Alles scheint kaputt, und er zeigt uns die Wunder

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Alles scheint kaputt, und er zeigt uns die Wunder
Freitag, 14. September 2012 | az
19
KULTUR
«Ich habe das
schlecht gespielt.
Ihr verdient eine
bessere Version.»
Coldplay-Sänger Chris
Martin, als er beim Konzert
in München einen Song
abbrechen musste
Alles scheint kaputt, und er zeigt uns die Wunder
Literatur Hansjörg Schertenleibs neuer Roman «Wald aus Glas» erzählt von zwei Frauen und ihrer Selbstachtung
VON MAX DOHNER
A
lles
zerschlagen, zerschlissen, alles kaputt. Doch er zeigt das Leben: «Seht
her! Oder das da. Habt ihr den alten
Kran gesehen? Fantastisch, nicht
wahr?» Hansjörg Schertenleib lacht –
kein Zweifel: Der Mann ist in seinem
Element. In dieser Endzeit-Kulisse
sieht er Wunder über Wunder. Und
verknüpft sie mit leichter Hand. Alles macht ihm Freude: zuerst das,
was er entdeckt. Aber am meisten,
dass er andere darauf aufmerksam
machen kann. Es ist dies der doppelte Beweis eines genuinen Erzählers:
Dinge zum Leben zu erwecken und
andere damit anzustecken.
Wir befinden uns in einer nicht
für möglich gehaltenen Szenerie:
Suhr-Ost oder Suhr-Brachland oder
Suhr-Irgendwo. Alles hier wirkt grotesk, ist aber real. Alte Häuser wie
aus einer Filmkulisse von «Oliver
Twist» stehen neben Industriehallen
wie nach einem Boden-Boden-Raketenbeschuss. Überall liegen ausgeschlachtete und zerbeulte Autos. Ein
türkischer Laster, zum Teil unter einem Scheddach geparkt, wirkt wie
halb verschluckt. Unrasierte Männer
beobachten misstrauisch, was die
unbekannten Besucher hier wollen.
Nebenan stehen leere Puppenwohnhäuser, vollständig eingerichtet – eine Art gebauter Möbelkatalog. Als
Bühne für «Karl’s Kühne Gassenschau» wäre all das perfekt. Jean Tinguely und Bernhard Luginbühl
wähnten sich im Paradies.
Zwei Frauen brechen aus
Und wir? Wir befinden uns in einem Roman. In Hansjörg Schertenleibs neustem Buch «Wald aus Glas».
Der Roman erzählt zwei Lebensgeschichten: jene einer pensionierten
Schweizerin, die bei Nacht und Nebel aus dem Altersheim flieht. Aufbricht aus der aargauischen Gewohnheitsstruktur in ihre ursprüngliche
Heimat. Und dann die zweite Geschichte einer 15-jährigen Türkin,
Ayfer. Auch Ayfer bricht aus: aus
dem Haus ihrer Verwandten in der
Türkei, zurück an den Ort, wo sie
Alles hat seine Poesie oder Bewegung und ist drum niemals Stillstand: Hansjörg Schertenleib in der Gewerbebrache von Suhr.
Sein 18. Buch: «Wald aus Glas»
Der Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schertenleib (54) lebt während der Hälfte des Jahres in Irland und zur anderen in Suhr AG.
Er schrieb Hörspiele, Theaterstücke, Lyrik, Erzählungen und Romane. In diesen Tagen erscheint sein
18. Buch, «Wald aus Glas». Einmal
mehr zu einem Hauptthema
Schertenleibs, das Aus- und Aufbrechen: «Warum träumt man von
Dingen, vor denen man sich, bei
Licht betrachtet, fürchtet?»
Buchpremiere ist im Literaturhaus
Lenzburg, am 27. September.
Kind gewesen und aufgewachsen ist,
zurück nach Suhr.
Genau hier, wo wir jetzt stehen,
findet Ayfer Unterschlupf. Beide Geschichten sind erzählt wie ein sich
spiegelndes Roadmovie. Parallelen
gibts, aber sie sind versteckt.
Zu leicht wäre es wohl gewesen,
die beiden Fluchten zu verknüpfen
an einem ganz speziellen Punkt, in
einem dramatischen Knoten. Tatsächlich überschneiden sich die Wege der ungleichen Frauen. Tatsächlich tun beide etwas Brachiales, von
dem es keine Rückkehr gibt. Aber
Schertenleib legt das eben nicht so
an, wie es aufgelegt wäre. Die beiden
Frauen erkennen die Resonanz zwischen ihren beiden Leben nicht. Sie
begegnen sich und wissen es nicht.
Das ist nicht nur geschickt, es ist
eminent klug. Durchsichtig dramatisch und billig wäre die Fiktion (in
Form der literarischen Konfektion eines Martin Suter). Aber das Leben
legt Dramen meist implizit an. «Für
die Geschichte ist es viel besser»,
sagt Schertenleib, «wenn die beiden
Frauen gar nicht merken, wie nahe
sie sich im Grunde sind.»
Mit einem Wort: Schertenleib ist
zurück bei dem, was er meisterlich
beherrscht – er erzählt Geschichten
so, dass der Leser, die Leserin immer
glaubt, die Geschichten selber zu
DRS 2 will sich neu erfinden
Radio Aus dem Kultursender
«DRS 2» wird «SRF 2 Kultur».
Mit dem Namen ändert auch
das ganze Konzept.
VON ANNA KARDOS
Alles neu macht nicht etwa der Mai,
sondern der November – zumindest
im Fall von Schweizer Radio DRS 2.
In knapp zwei Monaten wird das Kulturradio nicht nur einen neuen Namen bekommen («SRF 2 Kultur»),
sondern es soll gleich von Grund auf
anders werden: neuer, durchhörbarer, zeitgemässer. Ein Wunsch, der
den Sender schon länger auf Trab
hält. Will man doch weg vom Image
des Kultursenders, wo Spezialisten
über ihr Gebiet fachsimpeln. Da mag
es erstaunen, dass ausgerechnet die
«Diskothek», in der drei Experten
über kleinste Details der Interpretation diskutieren, zu den beliebtesten
DRS 2 will weg vom
Image des Kultursenders, wo Spezialisten
über das eigene Gebiet
fachsimpeln.
Sendungen der Hörer gehört – aber
das nur am Rand.
DRS 2 war ein toller Sender. Und
das mitsamt seiner Fältchen –
schliesslich waren es zumeist Denkfältchen. Dennoch versuchte es sich
schon länger mit kleineren Korrektu-
ren Jugendfrische ins Gesicht zu zaubern: Mehr Dialoge, eine Prise Pop und
der fast ausschliessliche Gebrauch der
Gegenwartsform in den Moderationen
wollten dem grossen Publikum einen
Aktualitätsbezug vermitteln. Damit
bleibe der Sender aber weiterhin «in
den gewachsenen Strukturen gefangen», so SRF-Kulturchefin Nathalie
Wappler. Nun ist es vorbei mit der Kosmetik. Was jetzt folgt, ist laut Wappler
ein «Befreiungsschlag». Ein Schlag allerdings, der auch Sendungen wie «Atlas», «Apéro» und «DRS 2 aktuell» aus
dem Programm katapultiert. Neu sollen auch die Aufgaben der Moderatoren aufgewertet und ganze Tagesabschnitte umgestaltet werden. Wie genau, wissen bisher nur wenige. Und ob
Beethoven in einer pinken Perücke
mehr Hörern gefällt, auch.
entdecken, ja mehr noch: sie eigentlich selber zu erleben. Genau wie
hier, in Suhr: ein Schauplatz des Romans, der einem bei der Lektüre unwirklich vorgekommen ist. Nun
zeigt Schertenleib dessen Realität.
«Für die Geschichte ist
es viel besser, wenn die
Frauen nicht merken,
wie nahe sie sich sind.»
Hansjörg Schertenleib, Autor
Wie man dabei geführt wird vom
Autor, real oder fiktiv, merkt man
kaum – würde man es merken, zeugte das von einer Schwäche, die sich
Schertenleib nicht verzeihen würde.
«Wald aus Glas» ist Schertenleibs
mittlerweile 18. Buch. Die letzten
beiden («Das Regenorchester» und
«Cowboy Sommer») enthielten den
Nachrichten
Kunst Neuer Kurator für
Museum zu Allerheiligen
Das Museum zu Allerheiligen in
Schaffhausen hat einen neuen Kurator für Gegenwartskunst: Lynn Kost
aus Luzern tritt sein Amt im Januar
an. Er ersetzt Markus Stegmann, der
im Frühjahr 2012 nach Auseinandersetzungen das Museum verlassen
hat. Die Verpflichtung Kosts ist auf
sechs Jahre begrenzt. Laut Museumsdirektor Peter Jezler besteht die
Option auf Verlängerung. Kost hat
sich in der Kunstszene einen Namen
als Direktor des Luzerner Comic-Festivals Fumetto gemacht. Vom 39-jährigen neuen Kurator erwartet Jezler
denn auch, dass er die Gegenwartskunst im Allerheiligen von ihrer bisherigen eher braven Art zu «mehr
Pfiff» führen werde. (SDA)
ANNIKA BÜTSCHI
Zauber dieses Autors wieder ganz, in
Stil und Haltung unverwechselbar.
Letztlich ist alles unentrinnbar
Wie auch jetzt: Ganz einfach geraten die Dinge in Bewegung und laufen scheinbar einfach weiter ab. Es
gäbe immer Möglichkeiten, vom
Lauf der Dinge abzurücken. Aber
letztlich ist alles auch unentrinnbar.
Das ist behutsam gesetzt. Mit Präzision zum Detail und Poesie zur Lücke.
Charakteristisch für Schertenleib
ist seine ganz eigene Anschaulichkeit. Szenen werden in wenigen Strichen evoziert. Man ist darauf angewiesen, weil man beim Lesen guter
Bücher gern glaubt, man sähe Szenen ohne Autor genau so. Einige Motive klingen wiederholt an. Etwa der
Freiheitsdurst des Einzelnen zwischen der Erwartung der Sitte und
der Norm. Kein Motiv aber wird strapaziert. Und das ist – einfach – gut.
Wald aus Glas Roman. 256 Seiten. 2012.
Aufbau-Verlag, Berlin. Fr. 31.90.
Film Giovanni Netzer erhält
den Bündner Kulturpreis
Träger des Bündner Kulturpreises
2012 ist der Regisseur, Intendant und
Autor Giovanni Netzer. Die mit
30 000 Franken dotierte Auszeichnung würdigt das schweizweit anerkannte Schaffen des 45-Jährigen aus
Savognin. Netzers Wirken verbinde
grosse Mythen mit den Bergen Graubündens, teilte die Bündner Regierung mit. (SDA)
Oper Monteverdi-Marathon
zum Start in Berlin
Mit einem zwölfstündigen Musikmarathon startet der Australier Barrie
Kosky am Sonntag als Intendant der
Komischen Oper Berlin. Von 11 bis
23 Uhr zeigt das Haus mit der «Monteverdi-Trilogie» drei Werke des italienischen Komponisten (1567–1643)
in Koskys Regie. (SDA)