2/2004 - Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung

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2/2004 - Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
2/2004
Juni/Juli/
August
ZEITSCHRIFT DER AUSLÄNDERBEAUFTRAGTEN DES LANDES NIEDERSACHSEN
H 5957
MEHR
HEITEN
MINDER
HEITEN
MEDIEN:
Von Botschaften und Bildern
Niedersachsen
Medien:
Von Botschaften und Bildern
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
Es ist gewagt, ein ganzes Schwerpunktthema den Medien in Zusammenhang mit Migration zu widmen.
Nicht, weil es kein Thema wäre, sondern gerade weil es ein großes Thema
ist, über das man ganze Buchreihen
verfassen könnte. Aber wie immer ist
der Platz dieser Zeitschrift beschränkt,
und so kann sie relevante Fragen nur
anreißen und nur einige Schattenseiten
ausleuchten. Aber das zumindest.
Der Medienexperte Prof. Georg
Ruhrmann hinterfragt, wie oft und in
welcher Form über Ausländer im deutschen Fernsehen berichtet wird.
Eine andere, eher verborgene Seite
des Fernsehens illustriert der türkische
Schriftsteller Osman Engin mit seiner
Kurzgeschichte „Getürkter Türk“.
Agnes Koller führt mit ihren Beobachtungen durch verschiedene Alltagsbereiche und beschreibt, welche Informationen und Medien dort auch für
Migranten zu entschlüsseln sind.
Prof. Sigrid Luchtenberg fokussiert
ihren Blick auf Medien für Kinder und
Jugendliche und legt dar, wie sich die
Einwanderungsgesellschaft darin spiegelt.
Isabel Rodde hat die diesjährige
Berlinale besucht und sich dort nach
Filmen zum Migrationsthema umgesehen.
Schließlich beschreibt Swaantje Düsenberg, ob und wie Werbung und
Marketing Ausländer präsentieren.
Auf ein Wort
Gefühlte Bedrohung
von Gabriele Erpenbeck ............................................................................3
Thema
Migranten im Fernsehen: Mittendrin oder außen vor?
von Georg Ruhrmann ................................................................................4
Fernsehen mit Migranten: Getürkter Türk
von Osman Engin .......................................................................................6
Informationen im Alltag: Gewollt oder unerwünscht?
von Agnes Koller........................................................................................8
Medien für Kinder und Jugendliche: Kleine Lichtblicke
von Sigrid Luchtenberg ...........................................................................10
Kino: Raus aus der Migranten-Ecke
von Isabel Rodde......................................................................................12
Werbung und Marketing: Sportlich und exotisch
von Swaantje Düsenberg ........................................................................14
Forum
Entwicklung: Europa und die Neuen
von Monika Wolff ....................................................................................16
Mehrsprachigkeit: Adesso vai ins Bett
von Claudio Nodari ..................................................................................18
Portrait: „Herzklopfen“ in Linden
von Rena Bürger ......................................................................................20
Nachrichten ..............................................................................................21
Impressum
Herausgeberin/Verlegerin (ViSdP) und Redaktionsanschrift:
Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport (MI) – Ausländerbeauftragte, Postfach 2 21, 30002 Hannover
Produktion: Liza Yavsan, Tel. (05 11) 1 20-48 65, E-Mail: [email protected]
Redaktion: Swaantje Düsenberg, Gabriele Erpenbeck, Anette Hoppenrath, Dieter Schwulera, Liza Yavsan
Titelfoto: Katerina M. Agsten
Gestaltung: set-up design.print.media, Hannover · Druck: Sponholtz Druckerei GmbH & Co. KG, Hemmingen · Vertrieb: Lettershop Brendler GmbH, Laatzen
Erscheinungsweise: jeweils Ende März, Juni, September, Dezember
Bezugspreis: Die Zeitschrift kann gegen einen Kostenbeitrag (Einzelexemplar 2 € inkl. Versandkosten) bezogen werden.
Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin (wird gern erteilt). Alle Rechte vorbehalten.
© Die Ausländerbeauftragte des Landes Niedersachsen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der Herausgeberin und
der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Materialien übernimmt die Redaktion keine Haftung; im Falle eines Abdrucks kann
die Redaktion Kürzungen ohne Absprache vornehmen.
Betrifft wird auf chlorfrei gebleichtem Material gedruckt. ISSN 0941-6447
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BETRIFFT 2/2004
Auf ein Wort
Foto: Agsten
Gefühlte Bedrohung
Kaum ein Thema wird derzeit
so kontrovers diskutiert wie
muslimische Lehrerinnen mit
Kopftuch in der Schule. Was
steckt hinter dieser Debatte?
Integration wurde lange als Anpassung
an die hiesige Gesellschaft verstanden,
manchmal bis zur Assimilation. Dann
verengte die Debatte um das Zuwanderungsgesetz den Integrationsbegriff
auf die Beherrschung der deutschen
Sprache. Inzwischen geht vielen auf,
dass deutsche Sprachkenntnisse zwar
eine Voraussetzung für Integration
sind, sie aber weder bewirken noch belegen können. Nun haben die Auseinandersetzung um die Kopftücher und
nicht zuletzt die Terroranschläge im
Namen eines vollkommen auf Abwege
geratenen Islams zu einer neuen Wendung im öffentlichen Diskurs geführt.
Integration von Nicht-Muslimen ist anscheinend kein Problem. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass sie unsere Werteordnung akzeptieren und
leben. Der Stand der Integration von
Muslimen wird aber mittlerweile oft am
Tragen des Kopftuchs festgemacht. Die
Rechtsordnung verlangt zunächst das,
was häufig abwertend als „nur formale
Integration“ bezeichnet wird: nämlich
das Einhalten eben dieser Rechtsordnung. Wer stellt nun – und vor allem
wie – fest, ob generell oder im Einzelfall das Kopftuch ein politisches Symbol
gegen die hiesige Rechtsordnung oder
die Gesellschaftsform ist?
In das niedersächsische Schulgesetz
wurde kürzlich folgender Passus aufgenommen: „Das äußere Erscheinungs-
bild von Lehrkräften in der Schule darf,
auch wenn es von einer Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird, keine Zweifel an der
Eignung der Lehrkraft begründen, den
Bildungsauftrag der Schule (§ 2) überzeugend erfüllen zu können.“
Folgende Fragen müssen aber weiter
diskutiert werden: Wie werden die Länder mit männlichen Lehrkräften muslimischen Glaubens umgehen, wenn
sie fundamentalistische oder islamistische Ansichten vertreten sollten? Und
wohl noch wichtiger: Was geschieht
mit anderen religiösen Symbolen, die
Lehrkräfte im Unterricht tragen? Welche Stellung kommt der Religion überhaupt in der Öffentlichkeit zu? Soll die
Religionsfreiheit auch zukünftig öffentliche und – im weiteren Sinne des
Wortes – politische Aktivitäten von Religionsgemeinschaften umfassen können, wie nicht nur von den christlichen
Kirchen in Deutschland immer wieder
praktiziert und als selbstverständlich
vorausgesetzt?
Die Kopftuchdiskussion scheint auch
ein Ventil für Probleme mit der Religion und Religiosität überhaupt zu sein.
Zwischen den Argumenten schwingt
nämlich Unsicherheit über den Zustand der eigenen christlich geprägten
Kultur mit. Vieles Selbstverständliche
ist der Mehrheitsgesellschaft anscheinend abhanden gekommen. Jedenfalls
vermutet oder registriert sie einerseits
ein immer größer werdendes religiöses
Vakuum – und andererseits unter den
Kopftüchern einen anscheinend selbstgewissen Islam, der sich der tatsächlichen oder angenommenen Leerräume
bemächtigen will. So schwebt über der
Kopftuchdebatte nicht nur an Muslime,
sondern auch an Christen und Atheisten die Gretchenfrage: Wie hältst du es
mit der Religion?
Gabriele Erpenbeck
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Thema: Medien
Migranten im Fernsehen:
Mittendrin oder außen vor?
Fernsehen ist das politische Leitmedium. Hier entscheidet sich, wer öffentlich gesehen und gehört wird. Wer
nicht im Fernsehen ist, kann politisch
auch keinen Einfluss entfalten. Dabei
spiegelt Fernsehen die soziale Wirklichkeit nicht einfach wieder. Denn es
wählt aus, setzt Akzente und focussiert
auf aktuelle Ereignisse. Aus tausenden
von Agenturmeldungen wählt z. B. die
Tagesschau täglich gerade einmal 15
Nachrichten aus.
Szene aus: „Outlaws“
Quelle: © ORB/ZDF
Sensationelle Berichterstattung
„Only bad news are good news“.
Dieser journalistische Lehrsatz
beeinflusst die TV-Präsenz von
Migranten. Gerade im Fernsehen
treten „Ausländer“ häufig nur
ausnahmsweise auf: nämlich
überwiegend als „Opfer“ oder
als „Täter“. Als aktive „Mitbürger“ bleiben sie weitgehend
unsichtbar.
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BETRIFFT 2/2004
Doch Medienanalysen belegen hier ein
typisches Negativsyndrom. Denn je aktueller die Berichterstattung präsentiert
wird, desto eher fallen sensationelle
Aussagen über Migranten auf: sie werden entweder als Straftäter oder aber
als Opfer von Diskriminierung sichtbar.
Fernsehen verstärkt diese Tendenzen.
Denn uns Zuschauern werden meistens nur einfache Ursachen-Wirkungszusammenhänge präsentiert. Die Folge
ist eine angstvoll besetzte Kommunikation. Das Thema „Ausländerkriminalität“ ist dafür nur ein Beispiel – aber mit
ihm können sogar Landtagswahlen gewonnen werden!
Kommunikationswissenschaftler haben die Fernsehberichterstattung über
Migranten erst seit Mitte der 90er Jahre
analysiert. Gefragt wird u. a. wie es möglich ist, dass nach fremdenfeindlichen
Schlüsselereignissen (z. B. Hoyerswerda
und Rostock) vermehrt Nachahmungstaten zu verzeichnen sind.
Offensichtlich trägt vor allem die
aktuelle TV-Berichterstattung zur weiteren Ausbreitung von fremdenfeindlichen Straftaten bei. Insbesondere die privaten Sender zeigen nur kurze,
plakative Nachrichten. Neueste Studien
zeigen zudem, dass die privaten Sender
den Anteil politischer Informationen in
den Nachrichten zurückfahren. Stattdessen präsentieren RTL, RTL2, SAT1,
VOX oder Kabel1 in den letzten 10 Jahren zunehmend Meldungen mit „Human-Touch“, also Personality-News –
und schüren auch Angst, vor allem vor
der Ausländerkriminalität.
Neun Thesen zum Negativ-Image
Man kann aufgrund bisheriger internationaler Forschungsergebnisse in den
USA und in Westeuropa neun Thesen
zum öffentlichen Negativimage von
Migranten formulieren:
1. Wenn überhaupt über Migranten im
Fernsehen berichtet wird, dann häufig
im Zusammenhang mit Kriminalität.
Die Schwere der Delikte wird dabei im
Vergleich zur Inländerkriminalität besonders hervorgehoben.
2. Unerwünschte Migranten (vor allem
hierzulande die Türken und Ausländer
aus nicht europäischen Ländern) sind in
der Berichterstattung zum Teil deutlich
überrepräsentiert. Das führt in der Bevölkerung auch zu dramatischen Fehleinschätzungen: so nehmen „Inländer“
in Großstädten schon mal doppelt so
viele Ausländer wahr, als tatsächlich in
der Stadt leben.
3. Die Medien definieren das „Ausländerproblem“ über zwei Jahrzehnte
hinweg in ein „Türkenproblem“ bzw.
„Asylantenproblem“ um. Derzeit wird
die Debatte um ein neues Einwanderungsgesetz zunehmend von sicherheitspolitischen Gesichtspunkten der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus überlagert.
4. Boulevardmagazine und -formate
berichten über besonders „fremd“ erscheinende Kulturen in einem exotischen Rahmen. Dies reduziert die Anstrengungen, sich auf die Globalität
der Welt einzulassen, enorm.
5. Die Presse- und vor allem die Fernsehberichterstattung über Migranten
orientiert sich an aktuellen Ereignissen und vernachlässigt Hintergrundinformationen. Unklar bleiben also
die Bedingungen der Migrationsursachen sowie die mit ihnen verbundenen
Folgerisiken und -chancen der gesellschaftlichen Entwicklung, etwa im Hinblick auf die demographische Situation
in Deutschland und in Europa.
6. Negative Ereignisse werden besonders im Fernsehen dramatisiert und
führen bisweilen – vor allem nach so
genannten spektakulären Zwischenfällen – zu einer eskalierenden Ent-
Quelle: WDR
Szene aus:
„Lindenstraße“
Sind Verbesserungen denkbar?
Über diese Situation hat man nachgedacht. Lassen sich etwa – wie Anfang
der 90er Jahre vielfach versucht – durch
Toleranzkampagnen das Negativimage
und die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit verändern? Die Medienwirkungsforschung zeigt, dass Form und
Inhalt der Kampagnen die Fremdenfeindlichkeit in ausländerfeindlich gestimmten Bevölkerungsgruppen nicht
reduzieren konnten. Ähnliches gilt
auch für die Rezeption von ausländer-
bezogenen Themen im Hörfunk: Je
größer die Vorbehalte bzw. das Unwissen gegenüber fremden Kulturen, desto geringer das Interesse an Sendungen
mit interkulturellen Inhalten.
Kann die Medienpraxis – so werden Wissenschaftler gefragt – angesichts dieser ernüchternden Diagnosen
etwas „besser“ machen? Die Antwort
erscheint paradox, sie sollte hier daher
nicht als Patentrezept missverstanden
werden.
Anregungen für die Medienpraxis
Moralisierung: Bemühte Versuche,
Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile und
Diskriminierung von Minderheiten umstandslos per Parteitags- oder Redaktionsbeschluss einfach vermeiden zu
wollen, funktionieren nicht wirklich.
Sie könnten aufgegeben werden.
Idealisierung: Beziehungen zwischen
Ausländern und Inländern sind durch
Beunruhigungen, vielfältige Irritationen und Konflikte gekennzeichnet.
Diese Spannungen sollten dargestellt
und erklärt werden, bevor man sie zu
lösen versucht.
Aktualisierung: Nicht nur Konflikte,
sondern auch geglückte Verständigung
und erfolgreiche Zusammenarbeit von
Aus- und Inländern ließen sich zum Medienthema machen. Dies setzt allerdings eine veränderte journalistische
Souveränität beim Umgang mit dem
Aktualitätskonzept voraus.
Nennung von Staatsangehörigkeit und
Hautfarbe: Bereits vor über 25 Jahren empfahlen amerikanische Militärdienststellen in Frankfurt, bei der Berichterstattung über Kleinkriminalität
den Informationswert der Bezeichnung
„farbiger GI“ zu überprüfen.
Solche Anregungen fallen in eine Zeit
verschärfter Konkurrenz der Sender um
Einschaltquoten. Aber ein angemesseneres Image der Migranten hierzulande würde auch das Bild von Deutschland in der Welt verändern.
Prof. Dr. Georg Ruhrmann
Lehrstuhl für Grundlagen der
medialen Kommunikation und der
Medienwirkung an der FriedrichSchiller-Universität Jena
Die Sendung läuft freitags
um 21.15 Uhr bei Sat1
Quelle: Sat1/Ralf Jürgens
wicklung. Dies geschieht nicht zuletzt
aufgrund geänderter journalistischer
Wahrnehmungs-, Auswahl- und Präsentationsstrategien.
7. Die Folgen weltweiter Migrationsprozesse und die entsprechenden
interkulturellen Veränderungen werden über Jahrzehnte hinweg in einer
Semantik der Bedrohung dargestellt.
Das bedeutet: Migration wird nicht als
Ergebnis von Akteuren, zurechenbaren
Entscheidungen oder als politisches Risiko begriffen. Vielmehr wird von nicht
zurechenbaren Gefahren, ja sogar von
Katastrophen im Sinne von Hochwasser
und Stürmen gesprochen.
8. In ihrer aktuellen Berichterstattung
ignorieren die Medien die tieferen sozialen und psychologischen Ursachen
rechtsradikaler Entwicklungen, insbesondere auch in den neuen Bundesländern. Außerdem berichtete das
Fernsehen bisher eher selten über die
rechtsextreme Propaganda im Internet
und die damit verbundene juristische
Sanktionierung und polizeiliche Verfolgung.
9. Seit dem 11. September 2001 dominieren im Fernsehen die Themen „Islamismus“ und „Terrorbekämpfung“.
Wirtschafts- und Sozialberichterstattung: Sie kann aufzeigen, wie ausländisches Kapital und Migranten als Arbeitskräfte zur Wirtschaft beitragen
und nicht nur in soziale Sicherungssysteme einwandern.
Personalpolitik in Redaktionen: Hier
wird darüber entschieden, inwieweit
Migranten überhaupt als Journalisten,
Darsteller und Sprecher wahrgenommen werden. Wichtig ist dabei, dass
Migranten nicht nur mit Sendungen
und Verantwortlichkeiten für Migranten befasst sind, sondern mit dem gesamten Programm. Audiovisuelle Medien können Migranten – wie das Beispiel
USA zeigt – vor allem in Unterhaltungssendungen als positive Identifikationsfigur darstellen.
Programmangebote: Sie sollten bei öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Fernsehsendern im Hinblick
auf Nutzung und Wirkung überprüft
und ggf. modifiziert werden.
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Thema
Fernsehen mit Migranten:
Osman Engin
Das Fernsehteam hat sich im Wohnzimmer breit gemacht,
und alle meine Nachbarn, Freunde und Kollegen haben in den
übrigen Räumen Stellung bezogen.
Der hiesige Regionalsender will einen großen Bericht über den
berühmtesten Sohn unserer Stadt drehen.
Stolz frage ich meine Tochter: „Na,
Hatice, wer ist wohl die berühmteste
Persönlichkeit unserer Stadt, über die
jetzt ein Film gedreht wird?“ Mit einer unscheinbaren Augenbewegung
deutet Hatice auf ihr Sparkamel (türkische Kinder haben keine Sparschwei-
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BETRIFFT 2/2004
Foto: privat
Getürkter Türk
ne!). Wie kann denn ein sechsjähriges
Mädchen so materialistisch sein?! Als
ich so alt war wie sie, wäre ich nie auf
die Idee gekommen, Geld dafür zu verlangen, meinen leiblichen Vater öffentlich zu loben. Eine Tracht Prügel war
damals völlig ausreichend. Wie zufällig
lasse ich unbemerkt ein 50-Cent-Stück
in ihr Sparkamel fallen.
„Nun sag schon, Hatice, wer ist wohl
der berühmteste und bestaussehendste Papa in unserer Stadt?“ Aber Hatice
verdreht nur die Augen. Ich weiß genau, was sie sagen will: „Für ein paar
Cent putze ich mir nicht mal die unteren Zähne!“
Seit kurzem müssen wir sie nämlich
dafür bezahlen, dass sie sich ihre Zähne putzt. Meine Tochter ist geldgierig,
bösartig und durchtrieben: ich bin stolz
auf sie. Sie wird‘s weit im Leben bringen! Weiter als ihr Vater!
Als noch ein blitzendes Zwei-EuroStück in ihrem Porzellankamel verschwindet, wird Hatice schlagartig gesprächiger:
„Sie wollen einen Film über dich
drehen, hoch verehrter Papa! Denn du
bist der berühmteste Mann in unserer
Stadt! Osman Engin, das größte Genie
unter Allahs Sonne! Ögh, ich muss aufs
Klo, kotzen!“
„Ich will sofort meine zwei Euro
fünfzig wieder haben“, tobe ich.
Den ,Partnertausch‘ hat man bereits
erfunden, wer erfindet endlich den
,Kindertausch‘?
„Ja, liebe Nachbarn, das sind halt die
negativen Seiten des Berühmtseins. Jeden Tag ist ein anderes Fernsehteam
hier“, sage ich in die Runde. Meine
Kumpels brauchen doch nicht zu wissen, dass ich heute zum ersten Mal in
meinem Leben eine leibhaftige Fernsehkamera zu sehen bekomme. Ich
rufe meine Eltern im Kaukasus an und
erzähle denen 20 Minuten lang, dass
ich leider sofort wieder auflegen muss,
weil gerade von mir erneut Fernsehaufnahmen gemacht werden. Wenn
sie wollen, können sie das auch allen
Bekannten im Dorf erzählen, sage ich
gönnerhaft. Als mein Vater zu schimpfen anfängt, weshalb ich mich seit einem Jahr nicht gemeldet hätte, lege ich
schnell auf.
„Wieso denkst du eigentlich, dass
sie wegen deinem Buch da sind?“, stänkert mein Sohn Mehmet, dieser ewige
Student. „Dein Buch ist doch kein einziges Mal verkauft worden. Für den
Quatsch interessiert sich kein Schwein.
Nicht mal der Altpapiersammler!“
„Wann wirst du endlich kapieren,
dass nicht die Verkaufszahlen wichtig
sind, sondern nur mein künstlerisches
Genie!“
„Kein Mensch will dein Buch haben,
nicht mal als Geschenk“, lästert mein
Sohn, den ich hiermit offiziell zum Kindertausch anbiete. Ich bin mit allem
einverstanden, was als Tauschobjekt
angeboten wird. Egal ob Ziege, Katze,
Hamster oder Kakerlake. Hauptsache
gleichwertig!
Eine große, blonde Frau schüttet mir im
Flur zwei Pfund Puder über den Kopf.
„Herr Engin, ich kann machen, was ich
will“, ruft sie verzweifelt, „Ihre Glatze
glänzt immer noch wie der Vollmond!“
„Soll ich nicht doch meinen Hut aufbehalten?“, frage ich. Nachdem sie ihr
gesamtes Pulver verschossen hat, ist sie
damit einverstanden.
Der Aufnahmeleiter brüllt in sein
Megafon und fordert alle auf, ihre Plätze einzunehmen.
Der Regisseur nimmt mich zur Seite
und sagt: „Herr Engin, Sie gehen jetzt
ganz locker in Ihr Wohnzimmer, setzen
sich zu Ihrer Frau aufs Sofa und schauen dann in den Fernsehapparat. Los
geht‘s!“
Ich will in mein Wohnzimmer rein,
aber lande prompt in einem orientalischen Basar aus dem 16. Jahrhundert.
„Was ist denn hier passiert?“ stottere ich ungläubig.
„Wir haben Ihr Wohnzimmer etwas umdekoriert“, sagt der Regisseur,
„für einen türkischen Gastarbeiter passend.“
Die haben mein Wohnzimmer total getürkt: neonfarbene Teppiche mit
Atatürk- und Bosporusbildern hängen
an allen Wänden. In jeder Ecke hat
man einen Riesen-Samovar hingestellt
und auf dem großen Marmortisch haben sie einen kompletten Döner-Stand
aufgebaut. Meine Töchter tragen große Tischdecken als Kopftücher. Kindergeschrei wie auf einer Geburtsstation
plärrt aus einem Kassettenrekorder neben der Kamera. Auf dem Sofa sitzen
neben meiner Frau Emine noch zwei
weitere wildfremde, potthässliche
Frauen mit schwarzem GanzkörperSchleier.
„Wer sind die denn?“, frage ich überrascht.
„Das sind Ihre beiden anderen Ehefrauen“, klärt mich der Regisseur auf,
„welcher Orientale hat denn schon
nur eine Ehefrau?! Außerdem sind
die beiden keine Frauen, sondern unser Beleuchter und Fahrer. Setzen Sie
sich einfach hin zu denen und schauen
Fernsehen.“
„Kann ich nicht wenigstens rein
zufällig mein Buch in die Kamera halten?“
„Nein, nein, das ist untypisch! Welcher Türke kann denn schon lesen oder
schreiben? Bleiben Sie zwischen den
drei Frauen so sitzen und hauen Sie
denen beim Fernsehgucken ab und zu
brutal auf den Kopf!“
„Kann ich den dreien nicht wenigstens mit meinem Buch auf den Kopf
hauen?“
„Ruhe jetzt! Wir drehen schon
längst.“
In dem Moment springt unser Hausverwalter, Herr Sievers, vor die Kamera
und rudert mit beiden Armen wie wild
durch die Gegend:
„Ich grüße alle meine Kumpels aus
dem Kegelverein, meine Neffen Heinz
und Hubert, alle Spieler des SV Werder …“
„Schmeißt den Idioten sofort raus“,
brüllt der Regisseur mit hochrotem
Kopf.
Mit einer Wasserpfeife und einem
Kebap-Spieß vom Döner-Stand prügeln
die Techniker Herrn Sievers aus dem
Wohnzimmer raus.
„Halt, halt, ich muss mal eben aufs
Klo“, rufe ich und springe vom Sofa
auf.
Aus dem Fernsehen weiß ich, dass berühmte Persönlichkeiten unheimlich
schwierig und zickig sind. Ich muss meinem Ruf gerecht werden. Die Presse
darf nicht annehmen, ich wäre weniger
arrogant und dadurch eine weniger berühmte Persönlichkeit. Die Sensationsblätter sollen ihren Stoff bekommen:
Von Osman Engin ist bei dtv
gerade der satirische Roman
„GötterRatte“ erschienen.
„Meisterregisseur bekniete Osman
Engin aus dem Badezimmer zu kommen“, wird BILD morgen schreiben. Auf
der Toilette überlege ich mir tolle Sätze
für die Kamera: „Aus jeder meiner Zeilen spricht das Leid der unterdrückten
Massen! Ich will im Hintergrund bleiben, meine Bücher sprechen für die Armen dieser Welt! Ich muss damit leben,
dass die Menschheit sich dafür entschieden hat, dass mein Buch die Bibel
des neuen Jahrtausends sein soll!“
Als ich wieder zurückkomme, ist die
Wohnung völlig leer. Ich laufe sofort
raus und erwische den Regisseur gerade noch, als er in den Aufnahmebus
einsteigt.
„Halt, halt, kommen Sie wieder zurück! Ich will nicht mehr zickig sein. Sie
wollten mich doch filmen!“
„Wir haben schon mehr als genug
aufgenommen“, ruft er genervt.
„Aber was ist mit meinem Buch? Ich
habe es noch gar nicht erwähnen können. Deswegen sind Sie doch gekommen!“
„Der Sender hat mich losgeschickt,
um von möglichst vielen ausländischen
Familien in der Stadt dokumentarische
Kurzberichte zu erstellen. Und zwar für
den Fall, dass deren Häuser irgendwann
mal abgefackelt werden!“
Osman Engin
Schriftsteller, Bremen
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Thema
Informationen im Alltag:
Gewollt oder unerwünscht?
Was passiert, wenn man ohne
Fahrschein erwischt wird, ist in
den „Öffis“ gleich in 12 Sprachen zu lesen. Doch wie man
an hochmodernen Automaten
jenen kleinen Schein erwerben
kann, steht da nur auf Deutsch.
Auf die Toilette (und an andewie überall auf der Welt per
Piktogramm geleitet, in anderen wichtigen Alltagsbereichen
bleibt die Information so einsilbig wie einsprachig. Hat das
etwa System?
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BETRIFFT 2/2004
Foto: Hoppenrath
re Orte) werden Mann und Frau
Als vor rund 45 Jahren die ersten sogenannten „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, dachten Länder und Kommunen noch wenig darüber nach, wie
Alltagsinformationen an die ausländische Frau oder den ausländischen
Mann gebracht werden könnten. Das
Lotsen durch den deutschen Bürokratie-Dschungel und manchmal auch
durch das Alltagsleben übernahmen im
besten Fall Sozialbetreuer, die aus den
jeweiligen Anwerbeländern ins Land
geholt wurden, einige wohlmeinende
Deutsche sowie wenige Landsleute, die
schnell Deutsch gelernt hatten.
Industrie und Teile der Dienstleistungsbranche reagierten anders. In
Wolfsburg übergab z. B. Volkswagen
jedem neu ins Werk kommenden Italiener ein kleines Bildwörterbuch, das „Dizionario figurato“. Darin waren sehr
anschaulich die italienischen Begriffe
mit der deutschen Übersetzung und
einem kleinen Bild für die wichtigsten
Werkzeuge verzeichnet. Viele Hinweisschilder auf dem Werksgelände, die
der Sicherheit dienten oder bestimmte
Verhaltensregeln enthielten, wurden
zweisprachig angebracht. Auch in den
Kohlebergwerken im Ruhrgebiet finden sich zahlreiche Gefahrenhinweise
in mehreren Sprachen, vor allem Türkisch, Serbokroatisch und Polnisch.
Damit wollten die Arbeitgeber Arbeitsunfälle vermeiden, die neuen Mitarbeiter, die andere „Sitten und Gebräuche“
mitbrachten, über den „richtigen“ Umgang mit ihren deutschen KollegInnen
informieren und so den sozialen Frieden sichern. Das diente auch dem Betriebsklima und damit der Ertragssteigerung. Interessanterweise gab es bei
Volkswagen zwar in den siebziger Jahren weitere Anwerbung in Tunesien, an
entsprechende Bildwörterbücher oder
Hinweisschilder dachte da jedoch nie-
Gerade im Gesundheitssektor gibt es
gut aufgearbeitetes Material, herausgegeben von der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung. Und das
Amt für Abfallwirtschaft hat großes Interesse an der Übersetzung von Mülltrennungsregeln. Öffentliche Museen
beschriften ihre Exponate zusätzlich
noch in Englisch, um Weltläufigkeit zu
demonstrieren.
Doch überall da, wo es um die Erleichterung des Zurechtfindens gehen
kann, um besondere Servicehinweise
oder auch um Anträge auf Unterstützungsleistungen, dort herrscht noch
immer die deutsche Sprache vor.
Dabei gilt schon lange nicht mehr
„Amtssprache ist Deutsch“. Denn durch
eine steigende Anzahl von Beschäftigten im Öffentlichen Dienst mit Migrationshintergrund wird sich langfristig
auch der Umgang mit Neu- und Altbürgern aus anderen Ländern verändern.
Behörden werden entdecken, dass
mehrsprachige Ausweispapier- oder
Sozialhilfeanträge auch den SachbearbeiterInnen das Leben erleichtern und
zum Beispiel bauwillige BürgerInnen
inzwischen auch Italiener und Türken
sein können.
Hier gehen die Beauftragten für Migration und Integration für Bund, Länder und Kommunen schon lange mit
gutem Beispiel voran. Ganz druckfrisch
auf dem Markt ist das „Handbuch für
Deutschland“, herausgegeben von der
Beauftragten der Bundesregierung für
Migration, Flüchtlinge und Integration,
Marieluise Beck. Dieses Handbuch ist
zweisprachig jeweils auf Deutsch und
Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch
oder Türkisch erschienen und führt kurz
in alltagsrelevante Themen zum Leben
in Deutschland ein. Der deutsche Gartenzwerg wird darin ebenso vorgestellt
wie die Gebühreneinzugszentrale, das
deutsche Schulsystem oder berühmte
deutsche Dichter.
Bereits in vielen Kommunen gibt es so
genannte Gesundheitswegweiser, in
denen mehrsprachige Ärzte und andere Gesundheitsdienstleister aufgeführt
sind, die auch Migranten ansprechen.
Ein Novum bilden die Wegweiser, die
umfassend alle Einrichtungen einer
Kommune mit allen relevanten Dienstleistungen für Migranten vorstellen.
Ein vorbildliches Werk ist jetzt in einem
Projekt in Wolfsburg in Form einer Losen-Blatt-Sammlung entstanden, die
einfach und kostengünstig aktualisiert
werden kann. Die deutsche Ausgabe
dient dabei allen MultiplikatorInnen
und Beratungseinrichtungen.
Auszüge davon sind bisher auf Italienisch und Russisch erschienen, an der
arabischen Version wird derzeit gearbeitet.
Bisher völlig vernachlässigt wurde die
Nachwuchswerbung im Öffentlichen
Dienst (sei es bei der Polizei oder im
Rathaus) für MigrantInnen in deren
Herkunftssprachen. Selbst wenn zumindest die MigrantInnen der zweiten
und dritten Generation genug Deutsch
sprechen, um die Bewerbungsankündigungen zu lesen und zu verstehen – so
werden doch meistens ihre Eltern nicht
erreicht, die bei der Berufsfindung ihrer
Kinder aber ein gewichtiges Wörtchen
mitreden. Wenn wir also künftig auch
türkischsprachige Polizistinnen und Polizisten und russischsprachige Beamtinnen und Beamte möchten, weil wir
feststellen, dass sie wichtige Zugänge
zu einem Drittel unserer Bevölkerung
herstellen können, dann müssen wir
auch in diesem Bereich an mehrsprachiges Informationsmaterial und Veranstaltungen zur Berufsfindung denken.
Agnes Koller
Ausländerreferentin
der Stadt Wolfsburg
Foto: Agsten
mand mehr. Über die Wertschätzung
oder Absicht darüber kann nur spekuliert werden.
Auch bestimmte Dienstleister wie
beispielsweise eine einheimische Bank
erkannten schon früh die neuen Einwanderer als neue Kunden. Die Frage,
wie lange diese Menschen im Land bleiben sollten oder wollten, interessierte
sie dabei nicht – sie bediente nur den
Wunsch der Migranten, möglichst billig und einfach kleine oder auch größere Geldmengen in die jeweiligen
Heimatländer zu transferieren. Um für
ihren Service zu werben, plakatierte
sie große Wände mit türkischen oder
italienischen Eheleuten und Familien,
die in den jeweiligen Sprachen für den
Geldtransfer mit eben dieser Bank warben. Bald boomte das Geschäft – auch
dank dieser emotionalen Werbung in
der Heimatsprache, durch die sich viele
Menschen angesprochen fühlten.
Heute ringt Deutschland um die Anerkennung als Einwanderungsland. Im
Hinblick auf die Präsenz von Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum tut sich
aber viel. Zahlreiche nicht migrantenspezifische Beratungsstellen wie beispielsweise die Erziehungsberatungsstellen erkannten, dass sie Migranten
bisher kaum erreichen konnten. Gerade dort wird jedoch auf einen Beratungsbedarf von verschiedenen anderen Institutionen wie Schule oder
Kindertagesstätte, wo die Spannungen
in den Familien zu großen Problemen
führen, dringlich hingewiesen. Hier gibt
es im Zuge einer angestrebten interkulturellen Öffnung inzwischen mehrsprachige Flyer, die wenigstens in den
hauptsächlich gesprochenen Migrantensprachen wie Russisch, Türkisch
oder Italienisch auf das Beratungsangebot aufmerksam machen und kurz über
die Einrichtung informieren. Dies ist ein
wichtiger Schritt in einem solch sensiblen Arbeitsfeld, das in Familiengefüge
eingreift. Bei besonders tabubehafteten Themen wie sexuellem Missbrauch,
Gewalt- oder Drogenproblemen kann
es auch sinnvoll sein, für einen Erstkontakt lediglich einige Überschriften in
mehreren Sprachen zu drucken.
Der Öffentliche Dienst und die
Kommunen (wie übrigens auch die
Deutsche Bahn AG) haben überall dort,
wo es um das Einhalten von Regeln
oder Gefahrenprävention geht, verschiedene Übersetzungen vorgelegt.
BETRIFFT 2/2004
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Thema
Medien für Kinder und Jugendliche:
Kleine Lichtblicke
Wie Medien in unserer mehrsprachigen und mehrkulturellen
Gesellschaft mit Migrationsthemen umgehen, ist ein wichtiges
Forschungsthema geworden. Medien für Kinder und Jugendliche wurden bislang aber eher selten untersucht. Wir wollen einen
Die Sendung
mit der Maus
Blick auf sie werfen, um zu sehen, ob sie die Thematik eher ausländerpädagogisch oder interkulturell angehen – wenn überhaupt.
Quelle: WDR
Schulbücher
Die Themen Migration und ihre Folgen
spielen allgemein in den Medien seit
1945 eine Rolle, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So standen beispielsweise in den 60er Jahren
die „Gastarbeiter“ oder in den 80er
und 90er Jahren die Flüchtlinge im Mittelpunkt. Fest steht aber: seitdem können die Medien den Diskurs in zwei
Richtungen beeinflussen: in Richtung
Ablehnung oder Akzeptanz, Ausländerfeindlichkeit oder Integration, Rassismus oder Vielfalt. Zwar finden sich
dabei kaum explizit rassistische Darstellungen, aber leider doch versteckter
oder latenter, zum Teil unbewusster
Rassismus.
Diese Botschaften sind nur mit interkultureller Medienkompetenz zu
entschlüsseln, deshalb ist ihre Vermittlung so wichtig – gerade an junge
Menschen. Denn auch die Medien operieren mit Schlüsselbegriffen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und
verengen so häufig die Argumentation.
Ein gutes Beispiel dafür ist die derzeitige Integrationsdebatte.
Diese hier angedeuteten Mechanismen wirken auch in Medien für Kinder
und Jugendliche fort.
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Gerade in neueren Schulbüchern
zeigt sich durchaus ein wachsendes
Bewusstsein über die mehrsprachige
und mehrkulturelle Gesellschaft, wenn
auch unterschiedlich deutlich. So findet man z. B. häufiger Namen aus Migrantensprachen und insgesamt mehr
Berücksichtigung interkultureller Aspekte wie beispielsweise die Verwendung nichtdeutscher Wörter, Sätze
oder Texte aus der Migrantenliteratur
in Deutschbüchern. Trotzdem bleibt es
oft bei einzelnen Kapiteln statt eines
durchgehenden Prinzips, das sich mit
dieser Fragestellung beschäftigt. Außerdem öffnen sich ihr längst nicht alle
Schulbücher, viele verbreiten auch weiterhin Klischees.
Hinzu kommt, dass Kinder und Erwachsene oft als Vertreter „ihrer“ Kultur angesehen werden. Dagegen gehen beispielsweise die Materialien „Das
sind wir“ (Anne-Frank-Haus 1995, erschienen im Beltz-Verlag) von der individuellen Vielfalt aus und nicht von „Kulturen“. Schulbücher bedienen sich auch
immer noch – wie andere Medien –
häufig einer Sprache der Ausgrenzung.
Ein Beispiel: „Probiert es, zum Beispiel
mit vier Zeilen, etwa in eurer Umgangssprache, in eurer Mundart oder in der
Sprache eines eurer ausländischen Mitschüler”. Zwar sind neuere Werke hier
etwas reflektierter, aber auch weiterhin voller Beispiele für eine trennende
Sprache. In derartigen Aufgabenstellungen werden die deutschen Schüler/
innen angesprochen, die „ausländischen
Mitschüler“ gelten bestenfalls als Informationsträger. So kann sich im Bewusstsein festsetzen, dass Schule offensichtlich nur für Deutsche konzipiert ist, und
es kann kein Wir-Gefühl entstehen.
Schulbücher sind also unterschwellige
Meinungsmacher – auch in den Familien. Ihr Wahrheitsgehalt wird nur selten
hinterfragt.
Fernsehen
Das Fernsehen ist aus der Freizeit von
Kindern und Jugendlichen nicht mehr
wegzudenken. Ein Lichtblick vorweg:
die „Sendung mit der Maus“! Ihr ist zu
verdanken, dass viele Eltern und Lehrer/
innen glauben, das Fernsehen würde
den Kindern eine durch Vielfalt geprägte Welt präsentieren. Aber bei näherem Blick ins Kinderfernsehen überhaupt werden die verpassten Chancen
sichtbar. Denn Kinderfernsehen scheint
die Thematik des Lebens in einer mehrsprachig-mehrkulturellen Gesellschaft
immer noch sträflich zu vernachlässigen. Eine positive Ausnahme stellt die
Serie „Die Kinder vom Alstertal“ dar,
in der u. a. ein asiatisches Adoptivkind
in einigen Folgen die tragende Rolle
spielt – allerdings wird auch dort kaum
auf den Spracherwerb des Kindes oder
gar seine Mehrsprachigkeit eingegangen.
Foto: Agsten (2)
Es gibt jedoch andere interkulturelle
Beiträge für Kinder, die eher eine globale Sicht transportieren: sie stammen
aus dem Ausland, aus Osteuropa, Asien, Amerika oder anderen Regionen.
So wichtig diese Internationalisierung
auch ist – es besteht doch die Gefahr,
dass die jungen Zuschauer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität dem
Ausland zuordnen und nicht der eigenen Lebenswelt.
Anstelle der speziell für sie aufbereiteten Programme bevorzugen Kinder
und Jugendliche übrigens oft Serien.
Hier finden sich nun reichlich Beispiele für Klischees wie etwa in der Serie
„Dr. Specht“, in der das beliebte Thema
der Verheiratung in die Türkei behandelt wird: Eine junge bilinguale Türkin
ist mit einem Mitschüler liiert und von
ihm schwanger. Aber als die Familie das
Einhalten einer Verlobung in der Türkei
verlangt, wird sie ungewöhnlich passiv.
Ein Mordversuch ihres Bruders verläuft
glimpflich, eine Versöhnung steht am
Ende des Films. Die einzelnen Handlungsschritte wirken wenig glaubwürdig: Die plötzliche Passivität eines aktiven, fröhlichen jungen Mädchens wird
nicht vermittelt; seine Passivität gegenüber der körperlichen Bedrohung
durch den Bruder ist nicht nachvollziehbar; die Einsicht des Vaters kommt sehr
schnell. Trotz dieser Klischees zeigt der
Film aber auch, dass ein Mädchen der
türkischen Mittelschicht in einem Internat als integriert und akzeptiert dargestellt wird, und unterschlägt auch ihre
türkische Herkunft nicht.
In Serien und „Soaps“ treten
überhaupt häufiger Migranten auf.
Sie nehmen damit durchaus eine
wichtige Rolle im Multikulturalismusdiskurs ein
– schon weil sie in vielen Aspekten Normalität
aufzeigen. Andererseits
stehen leider nur allzu oft
eine
Stereotypisierung
und kulturelle Zuschreibungen im Vordergrund.
Kinder- und
Jugendliteratur
Das Thema Einwanderung
und dadurch veränderte gesellschaftliche Bedingungen hat in der
Kinder- und Jugendliteratur seit langem eine Rolle gespielt, da es als gesellschaftlich relevant galt. Seit den
70er Jahren versuchen viele Kinderund Jugendbücher, bei deutschen Kindern Mitgefühl für die Situation von
Migrantenkindern zu wecken und ihre
Hilfsbereitschaft anzuregen.
Migrantenkinder gerieten dagegen in die Rolle des „Bittstellers“, ihnen sollte „geholfen“ und Verständnis
entgegengebracht werden. So mangelt
es den meisten Büchern an der interkulturellen Perspektive. Sie sind eher
aus einer ausländerpädagogischen
Sicht verfasst, die das Anderssein zugewanderter Menschen meistens als eine
Herausforderung für deutsche Kinder
begreift. Sie sollen Hilfestellung bei der
Integration leisten (z. B beim Deutsch
lernen), zu Toleranz angeleitet werden,
Verständnis für „Fremde“ aufbringen.
Dieser Ansatz orientiert sich jedoch an
Defiziten und befördert ein Bewusstsein für „Fremdheit“ und „Anderssein“. Der interkulturelle Ansatz richtet
sich zwar auch vorwiegend an deutsche
Leser/innen, nimmt aber eher Differenz
statt Defizit, das Erfahren der Vielfalt
sowie Verschiedenheit und Gleichheit
in den Blick.
Einige Bücher wollten auch direkt
Migrantenkinder als Leser/innen ansprechen. Ein Weg hierzu war ihre
zweisprachige Gestaltung. Dieser integrative Ansatz erkannte die Erstsprache zumindest als Hilfsmittel auf dem
Weg zur deutschen Sprache an. Außer-
dem signalisierten solche Bücher die
Gleichwertigkeit zweier Sprachen, was
wiederum auch für deutsche Leser/innen wichtig war.
In den 90er Jahren rückten die Flüchtlingsthematik und mit ihr Migrantenschicksale in den Mittelpunkt. Dies war
zwar für ein tieferes Verständnis wichtig, vernachlässigte aber andererseits
die gesellschaftlichen Prozesse in der
Bundesrepublik. Denn interkulturellen
Prinzipien entsprechen erst solche Bücher, die Mehrsprachigkeit und -kulturalität als Normalität darstellen. Es gibt
sie zwar, aber sie sind rar.
Mein Fazit lautet: In den Medien für
Kinder und Jugendliche kommt ihre
mehrsprachige und mehrkulturelle Lebenswelt durchaus vor – aber eben
nicht oft genug und zudem leider häufig klischeehaft oder einseitig. Die Normalität dieser Lebenswelt wird noch zu
selten gezeigt, so dass auch Kinder und
Jugendliche in ihren Medien Vielfalt
eher als Problem denn als Selbstverständlichkeit erfahren. Dennoch sind
Wege aufgetan worden, die nun weiter ausgebaut werden müssen.
Prof. Dr. Sigrid Luchtenberg
Germanistin und Erziehungswissenschaftlerin an der Universität
Duisburg-Essen
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Thema
Raus aus der
Migranten-Ecke
Kino:
Nach 18 Jahren hat erstmals wieder ein deutscher Film
den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen: Das wuchtige Liebesdrama „Gegen die Wand“ des deutsch-türkischen Regisseurs
Fatih Akin begeisterte nicht nur das Berliner Publikum, sondern
auch die internationale Jury.
In seinem vierten Spielfilm erzählt der
30-jährige gebürtige Hamburger von
der Begegnung zwischen der jungen,
lebenshungrigen Sibel (Sibel Kekilli)
und dem frustrierten Säufer Cahit (Birol
Ünel). Beide sind türkischer Herkunft,
beide haben einen Selbstmordversuch
hinter sich: Er ist mit seinem Ford gegen
eine Betonmauer gerast, sie hat sich in
einem verzweifelten Versuch, den rigiden Moralvorstellungen ihrer traditionsbewussten Familie zu entkommen,
die Pulsadern aufgeschnitten.
In der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses vereinbaren Sibel
und Cahit einen Deal: Eine Scheinheirat soll der 20-Jährigen die Flucht aus
der Familie ermöglichen. „Ich will leben und tanzen und ficken“, stellt die
junge Frau klar. „Und zwar nicht einen,
sondern viele.“
Nach einer skurrilen Hochzeitsfeier,
die das Brautpaar nur mit einer Prise
Koks durchsteht, zieht Sibel in Cahits
heruntergekommene Single-Wohnung.
Sie genießt ihre neu gewonnene Frei-
heit, geht auf Parties, probiert Drogen,
lernt Männer kennen. Doch dann wird
die Sache kompliziert: Denn Stück für
Stück entdecken die beiden ihre Gefühle füreinander, Cahit bringt im Affekt einen von Sibels zahlreichen Liebhabern um und wandert in den Knast.
Sibel flieht nach Istanbul, Jahre später
treffen sich die beiden dort wieder.
Wie schon in seinem ersten Spielfilm „Kurz und schmerzlos“ über die
Freundschaft zwischen Türken, Griechen und Serben im Hamburger Kiez
zeigt Regisseur Akin Facetten eines Migranten-Alltags jenseits von Opferszenarien und Multikulti-Harmonie. Seine
Helden sind radikale Außenseiter in einer selbstverständlich mehrsprachigen
Einwanderergesellschaft: In „Gegen
die Wand“ wird Deutsch, Türkisch und
Englisch geredet, im Soundtrack treffen rotzige Punkmusik und traditionelle türkische Liebeslieder aufeinander.
Dass der desillusionierte Cahit durch
die Begegnung mit der fiebrig lebenden Sibel seine Gefühle neu entdeckt,
nimmt man dem Film gerne ab. Warum
sich allerdings auch Sibel in den doppelt
so alten Verlierertypen verliebt, bleibt
ein Geheimnis des Drehbuchs – und
damit der größte Schwachpunkt einer
ansonsten packenden Inszenierung.
Dennoch: Trotz solcher Ungereimtheit
und manch dick aufgetragener Melodramatik überzeugt „Gegen die Wand“
als emotionsgeladenes Erzählkino mit
Szene aus: „Polleke“,
Kinder- und Jugendprogramm
der Berlinale
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zwei herausragenden Hauptdarstellern
– ein leidenschaftliches Plädoyer für
den unbedingten Freiheitswillen einer
jungen Migrantin, die aus allen Konventionen ausbricht.
Auch andere Wettbewerbsfilme stellten die Situation von EinwanderInnen
in den Mittelpunkt des Geschehens.
„Beautiful Country“ schilderte die
abenteuerliche Flucht eines Vietnamesen nach Texas, „Maria voll der Gnade“
begleitete eine 17-jährige kolumbianische Drogenkurierin auf ihrem Weg in
die USA. „Ae Fond Kiss“ von Ken Loach
inszenierte den Clash zwischen fundamentalistischem Katholizismus und islamischer Familientradition und warb
für das Zusammenleben und -lieben
unterschiedlicher Kulturen – anrührend
und humorvoll. Als überaus witzig erwies sich auch die im Panorama laufende niederländische Komödie „Shouf
Shouf Habibi“, die sich rasant und bissig mit den Zukunftsträumen von Immigrantenkindern der zweiten Generation auseinandersetzt.
Im Forum-Programm stach ein sehr
persönlich erzählter Dokumentarfilm
über einen der größten Basare in Osteuropa, den „Jarmark Europa“ in Warschau, hervor. Drei Jahre lang hat die
deutsche Filmemacherin Minze Tummescheit Händlerinnen begleitet, die
Uhren, Henna, Putzschwämme und Bücher aus der ehemaligen Sowjetunion
schmuggeln, um sie in Polen zu verkaufen. „Jarmark Europa“ dokumentiert
nicht nur die Auswirkungen der EU-Osterweiterung und die Improvisationskunst und Risikobereitschaft der Wanderarbeiterinnen. Er reflektiert auch
Quelle: Internationale Filmfestspiele Berlin Press Office (3)
Schlammschlacht
Birol Ünel, Sibel Kekilli
Quelle: EIZ
die massiven Behinderungen der Dreharbeiten durch die Grenzpolizei und
erzählt so eine beeindruckende „Geschichte der nicht gemachten Bilder“.
Im Kinder- und Jugendprogramm der
Berlinale war das Thema „Migration“
besonders präsent. Rund ein Drittel der
Filme thematisierte die Freundschaft
zwischen Kindern und Jugendlichen
unterschiedlicher Herkunft.
In „Wondrous Oblivion“ von Paul
Morrison beispielsweise freundet sich
ein elfjähriger jüdischer Junge in den
60er Jahren in England trotz vieler
Widerstände mit der jamaikanischen
Nachbarsfamilie an. In „Polleke“ von
der niederländischen Regisseurin Ineke Houtman müssen die blonde Polleke und der Araberjunge Mimoun ihre
erste Liebe gegen Mimouns strengen
Onkel verteidigen. Und in der deutschen Produktion „Die Blindgänger“
von Bernd Sahling versteckt die blinde
Marie den kasachischen Aussiedlerjungen Herbert vor der Polizei – ein Film
über die unterschiedlichen Formen, die
Welt zu „sehen“, der das Thema Migration ganz selbstverständlich und quasi
nebenbei einführt.
Filme von und über MigrantInnen sind
aus dem internationalen Kino nicht
mehr wegzudenken – das hat das diesjährige Berlinale-Programm eindrucksvoll bewiesen. Nicht von ungefähr stellt
auch der Bundesverband Jugend und
Film seine Jahrestagung 2004 unter
das Motto „Filme verbinden Kulturen:
Migration – Integration – Kulturelle
Vielfalt“. Der Goldene Bär für “Gegen
die Wand“ hat schlagartig ins Bewusstsein gebracht , wie sehr auch Deutschland bereits kulturelles Einwanderungsland geworden ist.
Allerdings: Die Reaktionen auf den
Erfolg von „Gegen die Wand“ (s. Kasten) zeigen gleichzeitig, wie weit wir
von einer selbstverständlichen Anerkennung kultureller Vielfalt noch immer
entfernt sind. Nicht nur, dass Fatih Akin
auf der Premieren-Pressekonferenz erklären musste, warum das Wort „Gastarbeiter“ in seinem Vokabular nicht existiert. Auch in den Filmbesprechungen
und Interviews schien vor allem die Frage zu interessieren, ob Film und Regisseur denn nun in erster Linie deutsch
oder türkisch seien … Fatih Akins‘ Antwort ist deutlich: „Ich wünsche mir, dass
Filme wie „Gegen die Wand“ endlich
als normaler Teil der deutschen Filmkultur akzeptiert werden.“
Isabel Rodde
Journalistin, Hannover
Sibel Kekilli und die
Porno-Kampagne der Bild-Zeitung
Am Montag nach der Verleihung
des Goldenen Bären an „Gegen die
Wand“ gratulierte die BILD-Zeitung
nicht etwa den Gewinnern, sondern
startete eine schmierige Kampagne gegen die 23-jährige deutschtürkische Hauptdarstellerin Sibel
Kekilli. „Filmdiva in Wahrheit ein
Pornostar?“ fragte sie auf der Titelseite und garnierte ihre Enthüllungen über das „türkische Früchtchen“, das in ihrer Vergangenheit
bei sechs Hardcore-Pornofilmen mitgewirkt habe, mit zwei Nacktbildern
der Schauspielerin.
Einen Tag später legte BILD nach:
„Eltern verstoßen sündige Filmdiva“
wusste das Blatt zu berichten – nicht
ohne darauf hinzuweisen, dass die
Pornofirma „Magma“ eine Sonderedition der Filme mit „der schönen
Sibel“ auflegen werde.
Inzwischen hatten Sibel Kekilli
und Regisseur Fatih Akin zu den Diffamierungen Stellung bezogen. „Ja,
ich habe diese Filme gemacht. Aber
das ist Vergangenheit“, erklärte die
Debüt-Schauspielerin, die bis vor
kurzem als Verwaltungsangestellte
im Essener Rathaus gearbeitet hat
und von einer Casting-Agentur in einem Kölner Supermarkt für „Gegen
die Wand“ entdeckt wurde. Akin
bezeichnete die Schmutzkampagne von BILD als „bigott“ und „ekelhaft“: „Ich wusste von Anfang an
von ihrer Vergangenheit, was mich
nicht im geringsten gestört hat. Ich
habe Sibel Kekilli besetzt, weil sie
die beste Schauspielerin beim Casting war.“
In einem Interview mit der Frankfurter Sonntagszeitung äußerte sich
Sibel Kekilli selbst über den Hintergrund der Porno-Drehs. Sie habe
Geld gebraucht, aber auch rebellieren wollen: „Ich wollte mir damit
vielleicht selber beweisen, dass ich
mein eigenes Leben leben kann, wie
ich will.“ Zwei Wochen später kommentierte sie in der ARD-Talkshow
„Beckmann“ das Kesseltreiben der
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Thema
Werbung und Marketing:
Sportlich und exotisch
Sibel Kekilli
Obwohl ich das Programm immer wegzappe, wenn im Fernsehen
ein Werbeblock gesendet wird, blieb ich dieses Mal doch hängen.
Und das nicht nur, weil mich der neue Renault „Grand Scénic“ so
faszinierte, denn ich begeistere mich eigentlich gar nicht für Autos.
Nein, hier nahm mich der Werbespot selbst gefangen.
Zurzeit steht Sibel Kekilli in der Hamburger Produktion „KEBAB Connection“ des Regisseurs Anno Saul wieder vor der Kamera.
Weitere Informationen
www.gegendiewand.de
Buchtipp
Fatih Akin: Gegen die Wand
Das Buch zum Film, Drehbuch/Materialien/Interviews, Kiepenheuer &
Witsch, 2004, 270 Seiten, 9,90 €
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geklopft haben. Sehr witzig, wir haben
echt gelacht!
Ansonsten tauchen Ausländer vor
allem mit klarem inhaltlichen Bezug
zum Produkt in der Werbung auf, vornehmlich in der Lebensmittelbranche.
Französische Gourmets werben für Camembert, blonde Holländerinnen mit
Häubchen für Käse. Pizza- und Spaghettihersteller bemühen die herzerfrischende italienische Mama samt Söhnen und Gatten in die Werbespots und
der „Herr Angelo“, ein netter italienischer Migrant, beruhigt eine aufgeregte deutsche Nachbarin („Fahren Sie gefälligst Ihr Auto weg, Sie haben mich
zugeparkt.“) mit Cappuccino aus der
Tüte. In diesem speziellen Fall bahnt
sich sogar ein kleiner Flirt an …
Quelle: Langnese-Eiswerbung
BILD: „Die ersten zwei Tage waren
sehr hart. Aber jetzt lach‘�ich drüber.
Es hat mich stärker gemacht, und ich
fühle mich wie befreit.“
Tatsächlich scheint Sibel Kekilli
die Schlammschlacht von BILD und
anderen Trittbrettfahrern erfreulich
unbeschadet überstanden zu haben.
Selbst konservative türkische Medien und Politiker haben sich auf ihre
Seite geschlagen: „Den Erfolg eines
Künstlers berühren solche Fehler seiner Vergangenheit nicht“, erklärte
beispielsweise der türkische Kulturminister Ugur Mumcu.
Besonders gefreut habe sie sich
über die Interviews junger DeutschTürkinnen, die sie in der BILD-Zeitung unterstützt hätten, sagt Sibel
Kekilli. „Vielleicht kann ich für manche Türkinnen eine Art Vorbild sein.
Nicht, dass sie mir das nachmachen
sollten, das wirklich nicht, aber dass
sie vielleicht sehen, da lebt eine Türkin ihr eigenes Leben.“
Die Szene war folgende: In irgendeinem afrikanischen Land sind ein paar
weiße und nicht sonderlich attraktive Fototouristen unterwegs. Sie stoppen ihren Wagen vor einer Gruppe
schwarzer, großgewachsener, folkloristisch ausstaffierter junger Männer und
knipsen diese. Dann fahren sie davon.
(Habe ich nicht auch einen schwarzen
Darsteller sagen hören, das Ganze sei
ihm irgendwie zu primitiv?) Jedenfalls
machen sich auch die Afrikaner nun
auf den Weg – das aber im Gegensatz
zu den Touristen in einem nagelneuen
Wagen, eben jenem Renault „Grand
Scénic“. Bald darauf entdecken sie am
Straßenrand die hilflosen Touristen, die
dort mit ihrer alten Gurke eine Autopanne erlitten haben.
Zwei Werbespots später wird mir
dann gezeigt, wie die Afrikaner großzügig zum Ort des Geschehens umkehren und einem entnervten Weißen in
ihrem Auto Asyl gewähren. Der Siebensitzer macht‘s möglich!
Das war doch echt nett von diesen jungen Männern, die kurz zuvor noch niedere Objekte fotografischer Begierden
waren. Mit ihrer sympathischen Geste und ganzen Exotik stehen sie übrigens in bester Tradition der Darstellung von Ausländern in der Werbung
– auch wenn hier irgendwie wohl das
brisante Bild der „Überlegenheit der
weißen Rasse“ ad absurdum geführt
werden sollte. Denn wenn Ausländer
überhaupt in Werbespots vorkommen,
dann vorwiegend als Sympathieträger, die einem Produkt ein bestimmtes
Image verleihen oder einfach nur witzig sein sollen. Hihi, wie mag sich die
Nation angesichts der Renault-Werbung klammheimlich auf die Schenkel
Den Lebensmittelherstellern steht die
Bekleidungsindustrie kaum nach. In
den gängigen dicken Modekatalogen führen längst samtäugige, dunkelhaarige Schönheiten die Riege der
ganze Reihe exotisch anmutender Asiatinnen im Programm führen, die wohl
ein besonderes Verwöhnklima transportieren können. Denn Exotik sells,
auch in Deutschland – zumindest bei
bestimmten Produkten. Der „Duft der
weiten Welt“ ist ja schließlich auch hier
erfunden worden.
Die allermeisten Werbespots, deren Darsteller offensichtlich ausländischer Herkunft sind, reduzieren das
„Fremde“ jedoch in 15 Sekunden auf
bestimmte Allgemeinplätze und zementieren damit bestehende Stereotype. Schwarze Werbeträger zum Beispiel
sind in der Regel immer noch Musiker
oder Sportler (und seit neuestem wie
gesagt auch Computer-Spezialisten).
Dazu fragt Anthony M., in Niedersachsen ansässiger Kellner aus Kenia: „Warum gibt es so wenige farbige Leute in
der Werbung?“ Und in der Welt der
weiblichen Darsteller bleibt die erotische und exotische Botschaft vorherrschend. „Experten“ dagegen – sei es
für medizinische Produkte oder auch
für Zahncremes und Waschmittel – sind
immer Deutsche in der deutschen Werbung.
Vor kurzem haben aber deutsche Unternehmen etwas entdeckt, was die
Amerikaner schon seit langem zur Umsatzsteigerung nutzen: das so genannte
Ethnomarketing. Denn ihnen ist plötzlich bewusst geworden, dass die hier im
Lande lebenden 7,3 Millionen Ausländer – und unter ihnen namentlich die
Türken – ein großes Käuferpotenzial
darstellen. Und wie aus heiterem Himmel haben sie erkannt, dass viele Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“ aus
Models an und suggerieren uns, dass
auch wir in diesen Fummeln eine solche Ausstrahlung entwickeln könnten.
Nur unter den männlichen Darstellern
dominieren nach wie vor die kühlen
Blonden aus dem hohen Norden, bestenfalls noch der Typ „Latin Lover“,
aber offenbar nie ein Türke als Imageträger.
Der Schwenk zu international agierenden Unternehmen zeigt eine noch
höhere Präsenz weltläufiger Models
jeglicher Hautfarbe und Nationalität.
IBM wirbt mit einem dunkelhäutigen
Spezialisten, Kreditkartenanbieter mit
allen Ethnien, die Telecom mit Kindern
aus aller Welt. Diese Reihe ließe sich
beliebig fortsetzen (wobei in der Werbung für internationale Produkte die
Herkunft der Models kaum mehr auszumachen ist).
Ist Multi-Kulti in der Werbebranche also „in“? Das kann man so nicht
sagen. Denn Ausländer bleiben nach
wie vor als Repräsentanten von Produkten rar und noch wirbt auch kein
Schwarzafrikaner für Bausparverträge und keine identifizierbare Muslimin für Abendkleider. Dafür sitzt aber
immerhin ein kleiner Junge asiatischer
Herkunft auf einem deutschen Klo und
lässt sich auch von seiner blonden Mutter nicht dazu bewegen, seine Sitzung
zu beenden. Für welches Produkt dieser Werbespot gedacht war, weiß ich
nicht mehr, aber irgendwie hatte er mit
guter Luft im duftenden Badezimmer
zu tun. Oder so ähnlich.
Auch wie die Geschäfte jener in
Deutschland ansässigen Agentur laufen, die „ausländische Gesichter“ vermietet, entzieht sich meiner Kenntnis.
Dagegen bin ich sicher, dass sie eine
Swaantje Düsenberg
Foto: Düsenberg
Quelle: DaimlerChrysler Vertriebsorganisation Deutschland,
WFP Werbeagentur Erk Güner
den 60er und 70er Jahren schon lange nicht mehr für ihre Rückkehr in die
„Heimat“ sparen. Sie werden also als
Goldgrube entdeckt und entsprechend
direkt per Marketing und Werbung angesprochen. „Denn im Gegensatz zu
den Deutschen achten gerade Türken
stärker auf Qualität und Statussymbole und sind die schnelleren Konsumenten“, weiß man am Isoplan-Institut in
Saarbrücken.
Da war die Migrationsforschung doch
wenigstens für etwas gut, sagte sich
auch die Nobelmarke Mercedes Benz
etwa 1994 und ließ eine Werbekampagne speziell für türkische Migranten konzipieren. Darin steht, anders
als in den Botschaften an die zukünftigen deutschen Benz-Besitzer, nicht
das Auto im Vordergrund, sondern z. B.
sein stolzer Besitzer, Herr Zeki. Der ist
genau wie sein Wagen unter seinen
Landsleuten besonders beliebt, souverän und zuverlässig. Also Imagetransfer pur. Und Erfolg versprechend. Denn
auch das haben Marktforscher herausgefunden: türkischstämmige Bürger
sind besonders markenbewusst. Und:
jeder fünfte in Deutschland lebende
Türke fährt einen Mercedes. Vielleicht
nicht immer den neuesten, aber wenigstens überhaupt einen. Tut sich da
nicht ein grandioser Markt auf? Andere große Hersteller und Dienstleister
denken zumindest darüber nach. Und
dann werden auch viel mehr Ausländer
in den Werbespots über unsere Kiste
flimmern. Ganz bestimmt.
Plakatwand
im Frankfurter
Hauptbahnhof
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Forum: Entwicklung
Europa und die Neuen
Fragen und Antworten zur EU-Erweiterung
Der 1. Mai ist vorbei, alle
feierlichen Reden gehalten,
der Alltag hat uns wieder.
Mit einem Unterschied: noch
nie war die Europäische Union
(EU) so groß wie heute. Denn
sie zählt jetzt 10 Mitgliedsstaaten mehr. Nicht alle haben diese
Entwicklung freudig begrüßt,
viele Menschen betrachteten sie
auch besorgt und voller Fragen.
Grund genug, hier einige davon
zu beantworten.
Warum wurde die EU erweitert? Um
welche Länder geht es?
Frieden und Wohlstand sind verletzliche Güter. Das wissen wir nicht erst
seit den Terroranschlägen der letzten Jahre. Deswegen stellte die Europäische Union schon bald nach dem
Zusammenbruch des Ostblocks den mittel- und osteuropäischen Ländern den
Beitritt in die Gemeinschaft in Aussicht
– allerdings nicht ohne Bedingungen.
Mit den so genannten Kopenhagener
Beitrittskriterien von 1993 verlangt die
EU von beitrittswilligen Ländern:
• eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung
der Menschenrechte sowie für die Achtung und den Schutz von Minderheiten;
• eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck standzuhalten;
• die Verpflichtung zur Einhaltung der
Ziele der EU und die Übernahme und
Umsetzung des gesamten Rechtsbestandes der EU.
Die Details wurden mit jedem einzelnen Beitrittskandidaten zwischen 1998
bzw. 1999 und 2002 in 31 Kapiteln verhandelt. Seit dem 1. Mai diesen Jahres
sind nun Polen, Ungarn, Tschechien,
Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland,
Litauen, Zypern und Malta neue Mitglieder der EU. Die „Neuen“ werden im
Juni auch an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen.
Sind die neuen Länder ausreichend auf
die Mitgliedschaft vorbereitet?
In den vergangenen Jahren haben die
neuen Mitglieder beachtliche Reformanstrengungen unternommen. Sie haben wirtschaftliche Maßnahmen ergriffen, die bisweilen für die Bevölkerung
sehr schmerzhaft waren. Die EU hat
diesen Umstrukturierungsprozess u. a.
mit zwei Programmen unterstützt:
Mit dem Phare-Programm wurden
öffentliche Institutionen in den Ländern
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BETRIFFT 2/2004
Mittel- und Osteuropas darauf vorbereitet, die Rechtsvorschriften der EU zu
übernehmen und effektiv umzusetzen.
Mit dem Twinning-Programm wurden
Expertinnen und Experten aus den „alten“ Mitgliedstaaten in die Bewerberländer entsandt, um beim Aufbau der
Verwaltungs- und Justizstrukturen zu
helfen.
Gehen Arbeitsplätze verloren?
Einerseits profitiert die Wirtschaft der
alten Mitgliedstaaten schon seit längerem von dem erwarteten Beitritt.
Handelshemmnisse wurden schrittweise abgebaut, sodass die Exporte
in die neuen Staaten massiv wuchsen.
Das hat Arbeitsplätze bei uns gesichert
und zusätzliche sind entstanden. Dieser Trend wird sich fortsetzen: es werden neue Konsumbedürfnisse und
durch die Anpassung an die EU-Standards neue Märkte entstehen, z. B. für
Umwelttechnologien. Schon jetzt ist
Deutschland der wichtigste Handelspartner fast aller neuer Mitgliedstaaten und profitiert als stark exportorientierte Volkswirtschaft ganz erheblich.
Andererseits gibt es bereits Beispiele
Ist mit einer Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedstaaten zu rechnen?
Studien zur möglichen Einwanderung
aus Mittel- und Osteuropa ergaben,
dass diese nur begrenzt einsetzen und
sich hauptsächlich in den Grenzregionen mit den neuen Mitgliedstaaten
abspielen wird. Je mehr Wirtschaftswachstum diese Länder selbst erzielen
werden, desto weniger attraktiv wird
es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, einen Arbeitsplatz in anderen EU-Staaten zu suchen.
Als Spanien und Portugal 1986 der
EU beitraten, löste die Stärkung der
spanischen und portugiesischen Wirt-
wirksam kontrolliert werden, kann die
EU die Personenkontrollen an den Binnengrenzen für die einzelnen Länder
aufheben.
Gilt die freie Wahl des Arbeitsplatzes
EU-weit?
Das Recht, seinen Arbeitsplatz in der
neuen, erweiterten EU frei wählen
zu können, ist für die Neuen mit Ausnahme von Zypern und Malta eingeschränkt.
Jeder alte Mitgliedstaat kann die so
genannte Arbeitnehmerfreizügigkeit
zunächst für zwei Jahre einschränken
und Arbeitserlaubnisse verweigern.
Wenn auch danach noch mit schweren Störungen auf dem Arbeitsmarkt
zu rechnen ist, kann die Frist um weitere drei, danach noch einmal um zwei
Jahre, also insgesamt auf bis zu sieben Jahre verlängert werden. Für diese Übergangsregelung hatten sich insbesondere Deutschland und Österreich
eingesetzt, um ihre Arbeitsmärkte
schon allein aufgrund der räumlichen
Nähe zu den Erweiterungsländern zu
schützen.
Wer kann sich niederlassen?
Die Niederlassungsfreiheit gilt seit dem
1. Mai uneingeschränkt. Damit können sich Selbstständige und Firmen in
den neuen Mitgliedstaaten dauerhaft
niederlassen. Das gleiche gilt auch für
Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten, die sich in Deutschland niederlassen wollen.
Wer ist in der nächsten Erweiterungsrunde dran?
Die nächste Erweiterungsrunde wird
2007 mit Rumänien und Bulgarien angestrebt. Die Verhandlungen über die
einzelnen Kapitel laufen mit beiden
Ländern bereits seit 1999. Die Türkei
hat zwar bereits einen offiziellen Kandidatenstatus, die EU wird jedoch die
Beitrittsreife im Dezember 2004 erneut
prüfen. Bisher bestehen Zweifel daran,
dass die Türkei die politischen Kriterien
wie z. B. die Einhaltung der Menschenrechte ausreichend erfüllt.
Als weiteres Land hat Kroatien im
Februar 2003 einen Beitrittsantrag gestellt. Die EU-Kommission hat dem
Rat am 20. April 2004 empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit Kroatien zu eröffnen.
Welche Dienstleistungen aus den neuen Ländern sind eingeschränkt?
Generell können Unternehmen aus
den neuen Mitgliedstaaten seit dem
1. Mai in der erweiterten EU uneingeschränkt Dienstleistungen erbringen.
Für Deutschland ist die Dienstleistungsfreiheit allerdings in bestimmten Bereichen eingeschränkt: im Baugewerbe,
im Industriereinigungssektor und bei
den Tätigkeiten von Innendekorateuren zunächst für zwei Jahre. Diese Einschränkung kann dann um weitere fünf
Jahre verlängert werden.
Gilt der freie Personenverkehr?
Alle EU-Bürgerinnen und -Bürger können sich in der EU frei bewegen.
Sämtliche Einreisebeschränkungen
fallen weg. An den Grenzen zu den
neuen Mitgliedstaaten führt der Bundesgrenzschutz aber weiterhin Personenkontrollen durch. Ein gültiger
Reisepass oder Personalausweis wird
benötigt. Erst wenn die Außengrenzen
Monika Wolff
Europäisches Informations-Zentrum
Niedersachsen, Hannover
Quelle: EIZ (2)
dafür, dass Arbeitsplätze verlagert wurden, um Lohnkostenvorteile in neuen
Ländern zu nutzen. Auch dieser Trend
wird sich fortsetzen. Unterm Strich allerdings – so die Prognosen – werden
einige Arbeitsplätze zwar wegfallen.
Dafür werden aber mehr neue hinzukommen, was die positive wirtschaftliche Entwicklung im mit 455 Millionen
Menschen größten Binnenmarkt der
westlichen Welt begünstigt.
schaft eine Rückwanderung aus, so
dass die eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit mit einer Frist von sieben
Jahren verkürzt wurde.
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Forum: Mehrsprachigkeit
Adesso
vai ins Bett
Immer mehr Kinder wachsen
auch in Niedersachsen mit zwei
oder drei Sprachen auf.
Denn Migration und Tourismus
bringen Menschen unterschiedlicher Sprachen in Kontakt und
lassen zweisprachige Familien
entstehen.
Für die Erziehung der Kinder stellen
sich dabei grundlegende Fragen: Wirkt
sich die Mehrsprachigkeit für das Kind
nachteilig aus? Wie sollen sich Eltern
sprachlich verhalten? Welche Konsequenzen hat Mehrsprachigkeit in der
Schule?
Noch bis vor wenigen Jahrzehnten
nahm man an, dass sich Mehrsprachigkeit lernhemmend auswirken und den
Schulerfolg beeinträchtigen kann. Heute weiß man, dass gute Kompetenzen in
zwei Sprachen sogar zu besseren kognitiven Leistungen führen.
Kategorien
Man unterscheidet drei Kategorien von
Zweisprachigkeit:
Der additive Bilingualismus – Hier sind
zwei Sprachen nebeneinander stark
und gut ausgebildet. Ein Mädchen
spricht also z. B. Deutsch und Türkisch
so gut wie die Freundin ihre Muttersprache Spanisch. Diese Form der Zweisprachigkeit hat positive Folgen auf die
kognitiven Leistungen. Zum Beispiel
sind Abstraktionsfähigkeit oder Denkleistungen stärker ausgebildet als bei
einsprachigen Menschen. Die wenigsten Menschen erreichen jedoch diese
18
BETRIFFT 2/2004
Form der Zweisprachigkeit, denn eine
hohe Kompetenz in zwei Sprachen bedeutet auch, diese zwei Sprachen fast
täglich intensiv zu benutzen.
Der dominante Bilingualismus – Eine
der zwei Sprachen ist stark ausgebildet,
die andere ist eine schwache Sprache.
Wenn wir im oben zitierten Beispiel
bleiben, spricht das Mädchen also z. B.
Deutsch sehr gut und Türkisch längst
nicht so gut. Diese Form trifft auf die
meisten zweisprachigen Menschen zu
und ergibt weder positive noch negative Folgen für ihre kognitiven Leistungen. Sie sind in den schulischen Leistungen den einsprachigen Kindern
ebenbürtig.
Semilingualismus – In diesem Fall ist
keine der zwei Sprachen so ausgebildet, wie es von einem gleichaltrigen
einsprachigen Menschen zu erwarten
ist. Beide Sprachen sind schwach ausgebildet. Diese Form der Zweisprachigkeit
ist vor allem bei Kindern mit Migrationshintergrund anzutreffen. Die Erstsprache wird in diesen Fällen im familiären Umfeld zu wenig vermittelt und
die Umgebungs- bzw. Schulsprache erreicht nicht das altersgemäße Niveau.
In diesen Fällen ist es tatsächlich so,
dass die Zweisprachigkeit zu schlechteren kognitiven Leistungen führen und
schulische Probleme mit sich bringen
kann.
Wichtig ist dabei folgende Erkenntnis: Je besser die Erstsprache beherrscht
wird, umso einfacher und schneller lernen Kinder die Sprache der Schule und
der Umgebung. Dabei spielt die Familie
eine zentrale Rolle in der zweisprachigen Erziehung.
Familiäre Konstellationen
Zweisprachigkeit kann sich durch folgende familiäre Konstellationen ergeben:
Beide Elternteile sprechen eine andere Sprache als die Umgebung. Das Kind
wächst in den ersten Jahren monolingual mit der Sprache der Eltern als Erstsprache auf. Erst im Kontakt mit anderen Kindern auf dem Spielplatz oder im
Kindergarten lernt es die Zweitsprache
Deutsch. In den meisten Fällen entwickelt sie sich nach wenigen Schuljahren
zur starken Sprache.
Ein Elternteil spricht eine andere Sprache als die Umgebungssprache. In diesem Fall wächst das Kind von Anfang
an zweisprachig auf. Es erlebt zwei
Sprachen von zwei verschiedenen Personen. In diesen Fällen wird das Deutsche als Sprache der Umgebung sehr
schnell zur starken Sprache, die des anderen Elternteils zur schwachen.
Beide Elternteile sprechen zwei verschiedene Sprachen, zum Beispiel Englisch und Italienisch, während die Umgebungssprache Deutsch ist. Auch hier
wächst das Kind von Anfang an zweisprachig auf, hat also zwei Erstsprachen. In der Regel wird die Sprache der
ter zu Schulproblemen, denn gleiche
Objekte oder Handlungen können zwei
verschiedenen sprachlichen Ausdrücken
entsprechen. Z. B. italienisch / deutsch:
Adesso vai ins Bett. / Jetzt gehst du a
letto. Diese Umstände sind für das Kind
lernerschwerend.
Bei einer zweisprachigen Erziehung
ist den Eltern deshalb zu empfehlen,
sich zumindest in den ersten vier bis
fünf Jahren an die Regel „Eine Sprache = eine Person“ zu halten. Sobald
das Kind zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen unterscheiden und diese Sprachen auch benennen kann, wirken sich Sprachmischungen nicht mehr
negativ aus.
Wichtige Regeln
Zwei- oder mehrsprachig aufzuwachsen, ist für Kinder eigentlich kein Problem. Wesentlich ist, dass vor allem in
der Familie einige wichtige Regeln eingehalten werden:
Eine Sprache, eine Person
Kinder im Alter von einem oder zwei
Jahren wissen nicht, was Sprachen sind.
Sie imitieren das Verhalten der Bezugspersonen und erwerben so das sprachliche Verhalten. Sie sollten daher von
einer Person immer nur das gleiche Verhalten kennen lernen. Wenn Bezugspersonen die Sprachen mischen, ist das
für das Kleinkind verwirrend, denn es
kann unmöglich unterscheiden, wann
die eine oder die andere Sprache gesprochen wird. Vor allem die so genannte zweite Generation von Migrierten spricht aber oft eine Mischsprache.
Wenn diese mit den eigenen Kindern
gesprochen wird, kann dies zu Spracherwerbsretardierungen führen und spä-
Vielfältiger, verständlicher Input
Eltern sollten vom ersten Tag an mit ihren Kindern überhaupt viel sprechen.
Durch das Hören und Verstehen entwickeln die Kinder die Grundlagen für
das eigene Sprechen. Dass in zweisprachigen Familien mit einer traditionellen Rollenverteilung die Vatersprache
wenig entwickelt ist, hat unter anderem mit dem reduzierten Input zu tun.
Wenn sich aber auch ganztags erwerbstätige Väter die Zeit nehmen, abends
und am Wochenende mit ihren Kindern
zusammen zu sein und die eigene Sprache zu sprechen, erwerben die Kinder
die Vatersprache ohne weiteres.
Foto: Agsten (2)
Kinder sind frei in der Sprachenwahl
Auf keinen Fall dürfen Kinder gezwungen werden, die eine oder die andere
Sprache in der Familie zu sprechen. Ein
Zwang wirkt sich automatisch negativ
auf die Einstellung gegenüber der aufgezwungenen Sprache aus. Wenn ein
Kind die eine oder die andere Sprache
verweigert, dann hat dies in der Regel
nichts mit der Sprache an sich zu tun,
sondern mit der Erfahrung, die es damit gemacht hat. Im familiären Umfeld
ist deshalb genauer zu prüfen, welche
Beziehungen das Kind zur verweigerten Sprache hat und wie diese Beziehungen verbessert werden können.
Kontakt mit der schwachen Sprache
Schwache Sprachen sind an sich kein
Problem, solange eine starke Sprache
vorhanden ist. Sie können aber gefördert werden, zum Beispiel durch Reisen
ins Zielsprachenland oder durch Kon-
takte mit Gleichaltrigen, die diese Sprache als starke Sprache sprechen.
Keine künstliche Zweisprachigkeit
Deutschsprachige Eltern, die während
längerer Zeit in einem anderen Sprachgebiet gelebt haben (z. B. in den USA),
sollten nicht versuchen, ihre Sprachenkenntnisse, seien sie noch so gut, den
Kindern von Geburt an zu vermitteln.
Die Wahl der Sprache sollte nämlich
nicht nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Nützlichkeit erfolgen, sondern
nach dem Prinzip der Beziehung. Denn
mit der Sprache werden Beziehungen
Foto: Bächer
Mutter in den ersten drei Jahren zur
starken Sprache, während die Vatersprache eher weniger ausgebildet wird.
Dies ist vor allem in Familien mit einer
traditionellen Rollenverteilung der Fall.
Im Alter von drei bis fünf Jahren entwickelt sich die Umgebungssprache als
Zweitsprache, das Kind wird somit dreisprachig.
gestaltet und die elterliche Liebe ausgedrückt. Die Sprache, die man dem Kind
vermittelt, sollte aus diesem Grund immer die Sprache der Gefühle und des
Herzens sein.
Traditionell einsprachige Gebiete
und deren Schulen sind aber herausgefordert, die von den Kindern mitgebrachte Mehrsprachigkeit zu würdigen
und aktiv zu fördern.
Dr. Claudio Nodari
Institut für Interkulturelle Kommunikation, Zürich
(gekürzte Fassung aus: Starke Eltern
– Starke Kinder 2004, Hrsg.: Deutscher
Kinderschutzbund)
BETRIFFT 2/2004
19
Forum: Portrait
„Herzklopfen“ in Linden
Ayse Oruç hat sich immer für soziale, politische
und vor allem für Frauenthemen interessiert.
Es war nicht leicht für sie, sich für einen Beruf zu
Foto: privat
entscheiden, denn sie hatte den Anspruch, ihre
Es ist ein kalter Frühlingstag in Hannovers Stadtteil Linden. Doch schon beim
Eintreten in die Erdgeschossräume in
der Albertstraße wird man empfangen
von angenehmer Wärme. Der Grund
dafür ist der orientalisch anmutende
Lehmofen, das „Herzstück“ der Hebammenpraxis „Herzklopfen“, dem neuen Wirkungskreis von Ayse Oruç.
Ein leichter Flair von Orient durchzieht auch die anderen Räume. Der
Gruppenraum ist großzügig geschnitten und überall dominieren warme
Orange- und Rottöne. Ein Ort zum Verweilen und Entspannen. „Neben der
Vor- und Nachsorge von Schwangeren
bieten wir eine Reihe von Kursen an“,
erklärt Ayse Oruç das Angebot der Praxis, in der zwei Hebammen und speziell für das Kursangebot ausgebildete Lehrerinnen arbeiten. „Von Yoga
über Rückbildungsgymnastik bis hin
zu Jazz- und Bauchtanz kann hier jede
Frau etwas für sich finden. Auch NichtSchwangere!“
Ayse Oruç arbeitet schon viele Jahre als Hebamme. Zehn davon in einem Krankenhaus. Freiberuflich hat
sie nebenher die Vor- und Nachsorge
von Schwangeren übernommen. „Da
bekommt man eine Menge zu sehen!
So verschieden die Frauen sind, so un-
20
BETRIFFT 2/2004
Interessen und Überzeugungen darin verwirklichen
zu können.
terschiedlich erleben sie auch ihre
Schwangerschaft. Und hinzu kommen
noch die kulturellen Unterschiede.“
Am Anfang ihrer Berufstätigkeit hat
sie fast nur deutsche Frauen betreut.
Mittlerweile sind es überwiegend Frauen türkischer Herkunft. „Es gibt in
Hannover fast keine türkischen Hebammen.“ Sie überlegt kurz: „Außer
mir kenne ich nur noch eine weitere.“ Gleichzeitig gibt es aber viele junge türkische Frauen, die kein Deutsch
verstehen und keine Kenntnis darüber
haben, welche medizinischen Maßnahmen ihnen im Rahmen ihrer Krankenversicherung zustehen.
„Es kommt immer mehr in Mode,
dass sich türkische Männer, die in
Deutschland leben, zum Heiraten junge Frauen aus ihrer Heimat kommen
lassen.“ Man merkt der Hebamme ihre
Missbilligung an. „Diese Frauen bekommen hier nicht nur einen Kulturschock,
sondern man muss sich auch klar machen, dass es sich in der Regel nicht um
eine Liebesheirat handelt.“
In der Türkei wären diese Frauen in
der Schwangerschaft und nach der Geburt von ihrer Familie rundum versorgt.
Hier in Deutschland sind sie hingegen
oftmals auf sich allein gestellt. „Viele
Frauen sind nicht einmal aufgeklärt,
plötzlich schwanger von einem Mann,
den sie nicht lieben, in einem Land,
dessen Sprache sie nicht verstehen.“
Bei ihren Schilderungen wird deutlich,
wie engagiert Ayse Oruç sich diesem
Thema widmet.
Als sie vor zwei Jahren ihre Tätigkeit im Krankenhaus aufgibt, versucht
sie in der Nordstadtklinik eine Sprechstunde für Migrantinnen einzurichten.
Sie merkt aber schon bald, dass sie ihre
Vorstellungen innerhalb der bestehenden Strukturen nicht umsetzen kann.
„Ich bedauere sehr, dass türkische Frauen das Angebot der medizinischen Versorgung so wenig wahrnehmen. Oft
sind es übrigens die Ehemänner, die
dies verbieten“, weiß die Hebamme
aus langjähriger Erfahrung. So versucht
sie, Vorurteilen und auch so manchem
Aberglauben rund um die Schwangerschaft und Geburt durch Aufklärung
entgegenzuwirken. Ihre türkische Herkunft gibt ihr diese Möglichkeit. Und
sie nutzt sie, soweit es im Rahmen ihrer
Arbeit möglich ist.
Rena Bürger
Journalistin, Hannover
Nachrichten
Veröffentlichungen
Kurz und knapp
Beide im folgenden genannten Publikationen des Deutschen Instituts für
Menschenrechte erklären kurz und
knapp, wie z. B. Deutschland seinen
Berichtspflichten nachkommt, welche
Kritikpunkte die Expertenausschüsse
an der deutschen Praxis formulieren
und wie die Bundesregierung darauf
antwortet.
In der Publikation
„Die Berichterstattung zu Deutschland
in europäischen Menschenrechtsinstitutionen“,
Berlin 2003, ISBN 3-9808112-5-5,
werden vier europäische Überprüfungsverfahren erklärt, die Europäische Sozialcharta, das Antifolterabkommen, die Europäische Kommission
gegen Rassismus und Intoleranz und
das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten.
Im Mittelpunkt der Broschüre
„Die deutsche Menschenrechts-Berichterstattung gegenüber den Vereinten
Nationen“ (während der 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages),
Berlin 2003, ISBN 3-9808112-4-2,
stehen die sechs Abkommen zu Rassendiskriminierung, politischen und
bürgerlichen Rechten, wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechten, Folter, Frauenrechten und Kinderrechten.
Deutsches Institut für Menschenrechte, Zimmerstraße 26/27, 10969 Berlin,
[email protected]
Das Institut für Migrationsforschung
und Interkulturelle Studien (IMIS) hat
folgende Schriften und Beiträge herausgegeben:
Fragen erlaubt
„Migration steuern und verwalten.
Deutschland vom späten 19. Jahrhundert
bis zur Gegenwart“
Göttingen 2003, ISBN 3-89971-104-1
Fragmentierung, Undurchschaubarkeit
und Schwerfälligkeit bei mangelnder
Steuerungsübersicht – das kennzeichnet nach Einschätzung der von der
Bundesregierung eingesetzten „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“
den gesamten Bereich der Kontrolle
und Gestaltung von Migration in der
Bundesrepublik Deutschland zu Beginn
des 21. Jahrhunderts. Reformen werden dringend angemahnt. Die Beiträge des Sammelbandes bieten Einblicke
in die Entwicklung von Steuerung und
Verwaltung. Im Vordergrund stehen
dabei Fragen nach Interessen, Modellen und Versuchen zur politischen
und administrativen Gestaltung von
Wanderungsbewegungen sowie nach
unterschiedlichen Zuwanderungs- und
Integrationspolitiken gegenüber einzelnen Zu- und Einwanderergruppen.
Blick in den Alltag
„Kriminal- und Drogenprävention bei
jugendlichen Aussiedlern“
Göttingen 2003, ISBN 3-89971-111-4
Die Integration der Zugewanderten
wie der neu Zuwandernden muss ein
vorrangiges Ziel einer zukunftsorientierten Migrationspolitik sein. Trotzdem zeigt ein Blick in den Alltag, dass
die Maßnahmen bei jugendlichen Aussiedlern inzwischen nur bedingt reifen.
Nicht zu übersehen ist, dass die Zahl
der straffällig gewordenen Aussiedlerjugendlichen in den letzten Jahren gestiegen ist und dass diese Jugendlichen
vielfach in für ihre Betreuer unbekannte und unzugängliche Beziehungs- und
Machtstrukturen innerhalb, aber auch
außerhalb des Strafvollzugs einbezogen sind. Der vorliegende Band ist das
Ergebnis einer Tagung, die den Beziehungs- und Machtstrukturen, den
neuen Ansätzen in der Integrationsarbeit sowie den Möglichkeiten der
Bündelung von Kompetenzen aus den
verschiedenen beteiligten Institutionen und Organisationen galt.
Herausforderung
„Neue Zuwanderung aus dem Osten“
Göttingen 2003, ISBN 3-89971-113-0
Die Osterweiterung wird als die größte
Herausforderung für die EU angesehen. In der öffentlichen Diskussion
werden allerdings vielfach Fakten und
unbelegte Prognosen vermischt sowie
Stereotypen bedient und Ängste geschürt. Der Band versammelt Beiträge zu den schon gegebenen und noch
zu erwartenden Migrationsprozessen
und zu den Zielen, die die (potenziellen) Migrantinnen und Migranten
verfolgen. Dargestellt wird, wie die
EU-Osterweiterung in zwei der zehn
Beitrittsländer – Polen und Tschechien
– diskutiert wird. Zwei Beiträge sind
der Frage gewidmet, welche Integrationsangebote es gibt bzw. geben sollte,
und wie hoch der Integrationsbedarf
einzuschätzen ist.
Alle drei Titel sind zu beziehen bei:
V & R unipress, Robert-Bosch-Breite 6,
37079 Göttingen, f.lonz@vr-unipress.
de
Der Waxmann Verlag hat folgende
Bücher verlegt:
Plurale Schülerschaft
„Lernen am Rande der Gesellschaft.
Bildungsinstitutionen im Spiegel von
Flüchtlingsbiografien“
Münster 2003, ISBN 3-8309-1279-X
Wenn die Welt „globaler“ wird – wie
reagieren die nationalen Bildungsinstitutionen darauf? Wie gehen sie mit
den komplexen Anforderungen einer
immer pluraleren Schülerschaft um?
Über eine Forschung, in der solchen
Fragen aus einer ungewöhnlichen
Perspektive nachgegangen wird, gibt
dieses Buch Auskunft. Berichtet wird
über die Bildungsbedingungen von in
besonderer Weise ausgegrenzten und
benachteiligten afrikanischen Flüchtlingsjugendlichen.
Bildungsbedingungen
„Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger.
Migration, Integration und schulischer
Erfolg in einer vietnamesischen Exilgemeinschaft“
Münster 2003, ISBN 3-8309-1278-1
Auf der Grundlage einer mehrjährigen
Feldforschung wurden die Bildungsbedingungen und Bildungserfahrungen
von Schülerinnen und Schülern aus
vietnamesischen Flüchtlingsfamilien
in Deutschland untersucht. Vor dem
Hintergrund der Fluchtmigration aus
Vietnam und den Lebensbedingungen
in einer norddeutschen Großstadt werden die Einflüsse von Schule, Familie
und ethnischem Netzwerk auf die Bildungspartizipation aus der Perspektive der Akteure analysiert. Die Studie
macht deutlich, dass der Wahrnehmung der in der Aufnahmegesellschaft
offerierten Lebenschancen eine herausragende Bedeutung für das Ver-
BETRIFFT 2/2004
21
Nachrichten
ständnis des schulischen Erfolgs dieser
Zuwanderergruppe zukommt.
Beide Titel zu beziehen bei:
Waxmann Verlag GmbH, Steinfurter Straße 555, 48159 Münster,
[email protected]
Arbeitshilfen
Anregungen
„Gefährlich fremd?“
Zum kritischen Umgang mit Medien
Düsseldorf 2003
Der Flyer thematisiert die problematische Berichterstattung in den Medien
über Menschen mit Migrationshintergrund und gibt Beispiele, Erläuterungen und Anregungen zur kritischen
Lektüre von Medienberichten. Durch
die verschiedenen Ebenen der medialen Sprache, den Rekurs auf den Alltag
sowie die abschließenden Tipps eignet
sich der Flyer als begleitendes Seminarmaterial in Schule und Jugendarbeit.
Er kann bis zu einer Stückzahl von 30
Exemplaren kostenlos bestellt werden.
IDA e. V., Volmerswerther Straße 20,
40221 Düsseldorf, Tel. (02 11) 1 59 25 55,
Fax (02 11) 15 92 55 69, [email protected]
Integrationspolitik
„Zuwanderung und Integration
gestalten. Bausteine für ein zukunftsweisendes Integrationsprogramm für
Deutschland“
Mit diesem Papier stellt der Deutsche
Caritasverband seine Überlegungen in
Bezug auf eine künftige Integrationspolitik in Deutschland vor, die Migrantinnen und Migranten und Einheimische mit einbezieht.
Deutscher Caritasverband, Postfach 4
20, 79004 Freiburg, Telefon-Zentrale:
(07 61) 2 00-0
Mehr als zwei Sprachen
„Bilinguales Lernen
im interkulturellen Kontext“
Braunschweig 2003, ISBN 3-14-162059-8
Bilinguales Lernen ist mehr als das
Lernen in zwei Sprachen vom ersten
Schuljahr an. Das Konzept beinhaltet
darüber hinaus die Möglichkeit, im
Sinne einer interkulturellen Erziehung
voneinander zu lernen. Wie aber kann
ein bilinguales Konzept in das Schul-
22
BETRIFFT 2/2004
programm eingebunden werden?
Welche Wege der bilingualen Alphabetisierung gibt es? Wie kann eine
Fremdsprache in den Sach- und Fachunterricht integriert werden?
Diese und weitere Fragen werden erörtert und mit praktischen Beispielen
aus bilingualen deutsch-italienischen
Schulprojekten bereichert. Dabei werden auch die Möglichkeiten aufgezeigt, die dieser Ansatz im Sinne einer
interkulturellen Erziehung bietet.
Westermann Schulbuchverlag GmbH,
Georg-Westermann-Allee 66, 38104
Braunschweig, schulservice@
westermann.de
Dokumentationen
Perspektiven
„Sonderpädagogik oder Pädagogik
der Vielfalt?“
Dokumentation einer Fachtagung,
Hannover 2004
Bisher werden Menschen mit Behinderung in den Angeboten für MigrantInnen und Flüchtlinge kaum
wahrgenommen. Auch die deutsche
Behindertenhilfe begegnet ihren Bedürfnissen eher unzureichend. Dieses
aktuelle integrationspolitische Thema
hat die Landeshauptstadt Hannover/
Interkulturelle Angelegenheiten nun
in der Dokumentation der Fachtagung vom 29.9.2003 mit dem Runden
Tisch für ein interkulturelles Hannover gegen Rassismus, Fremdenhass
und Ausländerfeindlichkeit aufgegriffen. Wichtige Stichworte dazu
sind z. B. transkulturelle Öffnung der
Behindertenhilfe, regionübergreifende Lobbyarbeit sowie kultursensible
Angebote. Die Dokumentation macht
nicht nur auf die Sonderschulproblematik – insbesondere bei Kindern und
Jugendlichen mit Migrationshintergrund – aufmerksam, sondern zeigt
auch mögliche Perspektiven auf.
Die Broschüre ist im Internet unter
www.hannover.de/deutsch/doku/paedagogik_der_vielfalt.pdf zu finden oder
kann bestellt werden bei:
Landeshauptstadt Hannover, Postfach
125, 30001 Hannover, Tel. (05 11) 1 68-0
Neuer Dialog
Aus der Reihe `Miteinander reden
– nicht übereinander`:
„Wie verändert der Islam die Schule?“
Nachdem die Grundsatzentscheidung
über das Verbot religiöser Symbole an
Berliner Schulen gefallen ist, hat Berlins Beauftragter für Integration und
Migration einen neuen Dialog mit dem
Islam gefordert. Die Ergebnisse der
unter der Veranstaltungsreihe „Under
Construction – Einwanderungsstadt
Berlin“ durchgeführten Veranstaltung
zum Thema „Wie verändert der Islam
die Schule im Kiez?“ sind jetzt als Dokumentation erhältlich.
Kostenloser Download im Internet unter: www.berlin.de/auslb
Bundesweit erprobt
„Interkulturelles Wissen und Handeln.
Neue Ansätze zur Öffnung sozialer
Dienste“
Berlin 2003
Interkulturelle Öffnung ist inzwischen
ein anerkanntes Paradigma. Dabei
geht es im Wesentlichen um eine nachholende Beschäftigung öffentlicher
Institutionen mit dem Phänomen der
Einwanderung. Vor allem in Schlüsselinstitutionen der gesellschaftlichen
Integration wie Schule, Sozial- und Gesundheitsdienste, Polizei und Justiz lassen sich die Begleiterscheinungen der
Einwanderungsgesellschaft nicht mehr
verdrängen.
Die Dokumentation des Modellprojekts „Transfer interkultureller Kompetenz (TiK)“ versucht eine Lücke in der
konzeptionellen Entwicklung zu schließen, indem sie ein bundesweit erprobtes Konzept vorstellt, das die Rolle
eines breitgefächerten Wissens für
interkulturelle Öffnung und die bisher
kaum thematisierte Verknüpfung von
Weiterbildung, prozessorientierter Organisationsberatung und Wissenstransfer in den Vordergrund stellt.
Transfer interkultureller Kompetenz
(TiK), Oranienstr. 34, 10999 Berlin,
[email protected]
Normalität und Chance
„Fremde Heimat Eberswalde?
Zuwanderungen in Vergangenheit und
Gegenwart“
Stadt Eberswalde 2003
Das bebilderte Begleitheft zu der
gleichnamigen Ausstellung stellt die
Nachrichten
Geschichte von der Zuwanderung der
Hugenotten im 17. Jahrhundert über
die ehemaligen Vertragsarbeiter in der
DDR bis in die heutige Zeit dar. Anliegen ist es, den fremdenfeindlichen
Vorurteilen entgegenzuwirken und
die Zuwanderung als Normalität und
Chance zu begreifen. Die Ausstellung
wird noch bis Ende Oktober 2004 gezeigt.
Landkreis Barnim, Heegemühler Straße 75, 16225 Eberswalde,
[email protected]
Studien
Perspektiven
„Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethnokulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit“
Waxmann Verlag, Münster 2003,
ISBN 3-8309-1268-4, ISSN 1432-8186
Unter der Perspektive „Zugehörigkeit“
widmet sich die vorliegende Studie
einer Personengruppe, die in Deutschland aufgewachsen ist und für die
aufgrund von Zuschreibungsprozessen
mehrere nationale Zugehörigkeitskontexte von signifikanter Bedeutung
sind. Im Mittelpunkt der Untersuchung
steht die Frage, was unter natio-ethnokultureller (Mehrfach)Zugehörigkeit
verstanden werden kann. Die Studie
endet mit Überlegungen zu Bedingungen von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit unter Bedingung von Mehrfachzugehörigkeit.
Waxmann Verlag GmbH, Steinfurter Straße 555, 48159 Münster,
[email protected]
Psychosoziale Aspekte
Regula Weiss: „Macht Migration
krank? Eine transdisziplinäre Analyse
der Gesundheit von Migrantinnen und
Migranten“
Seismo Verlag, Zürich 2003,
ISBN 3-908239-86-9
Die Arbeit fasst die Forschungen zusammen, die von der Autorin im Auftrag zum Thema „Migration und Gesundheit“ durchgeführt wurden. Der
Themenkomplex ist dabei im Grenzbereich Medizin, Psychiatrie, Psychologie,
Soziologie und Ethnologie angesiedelt. Dabei legt Regula Weiss bei ihren
Forschungen den Schwerpunkt auf
psychosoziale Aspekte im Rahmen der
somatischen Gesundheit von MigrantInnen.
Seismo Verlag (Sozialwissenschaften
und Gesellschaftsfragen), Zähringerstraße 26, CH-8001 Zürich,
[email protected]
Veranstaltung
Integrationskongress des Deutschen
Caritasverbandes: „Zuwanderung und
Integration gestalten – Zukunft gewinnen“, 28. bis 30. September 2004, Umweltforum Berlin, Auferstehungskirche
Der Deutsche Caritasverband lädt zu
einem Austausch über die Bedingungen, Herausforderungen und Ziele des
Integrationsprozesses ein. Gemeinsam
mit Vertretern aus Wissenschaft und
Forschung, Politik und Wohlfahrtsverbänden soll über die Umsetzung integrationspolitischer Konzepte und die
damit verbundenen Anforderungen an
die Gesellschaft diskutiert werden.
Deutscher Caritasverband e.V., Karlstraße 40, 79104 Freiburg, Fax (07 61)
2 00-7 55, [email protected]
Termine
Begegnungsfest der Migrantinnen
und Migranten aus Norddeutschland:
„Karneval der Kulturen“, 10.–12. September 2004, Hamburg
Kulturwelten e. V., Karneval der Kulturen Hamburg, Bernstorffstraße 118,
22767 Hamburg, Fax (0 40) 43 91 09 11,
[email protected]
10. Niedersächsisches Schüler- und
Jugendfilmfestival: „Uelzener Filmtage
2004“ – Das Festival für junge FilmemacherInnen unter 21 Jahren vom
12. bis 14. November 2004, Einsendeschluss: 1. September 2004
Stadt Uelzen, Herzogenplatz 2,
29525 Uelzen, Fax (05 81) 8 00-1 00,
www.uelzen-filmtage.de
LAG Jugend & Film Niedersachsen e. V.,
Moorstraße 98, 29664 Walsrode, Fax
(0 51 61) 91 14 64, info@lag-jugendund-film.de, www.lag-jugend-undfilm.de
Neuer
Landesbeauftragter
Rudolf Götz, Landtagsabgeordneter
aus Seesen im Harz, wurde im Sommer 2003 zum Landesbeauftragten
für Heimatvertriebene und Spätaussiedler bestellt.
Damit verfolgt die Landesregierung insbesondere das Ziel, die
Integration der Spätaussiedler zu
verbessern. Rudolf Götz ist Ansprechpartner für alle gesellschaftlichen Gruppen, die bei Maßnahmen
zur Eingliederung von Spätaussiedlern mitwirken. Er soll die Landesregierung in allen Angelegenheiten
der Spätaussiedler, der Zusammenarbeit mit den Verbänden der Heimatvertriebenen, bei der Kulturarbeit
sowie bei den heimatpolitischen und
grenzüberschreitenden Maßnahmen
politisch beraten. Damit betont die
Landesregierung auch ihre Verbundenheit mit den Heimatvertriebenen
und Spätaussiedlern. Zugleich greift
die Landesregierung damit besondere Maßnahmen auf, um die Schwierigkeiten insbesondere der jungen
Spätaussiedler bei der Eingliederung
in die hiesigen Lebensverhältnisse
überwinden zu helfen. Um die politische Bedeutung dieses Anliegens zu
unterstreichen und die Unabhängigkeit des Landesbeauftragten hervorzuheben, wurde dieses Amt einem
Landtagsabgeordneten übertragen.
Rudolf Götz ist über das Niedersächsische Innenministerium unter der
Rufnummer (05 11) 1 20-47 54, über
Telefax unter (05 11) 1 20-48 84 und
per E-Mail unter Rudolf.Goetz@mi.
niedersachsen.de zu erreichen.
BETRIFFT 2/2004
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Erfolgreiche Integration
ist kein Zufall
Strategien kommunaler Integrationspolitik im Wettbewerb
Gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern schreibt die Bertelsmann
Stiftung einen bundesweiten Wettbewerb zur „Best-Praktice“ kommunaler Integrationspolitik aus. Viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund
leisten in Deutschland einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg und
damit zum Wohlstand wie auch zum kulturellen Leben. Diese Entwicklung zu fördern, ist eine der wichtigsten innenpolitischen Aufgaben in den nächsten Jahren.
Gelingen kann dies nur auf der Basis erfolgreicher Integration. Dass diese aber
kein Zufall ist, wissen Städte, Landkreise und Gemeinden am besten. Sie leisten
bei der Integration von Zuwanderern kompetente Arbeit, indem sie Strategien
kommunaler Integrationspolitik entwickeln und umsetzen. Diese zukunftsweisende Arbeit herauszustellen, zu vergleichen und zu optimieren, um anschließend
die besten Ansätze allen Kommunen zugänglich zu machen, ist das Ziel des Wettbewerbs.
Die Ausschreibung läuft bis zum 10. September 2004. Sie richtet sich an alle deutschen Kommunen: Städte, Stadtbezirke, Landkreise und Gemeinden. Für die Sieger stehen Preisgelder von insgesamt 50.000 Euro zur Verfügung.
Die Ausschreibungsunterlagen können im Internet abgerufen werden unter:
www.erfolgreiche-integration.de
Kontakt: Bertelsmann-Stiftung, Claudia Walther
Telefon (0 52 41) 8 18 13 60, [email protected]
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