Mässigung: Das elfte Gebot

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Mässigung: Das elfte Gebot
Dossier: Rausch und Konsumkompetenz
Mässigung: Das elfte Gebot
Rausch und Konsumkompetenz schliessen sich gegenseitig aus. Verlangt
Konsumkompetenz nach Vernunft und Mässigung, ist der Rausch Exzess und
Masslosigkeit. Kompetenzorientierung und Mässigung reihen sich nahtlos
ein in die aktuelle Hochkonjunktur des libertären Paternalismus. Wollen
wir, dass alle in unserer Gesellschaft von den positiven Wirkungen von
Rausch profitieren können, müssen wir diese Konzepte überdenken und neue
Handlungsoptionen zulassen.
Toni Berthel
Dr. med., Ärztlicher Co-Direktor Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland,
Leiter Integrierte Suchthilfe Winterthur, Präsident Eidg. Kommission für Drogenfragen
EKDF, Tösstalstr. 53, Postfach 144, CH-8408 Winterthur. Tel. +41 (0)52 267 59 00,
[email protected]
Silvia Gallego
lic. phil. pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Integrierte Psychiatrie Winterthur –
Zürcher Unterland, Tel. +41 (0)52 267 41 98, [email protected]
Schlagwörter:
Rausch | Freiheit | Konsumkompetenz | libertärer Paternalismus | Mässigung |
Einleitung
Der Begriff «Konsumkompetenz» hat auf den ersten Blick
etwas Bestechendes. Kompetenter Umgang mit Medien, Risiken, Konsumgütern, Drogen, Alkohol. Wer will das nicht?
Doch ist dem so? Ist dieser Begriff so klar? Was handeln wir
uns mit dem Begriff «Kompetenz» ein? Im Umgang mit psychoaktiven Substanzen und v. a. rauscherzeugenden Substanzen oder Verhaltensweisen wird der Begriff Konsumkompetenz
sehr zwiespältig. Geht es beim Rausch um Exzess und Masslosigkeit, verlangt Konsumkompetenz nach Vernunft, Kontrolle,
Mässigung. Man könnte gar sagen: Rausch und Kompetenz
schliessen sich aus. Es lohnt sich, hier genauer hinzusehen.
Der Rausch
Das Wort «Rausch» stammt aus dem Mittelhochdeutschen
«rüsch», «riuschen», niederländisch «ruischen», englisch «to
rush» und bedeutete Rauschen, Ungestüm, ungestüme Bewegung.1
Der Begriff ist Teil eines vielfältigen Bedeutungsfeldes. Zum
Rausch gehören Zustände und Erfahrungen wie Trance,
Ekstase, Omnipotenz, Entgrenzung, Lust, Verschmelzung,
Kontrollverlust, Transzendenz, Ritual, Grenzüberschreitung,
Betäubung, Exzess.
Im Rausch lockern sich innere seelische Strukturen auf; das
Zeitempfinden verändert sich; die Grenze zur Mitwelt wird
durchlässiger; das Denken kann sich verändern, klarer,
unklarer, schärfer, verschwommener, sprunghafter werden;
Gedanken, Gefühle, Farben, Töne verschmelzen; Gefühle werden schöner, intensiver, betäubend; Ängste können abnehmen,
sich verstärken, sich verschieben; die Art, wie wir die Welt und
uns selber erleben, verändert sich; die Kontrolle über das eigene Verhalten ist eingeschränkt oder aufgehoben. Dabei kann
ein Rausch durch Substanzen, starke Gefühle oder intensive
Erlebnisse ausgelöst werden. Euphorie und Rauschgefühle
werden in risikoreichen Verhaltensweisen in Extremsportarten
wie Basejumping, Wingsuit, Canyonig, Freeriden u. a. Extremerfahrungen erlebt, aber auch in der Erotik, der sexuellen
Betätigung. Wir reden von Höhenrausch, Spielrausch, Glücksrausch, Kaufrausch, Tiefenrausch, Liebesrausch, Geschwindigkeitsrausch, sexuellem Rausch.
Rausch ist eine anthropologische Konstante, die in allen
Lebensfeldern erlebt werden kann, in allen Gesellschaften
vorkommt, unterschiedlichste Ausprägungen und Funktionen
haben kann.
Kulturgeschichtlich ist Rausch Bestandteil von Übergangsritualen in neue Lebensphasen, Transzendenzerlebnissen und
sozialen Feierlichkeiten. Im Gilgamesch Epos macht Enkidu
im und durch den Rausch den Schritt vom wilden Tier zum
Menschen.2 Bei den Aborigines in Australien werden orgiastische Erfahrungen in den Corroboree-Festen mit entfesselten
Leidenschaften, Vergemeinschaftung und kollektiver Erregung
als Teil religiöser Erfahrungen beschrieben.3 In unserer heutigen Zeit wird der gemeinsame Tanz der Technoszene als kollektiver Flow bis hin zur Verschmelzung mit einem kollektiven
«dritten» Körper wahrgenommen.4
Dittrich wiederum teilt Rauschzustände in drei Dimensionen
ein: a) die ozeanische Selbstentgrenzung mit Euphorie und
Einssein mit sich und der Welt, b) die angstvolle Ich-Auflösung
mit Angstzuständen und Paranoia sowie Horrortrips, c) die
visionäre Umstrukturierung mit Veränderungen in der Wahrnehmung, dem Erleben und dem Denken.5 Nietzsche wiederum
schafft mit dem apollinischen Prinzip der Form und der Ordnung
einen Gegenpol, den er dem dionysischen, dem rauschhaften
Prinzip (Auflösung und Verschmelzung, mystische Selbstentäusserung, wonnevolle Verzückung) gegenüberstellt.6
Rausch in der Medizin
In der Medizin und insbesondere in der Psychiatrie wird
Rausch nach anderen Kriterien beurteilt. In der internationalen
Klassifikation psychischer Störungen wird der akute Rausch
wie folgt beschrieben: «Ein vorübergehendes Zustandsbild
nach Aufnahme von Alkohol oder anderen psychotropen Substanzen mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktionen, der Wahrnehmung, des Affektes, des Verhaltens oder
anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen.
Diese Diagnose soll nur dann als Hauptdiagnose gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der Intoxikation keine längerdauernden Probleme mit psychotropen Substanzen bestehen.»7
Die Medizin definiert den Rausch also als Intoxikation, sprich
Vergiftung. Damit wird er automatisch als «Störung», d. h.
als ein pathologisches Geschehen bewertet. Public-HealthStrategien mit Prävention und Früherkennung orientieren sich
vornehmlich an dieser Interpretation von Rausch und damit
an möglichen Störungs- und Problementwicklungen.
Wird nun aber ein zum Menschen gehörendes, den Menschen
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Dossier: Rausch und Konsumkompetenz
mitdefinierendes Phänomen und Bedürfnis wie der Rausch nur
als Intoxikation durch psychotrope Substanzen und damit als
psychische Störung beurteilt, kommt es zu einer einseitigen
Pathologisierung dieser wichtigen menschlichen Erlebensund Seinsmöglichkeit. Problematisch wird dies insbesondere
auch dann, wenn normale Entwicklungsphänomene von
Jugendlichen als krankhaft erklärt werden.
Erst, wenn wir unvernünftige Dinge tun – tanzen, trinken oder
uns verlieben – haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben
lohnt.»11
Anderseits ist natürlich unbestritten: Der exzessive Konsum von berauschenden Substanzen kann der Gesundheit
schaden, bei Risiko- und Extremsportarten kann man sich verletzen, der Kontrollverlust kann zu Suchterkrankungen führen.
Der Rausch bereichert das Leben
Konsumkompetenz
Die einseitige Pathologisierung von Rausch als destruktives Verhalten ist unzulässig. Denn der Rausch ist auf der
anderen Seite durchaus eine gewinnbringende und hilfreiche
menschliche Technik. Dies sei anhand dreier Beispiele illustriert:
Entwicklung und Übergänge
Ein Übergang bei dem der Rausch, die Suche nach Grenzen,
der Konsum von psychoaktiven, berauschenden Substanzen
wichtig sind, ist die Adoleszenz. In dieser Phase der Individuation und Sozialisation nimmt der junge Mensch Abschied
von Halt gebenden Elternbildern und -vorgaben, tritt hinaus
in eine häufig verunsichernde, aber faszinierende Welt. Innere
Bilder, die Sicherheit vermittelten, werden aufgelockert, die
bisherige Identität diffuser und unklarer. Die Zeitlichkeit und
Endlichkeit menschlicher Existenz werden bewusst. Grenzen
werden gesucht und zu überwinden versucht. In dieser Auseinandersetzung mit der Mitwelt, oft gemeinsam mit Gleichaltrigen, wird die neue, erwachsene Identität konfiguriert.
Entwicklungsprozesse und Lernerfahrungen in der Adoleszenz
sind notwendig, um eine erwachsene Identität aufzubauen.
Rauscherlebnisse können diese unterstützen. Cattacin spricht
hier von «durch Substanzen vermittelte Identitäten»8 und
Sting beschreibt treffend: «Sich ausprobieren und die Initiation
in selbstgestaltete soziale Kontexte, in Gleichaltrigengruppen
sind wesentliche Elemente der Übergangsarbeit. Rauscherfahrungen stellen dafür ein Vehikel dar.»9 So bekommt der Rausch
gar eine gesundheitsfördernde Funktion.
Transzendenz
Berauschende Substanzen übernehmen die Funktion eines
Türöffners in andere Sphären menschlicher Erlebens- und
Seinsmöglichkeiten. In religiösen Riten wird dies sichtbar. In
der christlichen Mythologie wird der gemeinsame Verzehr von
Brot und Wein zur symbolischen Vereinigung mit dem Göttlichen. Der Rausch stillt die nur allzu menschliche Sehnsucht
der Verschmelzung mit dem Übermächtigen, dem Einswerden
mit dem Unendlichen. Raum und Zeit werden aufgehoben.
Wenigstens für einen Moment vereint der Mensch sein «Sein»,
die «Eigentümlichkeit seines Daseins», seine «Hinfälligkeit»,
seine «Geworfenheit in die Welt» mit dem übergeordneten
«Seienden».10
Entspannung und Lebenslust
Rauschgefühle nach dem Meistern einer Herausforderung,
ein abendliches Glas Wein, laute Musik – die Berauschung
gebietet als Unterbrechung dem Alltag Einhalt. Fern der täglichen Sorgen schafft sie vorübergehend ein leichteres Sein.
Wichtiges wird unwichtig, die Entrückung macht frei, der Geist
entspannt. Rausch ist ein Sich-aus-der-Zeit-Nehmen. Dies entschleunigt, hat psychohygienische Wirkung. Die entstehende
Mussezeit wird durch die Gesellschaft anderer verstärkt: Als
kollektives Ereignis legitimiert der Rausch die Unterbrechung
der Routine und erklärt Momente zu etwas Besonderem.
In diesem leichteren Sein entfaltet sich die Lust am Leben.
Oder mit Robert Pfaller: «Immer nur vernünftig zu sein, ist
kein Kennzeichen davon, dass man tatsächlich vernünftig ist.
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In den letzten Jahren ist der Begriff der Kompetenz in verschiedensten Feldern unserer Gesellschaft wichtig geworden.
Der Lehrplan 21 für die Volksschule beispielsweise baut auf
Kompetenzen auf. Ihm liegt ein Kompetenzverständnis
zugrunde, wonach eine Person als kompetent bezeichnet wird,
wenn sie über Wissen verfügt und dieses Wissen in unterschiedlichen Situationen verantwortungsbewusst einsetzen
kann.12
Die Suchtakademie beschrieb an ihrer Tagung 2013 auf dem
Monte Verità Konsumkompetenz als «Fähigkeiten, welche dem
Einzelnen dabei helfen, das Konsumverhalten so zu gestalten,
dass die eigene körperliche, geistige und soziale Gesundheit,
aber auch die Gesundheit des Umfelds erhalten wird.»13
Eine Definition, auf die sich auch das Bundesamt für Gesundheit BAG bezieht,14 erweitert den Begriff um die aktive Gesundheitsförderung: «Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit des
Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die
sich positiv auf die Gesundheit auswirken – zu Hause, am
Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft
ganz allgemein.»15
Diese Ansprüche an ein die Gesundheit förderndes Verhalten verlangen vom Individuum vernünftig Handeln zu können.
Der Rausch und der Zustand vom Berauscht-Sein stehen hier
in einem Gegensatz. Gängige Definitionen der Konsum- und
Gesundheitskompetenz werden ohne die Suche nach Grenzen,
Grenzüberschreitung, Exzess oder Lust konzipiert. Insbesondere aber wird Rausch nicht als Phänomen gewertet, das die
seelische Entwicklung auch unterstützen, die Seinsmöglichkeiten erweitern und das Leben bereichern könnte. Im Begriff
der Konsumkompetenz klingt implizit immer die Forderung
nach Mässigung und Verzicht mit.
Paternalismus, Konsumkompetenz und die innere
Guillotine
Kompetent ist, wer gesund lebt und den Rausch vermeidet,
so die unterschwellige Botschaft. Jeder Konsum von berauschenden Substanzen ist zu viel – für das Individuum und
schon gar für die Gesellschaft. Der Mensch soll die Fähigkeit
entwickeln, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die
sich fördernd auf die Gesundheit auswirken. Er wird dahin gehend beeinflusst, dass sein Verhalten gemeinwohlverträglich
wird. Dabei soll er immer mitberücksichtigen, welches die Nebenwirkungen seines Handelns sind.
Die aktuelle Kompetenzorientierung reiht sich damit nahtlos
ein in die allgemeine Konjunktur des libertären Paternalismus.16 Die permanente Informierung über mögliche Gefahren,
über potentiell gesundheitsschädliche Substanzen oder
die Umwelt belastendes Verhalten ist angesagt. Mit einem
Schubs (engl. Nudge17) werden die BürgerInnen heutzutage
sanft in jene Richtung gelenkt, in der sie «die beste» aller
Entscheidungen treffen. JedeR wird permanent über mögliche
Gefahren informiert. Wer Fleisch isst, verursacht den Treibhauseffekt, ist Schuld an der Polarschmelze und schliesslich
am Tod der Pinguine. Wer raucht, gefährdet seine Gesundheit
und die Gesundheit aller. Er wird auch zur Belastung für die
Gesellschaft und schadet damit der auf Solidarität basierenden
Dossier: Rausch und Konsumkompetenz
sozialen Krankenversicherung. Also regelmässig Sport treiben,
fettarm essen, kalorienlos trinken und ja nichts inhalieren.
Während der archaischere, harte Paternalismus gesellschaftliche Vorgaben unverdeckt kommuniziert und Verstösse
dagegen sanktioniert, verlegt der libertäre Paternalismus die
Sanktionsinstanz in das Gewissen der Individuen. Die Guillotine fällt in postmoderner Zeit schon vor der eigentlichen
Handlung im Kopf, statt erst danach auf dem Richtplatz. Tiefenpsychologisch spricht man hier von einer Verinnerlichung,
d. h. Internalisierung von gesellschaftlichen Werten. Äussere
Vorgaben werden so zu inneren Steuerungsinstanzen denen
der Mensch nun gehorchen muss. Solche Gewissensinstanzen
sind grausam und rigid, Verstösse dagegen lösen Schuldgefühle aus. Die Einzelnen haben so zwar das Gefühl, sie hätten
ihre Entscheidungen selbständig, rational und in Freiheit
selber so getroffen. Tatsächlich aber wird es mit dem durch
permanente Information eingeträufelten Wissen unmöglich,
sich anders (also «falsch») zu entscheiden.
Das elfte Gebot: Mässige dich
Auch in libertär-paternalistischen Denkansätzen wie der
Konsumkompetenz geht es letztlich um die Durchsetzung allgemeiner Normen. Der Mensch soll seine Entscheidungen im
Sinne eines übergeordneten Ganzen treffen. Sind diese Abläufe
transparent und können die Einzelnen frei entscheiden, kann
gegen diese Methoden nichts eingewendet werden. Werden
sie hingegen zur subtilen Um- oder Nacherziehung eingesetzt,
sprechen dann wohl nur noch hoffnungslose Optimisten von
libertär. Verstösse gegen die Normen werden durch vorauseilende Selbst- statt spätere Fremdbestrafung geahndet. Damit
wird auch die Qualität der Beeinflussung eine andere: Die Vorgaben sind intransparent und erscheinen im Kleide gut gemeinter Ratschläge. Wir denken, wir sind frei zu entscheiden.
Tatsächlich bedeutet ein nudge aber: Mässige dich! Wir sehen
hier die permanente Domestizierung zu einem sich selbst begrenzenden Individuum.
Rausch ist masslos
Der Rausch beinhaltet aber Wildheit, Exzess, Begierde,
Lust. Sein Wesen besteht gerade im Kontrollverlust, dem
Übersteigen von Grenzen. Der Rausch schliesst die Mässigung aus. Den Bemühungen um die Hinführung möglichst vieler Menschen zu einem massvollen Umgang mit potentiell
schädlichen Substanzen steht der Rauschzustand mit seiner
Mass- und Grenzenlosigkeit diametral entgegen. Heisst kompetentes Handeln, bewusst – im Wissen um alle Vor- und
Nachteile, alle möglichen und unmöglichen Wirkungen, Nebenwirkungen, alle Benefits und Schäden – zu handeln, funktioniert der Rausch ausserhalb dieser Vernunftkriterien. Im
Rausch wird gerade ein Gegenpol zu dem gesucht, was vernunftmässig abgewogen werden kann. Rausch ist masslos.
Das heisst nun auch, dass den Gefahren des Rausches mit
gängigen Modellen zur Erlangung von Konsumkompetenz
allenfalls nicht beizukommen ist. Jedenfalls nicht mit libertärpaternalistischer «Aufklärung».
Die rauschlose Gesellschaft
«Wir finden heutzutage auf dem Markt eine ganze Reihe
von Produkten, die von ihren schädlichen Eigenschaften befreit
sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol
… Die Liste liesse sich fortsetzen: Wie wär‘s mit virtuellem
Sex als Sex ohne Sex, Collin Powells Doktrin der Kriegsführung
ohne Opfer (auf unserer Seite, selbstverständlich) als Krieg
ohne Krieg, der gegenwärtigen Neudefinition von Politik als
fachmännischer Verwaltung, also Politik ohne Politik, bis hin
zur Toleranz des liberalen Multikulturalismus von heute als
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der Erfahrung des Anderen ohne sein Anderssein...?»18. Zizek
nennt sein Szenario «Willkommen in der Wüste des Realen».
Es mag sich etwas überspitzt anhören. Dennoch gibt der
Mensch in der Mässigung immer gewisse Dimensionen seiner Seinsmöglichkeiten preis. Überdies verliert er durch die
kollektiven Anleitungen «zum Besten für alle» mit Sicherheit
ein Quantum an Freiheit – und damit das wichtigste Kriterium
seiner Existenz: seine Individualität. Und konsequenterweise
ein Stück Lebenslust. «Das Gehorsamsubjekt ist kein Lustsubjekt, sondern ein Pflichtsubjekt», schreibt Byung-Chul Han.19
Wie kann Rausch gelingen?
Konsumkompetenz propagiert den «gesunden» Umgang
mit Medien, Risiken, Konsumgütern, Drogen, Alkohol. Was tun
wir nun aber mit dem Wissen, dass echter Rausch immer ausserhalb der Mässigung geschieht, immer ein Stück weit Grenzen überschreitet? Und was mit dem Wissen, dass Rausch und
Lust das Leben erst lebenswert machen?
Die entscheidende Frage ist dann eben nicht jene danach,
wie man den Rausch im Zaum halten kann. Seine Gefahren
gänzlich zu verhindern, wird nicht möglich sein und ist auch
nicht erstrebenswert. In einer freiheitlichen Gesellschaft hat
die Selbstverantwortung des Individuums höchste Priorität.
«Es ist nicht die Aufgabe irgendeiner Form des Liberalismus,
der Bürgerschaft vorzuschreiben, nach Glück zu streben,
geschweige denn, diesen so schwer fassbaren Zustand definieren zu wollen. Es ist an jedem Einzelnen von uns, sich um
dieses Glück zu bemühen oder es zum Beispiel zugunsten von
Pflicht, Seligkeit oder Passivität abzulehnen. Der Liberalismus
muss sich auf die Politik beschränken und darauf, Vorschläge
zur Verhinderung von Machtmissbrauch zu unterbreiten, um
erwachsene Frauen und Männer von Furcht und Vorurteil zu
befreien, damit sie ihr Leben ihren eigenen Überzeugungen
und Neigungen gemäss führen können, solange sie andere
nicht davon abhalten, dasselbe zu tun.»20
Als humanistisch-liberale Gesellschaft müssen wir daher
die Sorge um die Gesundheit von der rein medizinischen und
finanziellen Dimension (Public Health) um die individuellanthropologische Dimension erweitern. Die entscheidenden
Fragen lauten dann: Wie können wir Bedingungen herstellen,
in denen Rausch möglich wird? Welches sind Bedingungen,
damit der Mensch den Rausch für seine Zwecke nutzen kann?
Die Gesellschaft und mit ihr die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen damit Kinder und Jugendliche sich zu kritischen, selbstbewussten und kompetenten Erwachsenen entwickeln können. Bezogen auf Rausch- und Konsumkompetenz
bedeutet dies: Es braucht transparente politische Prozesse,
die dem Individuum die grösstmögliche Freiheit zugestehen,
und gleichzeitig ein Verständnis von Gesundheit, das dem
Menschen Entwicklungs-, Verschmelzungs-, Lust- und Transzendenzerlebnisse erlaubt.
Damit dies gelingt, muss das Bedingungsgefüge stimmen, in
dem Berauschung stattfindet.
Dies bedeutet für:
Die Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen: Erziehung
zu Lebens- und Risikokompetenz. Dies ist die Basis
damit sie als Erwachsene selbstbestimmt und -verantwortet Rauscherlebnisse suchen und konstruktiv in die
eigene Lebensgestaltung einbauen können.
Die Politik: Psychoaktive Substanzen müssen grundsätzlich zugänglich und Verhaltensweisen die zu
Berauschung führen, müssen legal sein. Dies wiederum
bedeutet Regulierung anstatt Kriminalisierung als
Grundlage, damit legal ausreichende und objektive
Informationen zur Verfügung gestellt werden können,
um selbstverantwortet Entscheidungen für oder gegen
den Konsum von psychoaktiven Substanzen oder
potentiell berauschende Verhaltensweisen treffen zu
können. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass
der Konsumenten- und Verbraucherschutz gewährleistet wird.
Die Gesellschaft: Neue Rituale der individuellen und
gemeinsamen Berauschung müssen möglich sein. Dazu
müssen auch Räume ausserhalb von Strukturen, die sich
ausschliesslich am Kommerz orientieren, zur Verfügung
stehen.
Uns Alle: Solidarität mit jenen, die an diesen Herausforderungen scheitern.
Diese Bedingungen aber stehen unter dem gleichen Stern: Die
Freiheit des individuellen, selbstbestimmten Handelns an der
Grenze der gleichen Freiheit anderer muss möglichst gross
gehalten werden, ohne Zwang und Gewalt unterworfen sein
zu müssen.
.
Ganz zum Schluss in Anlehnung an Bertold Brecht:
«In Erwägung, dass ihr uns dann eben
mit Abstinenz und Rohkost droht,
haben wir beschlossen, Mässigung
mehr zu fürchten als den Tod.»21
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Endnoten
1 Kluge 1989: 585.
2 Schmökel 1989: 36f.
3 Maffesoli 2014: 175.
4 Csikszentmihalyi 1985: 39.
5 Dittrich 1985: 47.
6 Vgl. Nietzsche 1872.
7 Vgl. Internationale Klassifikation psychischer Störungen 2011, ICD10, Kapitel V, F1, F1x.0.
8 Cattacin 2009: 2.
9 Sting 2008: 106f.
10 Vgl. Heidegger 2006.
11 Vgl. Pfaller 2012.
12 D-EDK 2014: 4.
13 Vgl. den Artikel von Reinhard/Vögeli zur Suchtakademie in diesem
Heft.
14 Vgl. Bundesamt für Gesundheit 2010.
15 Kickbusch et al. 2005: 10.
16 Beim Begriff des Paternalismus unterscheidet man zwischen a)
dem starken oder harten Paternalismus, in welchem bestimmtes
Handeln vollständig unterbunden werden soll (staatliche Verbote),
b) dem weichen Paternalismus, bei dem ein unerwünschtes
Handeln erschwert oder ein erwünschtes Verhalten gefördert wird
(Steuern, Subventionen, Lenkungsabgaben)und c) dem sanften
oder libertären Paternalismus, bei dem Handeln primär über eine
umfassende Information beeinflusst werden soll (vgl. Kirchgässner
2012).
17 Der Begriff «nudge» geht zurück auf Thaler/Sunstein: «A nudge, as
we will use the term, is any aspect of the choice architecture that
alters people’s behavior in a predictable way without forbidding
any options or significantly changing their economic incentives. To
count as a mere nudge, the intervention must be easy and cheap to
avoid» (Thaler/Sunstein 2008: 6).
18 Zizek 2004: 19.
19 Han 2011: 64.
20 Shklar 2013: 49.
21 Brecht 1984: 653 f.
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Dossier: Rausch und Konsumkompetenz
Vom Leben und der Lust
Rauscherleben, positiv. Heiter, belustigt, für alles offen. Frei, locker, unabhängig, geniesserisch, hemmungslos, lässig, gleichgültig, aufnahmefähig. Eine
Annäherung zwischen Himmel und Erde mit Zitaten grosser Weltliteraten und
gross werdender GymnasiastInnen.
Silvia Gallego
lic. phil. pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Integrierte Psychiatrie Winterthur –
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Schlagwörter: Rausch | Jugendliche | Lust | Genuss | Literatur |
«Wie heisst das tiefblaue Wunder, das dort hinten vorschwebt! Meer? Meer? Und wie heisst jenes andere Wunder,
das einen grünen Hänger mit Blumen trägt? Erde? Welcher
Künstler hat das geschaffen? Ich schwöre dir Chef, ich sehe
das so zum ersten Mal.»7
Jeder Blitz ist mega geil
Sprechen wir nicht über Sucht. Sprechen wir über Rausch. Und «Wie tief ist doch die Menschheit gesunken, hol’s der Teufel!
zwar mit Jugendlichen.1 Ohne vorauseilenden Gehorsam, inner- Man hat den Körper zum Schweigen gebracht, und nur der8
Mund redet noch. Aber was kann der Mund schon sagen?»
liche und äusserliche Sanktion. Frei und anonym.
Einleitung
Ist das nötig?
Ja. Um uns im Angesicht jugendlicher Unverbrauchtheit einer
Lebensweise anzunähern, die das Leben lebenswert macht. In
der «anstössige Dinge wie Feiern, Tabak, Alkohol, Sex, schwarzer
Humor, müssiges Nachdenken etc. als lustvoll erlebt werden
können».2 Des Weiteren zur Verhinderung eines Enthusiasmusverbots, das «jede äussere Überwältigung des Verstandes für unzulässig erklärt».3 Und schliesslich, um einen Kontrapunkt zu setzen
für die grosse Mehrheit unter uns, die den Rausch mit keinem
Problemverhalten, sondern mit den schönen Seiten verbindet.
Denn: «Immer nur vernünftig zu sein ist kein Kennzeichen davon,
dass man tatsächlich vernünftig ist.»4 Und ansonsten halten wir
es mit Alexis Sorbas: «Wieso? Weshalb? (…) Kann denn der Mensch
nicht auch einmal etwas tun ohne ein Wieso? Einfach, weil es ihm
Spass macht?».5
Das tiefblaue Wunder
Wahrnehmung/Bewusstseinserweiterung
«Discover a world of visionary beauty (…) the glory, the
infinite value and meaningfulness of naked existence.»6
– Ein Schmetterling hat dann so voll die Farben auf den Flügeln oder auch das Wasser, warum das jetzt so komische
Wellen macht.
– Zuerst merke ich den Rausch mit den Ohren. Ich höre die
Stimmen bis viel tiefer in mich hinein. Dann merkst du,
jetzt fängt es an.
– Wenn ich dann Musik höre mit starkem Beat, dann fühle
ich die Musik in mir.
– Wenn alle einfach da sind und geniessen, dann fallen dir
viel mehr Sachen auf.
– Manchmal kommen einem so Gedanken von früher in
den Sinn, was wir so gemacht haben. Dinge, die wir sonst
vergessen hätten.
– Es ist alles viel eindrücklicher, du nimmst alles viel mehr
wahr, wenn du so bist.
– Was ich dann besser spüre, verwirrt mich auch. Es ist
gleichzeitig angenehm und unangenehm. Es ist aber
trotzdem ein gutes Gefühl.
– Wir sind dann einfach in die Wiese gelegen und haben uns
voll verschiffen lassen. Und dann hat es geblitzt. Wir waren
ganz nass, aber wir fanden jeden Blitz mega geil.
– Die Farben – sie leuchten viel mehr.
– Wenn ich mich selber berühre oder wenn ich esse, ich
spüre das einfach total heftig.
– Was ich einmal hatte, war, dass wir uns einreden konnten,
wir könnten fliegen. Wir konnten uns einreden, dass die
Bäume Grashalme wären und wir megaklein sind, und
umgekehrt, dass Grashalme Bäume wären und dann haben
wir uns megagross gefühlt.
– Einmal, da waren alle stoned, und das war dann richtig
gut, so: «Guck mal, Sonnenuntergang, und aaaah,
Föteli…!»
Der Sieg der Neugier
Neue Räume
«Das gehört zu den ältesten Traditionen der Zivilisation:
Mach eine Reise! Stürz dich ins Abenteuer!»9
– Am Wochenende probierst du halt schon mal mit den
Kollegen etwas das verbotene Spiel aus.
– Sich treffen und so kann man schon. Aber wir haben zum
Kiffen abgemacht.
– Auf einmal meinte ich, ich sei wieder in meinem alten
Kinderzimmer. Das hatte ich noch nie!
– Irgendwann merkst du, dass du andere Sachen denkst.
Nicht so wie normal.
– Und wenn jemand neben dir sitzt, zum Beispiel ein Junge,
und der hat mich aus Versehen so gestreift, dann hab
ich so lange darüber nachgedacht, weil dieses Streifen
hat noch so lange in mich hineingewirkt. Ich wollte dann
immer so wissen, was wollte er damit signalisieren und
warum hat er das gemacht und vielleicht spürt er das
jetzt auch so fest wie ich; vielleicht hat er es aber nur im
Unterbewusstsein gemacht.
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Dossier: Rausch und Konsumkompetenz
«But I don’t want comfort.
I want God,
I want poetry,
I want real danger,
I want freedom,
I want goodness.
I want sin.»10
Die Erschaffung der Welt
«Einmal spielte ich auch Töpfer. Du kannst dir gar nicht
vorstellen, was das heisst. Ich werde einen Krug, werde
einen Teller machen, ich werde einen Leuchter, ich werde
den Teufel machen! Das bedeutet Mensch sein, sag ich dir,
nämlich Freiheit!»11
– Man fühlt sich einfach ganz locker, man denkt anders, hat
andere Ideen, diskutiert manchmal ganz komisches Zeug.
– Man macht etwas, was sonst nicht möglich wäre.
– Das Gefühl? Total unabhängig.
– Man bekommt Lust, etwas Aussergewöhnliches zu tun,
z. B. im T-Shirt eine Schneeballschlacht zu machen.
– Ich denke dann megafest über solche Kleinigkeiten nach,
die mir, wenn ich nüchtern wäre, egal wären. Es vertieft die
Wahrnehmung und alle Gefühle, die auf dich einströmen.
– Wir waren in der Mannschaft sonst immer so brav und
jetzt gibt es einige, die zusammen kiffen. Man fühlt sich
irgendwie erwachsen. Es ist so ein Lebensgefühl.
«Genau so, dachte ich, erblicken (…) die grossen Dichter
alles zum ersten Mal. Jeden Morgen (…) eine neue Welt.
Nein, sie entdecken sie nicht, sie schaffen sie.»12
Ist-igkeit
Das Zeitgefühl
«Ist es angenehm? fragte jemand. Weder angenehm noch
unangenehm, antwortete ich. Es ist.»13
– Vor allem, du lässt dir auch viel Zeit für alles! Denkst
nicht immer an den Sachen herum, wenn du jetzt grad
ein Problemli hast. Denkst sozusagen ein bisschen an die
Schönheit der Natur.
– Alles ist intensiver, alles geht etwas langsamer, man hat
viel mehr Zeit für alles.
– Wir dachten, wenn wir schon so komisch fühlen, dann
kann man es ja auch einfach geniessen, diesen Moment.
– Ich bin dann so im Moment. Etwas betrachten, einfach da
sein.
– Unter der Pille brauche ich das Denken nicht mehr. Ich bin
dann nur. Ich erlebe ein Glücksgefühl.
– Ich schau nie mehr aufs Handy. Ich bin so abgelenkt von
meinen Kollegen und so, dass ich gar nichts anderes mehr
brauche.
– Ich will einfach den Moment voll auskosten.
«Beim Sarturispiel kann man nur an das Sarturi denken.
Kapiert?»14
Das Leben auskosten
Lust
«Weil der dumme Grieche, der Gelegenheit hat, mit einer
Frau zu schlafen, und es nicht tut, eine grosse Sünde
begeht.»15
– Am Samstag war Premiere: Ich habe nur Blütenstaub
geraucht.
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– Nach dem Kiffen, wenn du alles einfach so locker findest
und lustig, dann lachst du – ich mag das voll.
– Irgendwann merkt man das feinere Gefühl, man beginnt,
sich über lustigere Sachen zu unterhalten. Es ist einfach
lustig, wir haben’s gut miteinander.
– Wir haben ein Video von einem gemacht, der ist voll
abgetanzt. Das ist dann einfach etwas, das in Erinnerung
bleibt.
– Ich bleib einfach sitzen, höre Musik, man sieht das ganze
Dorf, die Lichter… Das ist eine spezielle Atmosphäre, so.
– Wir könnten gut auch ohne sein. Aber es wäre eine andere
Stimmung. Es ist einfach so, man geniesst den Feierabend.
Es ist so wie ein schöner Abschluss und man freut sich auf
das.
– Manchmal mach ich Party, wenn ich sturmfrei habe,
mit meinen früheren Schulkolleginnen, so einfach zum
Geniessen.
– Ich bin gut drauf, durch den Alkohol, durch die Tatsache,
dass meine Kollegen auch schon etwas gehabt haben,
dadurch, dass wir alle so etwa auf gleicher Ebene sind.
– Chillen wir ein bisschen aufs Sofa, lass uns was essen und
Musik hören!
«Gib mir in deinem Kloster die Pförtnerstelle, damit ich ab
und zu verbotene Ware einschmuggeln kann: eine schöne
Frau, eine Mandoline, eine Flasche Schnaps, ein gebratenes
Spanferkel… Damit du nicht dein ganzes Leben mit Läppereien vergeudest!»16
Die schöne Kapputtheit
Entspannung
«Es verbündet sich (…) das Ich mit dem Es gegen das
Über-Ich.»17
– Man ist irgendwie kaputt, aber es ist schön. Es ist eine
schöne Kapputtheit.
– Wenn man eine strenge Woche hatte, sagt man, komm wir
gehen ein bisschen ins Pärkli.
– Es ist einfach so ein bisschen ein leichteres Gefühl, man ist
viel entspannter.
– Ich werde so voll locker und spüre, wie mir alles egal ist
und ich es lustig finde.
– Du nimmst alles viel weniger wahr, du machst es einfach,
dir ist es eigentlich egal, du denkst gar nicht darüber nach,
was du machst.
– Alles ist benebelt, du siehst es nicht richtig, es zieht
einfach so an dir vorbei.
– Mich dünkt es einfach, da kannst du ein bisschen den Kopf
durchlüften.
«Ich werde von der Pfeife geraucht.»18
Zusammen sein
Geselligkeit
«Komm Sorbas! (…) Lehre mich tanzen! – Begeistert sprang
er auf, sein Gesicht strahlte. – Tanzen Chef? Tanzen? Dann
komm!»19
– Alleine habe ich noch nie etwas konsumiert. Ich denke, so
macht es gar nicht so Spass.
– Du machst es, weil, sich treffen und so kann man schon.
Aber wir haben zum Kiffen abgemacht.
– Wir waren so etwas in dieser Tralilali-Stimmung, es ist
Musik gelaufen. Wir hatten dann gute Gespräche und all
das, sind uns gegenseitig so ein bisschen nähergekommen
und so.
– In der Gruppe entsteht dann etwas anderes, als wenn man
alleine ist.
– Ich beginne schneller zu lachen, man hat auf andere
Sachen Lust, beginnt schneller miteinander zu reden.
– Man ist entspannter, offener, geht auf Leute zu, die man
nicht kennt oder lang nicht gesehen hat, und beginnt ein
Gespräch.
Rilke, Rainer Maria (1899): Die Weise von Liebe und Tod des Cornets
Christoph Rilke. Leipzig: Insel Verlag.
Rüedi, Peter (1994): Der Geist aus der Flasche. Essay über eine ebenso
offensichtliche wie verdrängte Kultur. Du: die Zeitschrift der Kultur
54(12): 16-21. www.tinyurl.com/k5zjdvx
Sloterdijk, Peter (1991): Weltsucht. Anmerkungen zum Drogenproblem.
S. 145-163 in: P. Buchheim et al. (Hrsg.), Psychotherapie im Wandel.
Abhängigkeit. Berlin: Springer. www.lptw.de/buch2.php, Zugriff
08.08.2014.
«Als Mahl begann‘s.
Und ist ein Fest geworden, kaum weiss man wie.
Die hohen Flammen flackten, die Stimmen schwirrten,
wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz,
und endlich aus den reifgewordnen Takten: entsprang
der Tanz.
Und alle riss er hin.
Das war ein Wellenschlagen in den Sälen,
ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen,
ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden,
ein Glanzgeniessen und ein Lichterblinden
und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden,
die in den Kleidern warmer Frauen sind.
Aus dunklem Wein und tausend Rosen
rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht.»20
Endnoten
1 Interviewt wurden 10 Zürcher GymnasiastInnen aus 3 Klassen
zwischen 15 und 18 Jahren im Anschluss an ein schulisches
Podiumsgespräch zum Thema Cannabis. Wir bedanken uns bei den
Jugendlichen für ihre Offenheit und bei den Lehrkräften für Ihre
Unterstützung.
2 Vgl. Pfaller 2012.
3 Sloterdijk 1991: 149.
4 Vgl. Pfaller 2012.
5 Kazantzakis 1979: 13.
6 Huxley 1954: 26.
7 Kazantzakis 1979: 186.
8 Kazantzakis 1979: 65.
9 Leary 1970: 338.
10 Huxley 1932: 187.
11 Kazantzakis 1979: 19.
12 Kazantzakis 1979: 114.
13 Huxley 1954: 4.
14 Kazantzakis 1979: 16.
15 Kazantzakis 1979: 89.
16 Kazantzakis 1979: 153.
17 Rüedi 1994: 19.
18 Sinngemäss nach Baudelaire 1869 in: Pichois 1975: 365. Im Originaltext
auf Französisch: «(…) Vous vous sentirez vous évaporant, et vous
attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et
ramassé comme le tabac) l’étrange faculté de vous fumer.»
19 Kazantzakis 1979: 235.
20 Rilke 1899: S. 26.
Literatur
Baudelaire, C./Pichois, Claude (1975): Oeuvres complètes. Paris: Gallimard.
Huxley, Aldous (1932): Brave New World. London: Chatto & Windus.
Huxley, Aldous (1954): The Doors of Perception. London: Chatto & Windus.
Kazantzakis, Nikos (1979): Alexis Sorbas. Hamburg: Rowohlt.
Leary, Timothy (1970): Politik der Ekstase. Hamburg: Christian Wegner
Verlag.
Pfaller, Robert (2012): Genuss ist politisch. Zeit Online. www.tinyurl.com/
d6amvxr, Zugriff 20.07.2013.
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