Mässigung: Das elfte Gebot
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Mässigung: Das elfte Gebot
Dossier: Rausch und Konsumkompetenz Mässigung: Das elfte Gebot Rausch und Konsumkompetenz schliessen sich gegenseitig aus. Verlangt Konsumkompetenz nach Vernunft und Mässigung, ist der Rausch Exzess und Masslosigkeit. Kompetenzorientierung und Mässigung reihen sich nahtlos ein in die aktuelle Hochkonjunktur des libertären Paternalismus. Wollen wir, dass alle in unserer Gesellschaft von den positiven Wirkungen von Rausch profitieren können, müssen wir diese Konzepte überdenken und neue Handlungsoptionen zulassen. Toni Berthel Dr. med., Ärztlicher Co-Direktor Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland, Leiter Integrierte Suchthilfe Winterthur, Präsident Eidg. Kommission für Drogenfragen EKDF, Tösstalstr. 53, Postfach 144, CH-8408 Winterthur. Tel. +41 (0)52 267 59 00, [email protected] Silvia Gallego lic. phil. pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland, Tel. +41 (0)52 267 41 98, [email protected] Schlagwörter: Rausch | Freiheit | Konsumkompetenz | libertärer Paternalismus | Mässigung | Einleitung Der Begriff «Konsumkompetenz» hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes. Kompetenter Umgang mit Medien, Risiken, Konsumgütern, Drogen, Alkohol. Wer will das nicht? Doch ist dem so? Ist dieser Begriff so klar? Was handeln wir uns mit dem Begriff «Kompetenz» ein? Im Umgang mit psychoaktiven Substanzen und v. a. rauscherzeugenden Substanzen oder Verhaltensweisen wird der Begriff Konsumkompetenz sehr zwiespältig. Geht es beim Rausch um Exzess und Masslosigkeit, verlangt Konsumkompetenz nach Vernunft, Kontrolle, Mässigung. Man könnte gar sagen: Rausch und Kompetenz schliessen sich aus. Es lohnt sich, hier genauer hinzusehen. Der Rausch Das Wort «Rausch» stammt aus dem Mittelhochdeutschen «rüsch», «riuschen», niederländisch «ruischen», englisch «to rush» und bedeutete Rauschen, Ungestüm, ungestüme Bewegung.1 Der Begriff ist Teil eines vielfältigen Bedeutungsfeldes. Zum Rausch gehören Zustände und Erfahrungen wie Trance, Ekstase, Omnipotenz, Entgrenzung, Lust, Verschmelzung, Kontrollverlust, Transzendenz, Ritual, Grenzüberschreitung, Betäubung, Exzess. Im Rausch lockern sich innere seelische Strukturen auf; das Zeitempfinden verändert sich; die Grenze zur Mitwelt wird durchlässiger; das Denken kann sich verändern, klarer, unklarer, schärfer, verschwommener, sprunghafter werden; Gedanken, Gefühle, Farben, Töne verschmelzen; Gefühle werden schöner, intensiver, betäubend; Ängste können abnehmen, sich verstärken, sich verschieben; die Art, wie wir die Welt und uns selber erleben, verändert sich; die Kontrolle über das eigene Verhalten ist eingeschränkt oder aufgehoben. Dabei kann ein Rausch durch Substanzen, starke Gefühle oder intensive Erlebnisse ausgelöst werden. Euphorie und Rauschgefühle werden in risikoreichen Verhaltensweisen in Extremsportarten wie Basejumping, Wingsuit, Canyonig, Freeriden u. a. Extremerfahrungen erlebt, aber auch in der Erotik, der sexuellen Betätigung. Wir reden von Höhenrausch, Spielrausch, Glücksrausch, Kaufrausch, Tiefenrausch, Liebesrausch, Geschwindigkeitsrausch, sexuellem Rausch. Rausch ist eine anthropologische Konstante, die in allen Lebensfeldern erlebt werden kann, in allen Gesellschaften vorkommt, unterschiedlichste Ausprägungen und Funktionen haben kann. Kulturgeschichtlich ist Rausch Bestandteil von Übergangsritualen in neue Lebensphasen, Transzendenzerlebnissen und sozialen Feierlichkeiten. Im Gilgamesch Epos macht Enkidu im und durch den Rausch den Schritt vom wilden Tier zum Menschen.2 Bei den Aborigines in Australien werden orgiastische Erfahrungen in den Corroboree-Festen mit entfesselten Leidenschaften, Vergemeinschaftung und kollektiver Erregung als Teil religiöser Erfahrungen beschrieben.3 In unserer heutigen Zeit wird der gemeinsame Tanz der Technoszene als kollektiver Flow bis hin zur Verschmelzung mit einem kollektiven «dritten» Körper wahrgenommen.4 Dittrich wiederum teilt Rauschzustände in drei Dimensionen ein: a) die ozeanische Selbstentgrenzung mit Euphorie und Einssein mit sich und der Welt, b) die angstvolle Ich-Auflösung mit Angstzuständen und Paranoia sowie Horrortrips, c) die visionäre Umstrukturierung mit Veränderungen in der Wahrnehmung, dem Erleben und dem Denken.5 Nietzsche wiederum schafft mit dem apollinischen Prinzip der Form und der Ordnung einen Gegenpol, den er dem dionysischen, dem rauschhaften Prinzip (Auflösung und Verschmelzung, mystische Selbstentäusserung, wonnevolle Verzückung) gegenüberstellt.6 Rausch in der Medizin In der Medizin und insbesondere in der Psychiatrie wird Rausch nach anderen Kriterien beurteilt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen wird der akute Rausch wie folgt beschrieben: «Ein vorübergehendes Zustandsbild nach Aufnahme von Alkohol oder anderen psychotropen Substanzen mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktionen, der Wahrnehmung, des Affektes, des Verhaltens oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Diese Diagnose soll nur dann als Hauptdiagnose gestellt werden, wenn zum Zeitpunkt der Intoxikation keine längerdauernden Probleme mit psychotropen Substanzen bestehen.»7 Die Medizin definiert den Rausch also als Intoxikation, sprich Vergiftung. Damit wird er automatisch als «Störung», d. h. als ein pathologisches Geschehen bewertet. Public-HealthStrategien mit Prävention und Früherkennung orientieren sich vornehmlich an dieser Interpretation von Rausch und damit an möglichen Störungs- und Problementwicklungen. Wird nun aber ein zum Menschen gehörendes, den Menschen SuchtMagazin 4|2014 19 Dossier: Rausch und Konsumkompetenz mitdefinierendes Phänomen und Bedürfnis wie der Rausch nur als Intoxikation durch psychotrope Substanzen und damit als psychische Störung beurteilt, kommt es zu einer einseitigen Pathologisierung dieser wichtigen menschlichen Erlebensund Seinsmöglichkeit. Problematisch wird dies insbesondere auch dann, wenn normale Entwicklungsphänomene von Jugendlichen als krankhaft erklärt werden. Erst, wenn wir unvernünftige Dinge tun – tanzen, trinken oder uns verlieben – haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben lohnt.»11 Anderseits ist natürlich unbestritten: Der exzessive Konsum von berauschenden Substanzen kann der Gesundheit schaden, bei Risiko- und Extremsportarten kann man sich verletzen, der Kontrollverlust kann zu Suchterkrankungen führen. Der Rausch bereichert das Leben Konsumkompetenz Die einseitige Pathologisierung von Rausch als destruktives Verhalten ist unzulässig. Denn der Rausch ist auf der anderen Seite durchaus eine gewinnbringende und hilfreiche menschliche Technik. Dies sei anhand dreier Beispiele illustriert: Entwicklung und Übergänge Ein Übergang bei dem der Rausch, die Suche nach Grenzen, der Konsum von psychoaktiven, berauschenden Substanzen wichtig sind, ist die Adoleszenz. In dieser Phase der Individuation und Sozialisation nimmt der junge Mensch Abschied von Halt gebenden Elternbildern und -vorgaben, tritt hinaus in eine häufig verunsichernde, aber faszinierende Welt. Innere Bilder, die Sicherheit vermittelten, werden aufgelockert, die bisherige Identität diffuser und unklarer. Die Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz werden bewusst. Grenzen werden gesucht und zu überwinden versucht. In dieser Auseinandersetzung mit der Mitwelt, oft gemeinsam mit Gleichaltrigen, wird die neue, erwachsene Identität konfiguriert. Entwicklungsprozesse und Lernerfahrungen in der Adoleszenz sind notwendig, um eine erwachsene Identität aufzubauen. Rauscherlebnisse können diese unterstützen. Cattacin spricht hier von «durch Substanzen vermittelte Identitäten»8 und Sting beschreibt treffend: «Sich ausprobieren und die Initiation in selbstgestaltete soziale Kontexte, in Gleichaltrigengruppen sind wesentliche Elemente der Übergangsarbeit. Rauscherfahrungen stellen dafür ein Vehikel dar.»9 So bekommt der Rausch gar eine gesundheitsfördernde Funktion. Transzendenz Berauschende Substanzen übernehmen die Funktion eines Türöffners in andere Sphären menschlicher Erlebens- und Seinsmöglichkeiten. In religiösen Riten wird dies sichtbar. In der christlichen Mythologie wird der gemeinsame Verzehr von Brot und Wein zur symbolischen Vereinigung mit dem Göttlichen. Der Rausch stillt die nur allzu menschliche Sehnsucht der Verschmelzung mit dem Übermächtigen, dem Einswerden mit dem Unendlichen. Raum und Zeit werden aufgehoben. Wenigstens für einen Moment vereint der Mensch sein «Sein», die «Eigentümlichkeit seines Daseins», seine «Hinfälligkeit», seine «Geworfenheit in die Welt» mit dem übergeordneten «Seienden».10 Entspannung und Lebenslust Rauschgefühle nach dem Meistern einer Herausforderung, ein abendliches Glas Wein, laute Musik – die Berauschung gebietet als Unterbrechung dem Alltag Einhalt. Fern der täglichen Sorgen schafft sie vorübergehend ein leichteres Sein. Wichtiges wird unwichtig, die Entrückung macht frei, der Geist entspannt. Rausch ist ein Sich-aus-der-Zeit-Nehmen. Dies entschleunigt, hat psychohygienische Wirkung. Die entstehende Mussezeit wird durch die Gesellschaft anderer verstärkt: Als kollektives Ereignis legitimiert der Rausch die Unterbrechung der Routine und erklärt Momente zu etwas Besonderem. In diesem leichteren Sein entfaltet sich die Lust am Leben. Oder mit Robert Pfaller: «Immer nur vernünftig zu sein, ist kein Kennzeichen davon, dass man tatsächlich vernünftig ist. 20 SuchtMagazin 4|2014 In den letzten Jahren ist der Begriff der Kompetenz in verschiedensten Feldern unserer Gesellschaft wichtig geworden. Der Lehrplan 21 für die Volksschule beispielsweise baut auf Kompetenzen auf. Ihm liegt ein Kompetenzverständnis zugrunde, wonach eine Person als kompetent bezeichnet wird, wenn sie über Wissen verfügt und dieses Wissen in unterschiedlichen Situationen verantwortungsbewusst einsetzen kann.12 Die Suchtakademie beschrieb an ihrer Tagung 2013 auf dem Monte Verità Konsumkompetenz als «Fähigkeiten, welche dem Einzelnen dabei helfen, das Konsumverhalten so zu gestalten, dass die eigene körperliche, geistige und soziale Gesundheit, aber auch die Gesundheit des Umfelds erhalten wird.»13 Eine Definition, auf die sich auch das Bundesamt für Gesundheit BAG bezieht,14 erweitert den Begriff um die aktive Gesundheitsförderung: «Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken – zu Hause, am Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft ganz allgemein.»15 Diese Ansprüche an ein die Gesundheit förderndes Verhalten verlangen vom Individuum vernünftig Handeln zu können. Der Rausch und der Zustand vom Berauscht-Sein stehen hier in einem Gegensatz. Gängige Definitionen der Konsum- und Gesundheitskompetenz werden ohne die Suche nach Grenzen, Grenzüberschreitung, Exzess oder Lust konzipiert. Insbesondere aber wird Rausch nicht als Phänomen gewertet, das die seelische Entwicklung auch unterstützen, die Seinsmöglichkeiten erweitern und das Leben bereichern könnte. Im Begriff der Konsumkompetenz klingt implizit immer die Forderung nach Mässigung und Verzicht mit. Paternalismus, Konsumkompetenz und die innere Guillotine Kompetent ist, wer gesund lebt und den Rausch vermeidet, so die unterschwellige Botschaft. Jeder Konsum von berauschenden Substanzen ist zu viel – für das Individuum und schon gar für die Gesellschaft. Der Mensch soll die Fähigkeit entwickeln, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich fördernd auf die Gesundheit auswirken. Er wird dahin gehend beeinflusst, dass sein Verhalten gemeinwohlverträglich wird. Dabei soll er immer mitberücksichtigen, welches die Nebenwirkungen seines Handelns sind. Die aktuelle Kompetenzorientierung reiht sich damit nahtlos ein in die allgemeine Konjunktur des libertären Paternalismus.16 Die permanente Informierung über mögliche Gefahren, über potentiell gesundheitsschädliche Substanzen oder die Umwelt belastendes Verhalten ist angesagt. Mit einem Schubs (engl. Nudge17) werden die BürgerInnen heutzutage sanft in jene Richtung gelenkt, in der sie «die beste» aller Entscheidungen treffen. JedeR wird permanent über mögliche Gefahren informiert. Wer Fleisch isst, verursacht den Treibhauseffekt, ist Schuld an der Polarschmelze und schliesslich am Tod der Pinguine. Wer raucht, gefährdet seine Gesundheit und die Gesundheit aller. Er wird auch zur Belastung für die Gesellschaft und schadet damit der auf Solidarität basierenden Dossier: Rausch und Konsumkompetenz sozialen Krankenversicherung. Also regelmässig Sport treiben, fettarm essen, kalorienlos trinken und ja nichts inhalieren. Während der archaischere, harte Paternalismus gesellschaftliche Vorgaben unverdeckt kommuniziert und Verstösse dagegen sanktioniert, verlegt der libertäre Paternalismus die Sanktionsinstanz in das Gewissen der Individuen. Die Guillotine fällt in postmoderner Zeit schon vor der eigentlichen Handlung im Kopf, statt erst danach auf dem Richtplatz. Tiefenpsychologisch spricht man hier von einer Verinnerlichung, d. h. Internalisierung von gesellschaftlichen Werten. Äussere Vorgaben werden so zu inneren Steuerungsinstanzen denen der Mensch nun gehorchen muss. Solche Gewissensinstanzen sind grausam und rigid, Verstösse dagegen lösen Schuldgefühle aus. Die Einzelnen haben so zwar das Gefühl, sie hätten ihre Entscheidungen selbständig, rational und in Freiheit selber so getroffen. Tatsächlich aber wird es mit dem durch permanente Information eingeträufelten Wissen unmöglich, sich anders (also «falsch») zu entscheiden. Das elfte Gebot: Mässige dich Auch in libertär-paternalistischen Denkansätzen wie der Konsumkompetenz geht es letztlich um die Durchsetzung allgemeiner Normen. Der Mensch soll seine Entscheidungen im Sinne eines übergeordneten Ganzen treffen. Sind diese Abläufe transparent und können die Einzelnen frei entscheiden, kann gegen diese Methoden nichts eingewendet werden. Werden sie hingegen zur subtilen Um- oder Nacherziehung eingesetzt, sprechen dann wohl nur noch hoffnungslose Optimisten von libertär. Verstösse gegen die Normen werden durch vorauseilende Selbst- statt spätere Fremdbestrafung geahndet. Damit wird auch die Qualität der Beeinflussung eine andere: Die Vorgaben sind intransparent und erscheinen im Kleide gut gemeinter Ratschläge. Wir denken, wir sind frei zu entscheiden. Tatsächlich bedeutet ein nudge aber: Mässige dich! Wir sehen hier die permanente Domestizierung zu einem sich selbst begrenzenden Individuum. Rausch ist masslos Der Rausch beinhaltet aber Wildheit, Exzess, Begierde, Lust. Sein Wesen besteht gerade im Kontrollverlust, dem Übersteigen von Grenzen. Der Rausch schliesst die Mässigung aus. Den Bemühungen um die Hinführung möglichst vieler Menschen zu einem massvollen Umgang mit potentiell schädlichen Substanzen steht der Rauschzustand mit seiner Mass- und Grenzenlosigkeit diametral entgegen. Heisst kompetentes Handeln, bewusst – im Wissen um alle Vor- und Nachteile, alle möglichen und unmöglichen Wirkungen, Nebenwirkungen, alle Benefits und Schäden – zu handeln, funktioniert der Rausch ausserhalb dieser Vernunftkriterien. Im Rausch wird gerade ein Gegenpol zu dem gesucht, was vernunftmässig abgewogen werden kann. Rausch ist masslos. Das heisst nun auch, dass den Gefahren des Rausches mit gängigen Modellen zur Erlangung von Konsumkompetenz allenfalls nicht beizukommen ist. Jedenfalls nicht mit libertärpaternalistischer «Aufklärung». Die rauschlose Gesellschaft «Wir finden heutzutage auf dem Markt eine ganze Reihe von Produkten, die von ihren schädlichen Eigenschaften befreit sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol … Die Liste liesse sich fortsetzen: Wie wär‘s mit virtuellem Sex als Sex ohne Sex, Collin Powells Doktrin der Kriegsführung ohne Opfer (auf unserer Seite, selbstverständlich) als Krieg ohne Krieg, der gegenwärtigen Neudefinition von Politik als fachmännischer Verwaltung, also Politik ohne Politik, bis hin zur Toleranz des liberalen Multikulturalismus von heute als 22 SuchtMagazin 4|2014 der Erfahrung des Anderen ohne sein Anderssein...?»18. Zizek nennt sein Szenario «Willkommen in der Wüste des Realen». Es mag sich etwas überspitzt anhören. Dennoch gibt der Mensch in der Mässigung immer gewisse Dimensionen seiner Seinsmöglichkeiten preis. Überdies verliert er durch die kollektiven Anleitungen «zum Besten für alle» mit Sicherheit ein Quantum an Freiheit – und damit das wichtigste Kriterium seiner Existenz: seine Individualität. Und konsequenterweise ein Stück Lebenslust. «Das Gehorsamsubjekt ist kein Lustsubjekt, sondern ein Pflichtsubjekt», schreibt Byung-Chul Han.19 Wie kann Rausch gelingen? Konsumkompetenz propagiert den «gesunden» Umgang mit Medien, Risiken, Konsumgütern, Drogen, Alkohol. Was tun wir nun aber mit dem Wissen, dass echter Rausch immer ausserhalb der Mässigung geschieht, immer ein Stück weit Grenzen überschreitet? Und was mit dem Wissen, dass Rausch und Lust das Leben erst lebenswert machen? Die entscheidende Frage ist dann eben nicht jene danach, wie man den Rausch im Zaum halten kann. Seine Gefahren gänzlich zu verhindern, wird nicht möglich sein und ist auch nicht erstrebenswert. In einer freiheitlichen Gesellschaft hat die Selbstverantwortung des Individuums höchste Priorität. «Es ist nicht die Aufgabe irgendeiner Form des Liberalismus, der Bürgerschaft vorzuschreiben, nach Glück zu streben, geschweige denn, diesen so schwer fassbaren Zustand definieren zu wollen. Es ist an jedem Einzelnen von uns, sich um dieses Glück zu bemühen oder es zum Beispiel zugunsten von Pflicht, Seligkeit oder Passivität abzulehnen. Der Liberalismus muss sich auf die Politik beschränken und darauf, Vorschläge zur Verhinderung von Machtmissbrauch zu unterbreiten, um erwachsene Frauen und Männer von Furcht und Vorurteil zu befreien, damit sie ihr Leben ihren eigenen Überzeugungen und Neigungen gemäss führen können, solange sie andere nicht davon abhalten, dasselbe zu tun.»20 Als humanistisch-liberale Gesellschaft müssen wir daher die Sorge um die Gesundheit von der rein medizinischen und finanziellen Dimension (Public Health) um die individuellanthropologische Dimension erweitern. Die entscheidenden Fragen lauten dann: Wie können wir Bedingungen herstellen, in denen Rausch möglich wird? Welches sind Bedingungen, damit der Mensch den Rausch für seine Zwecke nutzen kann? Die Gesellschaft und mit ihr die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen damit Kinder und Jugendliche sich zu kritischen, selbstbewussten und kompetenten Erwachsenen entwickeln können. Bezogen auf Rausch- und Konsumkompetenz bedeutet dies: Es braucht transparente politische Prozesse, die dem Individuum die grösstmögliche Freiheit zugestehen, und gleichzeitig ein Verständnis von Gesundheit, das dem Menschen Entwicklungs-, Verschmelzungs-, Lust- und Transzendenzerlebnisse erlaubt. Damit dies gelingt, muss das Bedingungsgefüge stimmen, in dem Berauschung stattfindet. Dies bedeutet für: Die Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen: Erziehung zu Lebens- und Risikokompetenz. Dies ist die Basis damit sie als Erwachsene selbstbestimmt und -verantwortet Rauscherlebnisse suchen und konstruktiv in die eigene Lebensgestaltung einbauen können. Die Politik: Psychoaktive Substanzen müssen grundsätzlich zugänglich und Verhaltensweisen die zu Berauschung führen, müssen legal sein. Dies wiederum bedeutet Regulierung anstatt Kriminalisierung als Grundlage, damit legal ausreichende und objektive Informationen zur Verfügung gestellt werden können, um selbstverantwortet Entscheidungen für oder gegen den Konsum von psychoaktiven Substanzen oder potentiell berauschende Verhaltensweisen treffen zu können. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass der Konsumenten- und Verbraucherschutz gewährleistet wird. Die Gesellschaft: Neue Rituale der individuellen und gemeinsamen Berauschung müssen möglich sein. Dazu müssen auch Räume ausserhalb von Strukturen, die sich ausschliesslich am Kommerz orientieren, zur Verfügung stehen. Uns Alle: Solidarität mit jenen, die an diesen Herausforderungen scheitern. Diese Bedingungen aber stehen unter dem gleichen Stern: Die Freiheit des individuellen, selbstbestimmten Handelns an der Grenze der gleichen Freiheit anderer muss möglichst gross gehalten werden, ohne Zwang und Gewalt unterworfen sein zu müssen. . Ganz zum Schluss in Anlehnung an Bertold Brecht: «In Erwägung, dass ihr uns dann eben mit Abstinenz und Rohkost droht, haben wir beschlossen, Mässigung mehr zu fürchten als den Tod.»21 Literatur Bundesamt für Gesundheit BAG (2010): Gesundheitskompetenz. Konzeptionelle Einordnung. www.tinyurl.com/mjntkk5, Zugriff 04.08.2014. Han, Byung-Chul (2011): Topologie der Gewalt. Berlin: Matthes & Seitz. Brecht, Bertolt (1984): Die Gedichte von Bertold Brecht in einem Band. (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cattacin, Sandro (2009): Sozietales Lernen in einer berauschenden Gesellschaft. Tagungsdokumentation. Suchtakademie 2009. Bern: Expertengruppe Weiterbildung Sucht. Csikszentmihalyi, Mihaly (1985): Das Flow-Erlebnis. Zitiert in: Uhlig, Stephan/Thiele, Monika (Hg.) (2002): Rausch, Sucht, Lust. Giessen: Psychosozialverlag. Dittrich, Adolf (1985): Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachsbewusstseinszustände. Stuttgart: VWB Verlag Wissenschaft und Bildung. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. (19. Aufl.). Tübingen: Niemeyer. Horn, Karen: Libertärer Paternalismus, Sklavenhalter der Zukunft; Frankfurter Allgemeine, 11.9.2013. Internationale Klassifikation psychischer Störungen (2011): ICD-10 Kapitel V (F); klinik-diagnostische Leitlinien Weltgesundheitsorganisation (9. Aufl.) Bern, Göttingen Toronto: Hans Huber. Kickbusch, Ilona/Maag, Daniel/Saan, Hans (2005): Enabling healthy choices in modern health societies. Background paper for the European Health Forum, Badgastein 2005. – Deutsche Übersetzung in: K. Sommerhalder/T. Abel (2006): Gesundheitskompetenz: Eine konzeptuelle Einordnung. Bern: Institut für Sozial- und Präventivmedizin. Kirchgässner, Gebhard (2012): Sanfter Paternalismus, meritorische Güter und der normative Individualismus. University of St. Gallen. Electronic publication. www.seps.unisg.ch Kluge, Friedrich (1989): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. (22. Aufl.). Berlin: De Gruyter. Maffesoli, Michel (2014): Die Zeit kehrt wieder. Berlin: Matthes und Seitz. Nietzsche, Friedrich (1872): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig: Fritzsch. Pfaller, Robert (2012): Genuss ist politisch. In: Die Zeit Online. www.tinyurl.com/d6amvxr, Zugriff 04.08.2014. Pfaller, Robert (2011): Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Schmökel, Hartmut (1989): Das Gilgamesch Epos. (7. Aufl.). Stuttgart: W. Kohlhammer. D-EDK - Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (2014): Lehrplan 21 (prov. Ausgabe). Einleitung. www.tinyurl.com/edkeinleitung, Zugriff 08.08.2014. Shklar, Judith (2013): Der Liberalismus der Furcht. 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Bundesamt für Gesundheit 2010. 15 Kickbusch et al. 2005: 10. 16 Beim Begriff des Paternalismus unterscheidet man zwischen a) dem starken oder harten Paternalismus, in welchem bestimmtes Handeln vollständig unterbunden werden soll (staatliche Verbote), b) dem weichen Paternalismus, bei dem ein unerwünschtes Handeln erschwert oder ein erwünschtes Verhalten gefördert wird (Steuern, Subventionen, Lenkungsabgaben)und c) dem sanften oder libertären Paternalismus, bei dem Handeln primär über eine umfassende Information beeinflusst werden soll (vgl. Kirchgässner 2012). 17 Der Begriff «nudge» geht zurück auf Thaler/Sunstein: «A nudge, as we will use the term, is any aspect of the choice architecture that alters people’s behavior in a predictable way without forbidding any options or significantly changing their economic incentives. To count as a mere nudge, the intervention must be easy and cheap to avoid» (Thaler/Sunstein 2008: 6). 18 Zizek 2004: 19. 19 Han 2011: 64. 20 Shklar 2013: 49. 21 Brecht 1984: 653 f. SuchtMagazin 4|2014 23 Dossier: Rausch und Konsumkompetenz Vom Leben und der Lust Rauscherleben, positiv. Heiter, belustigt, für alles offen. Frei, locker, unabhängig, geniesserisch, hemmungslos, lässig, gleichgültig, aufnahmefähig. Eine Annäherung zwischen Himmel und Erde mit Zitaten grosser Weltliteraten und gross werdender GymnasiastInnen. Silvia Gallego lic. phil. pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland, Postfach 144, CH-8408 Winterthur, Tel. +41 (0)52 267 41 98, [email protected] Schlagwörter: Rausch | Jugendliche | Lust | Genuss | Literatur | «Wie heisst das tiefblaue Wunder, das dort hinten vorschwebt! Meer? Meer? Und wie heisst jenes andere Wunder, das einen grünen Hänger mit Blumen trägt? Erde? Welcher Künstler hat das geschaffen? Ich schwöre dir Chef, ich sehe das so zum ersten Mal.»7 Jeder Blitz ist mega geil Sprechen wir nicht über Sucht. Sprechen wir über Rausch. Und «Wie tief ist doch die Menschheit gesunken, hol’s der Teufel! zwar mit Jugendlichen.1 Ohne vorauseilenden Gehorsam, inner- Man hat den Körper zum Schweigen gebracht, und nur der8 Mund redet noch. Aber was kann der Mund schon sagen?» liche und äusserliche Sanktion. Frei und anonym. Einleitung Ist das nötig? Ja. Um uns im Angesicht jugendlicher Unverbrauchtheit einer Lebensweise anzunähern, die das Leben lebenswert macht. In der «anstössige Dinge wie Feiern, Tabak, Alkohol, Sex, schwarzer Humor, müssiges Nachdenken etc. als lustvoll erlebt werden können».2 Des Weiteren zur Verhinderung eines Enthusiasmusverbots, das «jede äussere Überwältigung des Verstandes für unzulässig erklärt».3 Und schliesslich, um einen Kontrapunkt zu setzen für die grosse Mehrheit unter uns, die den Rausch mit keinem Problemverhalten, sondern mit den schönen Seiten verbindet. Denn: «Immer nur vernünftig zu sein ist kein Kennzeichen davon, dass man tatsächlich vernünftig ist.»4 Und ansonsten halten wir es mit Alexis Sorbas: «Wieso? Weshalb? (…) Kann denn der Mensch nicht auch einmal etwas tun ohne ein Wieso? Einfach, weil es ihm Spass macht?».5 Das tiefblaue Wunder Wahrnehmung/Bewusstseinserweiterung «Discover a world of visionary beauty (…) the glory, the infinite value and meaningfulness of naked existence.»6 – Ein Schmetterling hat dann so voll die Farben auf den Flügeln oder auch das Wasser, warum das jetzt so komische Wellen macht. – Zuerst merke ich den Rausch mit den Ohren. Ich höre die Stimmen bis viel tiefer in mich hinein. Dann merkst du, jetzt fängt es an. – Wenn ich dann Musik höre mit starkem Beat, dann fühle ich die Musik in mir. – Wenn alle einfach da sind und geniessen, dann fallen dir viel mehr Sachen auf. – Manchmal kommen einem so Gedanken von früher in den Sinn, was wir so gemacht haben. Dinge, die wir sonst vergessen hätten. – Es ist alles viel eindrücklicher, du nimmst alles viel mehr wahr, wenn du so bist. – Was ich dann besser spüre, verwirrt mich auch. Es ist gleichzeitig angenehm und unangenehm. Es ist aber trotzdem ein gutes Gefühl. – Wir sind dann einfach in die Wiese gelegen und haben uns voll verschiffen lassen. Und dann hat es geblitzt. Wir waren ganz nass, aber wir fanden jeden Blitz mega geil. – Die Farben – sie leuchten viel mehr. – Wenn ich mich selber berühre oder wenn ich esse, ich spüre das einfach total heftig. – Was ich einmal hatte, war, dass wir uns einreden konnten, wir könnten fliegen. Wir konnten uns einreden, dass die Bäume Grashalme wären und wir megaklein sind, und umgekehrt, dass Grashalme Bäume wären und dann haben wir uns megagross gefühlt. – Einmal, da waren alle stoned, und das war dann richtig gut, so: «Guck mal, Sonnenuntergang, und aaaah, Föteli…!» Der Sieg der Neugier Neue Räume «Das gehört zu den ältesten Traditionen der Zivilisation: Mach eine Reise! Stürz dich ins Abenteuer!»9 – Am Wochenende probierst du halt schon mal mit den Kollegen etwas das verbotene Spiel aus. – Sich treffen und so kann man schon. Aber wir haben zum Kiffen abgemacht. – Auf einmal meinte ich, ich sei wieder in meinem alten Kinderzimmer. Das hatte ich noch nie! – Irgendwann merkst du, dass du andere Sachen denkst. Nicht so wie normal. – Und wenn jemand neben dir sitzt, zum Beispiel ein Junge, und der hat mich aus Versehen so gestreift, dann hab ich so lange darüber nachgedacht, weil dieses Streifen hat noch so lange in mich hineingewirkt. Ich wollte dann immer so wissen, was wollte er damit signalisieren und warum hat er das gemacht und vielleicht spürt er das jetzt auch so fest wie ich; vielleicht hat er es aber nur im Unterbewusstsein gemacht. SuchtMagazin 4|2014 37 Dossier: Rausch und Konsumkompetenz «But I don’t want comfort. I want God, I want poetry, I want real danger, I want freedom, I want goodness. I want sin.»10 Die Erschaffung der Welt «Einmal spielte ich auch Töpfer. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das heisst. Ich werde einen Krug, werde einen Teller machen, ich werde einen Leuchter, ich werde den Teufel machen! Das bedeutet Mensch sein, sag ich dir, nämlich Freiheit!»11 – Man fühlt sich einfach ganz locker, man denkt anders, hat andere Ideen, diskutiert manchmal ganz komisches Zeug. – Man macht etwas, was sonst nicht möglich wäre. – Das Gefühl? Total unabhängig. – Man bekommt Lust, etwas Aussergewöhnliches zu tun, z. B. im T-Shirt eine Schneeballschlacht zu machen. – Ich denke dann megafest über solche Kleinigkeiten nach, die mir, wenn ich nüchtern wäre, egal wären. Es vertieft die Wahrnehmung und alle Gefühle, die auf dich einströmen. – Wir waren in der Mannschaft sonst immer so brav und jetzt gibt es einige, die zusammen kiffen. Man fühlt sich irgendwie erwachsen. Es ist so ein Lebensgefühl. «Genau so, dachte ich, erblicken (…) die grossen Dichter alles zum ersten Mal. Jeden Morgen (…) eine neue Welt. Nein, sie entdecken sie nicht, sie schaffen sie.»12 Ist-igkeit Das Zeitgefühl «Ist es angenehm? fragte jemand. Weder angenehm noch unangenehm, antwortete ich. Es ist.»13 – Vor allem, du lässt dir auch viel Zeit für alles! Denkst nicht immer an den Sachen herum, wenn du jetzt grad ein Problemli hast. Denkst sozusagen ein bisschen an die Schönheit der Natur. – Alles ist intensiver, alles geht etwas langsamer, man hat viel mehr Zeit für alles. – Wir dachten, wenn wir schon so komisch fühlen, dann kann man es ja auch einfach geniessen, diesen Moment. – Ich bin dann so im Moment. Etwas betrachten, einfach da sein. – Unter der Pille brauche ich das Denken nicht mehr. Ich bin dann nur. Ich erlebe ein Glücksgefühl. – Ich schau nie mehr aufs Handy. Ich bin so abgelenkt von meinen Kollegen und so, dass ich gar nichts anderes mehr brauche. – Ich will einfach den Moment voll auskosten. «Beim Sarturispiel kann man nur an das Sarturi denken. Kapiert?»14 Das Leben auskosten Lust «Weil der dumme Grieche, der Gelegenheit hat, mit einer Frau zu schlafen, und es nicht tut, eine grosse Sünde begeht.»15 – Am Samstag war Premiere: Ich habe nur Blütenstaub geraucht. 38 SuchtMagazin 4|2014 – Nach dem Kiffen, wenn du alles einfach so locker findest und lustig, dann lachst du – ich mag das voll. – Irgendwann merkt man das feinere Gefühl, man beginnt, sich über lustigere Sachen zu unterhalten. Es ist einfach lustig, wir haben’s gut miteinander. – Wir haben ein Video von einem gemacht, der ist voll abgetanzt. Das ist dann einfach etwas, das in Erinnerung bleibt. – Ich bleib einfach sitzen, höre Musik, man sieht das ganze Dorf, die Lichter… Das ist eine spezielle Atmosphäre, so. – Wir könnten gut auch ohne sein. Aber es wäre eine andere Stimmung. Es ist einfach so, man geniesst den Feierabend. Es ist so wie ein schöner Abschluss und man freut sich auf das. – Manchmal mach ich Party, wenn ich sturmfrei habe, mit meinen früheren Schulkolleginnen, so einfach zum Geniessen. – Ich bin gut drauf, durch den Alkohol, durch die Tatsache, dass meine Kollegen auch schon etwas gehabt haben, dadurch, dass wir alle so etwa auf gleicher Ebene sind. – Chillen wir ein bisschen aufs Sofa, lass uns was essen und Musik hören! «Gib mir in deinem Kloster die Pförtnerstelle, damit ich ab und zu verbotene Ware einschmuggeln kann: eine schöne Frau, eine Mandoline, eine Flasche Schnaps, ein gebratenes Spanferkel… Damit du nicht dein ganzes Leben mit Läppereien vergeudest!»16 Die schöne Kapputtheit Entspannung «Es verbündet sich (…) das Ich mit dem Es gegen das Über-Ich.»17 – Man ist irgendwie kaputt, aber es ist schön. Es ist eine schöne Kapputtheit. – Wenn man eine strenge Woche hatte, sagt man, komm wir gehen ein bisschen ins Pärkli. – Es ist einfach so ein bisschen ein leichteres Gefühl, man ist viel entspannter. – Ich werde so voll locker und spüre, wie mir alles egal ist und ich es lustig finde. – Du nimmst alles viel weniger wahr, du machst es einfach, dir ist es eigentlich egal, du denkst gar nicht darüber nach, was du machst. – Alles ist benebelt, du siehst es nicht richtig, es zieht einfach so an dir vorbei. – Mich dünkt es einfach, da kannst du ein bisschen den Kopf durchlüften. «Ich werde von der Pfeife geraucht.»18 Zusammen sein Geselligkeit «Komm Sorbas! (…) Lehre mich tanzen! – Begeistert sprang er auf, sein Gesicht strahlte. – Tanzen Chef? Tanzen? Dann komm!»19 – Alleine habe ich noch nie etwas konsumiert. Ich denke, so macht es gar nicht so Spass. – Du machst es, weil, sich treffen und so kann man schon. Aber wir haben zum Kiffen abgemacht. – Wir waren so etwas in dieser Tralilali-Stimmung, es ist Musik gelaufen. Wir hatten dann gute Gespräche und all das, sind uns gegenseitig so ein bisschen nähergekommen und so. – In der Gruppe entsteht dann etwas anderes, als wenn man alleine ist. – Ich beginne schneller zu lachen, man hat auf andere Sachen Lust, beginnt schneller miteinander zu reden. – Man ist entspannter, offener, geht auf Leute zu, die man nicht kennt oder lang nicht gesehen hat, und beginnt ein Gespräch. Rilke, Rainer Maria (1899): Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Leipzig: Insel Verlag. Rüedi, Peter (1994): Der Geist aus der Flasche. Essay über eine ebenso offensichtliche wie verdrängte Kultur. Du: die Zeitschrift der Kultur 54(12): 16-21. www.tinyurl.com/k5zjdvx Sloterdijk, Peter (1991): Weltsucht. Anmerkungen zum Drogenproblem. S. 145-163 in: P. Buchheim et al. (Hrsg.), Psychotherapie im Wandel. Abhängigkeit. Berlin: Springer. www.lptw.de/buch2.php, Zugriff 08.08.2014. «Als Mahl begann‘s. Und ist ein Fest geworden, kaum weiss man wie. Die hohen Flammen flackten, die Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz, und endlich aus den reifgewordnen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riss er hin. Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgeniessen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind. Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht.»20 Endnoten 1 Interviewt wurden 10 Zürcher GymnasiastInnen aus 3 Klassen zwischen 15 und 18 Jahren im Anschluss an ein schulisches Podiumsgespräch zum Thema Cannabis. Wir bedanken uns bei den Jugendlichen für ihre Offenheit und bei den Lehrkräften für Ihre Unterstützung. 2 Vgl. Pfaller 2012. 3 Sloterdijk 1991: 149. 4 Vgl. Pfaller 2012. 5 Kazantzakis 1979: 13. 6 Huxley 1954: 26. 7 Kazantzakis 1979: 186. 8 Kazantzakis 1979: 65. 9 Leary 1970: 338. 10 Huxley 1932: 187. 11 Kazantzakis 1979: 19. 12 Kazantzakis 1979: 114. 13 Huxley 1954: 4. 14 Kazantzakis 1979: 16. 15 Kazantzakis 1979: 89. 16 Kazantzakis 1979: 153. 17 Rüedi 1994: 19. 18 Sinngemäss nach Baudelaire 1869 in: Pichois 1975: 365. Im Originaltext auf Französisch: «(…) Vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’étrange faculté de vous fumer.» 19 Kazantzakis 1979: 235. 20 Rilke 1899: S. 26. Literatur Baudelaire, C./Pichois, Claude (1975): Oeuvres complètes. Paris: Gallimard. Huxley, Aldous (1932): Brave New World. London: Chatto & Windus. Huxley, Aldous (1954): The Doors of Perception. London: Chatto & Windus. Kazantzakis, Nikos (1979): Alexis Sorbas. Hamburg: Rowohlt. Leary, Timothy (1970): Politik der Ekstase. Hamburg: Christian Wegner Verlag. Pfaller, Robert (2012): Genuss ist politisch. Zeit Online. www.tinyurl.com/ d6amvxr, Zugriff 20.07.2013. SuchtMagazin 4|2014 39