt Hannover/ Interkulturelle Angelegenheiten nun in der Dokumentation der Fachtagung vom 29.9.2003 mit dem Runden Tisch für ein interkulturelles Hannover gegen Rassismus, Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit aufgegriffen. Wichtige Stichworte dazu sind z. B. transkulturelle Öffnung der Behindertenhilfe, regionübergreifende Lobbyarbeit sowie kultursensible Angebote. Die Dokumentation macht nicht nur auf die Sonderschulproblematik – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – aufmerksam, sondern zeigt auch mögliche Perspektiven auf. Die Broschüre ist im Internet unter www.hannover.de/deutsch/doku/paedagogik_der_vielfalt.pdf zu finden oder kann bestellt werden bei: Landeshauptstadt Hannover, Postfach 125, 30001 Hannover, Tel. (05 11) 1 68-0 Neuer Dialog Aus der Reihe `Miteinander reden – nicht übereinander`: „Wie verändert der Islam die Schule?“ Nachdem die Grundsatzentscheidung über das Verbot religiöser Symbole an Berliner Schulen gefallen ist, hat Berlins Beauftragter für Integration und Migration einen neuen Dialog mit dem Islam gefordert. Die Ergebnisse der unter der Veranstaltungsreihe „Under Construction – Einwanderungsstadt Berlin“ durchgeführten Veranstaltung zum Thema „Wie verändert der Islam die Schule im Kiez?“ sind jetzt als Dokumentation erhältlich. Kostenloser Download im Internet unter: www.berlin.de/auslb Bundesweit erprobt „Interkulturelles Wissen und Handeln. Neue Ansätze zur Öffnung sozialer Dienste“ Berlin 2003 Interkulturelle Öffnung ist inzwischen ein anerkanntes Paradigma. Dabei geht es im Wesentlichen um eine nachholende Beschäftigung öffentlicher Institutionen mit dem Phänomen der Einwanderung. Vor allem in Schlüsselinstitutionen der gesellschaftlichen Integration wie Schule, Sozial- und Gesundheitsdienste, Polizei und Justiz lassen sich die Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft nicht mehr verdrängen. Die Dokumentation des Modellprojekts „Transfer interkultureller Kompetenz (TiK)“ versucht eine Lücke in der konzeptionellen Entwicklung zu schließen, indem sie ein bundesweit erprobtes Konzept vorstellt, das die Rolle eines breitgefächerten Wissens für interkulturelle Öffnung und die bisher kaum thematisierte Verknüpfung von Weiterbildung, prozessorientierter Organisationsberatung und Wissenstransfer in den Vordergrund stellt. Transfer interkultureller Kompetenz (TiK), Oranienstr. 34, 10999 Berlin, [email protected] Normalität und Chance „Fremde Heimat Eberswalde? Zuwanderungen in Vergangenheit und Gegenwart“ Stadt Eberswalde 2003 Das bebilderte Begleitheft zu der gleichnamigen Ausstellung stellt die Nachrichten Geschichte von der Zuwanderung der Hugenotten im 17. Jahrhundert über die ehemaligen Vertragsarbeiter in der DDR bis in die heutige Zeit dar. Anliegen ist es, den fremdenfeindlichen Vorurteilen entgegenzuwirken und die Zuwanderung als Normalität und Chance zu begreifen. Die Ausstellung wird noch bis Ende Oktober 2004 gezeigt. Landkreis Barnim, Heegemühler Straße 75, 16225 Eberswalde, [email protected] Studien Perspektiven „Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethnokulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit“ Waxmann Verlag, Münster 2003, ISBN 3-8309-1268-4, ISSN 1432-8186 Unter der Perspektive „Zugehörigkeit“ widmet sich die vorliegende Studie einer Personengruppe, die in Deutschland aufgewachsen ist und für die aufgrund von Zuschreibungsprozessen mehrere nationale Zugehörigkeitskontexte von signifikanter Bedeutung sind. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, was unter natio-ethnokultureller (Mehrfach)Zugehörigkeit verstanden werden kann. Die Studie endet mit Überlegungen zu Bedingungen von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit unter Bedingung von Mehrfachzugehörigkeit. Waxmann Verlag GmbH, Steinfurter Straße 555, 48159 Münster, [email protected] Psychosoziale Aspekte Regula Weiss: „Macht Migration krank? Eine transdisziplinäre Analyse der Gesundheit von Migrantinnen und Migranten“ Seismo Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-908239-86-9 Die Arbeit fasst die Forschungen zusammen, die von der Autorin im Auftrag zum Thema „Migration und Gesundheit“ durchgeführt wurden. Der Themenkomplex ist dabei im Grenzbereich Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Soziologie und Ethnologie angesiedelt. Dabei legt Regula Weiss bei ihren Forschungen den Schwerpunkt auf psychosoziale Aspekte im Rahmen der somatischen Gesundheit von MigrantInnen. Seismo Verlag (Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen), Zähringerstraße 26, CH-8001 Zürich, [email protected] Veranstaltung Integrationskongress des Deutschen Caritasverbandes: „Zuwanderung und Integration gestalten – Zukunft gewinnen“, 28. bis 30. September 2004, Umweltforum Berlin, Auferstehungskirche Der Deutsche Caritasverband lädt zu einem Austausch über die Bedingungen, Herausforderungen und Ziele des Integrationsprozesses ein. Gemeinsam mit Vertretern aus Wissenschaft und Forschung, Politik und Wohlfahrtsverbänden soll über die Umsetzung integrationspolitischer Konzepte und die damit verbundenen Anforderungen an die Gesellschaft diskutiert werden. Deutscher Caritasverband e.V., Karlstraße 40, 79104 Freiburg, Fax (07 61) 2 00-7 55, [email protected] Termine Begegnungsfest der Migrantinnen und Migranten aus Norddeutschland: „Karneval der Kulturen“, 10.–12. September 2004, Hamburg Kulturwelten e. V., Karneval der Kulturen Hamburg, Bernstorffstraße 118, 22767 Hamburg, Fax (0 40) 43 91 09 11, [email protected] 10. Niedersächsisches Schüler- und Jugendfilmfestival: „Uelzener Filmtage 2004“ – Das Festival für junge FilmemacherInnen unter 21 Jahren vom 12. bis 14. November 2004, Einsendeschluss: 1. September 2004 Stadt Uelzen, Herzogenplatz 2, 29525 Uelzen, Fax (05 81) 8 00-1 00, www.uelzen-filmtage.de LAG Jugend & Film Niedersachsen e. V., Moorstraße 98, 29664 Walsrode, Fax (0 51 61) 91 14 64, info@lag-jugendund-film.de, www.lag-jugend-undfilm.de Neuer Landesbeauftragter Rudolf Götz, Landtagsabgeordneter aus Seesen im Harz, wurde im Sommer 2003 zum Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler bestellt. Damit verfolgt die Landesregierung insbesondere das Ziel, die Integration der Spätaussiedler zu verbessern. Rudolf Götz ist Ansprechpartner für alle gesellschaftlichen Gruppen, die bei Maßnahmen zur Eingliederung von Spätaussiedlern mitwirken. Er soll die Landesregierung in allen Angelegenheiten der Spätaussiedler, der Zusammenarbeit mit den Verbänden der Heimatvertriebenen, bei der Kulturarbeit sowie bei den heimatpolitischen und grenzüberschreitenden Maßnahmen politisch beraten. Damit betont die Landesregierung auch ihre Verbundenheit mit den Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern. Zugleich greift die Landesregierung damit besondere Maßnahmen auf, um die Schwierigkeiten insbesondere der jungen Spätaussiedler bei der Eingliederung in die hiesigen Lebensverhältnisse überwinden zu helfen. Um die politische Bedeutung dieses Anliegens zu unterstreichen und die Unabhängigkeit des Landesbeauftragten hervorzuheben, wurde dieses Amt einem Landtagsabgeordneten übertragen. Rudolf Götz ist über das Niedersächsische Innenministerium unter der Rufnummer (05 11) 1 20-47 54, über Telefax unter (05 11) 1 20-48 84 und per E-Mail unter Rudolf.Goetz@mi. niedersachsen.de zu erreichen. BETRIFFT 2/2004 23 Erfolgreiche Integration ist kein Zufall Strategien kommunaler Integrationspolitik im Wettbewerb Gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern schreibt die Bertelsmann Stiftung einen bundesweiten Wettbewerb zur „Best-Praktice“ kommunaler Integrationspolitik aus. Viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund leisten in Deutschland einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg und damit zum Wohlstand wie auch zum kulturellen Leben. Diese Entwicklung zu fördern, ist eine der wichtigsten innenpolitischen Aufgaben in den nächsten Jahren. Gelingen kann dies nur auf der Basis erfolgreicher Integration. Dass diese aber kein Zufall ist, wissen Städte, Landkreise und Gemeinden am besten. Sie leisten bei der Integration von Zuwanderern kompetente Arbeit, indem sie Strategien kommunaler Integrationspolitik entwickeln und umsetzen. Diese zukunftsweisende Arbeit herauszustellen, zu vergleichen und zu optimieren, um anschließend die besten Ansätze allen Kommunen zugänglich zu machen, ist das Ziel des Wettbewerbs. Die Ausschreibung läuft bis zum 10. September 2004. Sie richtet sich an alle deutschen Kommunen: Städte, Stadtbezirke, Landkreise und Gemeinden. Für die Sieger stehen Preisgelder von insgesamt 50.000 Euro zur Verfügung. Die Ausschreibungsunterlagen können im Internet abgerufen werden unter: www.erfolgreiche-integration.de Kontakt: Bertelsmann-Stiftung, Claudia Walther Telefon (0 52 41) 8 18 13 60, [email protected] 24 BETRIFFT 2/2004