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44 BZB November 13 Praxis BLZK Vertrauen ist gut – Vereinbarungen sind besser! Auch Operateure können für Anästhesie-Komplikationen belangt werden Die Verantwortung für eine sichere anästhesiologische Infrastruktur endet nicht an Fächergrenzen. Kommen Patienten zu Schaden, muss neben dem Anästhesisten auch der Operateur als Einrichtungsleiter mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Todesfälle – insbesondere von Kindern – nach operativen Eingriffen in Narkose haben in der jüngeren Zeit wiederholt große Aufmerksamkeit in den Medien erfahren [1]. Auf dem Medizinstrafrechtstag des Deutschen Anwaltsvereins wurde besorgt berichtet über „eine fatale Tendenz in der Praxis ambulanten Operierens […], die mit einer adäquaten anästhesiologischen Versorgung verbundenen ‚Kostenfaktoren‘ zu reduzieren, auch wenn dies mit erkennbaren Risiken für Leib und Leben der behandelten Patienten verbunden ist“. Haftstrafe für Anästhesisten und Zahnarzt Besondere Beachtung fand dabei ein Fall, in dem am 25. März 2011 vor dem Amtsgericht (AG) Limburg neben dem Anästhesisten auch der operierende Zahnarzt wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 Strafgesetzbuch (StGB) zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Dabei ging es um die Verantwortung des zahnärztlichen Praxisbetreibers für eine adäquate Sicherheits-Infrastruktur bei ambulanten Operationen in Narkose. Mit den Worten „Ich bin doch kein Arzt, sondern Zahnarzt“ hatte sich der Operateur gegen den Vorwurf gewehrt, er sei mitverantwortlich für den Tod eines Kindes im Aufwachraum seiner Praxis. Die dort fehlende Mindestausstattung an Personal und Messgeräten sei allein dem Anästhesisten anzulasten. Er selbst müsse sich als Operateur nur um die Zahnbehandlung kümmern. Im Prozess vor dem AG Limburg ging es um zwei Fragen. Einerseits war anhand der speziellen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, ob das leicht behinderte Kind bei fachgerechter Überwachung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ überlebt hätte. Andererseits ging es um die Grundsatzfrage, unter welchen Umständen ein Arzt auf die korrekte Arbeitsweise seines Kollegen vertrauen darf [2]. * Alle Namen von der Redaktion geändert Tod eines Kindes: Zum Sachverhalt Der angeklagte Zahnarzt Dr. A.* betreibt seit 1990 mit seinem Kollegen Dr. B. eine Zahnarztpraxis. Der ebenfalls angeklagte Anästhesist Dr. C. arbeitete von 1990 bis Ende 2009 etwa einmal pro Woche bei zahnärztlichen Behandlungen in Vollnarkose mit Dr. A. und Dr. B. in deren Praxisräumen zusammen. Ein schriftlicher Vertrag zwischen den Zahnärzten und Dr. C. existierte nie. Dr. C. stellte die notwendigen Narkosegeräte, die er mit in die Praxis brachte. Einen gesonderten Aufwachraum mit adäquater apparativer Ausstattung gab es in der Praxis nicht. Nach der postnarkotischen Überwachung im Eingriffsraum wurde in aller Regel der behandelte Patient in einen „Ruheraum“ gebracht und dort einer Begleitperson übergeben. Außer der Ehefrau des Dr. C., die häufig – jedoch nicht immer – an Narkosetagen dabei war, verfügte keine der bei Dr. A. angestellten Zahnarzthelferinnen über eine anästhesiologische Ausbildung, keine von ihnen war unterrichtet, wie sie sich den Patienten im Ruheraum gegenüber verhalten sollte. Auch zwischen den Zahnärzten und dem Anästhesisten gab es zur Behandlung oder Überwachung von Patienten im Ruheraum keine Absprachen. Dr. A. entschied, ob ein zahnärztlicher Eingriff in seiner Praxis in örtlicher Betäubung oder in Narkose stattfindet und erstellte die entsprechende Planung. Im Herbst 2007 brachte der Anästhesist die zehnjährige Petra, die am Williams-Beuren-Syndrom (WBS) litt, bereits zehn Minuten nach dem Eingriff in noch tief schlafendem Zustand in den „Ruheraum“, wo sie ohne personelle oder apparative Überwachung mit ihrer Mutter allein war. Während die beiden Ärzte bereits ihre nächste Patientin unter Vollnarkose behandelten, erlitt Petra einen Atemstillstand und einen hypoxischen Gehirnschaden, in dessen Folge sie wenige Tage später verstarb. Das AG Limburg verurteilte den Anästhesisten Dr. C. zu einem Jahr und sechs Monaten sowie den Zahnarzt Dr. A. zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Nach der Berufungshauptverhandlung wurde das Verfahren gemäß § 153a der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt Praxis BZB November 13 45 Foto: Initiative proDente e.V. BLZK Bestimmte Zahnbehandlungen, wie zum Beispiel größere Zahn- und Kieferoperationen, können unter Vollnarkose vorgenommen werden. gegen Geldauflagen von jeweils 20.000 Euro für beide Angeklagten aufgrund von Beweisunsicherheiten bei der Kausalität der Pflichtverletzungen mit Blick auf das WBS des Mädchens. Organisationsrecht ist Organisationspflicht Jede Operation birgt Gefahren. Für deren Abwehr sind alle beteiligten Ärzte verantwortlich. Raum für Vertrauen sieht der Bundesgerichtshof (BGH) nur, wenn „es um Gefahren geht, die ausschließlich dem Aufgabenbereich eines der beteiligten Ärzte zugeordnet sind“. Diese Zuordnung folgt keinem Automatismus nach Fachrichtungen, weswegen es unter diesem Blickwinkel keine „fachfremden“ Komplikationen gibt. Entscheidend ist stets die individuelle Aufgabenverteilung vor Ort. Subsidiär gelten die fachgesellschaftlichen Zuständigkeitsvereinbarungen, welche die meisten Fächer (nicht die Zahnmedizin) insbesondere mit der Anästhesie geschlossen haben. Die mitunter lange vor dem „Durchbruch“ des ambulanten Operierens getroffenen Regelungen lassen sich indes nicht pauschal von Krankenhäusern auf die Bedingungen in einer Arztpraxis übertragen. Während Kliniken üblicherweise über zentrale Aufwacheinheiten in der Verantwortung einer ganzen Anästhesieabteilung verfügen, ver- langt praxisambulantes Operieren in den Räumen eines Arztes mit nur einem Operationstisch flexiblere Strukturen. Kein größeres Risiko als im Krankenhaus Deshalb konkretisieren jüngere fachgesellschaftliche Vereinbarungen und Standards ergebnisbezogen die Verpflichtung, dass der Patient „keinem höheren Risiko (auch im Zusammenhang mit der postoperativen Betreuung) ausgesetzt sein darf als bei einer Behandlung unter stationären Bedingungen“. Insbesondere die gesondert vergütete Aufgabe postoperativer „lückenloser Überwachung“ bietet Umsetzungsspielräume. Sie kann entweder dem Anästhesisten oder dem Praxisbetreiber beziehungsweise dessen speziell geschultem Personal („Fachpflegestandard“) übertragen werden. Dieses Organisationsrecht ist gleichzeitig eine Pflicht und gehört zur Führungsverantwortung des Praxisbetreibers in seiner Doppelfunktion als Arzt und Einrichtungsleiter. In der Urteilsbegründung des AG Limburg heißt es: „Wie einem Klinikträger oblag es dem Praxisbetreiber Dr. A. gleichermaßen, die technisch-apparativen Einrichtungen und die erforderliche personelle Ausstattung für die postoperative und postnarkotische Überwachungsphase zu besorgen bzw. dafür Sorge zu tragen“[3]. 46 BZB November 13 Praxis BLZK Klare Definition und Abgrenzung der Aufgaben Die Grenzen des „Vertrauensgrundsatzes“ werden von der Rechtsprechung enger gezogen als vielfach bekannt. Praxisbetreiber, gegen die wegen unzureichend organisierter Patientenüberwachung ermittelt wird, argumentieren meist mit dem Vertrauensgrundsatz, wonach sie sich auf die Aufgabenerfüllung und das überlegene Fachwissen des Anästhesisten verlassen dürften. Oft fehlt es jedoch an mindestens einer der zwei wichtigsten Voraussetzungen für diesen Grundsatz. Er basiert nämlich nicht etwa auf Wissensasymmetrie zwischen Operateur und Anästhesist, sondern dem Prinzip der Arbeitsteilung. Entscheidend ist allein die klare Definition, Abgrenzung und Zuordnung von Aufgabenbereichen. Dies ist eine Kernaufgabe des Praxisbetreibers als Einrichtungsleiter. Kommt er dieser Aufgabe nicht nach, kann er auch nicht auf die „arbeitsteilige“ Bewältigung hieraus resultierender Risiken durch den Anästhesisten vertrauen. Bereits 2001 hatte das AG Langenfeld [4] ähnlich wie das AG Limburg entschieden. 2005 stellte das Landgericht Augsburg [5] fest: „Für die Organisation der postoperativen Überwachung, das Vorhandensein geeigneten Fachpersonals und der erforderlichen Geräte ist der Angeklagte als Betreiber der Praxis verantwortlich.“ Personelle und apparative Standards Zwar verlangt die Rechtsprechung von Praxisbetreibern keine minutiöse Überwachung ihrer Narkosekollegen. Allerdings müssen Operateure ebenfalls auf die strikte Einhaltung der personellen und apparativen Sicherheitsstandards in ihrer Praxis achten. Dazu gehört insbesondere anästhesiologisch qualifiziertes Pflegepersonal während und nach der Narkose, um die Überwachung und Notfallversorgung der Patienten sicherzustellen. Dies hat das LG Halle kürzlich im Zusammenhang mit dem Tod eines Kindes in einer Zahnarztpraxis noch einmal betont [6]. Das AG Limburg ordnete den Praxisbetreibern die gleiche Organisationsverantwortung zu „wie einem Klinikträger“. Die verhängten Freiheitsstrafen begründete es nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass die seit Jahren unzureichende Patientenüberwachung in der Zahnarztpraxis kein menschliches Augenblicksversagen darstellte, sondern vielmehr die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte im Vordergrund standen. Ungeklärt blieb die Frage nach der Verantwortung des Praxismitinhabers, der die defizitären Strukturen in der Praxis gekannt und mitgestaltet hatte. Kontakt Prof. Dr. Uwe Schulte-Sasse c/o SLK-Klinikum am Gesundbrunnen Veronika Krämer Zentrum für Anästhesie Am Gesundbrunnen 20 -26 74078 Heilbronn Telefon: 0172 8011815 E-Mail: [email protected] Rechtsanwalt Tim Neelmeier, LL.B. (Bucerius) c/o Schulz Noack Bärwinkel Baumwall 7 20459 Hamburg Telefon: 040 69661172 Fax: 040 69661174 E-Mail: [email protected] Fehler eines Kollegen nicht einfach hinnehmen Wichtiger aber noch ist die zweite Voraussetzung des Vertrauensgrundsatzes. Ist die arbeitsteilige Behandlung präzise organisiert, besteht zwar keine minutiöse wechselseitige Überwachungspflicht. Der Praxisbetreiber und alle anderen beteiligten Ärzte bleiben aber „sekundär verkehrssicherungspflichtig“, wie der Bundesgerichtshof (BGH) schon 1988 klarstellte: „Kein Arzt, der es besser weiß, darf sehenden Auges eine Gefährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein anderer Arzt seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder er jedenfalls den dringenden Verdacht haben muss, es könne ein Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz des dem Arzt anvertrauten Patienten.“ Berechtigtes Vertrauen im Rahmen arbeitsteiligen Zusammenwirkens findet demnach dort seine Grenze, wo „ernsthafte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Vorarbeiten des Kollegen erkennbar sind“. Der BGH gibt einen strengen Maßstab vor: „Die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensschutzes sind umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist.“ Es bedarf „keiner besonderen medizinischen Kenntnisse“ [3] um zu wissen, dass „für den chirurgischen Patienten zu keiner Zeit seines Klinikaufenthalts die Gefahr der Hypoxie so groß ist wie in der unmittelbaren postoperativen Phase“[7]. Praxis BZB November 13 47 BLZK Im verhandelten Fall musste sich dem Zahnarzt sogar die völlige Gewissheit fehlerhafter Narkoseführung durch den Anästhesisten aufdrängen, wenn er im Eingriffsraum keine anästhesiologische Assistenzkraft samt erforderlicher Überwachungsgeräte wahrnimmt und/oder er mit dem gleichen Anästhesisten unmittelbar zum nächsten Eingriff übergeht, ohne dass eine dann erforderliche zweite (!) Fachpflegekraft für die ununterbrochene postoperative Überwachung im Aufwachraum eingeteilt worden ist. Fehlt es an berechtigtem Vertrauen, handelt neben dem Anästhesisten auch der Praxisinhaber pflichtwidrig. Pflicht zur „weitergehenden Aufklärung“ Die Eltern des Kindes hatten auch keine „weitergehende Aufklärung“ erhalten über die beabsichtigte Unterschreitung von Überwachungsstandards. Diese Pflicht besteht bei jeder beabsichtigten Abweichung von der lex artis, insbesondere bei der Anwendung von Außenseitermethoden, Behandlungen ohne medizinische Indikation und Unterschreitungen des Facharztstandards bei der personellen und apparativen Infrastruktur. Eingriffe ohne Anästhesist, Fachpflegepersonal oder vorschriftsmäßige Medizingeräte sind demnach von Anfang an rechtswidrig mangels wirksamer Einwilligung. Kennt der Arzt die resultierenden Gefahren für den Patienten und setzt sich dennoch über die anerkannten Regeln der Heilkunst hinweg, so begeht er eine vorsätzliche einfache (§ 223 StGB) oder gefährliche (§ 224 StGB) Körperverletzung bereits mit dem Versetzen in Narkose, mit dem Beginn des operativen Eingriffs. Diese Straftatbestände werden schnell zum Verbrechen (§ 227 StGB), wenn noch eine risikotypische, fahrlässig verursachte Todesfolge hinzutritt. Im Internet hatten die beiden Praxisinhaber für zahnärztliche Behandlungen in Narkose für geistig behinderte Patienten damit geworben, dass diese Eingriffe unter einem krankenhausähnlichen hohen personellen und operativen Sicherheits- und Qualitätsstandard durchgeführt würden. Das AG Limburg dazu: „Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann von einem solchen Standard keine Rede sein; das Gegenteil ist bewiesen.“ Das Gericht bezeichnete die Darstellung der beiden Zahnärzte als grob irreführend und erklärte, der Angeklagte habe seiner eigenen Darstellung grob fahrlässig zuwidergehandelt, indem er unter den genannten Organisationsstrukturen einen Eingriff unter Vollnarkose vornahm, der eben nicht auf „Klinikniveau“ stattfand. Schwarze Schafe unterwandern Standards Es mangelt in Deutschland gegenwärtig an einem kontrollierenden Abgleich zwischen den Werbeauftritten von Gesundheitseinrichtungen und der dort tatsächlich gegebenen Infrastruktur. So können „schwarze Schafe“ unter den Leistungserbringern anästhesiologische Versorgungsstandards relativieren oder unterwandern, ohne dass Patienten dies bei ihrer Auswahlentscheidung bemerken. Damit drohen nicht nur den Patienten Schäden, sondern auch denjenigen Anbietern, die Personalmehrkosten schultern und sich damit in die Gefahr einer „adversen Marktselektion“ [8] begeben. Schließlich müssen sie sich in einem von der Politik gezielt geschaffenen Verdrängungswettbewerb unter den Leistungserbringern behaupten und sind dabei auf den Haftungsrichter zunehmend als Bundesgenossen angewiesen. Nur wenn die Justiz das wirtschaftlich motivierte Führungsverhalten in Gesundheitseinrichtungen konsequent in den Blick nimmt [9], kann sie auf eine flächendeckende Umsetzung kostenintensiver Sicherheitsstandards hoffen. Fazit für die Praxis 1. Verwirklichen sich vorhersehbare Gefahren, für deren Abwehr keine klare Zuständigkeit bestand, haften alle beteiligten Ärzte sowie der Klinikträger beziehungsweise die Einrichtungsleitung [10]. Angesichts der Vielfalt praktizierter Organisationsformen sind im ambulanten Bereich präzise Absprachen vor Ort unerlässlich. 2. Ernsthafte Zweifel am fachgerechten Vorgehen eines Kollegen verpflichten jeden Arzt, Gesundheitsgefahren vom Patienten abzuhalten. Ferner verlangt das neue Patientenrechtegesetz in § 630c BGB, den Patienten gegebenenfalls über die Umstände eines Behandlungsfehlers (auch von Kollegen) zu informieren. Prof. Dr. Uwe Schulte-Sasse Ehemaliger Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin Heilbronn Heilbronn Rechtsanwalt Tim Neelmeier Hamburg Quelle: „Anästhesiologische Komplikationen: Vertrauen ist gut – Vereinbarungen sind besser!“, BAO-Depesche, Ausgabe 29, Februar 2013, S. 12ff. (Nachdruck in leicht veränderter Fassung) Mit freundlicher Genehmigung des VMK Verlags für Medizinkommunikation GmbH und der Autoren Literatur bei den Verfassern