Frauen in Marokko
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Frauen in Marokko
Themen Frauen in Marokko Die Last der Tradition Das geografisch westlichste Land der arabischen Welt ist zwar eine Monarchie, aber sein König, obwohl auch „Emir der Gläubigen“, einer der reformfreudigsten Politiker der Region. Lassen sich jedoch moderne Menschenrechte ohne Weiteres erfolgreich durchsetzen gegen jahrhundertealte Traditionen? Von Monika von Krafft E s gab Hoffnung, und die Hoffnung hieß „Moudawana“. Moudawana war das neue Familiengesetz, das im Februar 2004 in Marokko ratifiziert wurde. Der Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz und in der Gesellschaft lag endlich ein Rechtsanspruch zugrunde. Schon vorher war die Rechtsprechung in vielen Punkten der UN-Menschenrechts-Charta nähergerückt, auch wenn an einigen Stellen (zum Beispiel im Erbrecht) das islamische Recht noch in Geltung blieb. Dennoch blieb Marokko ein sehr islamisches Land, dessen Alltag nach wie vor im Koran und der Scharia wurzelt, dem unveränderbaren göttlichen Regelwerk und dessen konkreter Anwendung in der Fatwa. Daran wird sich auch durch die Moudawana nichts Grundsätzliches ändern. Als der König das neue Personenstandsrecht dem Parlament vorlegte, zitierte er in seiner Rede zu jedem Artikel einen passenden Koranvers, um die Kritiker aus den Reihen der Strenggläubigen zu entwaffnen. Nach der Ratifizierung übernahmen viele NGOs die Aufgabe, das neue Gesetz unter den Leseunfähigen zu verbreiten. Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit veröffentlichte ein Büchlein mit den wichtigsten neuen Bestimmungen in einer Kurzfassung in arabischer und französischer Sprache – mit Karikaturen marokkanischer Zeichner. Mit seiner Hochzeit hat der junge König Mohammed IV., der mit 37 Jahren seinem Vater Hassan II. folgte, ein Zeichen für die Einehe gesetzt. Er entließ den königlichen Harem; seine Frau ist eine bürgerliche Akademikerin, die kein Kopftuch trägt. Sie tritt öffentlich auf und hat viele soziale Ehrenämter. Die Einehe ist bei Frauen mit Schulbildung und Berufstätigkeit in den Städten, wo mehr als 59 Prozent der Bevölkerung leben, durchaus üblich. Aber der Ehevertrag zwischen zwei Familien ist immer noch die Regel; hier sucht nicht die Tochter ihren Mann aus, sondern ihr Vater. Oft ist es ein Vetter aus der Großfamilie. So bleibt im Falle einer Scheidung das Erbe in der männlichen Familie. Im Islam ist die Ehe ein Rechtsgeschäft zwischen zwei Familien. Nach den Vorschriften des Korans hat der Mann die Aufgabe, für den Unterhalt der Familie zu sorgen und Frau und Kinder zu beschützen. Die Frau ist Mutter und Erzieherin der Kinder. Der Schutz durch den Mann weitete sich im Laufe der Zeit so sehr aus, dass sie nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen durfte, außer in vollständiger Verhüllung. Heiratsfähige Mädchen müssen ab der Pubertät vor Männern geschützt werden, bis der Vater sie verheiratet, was auf dem Land noch heute auch 13-jährigen Mädchen passieren kann, obwohl laut Moudawana das Heiratsalter für beide Geschlechter auf 18 heraufgesetzt wurde. Aber es findet sich noch immer eine Ausnahme, die von Richtern aus Überzeugung bewilligt oder auch erkauft wird. Ebenso wie bei der eigentlich abgeschafften Polygamie. Im Großraum Casablanca leben offiziell 3,5 Millionen Menschen, realistisch geschätzt sind es eher sieben Millionen. Fünf Prozent von ihnen sind reiche, westlich orientierte Marokkaner, eine Million lebt in den Slums am Stadtrand. Die Stadt bietet alles Erdenkliche an Amüsement: Discos, Partys, Nachtclubs, Edelprostitution und einen ausgedehnten Straßenstrich. Junge Frauen, bildschöne Gesichter, lange Haare, offen oder auch mit Kopftüchern elegant umschlungen, engstmögliche Jeans, High Heels, Pullover oder Bluse, die der Phantasie nichts mehr übriglassen. Das Kopftuch ist da nur noch ein kleidsames Accessoire, die Tugendhaftigkeit nur scheinbar. O uarzazate, die kleine Garnisonsstadt am Osthang des Hohen Atlas ist berühmt durch Hollywoodstudios, die das Wüstenplateau als Kulisse für Filme wie Lawrence von Arabien, Die Zehn Gebote, Die Bibel, aber auch Asterix und Obelix nutzen. In der gynäkologischen Abteilung des städtischen Krankenhauses, einem schmucklosen Flachbau mit Acht-Bett-Zimmern, sitzt 61 Monika von Krafft Themen Der erlaubte Blick aus den Frauengemächern auf die Straße: Erker mit Gucklöchern eine junge Frau, hält ihr neugeborenes Bübchen im Arm und weint still in sich hinein. Sie ist 28 Jahre alt, kam vor einem Monat hochschwanger zur Demokratischen Liga für Frauenrechte und bat um Hilfe. Sie war von einem bekannten Boxer geschwängert worden, der ihr die Ehe versprochen hatte und sie dann fallenließ. Sie hatte die Schwangerschaft vor ihren Eltern verborgen, solange es ging, hatte dann ihren Arbeitsplatz bei einer Mikrokreditbank aufgegeben und stand im achten Monat vor dem Nichts. Auf Nachfragen der Liga behauptete der Mann sogar, die Frau überhaupt nicht zu kennen. Ein DNA-Test und ein Anwalt hätten alles klären können, aber beides lehnte sie ab, nicht nur, weil sie dafür kein Geld hatte, sondern weil es dann die Eltern erfahren hätten, die die „Schande nicht ertragen“ würden. Bis zum Tag der Geburt war sie entschlossen, das Kind zur Adoption freizugeben, jetzt aber, mit dem Winzling im Arm, brachte sie es nicht mehr übers Herz. Die Zahl der unehelichen Kinder, die ohne Vaternamen nicht eingeschult werden können, und die der „gefallenen“ Mädchen, denen zum Überleben nichts anderes als die Prostitution bleibt, wächst unaufhörlich. Allein im Großraum Casablanca haben im ersten Halbjahr 2008 insgesamt 5000 ledige Mütter entbunden. Und das sind 62 nur die registrierten Fälle. Die Moudawana hat die Kluft zwischen Ehefrauen und Ledigen eher vergrößert. Die ledige Frau bleibt weiterhin rechtlos; sie kann beispielsweise einen Vaterschaftstest nur dann verlangen, wenn sie vergewaltigt wurde oder anerkannt verlobt war. In dieser Großstadtwelt, im täglichen Widerstreit zwischen den tradierten Werten und einem Verlangen nach westlichen Freiheiten, versuchen viele Frauenorganisationen seit Anfang der 90er Jahre das Selbstbewusstsein der marokkanischen Frauen durch Aufklärung und Unterweisung zu stärken. In der größten und militantesten dieser NGOs, der Demokratischen Liga für Frauenrechte, habe ich von Oktober 2007 bis April 2008 gearbeitet. Sie wurde 1989 bis1993 aufgebaut, 1998 als Verein registriert, der bewusst auf Unterstützung durch die Regierung verzichtet, und hat heute 30 000 Mitglieder aus allen Gesellschaftsschichten, beileibe nicht nur Frauen. Die Liga wurde von der Wirtschaftswissenschaftlerin Fousia Assouli gegründet. Sie hat das Geld, das sie mit Finanzberatung verdiente, in die Idee gesteckt, Frauen zu Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Anerkennung zu verhelfen. Ihr Slogan ist bis heute „Égalité et Citoyenneté“ (etwa: Gleichbe- Themen D ie Jahresberichte der Liga haben inzwischen solche Anerkennung gefunden, dass sie in arabischer und französischer Sprache auf den Tischen des Innen- und des Justizministers landen, um mit den ganz anders lautenden Statistiken der Familiengerichte verglichen zu werden. Auch das US-Außenministerium zitiert die LigaBerichte inzwischen in den offiziellen Country Reports. Darüber hinaus besitzt die Liga ein Frauenhaus, in dem Frauen, die aus ihrer Familie geflohen sind, zusammen mit ihren Kindern für ein halbes Jahr Schutz und Hilfe finden. Sie leben in einem ummauerten Haus auf dem Lande nicht weit von Casablanca und werden von Ärzten und Psychologen kostenlos betreut. Auf Wunsch hilft ihnen die Liga darüber hinaus mit Anwälten, um die Scheidung und Unterhaltsforderungen durchzusetzen. Doch die Leiterin berichtet, dass zwei Drittel der Frauen nach diesem halben Jahr wieder zu ihren Männern zurückgehen, weil sie als Analphabetinnen ohne jede Ausbildung keine Existenzmöglichkeit sehen. Immerhin tun sich manchmal zwei mutige Frauen zusammen, suchen eine Wohnung, die eine geht putzen, und die andere hütet die Kinder. Die Schweizer Friedensorganisation, die das Frauenhaus finanziert, unterstützt auch die Organisation Solidarité Féminine, die 1985 das erste Frauenhaus in Marokko gründete. Sie versucht, ledigen Müttern Unterricht, Ausbildung und Arbeit zu verschaffen. Diese Frauen werden von der Gesellschaft als Prostituierte angesehen und kriminalisiert, da Prostitution strafbar ist. Um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, gebären unverheiratete Frauen oft heimlich irgendwo unter erbärmlichen Bedingungen und setzen das Kind aus, denn weder bei ihren Eltern noch in der Gesellschaft finden sie Schutz und Rückhalt. Arbeit finden sie nur ohne Kind, als schlecht bezahlte Hausmädchen in reichen Familien. Sonst bleibt ihnen nur das Betteln: Die Innenstadt von Casablanca ist voll von Bettlerinnen, die mit dem Baby im Arm an Häuserwänden hocken. Die Solidarité unterstützt in Essaouira, einem Touristensurfparadies, auch ein Tageszentrum für obdachlose Kinder, oft von solchen ledigen Müttern, wo sie psychologisch und medizinisch versorgt werden. Ein junges Mädchen kommt in unser Büro. Sie ist 15 Jahre alt und wurde von einem älteren Verwandten vergewaltigt. Da sie furchtbar schrie und weinte, gab er ihr zum Trost hundert Dirham (das sind elf Euro) „Schmerzensgeld“. Die Eltern des Mädchens wollten den „Onkel“ trotz allem zur Verantwortung ziehen. Da er aber bezahlt hatte, galt die Angelegenheit als Prostitution, und er wurde nicht bestraft. Das Mädchen ist jetzt schwanger. Bouchra, die Liga-Sekretärin, die tägNur die Schaufensterpuppe ist (fast) nabelfrei Monika von Krafft handlung und Zivilgesellschaft). Die Organisation hat nur einen kleinen Stab von Festangestellten, daneben aber viele Juristen, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und Lehrer, die bei Aktionen zur Verfügung stehen. Die Präsidentin knüpft derweil ihr Netzwerk, Beziehungen, die bei den nationalen und internationalen Tagungen der Liga erste Früchte tragen. Sie sammelt die nötigen Sponsorengelder, die u.a. aus Frankreich, Kanada, Belgien, der Schweiz und aus der EU kommen. Die Nebenstellen in zwölf Städten Marokkos bestehen aus einem Beratungszentrum für schutzsuchende Frauen und Schulräumen, wo nicht nur Bürgerrechte unterrichtet werden, sondern auch Nachhilfeunterricht angeboten wird in Englisch, Französisch, Spanisch oder Buchhaltung, dazu Alphabetisierungskurse für erwachsene Frauen. 63 Themen lich solchen Schicksalen begegnet, schickt sie zu einer ehrenamtlich mitarbeitenden Ärztin. Vielleicht kann die ihr helfen. Schon 1988 baute eine reiche Marokkanerin in Meknes ein Heim für ausgesetzte und Waisenkinder. Dieses Haus, die Fondation Rita Zniber, beherbergt heute 400 Kinder und Jugendliche und betreibt daneben noch ein Säuglingsheim. Seit einem Jahr haben die älteren Kinder und Jugendlichen ihren eigenen Gebäudekomplex, Kleinkinder und Behinderte werden in zwei Abteilungen des städtischen Krankenhauses untergebracht. Die Stiftung gilt als das beste Waisenhaus Marokkos. Mädchen werden von hier aus leichter an Familien zur Adoption vermittelt als Jungen, die oft auch nach abgeschlossener Berufsausbildung noch dort bleiben. M it dem Ziel der Aufklärung und Prävention übernahm die Liga in jeweils einem Dutzend Schulklassen zwei Stunden lang den Unterricht, um mit den Schülern die Themen Gleichberechtigung, Toleranz, Strategien gegen Terror und Diskriminierung zu behandeln. Die Klassenstärke lag zwischen 35 und 45 Schülern. Der Lehrer blieb, obwohl eingeladen, selten dabei. Die Liga brachte ihre eigenen Video- und CD-Recorder mit, da die Staatsschulen, oft mit mehr als 2000 Schülern, schlecht ausgerüstet sind. Der Lehrer hat oft nur Tafel und Kreide zur Verfügung. Uralte Bänke sind an die Tische gekoppelt, für die älteren Schüler sind sie viel zu klein. Von der Decke hängt eine nackte Glühbirne, kahle Wände, keine Schränke oder Regale, nur eine Reihe Kleiderhaken an der hinteren Wand, die Fenster ohne Vorhänge oder anderen Lichtschutz. Es gibt, wie auch in den meisten Wohnungen, keine Heizung oder Klimaanlage, sodass im Winter in Mütze und Mantel unterrichtet wird und im Sommer bei offenen Fenstern und Türen. Das Schlagen mit dem Lederriemen gehört zum pädagogischen Alltag. Die Gruppenarbeit in den immer auf Frontalunterricht eingerichteten Klassenzimmern schien vielen ungewohnt, und in den gemischten Klassen sortierten sich die Geschlechter meist in getrennte Teams. Schon ab der ersten Klasse, also lange vor der Pubertät, tragen die meisten Mädchen in diesen Gegenden unter dem Einfluss der Imame Kopftuch, ebenso wie auch viele Lehrerinnen und Schulleiterinnen. Ein siebenjähriges Mädchen aus der 2. Klasse sagt uns auf Nachfrage, dass nicht ihr Vater sie zum Kopftuch zwinge, wohl aber die Lehrerin. Eine dritte Organisation gibt es in Rabat. Sie kümmert sich dort und in der Nachbarstadt Salé um die petites bonnes, die kleinen minderjährigen Dienstmädchen. Man versucht, die Mädchen in den Häusern der Reichen in den Verschlägen hinter den Küchen aufzuspüren und zu ihren Eltern, meist armen Bauern, zurückzubringen. Diese www.maroc.ma Königin Rania (Jordanien) und Königin Laila Salma (Marokko) bei der Eröffnung eines Waisenhauses in Marrakesch 64 Themen haben sie in die Stadt abgegeben, weil die Ernten seit Jahren wegen Trockenheit schlecht sind und es kaum zum Leben reicht. Aus Spenden gibt die Organisation den Familien Geld für Schulmaterial, damit sie die Mädchen zum Unterricht schicken können. Oft werden aber dieselben Mädchen nach wenigen Tagen in einem anderen Haushalt wiedergefunden. Tanger, eine quirlige Großstadt auf Hügeln am Mittelmeer, nur 14 Kilometer entfernt von der spanischen Küste, ist das Sehnsuchtsziel Tausender, die sich in der Stadt verstecken und auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warten. Hier gibt es eine weitere private Initiative, die Darna, ein Zentrum für verlassene oder alleinlebende Kinder und Jugendliche. Sie finden Aufnahme vom Kindergartenalter bis zu einer Handwerkslehre. Am Stadtrand betreibt Darna eine Biolandwirtschaft, wo meist drogenabhängige Straßenkinder leben, arbeiten und lernen können. Hier wird bewusst niemand eingesperrt wird, und daher verschwinden immer wieder die Jungen zwischen 11 und 17 Jahren. Manchmal kommen sie zurück, manchmal aber auch nicht. Der Monarch gibt sich in Reden und Interviews reformfreudig, was er sicher auch ist. Aber er geht mit sehr langsamen Schritten in die Moderne, denn er hat im Palast, in der Moschee und in den Parteien nicht nur Freunde und will die gesellschaftliche Ruhe nicht gefährden. Eine zwar zu Wahlen nicht zugelassene, aber starke Partei namens „Gerechtigkeit und Wohltätigkeit“ will im Land eine islamische Republik unter der „von Gott gesetzten Ordnung“ errichten. Die Partei wurde von dem radikalen Scheich Ahmad Yassin ins Leben gerufen, der wegen seiner fundamentalistischen Predigten und Bücher seit 1991 im Gefängnis saß (und als Hamas-Führer, blind an den Rollstuhl gefesselt, von den Israelis getötet wurde). Die Partei wird heute von seiner Tochter Nadia Yassin geführt, der auch ein Prozess droht, da sie die Monarchie öffentlich als eine für Marokko ungeeignete Staatsform bezeichnete. Im Mai 2008 wurden in Casablanca die Anführer einer Demonstration wegen antimonarchistischer Parolen zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Die Partei agiert, wie die Hisbollah im Libanon, mit finanzieller Unterstützung aus den sunnitischen Ölstaaten, auf dem Feld der Sozialhilfe, der Schulung und Unterstützung von Frauen, der akuten Hilfe in Slums. Nadia Yassin denkt und handelt im Sinne ihres Vaters, der den Islam als „Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus“ verstand, als theokratische Gesellschaftsordnung, in welcher der König, wenn überhaupt, nur als Führer und Bewahrer des Glaubens, als „Schatten Gottes auf Erden“ eine Legitimation hat. Auch sie lebt in der Überzeugung, dass man „die Moderne islamisieren und nicht den Islam modernisieren“ müsse. Und sie befürwortet die „heilige Offenbarung“ des Korans mit den festgeschriebenen Werten von der Gleichheit der Geschlechter (Suren 2 und 4) in der dort vorgegebenen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau (Suren 4 und 24). Für Nadia Yassin hatten die westlichen Frauen überhaupt keine Rechte, bis sie im 19. Jahrhundert anfingen, dafür zu kämpfen. Für die muslimische Frau dagegen gehe es nur darum, sie wiederzugewinnen. Damit hat sie, bezogen auf den Umkreis von Mohammed, vor allem mit der ersten „Frauenrechtlerin“ Umma Salama durchaus Recht. Diese Ehefrau des Propheten kämpfte der Überlieferung nach gegen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und den von Männern geforderten Gehorsam. Für Nadia Yassin gilt aber auch die Charta der Hamas. Dort steht in Artikel 17: Muslimische Frauen spielen keine geringere Rolle als die Männer, sie sind aber in erster Linie für Haushalt und Kinder zuständig, als Garanten für deren religiöse Erziehung. In diesem in Entwicklung befindlichen islamischen Land mit sehr viel Unwissenheit und Armut verstehen sich die meisten Menschen zuerst als Muslime, dann erst als Marokkaner. 80 Prozent der Frauen sind für das Tragen des Kopftuchs aus religiösen Gründen, 87 Prozent gegen die in der Ehe erlaubte Abtreibung, 44 Prozent befürworten nach wie vor die Polygamie. D er König hat für 2008 angeordnet, 9000 Schulen in ländlichen Gegenden zu bauen, wo bisher, wenn überhaupt, nur Koranschulen existierten. In diese gehen vorwiegend die Buben, die dann an Korantexten lesen und schreiben lernen. Die Mädchen bleiben zu Hause, bis sie ab dem 13. Lebensjahr mit Verheiratung rechnen müssen. Die Liga und mit ihr viele andere Frauenrechtsorganisationen im Land veranstalten regelmäßig sogenannte Karawanen, in denen sie mit Bussen in diese entlegenen Gegenden fahren, um Frauen zu beraten, Medikamente und Schulausrüstung zu verteilen. Die Liga, die Fondation Zniber und mindestens vierzig weitere Menschen- und Frauenrechtsorganisationen nehmen dem marokkanischen Staat mit ihren Aktivitäten eine Last ab: einen großen Teil der dringend nötigen Sozialarbeit. Dem Staat ist diese Arbeitserleichterung mehr als recht. Denn es ist eine Herkulesarbeit, dieses Land in eine – auf muslimischem Glauben aufbauende – Moderne zu überführen. 65