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20 K U L T U R B E U T E L
VER.DI PUBLIK 03
MÄRZ 2009
ANSTEHEN
Evolutionär | Mit dem Finger über die
Weltkarte lässt sich die fünfjährige Reise
des jungen Charles Darwin von 1831 bis
1836 nachverfolgen. Umgeben ist der
Kartentisch mit allerlei Getier. Bunte Falter, Fische, Krabben, Mäuse, Spinnen,
Vögel, allesamt Weggefährten des Forschers, hinter Glas versteht sich. Das Naturkundemuseum in Berlin zeigt anlässlich des 200. Geburtstages Darwins neben diesen Exponaten auch Instrumente
und Aufzeichnungen. Vor 150 Jahren hat
er das Ergebnis seiner Reise und anschließenden Forschungen in seinem Buch
„Über die Entstehung der
Arten durch natürliche Zuchtwahl“
veröffentlicht – die
Evolutionsgeschichte der Lebewesen
unseres Planeten.
Der Gegensatz zur kirchlichen Schöpfungsgeschichte trug ihm vielerlei Anfeindungen ein, bis in die Gegenwart. Die
beeindruckende Schau unter dem Titel
„Darwin – Reise der Erkenntnis“ in Berlin,
ergänzt durch Vorträge, Lesungen und
Filme, ist nur ein Beitrag unter vielen zum
Darwinjahr 2009. Das Naturkunde-Museum in Stuttgart zeigt ab dem 1. Oktober
die Ausstellung „Der Fluss des Lebens –
150 Jahre Evolutionstheorie“, zu sehen
ist auch ein Nachbau des Forschungsschiffes „Beagle“. Weitere Ausstellungen
zum Darwinjahr 2009: Hamburg, Frankfurt/ Main, Münster, Bonn, München und
Karlsruhe. www.darwinjahr2009.de,
www.darwin-jahr.de
GL
MUSEUM FÜR NATURKUNDE, INVALIDENSTRASSE, BERLIN, BIS 31. AUGUST 2009,
DI–FR 9 UHR 30–17, SA/SO 10–18 UHR
Sonic Youth etc. Sensational Fix |
Kim Gordon, die Bassistin von Sonic
Youth, kann Gitarre nur so spielen, wie
sie sie spielt: laut und schräg. Sie hat es
auch nie gelernt. Bevor sie 1981 zum ersten Mal mit ihrer Band aufgetreten ist,
hatte sie Kunst in Los Angeles studiert
und dann in einigen New Yorker Galerien
gejobbt. Die Vermarktung der Künstler
dort hat sie schließlich zur Musik getrieben, ohne jedoch jemals die Kunst aufzugeben. Und auch wenn Sonic Youth heute noch für das Lebensgefühl einer ganzen Jugend steht, gab und gibt es kaum
PREISRÄTSEL
Unter allen richtigen
Einsendungen verlosen
wir 10 x den
Bildband
Die Kraft
der Würde –
The Power
of Dignity
Was wird bei der Deutschen Bahn
offenbar besonders auf-
merksam kontrolliert?
B Die Schülermonatskarten
T Die Achsen der ICE-Waggons
R Die Angestellten
LESEN
eine andere Band, die durchgehend den
Austausch und die Kooperation mit bildenden Künstler/innen gelebt hat. Davon
sprechen nicht nur die von Künstler/innen gestalteten Cover ihrer Scheiben,
sondern jetzt auch eine Ausstellung in
Düsseldorf, die Sonic Youth mit kuratiert
und mitbespielt hat. Kim Gordon hat
dort zusammen mit Jutta Koether, einer
Ikone der Musik- und Kunstkritik, ein Zelt
aufgestellt, in dem ein Bass, eine Gitarre,
ein Schlagzeug und ein Verstärker stehen. Hier darf jede und jeder einmal die
Seite wechseln – vielleicht wird ja Musik
daraus. Eine Performance ganz gewiss.
PEWE
KUNSTHALLE DÜSSELDORF, GRABBEPLATZ 4, BIS 10.
MAI, DI–SA 12–19
UHR, SO 11–18 UHR
Sitting Bull und seine Welt | Als
der letzte Häuptling der Lakota-Sioux um
1830 geboren wurde, war die Welt für
seinen Indianerstamm noch weitgehend
in Ordnung. Die Indianer lebten von der
Jagd, vom Handel, meist zu Pferde und in
Tipis. Doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts, Sitting Bull ist ein junger Mann, ziehen immer mehr amerikanische Siedler in
die Prärie, rotten die Bisons und damit die
Lebensgrundlage der Lakota-Sioux aus.
Die Kriege, die dieses größte amerikanische Siedlungsprogramm zur Folge hatte,
sind uns hinlänglich aus alten und gar
nicht so alten Wild-West-Filmen bekannt.
Auch über Sitting Bulls weiteres Leben,
das Exil in Kanada und seine Shows mit
dem nicht minder sagenumwobenen
Buffalo Bill, die die Indianer letztendlich
zu Exoten stilisierten, während sie real ein
Leben in Reservaten fristeten, ist verfilmt
worden. Die Ausstellung in Bremen
schlägt mit 180 Originalobjekten, Fotos,
Installationen und Filmen einen Bogen
von Sitting Bulls
Leben bis in die Gegenwart, in der sein
Volk in Armut, Arbeitslosigkeit und
Ausgegrenztheit
lebt.
PEWE
ÜBERSEE-MUSEUM
BREMEN, BAHNHOFSPLATZ 13, BIS 3. MAI,
DI–FR 9–18 UHR, SA/SO 10–18 UHR
Arbeitnehmer...
EU ...beschnüffelverbot
IO ...datenschutzgesetz
CH ...transparenzvermeidungsabkom-
Hans Reitz (Hrsg.): The Power of Dignity – Die
Kraft der Würde | Vor fast 20 Jahren änderte sich das Leben von Bina Shaha grundlegend. Bis dahin war sie bitterarm.
Trotz äußerst harter Arbeit hatte die Frau aus Bangladesch nie
etwas zurücklegen können. Dann bekam sie ihren ersten Kredit: 20 Euro. Dafür kaufte sie alles, was für eine kleine Juteproduktion notwendig war. Neun Jahre dauerte es, bis sie und ihre Familie die extreme Armut hinter sich gelassen hatten. Inzwischen lebt sie von einem kleinen Laden, den ihr Sohn und
die Schwiegertochter betreiben und der dank eines neuen
100-Euro-Darlehens deutlich wächst.
VERLAG 2008, 220 SEITEN, 39,80 €
HÖREN
M die Schuldenbremse
F den Pumpstopp
X die Ausgabenvorgabe
nie vom Band?
In Berlin wird aktuell heftig debattiert, ob der Burkini zugelassen wird.
Was ist das für ein gefährliches Ding?
Ä Ein Gebäck, an dem sich immer
wieder Konsumenten die Zähne
ausgebissen haben
I Ein den Körper bedeckender Badeanzug, der gläubigen Musliminnen
den Besuch öffentlicher Schwimmbäder in der Hauptstadt ermöglicht
Y Ein hochprozentiger Cocktail, der
seit den Berlinale-Partys der letzte
Schrei ist
L Corsar
Z Kapitän
D Admiral
Die Beschäftigten der Abfallwirtschaft, der Aus- und Weiterbildungsbranche und der Großwäschereien
können sich freuen oder
zumindest aufatmen.
Warum?
E Sie sind von der Wirtschaftskrise
überhaupt nicht betroffen
Ä Für sie soll es künftig Mindestlöhne
U In ihren Branchen ist die Zufrieden-
heit mit den Arbeitsbedingungen
besonders hoch
Das, was sich die Länder da zur
Haushaltssanierung ausgedacht
haben, schmeckt dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske so gar nicht.
Er ist gegen
Dieser Forscher wurde vor 200
Jahren geboren, von protestantischen
Fundamentalisten werden seine
Erkenntnisse als Irrlehre abgetan.
Zu besichtigen sind sie, künstlerisch
verarbeitet, derzeit auch in der Frankfurter Schirn.
L Charles Darwin
G Felix Mendelssohn-Bartholdy
K Nikolaus Kopernikus
Die Kennbuchstaben der richtigen Lösungen ergeben, neu sortiert, einen
Begriff für Menschen im Wohlstand. Viel Spaß!
rum kosten sie so wenig?
A Weil die Läden ja kaum Miet- oder
Personalkosten verursachen
N Weil die Produzentinnen in Ländern
wie Indien, Bangladesch oder China einer aktuellen Studie zufolge
noch weit unter dem Existenzminimum bezahlt werden
S Weil die Klamotten sonst keiner
kaufen würde
FOTOS: ROGER RICHTER, TEXT: PETER SPIEGEL, J. KAMPHAUSEN
Der Gründer der Bank, Muhammed
Yunus, kommt nicht aus dem Elend.
Doch als Ökonomieprofessor beklemmte
es ihn, an Verhungernden vorbei zur
Vorlesung zu gehen, wo er der jungen
Wirtschaftselite seines Landes beibringen sollte, wie sie sich künftig bereichern könnte. Das Geldhaus, das er danach aufbaute, ist in jeder Beziehung
außergewöhnlich. Wer hier zum ersten
Mal einen Kredit haben will, darf über
keinerlei Sicherheiten verfügen. Denn
die Bankmitarbeiter haben festgestellt,
dass genau solche Menschen das Geld
am zuverlässigsten zurückzahlen: Sie
wollen diese einmalige Chance nutzen.
Tatsächlich liegt die Tilgungsquote bei
98 Prozent – so hoch wie nirgendwo
sonst. Während Banken normalerweise
großen Wert auf Diskretion legen, werden bei der Grameen Bank alle Kreditverträge auf dem Dorfplatz abgeschlossen. Das verhindert Korruption und
schafft Vertrauen.
men
Bei Discountern wie Lidl oder Aldi
bekommt man billige Textilien. Wa-
95 Prozent der Vertragspartner sind Frauen – die meisten von
ihnen Analphabetinnen. Doch ihre Kinder gehen zur Schule,
nicht wenige studieren. Darüber hinaus haben sich die Kleinkredite als bestes Mittel zur Familienplanung und Frauenförderung erwiesen, ohne dass dies anfangs geplant war. Eine andere Welt ist tatsächlich möglich – das führt dieses Buch vor
Augen.
ANNETTE JENSEN
Die 72-jährige Bina Shaha ist eine von
acht Millionen vorwiegend weiblichen
Kreditnehmern der Grameen Bank. Sie
stehen im Zentrum dieses sehr beeindruckenden Bildbands. Die Fotos von Roger
Richter und die Texte von Peter Spiegel
zeigen einen ungewöhnlichen Blick auf
Armut: Selbstbewusste Menschen sehen
in die Kamera, geschildert werden ihre
Pläne und erstaunlichen Erfolgsgeschichten. Auch die Grameen Bank, die die Mikrokredite vergibt, ist ein extremer Kontrast zu dem, was man sonst mit einer
Bankzentrale assoziiert: Die Ausstattung
ist überaus schlicht, und die Chefs sitzen
in ähnlichen Räumen wie die Servicekräfte.
Die fast 30 000 Beschäftigten des
Autobauers Opel bangen derzeit um
die Zukunft ihres Unternehmens.
Welches Modell lief bei Opel
geben
Die Überwachung und Ausforschung von Beschäftigten auch bei
Discountern oder bei der Deutschen
Telekom ist ein Skandal. Da brauchen
wir, findet ver.di, endlich ein
Frauen zahlen zurück
Bitte schicken Sie eine Postkarte mit dem Lösungswort bis zum 08. 04. 09
(Datum des Poststempels) an: ver.di PUBLIK, Preisrätsel, 10112 Berlin.
Lösungswort des letzten Preisrätsels: Leiharbeit
Gewonnen haben: A. Schmidt (München), B. Althmann (Gera), F. Mentzel
(Bergheim).
Herzlichen Glückwunsch!
Olli Schulz: Es brennt so schön |
Jetzt geht’s aber los. Sogar die BildZeitung hat Olli Schulz entdeckt:
Mach den Bibo, die aktuelle Single
des Hamburgers, und die dazugehörige Choreographie werden nach dem
fünften Platz bei Stefan Raabs Bundesvision Song Contest vom Massenblatt
als neuer Ententanz apostrophiert.
Doch Schulz, dereinst bekannt geworden durch zum Quatsch neigendes
Liedgut, hat sich längst in andere
Sphären weiterentwickelt. Der Bibo ist
der einzige weitgehend sinnfreie Song
auf seinem vierten Album, das ansonsten ein erstaunliches Spektrum offenbart. Denn dramatische Liebeslieder
kann Schulz mittlerweile ebenso gut
wie sozialkritische Milieustudien und
politische Pamphlete. Im Angebot sind
außerdem die
mächtige Hymne,
die das Überleben
feiert, und die deprimierte Selbstbespiegelung. Abwechslungsreich
auch die musikalische Umsetzung: Aus dem eher liedermacherartigen Schulz ist längst ein
kompletter Rockmusikant geworden,
der seiner Band von süßlichem Folk
über verträumten Gitarrenpop bis zu
schluffigem Indie-Rock allerhand abverlangt – auch natürlich den unwiderstehlich ins Bein gehenden Boogie
von Mach den Bibo. Sehen wir den
Tatsachen einfach gelassen ins Auge:
Olli Schulz ist zum Deutschrocker geworden.
TO
Renaud Garcia-Fons: La Línea
del Sur | Garcia-Fons ist Franzose mit
spanischen Wurzeln und ein Bassist
mit einer unfassbar virtuosen Spieltechnik. Klassisch ausgebildet, verwendet er sein Instrument allerdings
nicht nur auf herkömmliche Art. Er
kann seinen Tieftöner stattdessen
auch wie ein Cello und in den hohen
Lagen sogar wie eine Violine „singen“
lassen. Die perfekte Illusion! Das hat
ihm schon vor Jahren den Beinamen
„Paganini des Kontrabass“ eingebracht. Aber der Franzose ist nicht nur
der ausgebuffte Techniker, sondern
ein Musiker, dem es vor allem um
musikalischen Ausdruck und Emotion
geht. So entlockt er seiner Bassgeige
auch die exotischen Klänge eines indischen Instruments oder einer arabischen Laute. Sein
akustisches, mit
Akkordeon, Flamenco-Gitarre
und Perkussion
besetztes Quartett
plus Gastsängerin
Esperanza Fernández spielt ein prachtvolles Stück Weltmusik, das ganz ohne Klischees auskommt. Aber mit spürbar südlichem
Feeling (Sur = Süden) aufwartet. Einem imaginären Süden, aus Klängen
des Mittelmeerraums, lateinamerikanischen Rhythmen, Flamenco und Jazz.
Einem Süden mit einer höchst verführerischen Aromenvielfalt. Wirkliche
Klangabenteuer erlebt man nur selten.
Garcia-Fons' Musik aber ist definitiv
eines.
RIX
ROCK, CD, COLUMBIA/SONY/BMG
WELTMUSIK, CD, ENJA/EDELKULTUR
VER.DI PUBLIK 03
KLICKEN
Louise Erdrich: Solange du lebst
Im US-Bundesstaat North Dakota leben
etwa 95 Prozent Weiße und vier Prozent
Indianer. Louise Erdrich sucht seit Beginn
ihrer Schriftstellerkarriere inmitten dieser
weißen Übermacht nach der Geschichte
ihrer roten Ahnen. Weiße hat sie auch,
ihr Vater ist Deutschamerikaner. Rätselhaft gemischt ist auch die Geschichte
dieses Romans, durchzogen von einem
dichten Gewebe wechselseitiger Beziehungen. Am Anfang steht eine alte
Schuld: der Lynchmord an drei unschuldigen Ojibwes Ende des 19. Jahrhunderts. Deren Nachfahren finden sich
nun wieder in merkwürdigen Beziehungen zu den Enkeln
der damaligen Täter.
Das Buch geht von
einer Rahmengeschichte der Ich-Erzählerin in der Gegenwart aus, weitere Familienepisoden
zweigen hier ab und verknüpfen sich
kunstvoll mit der Geschichte des Großvaters Mooshum. In diesem offenen Episodenroman über die geschlossenen Gesellschaften North Dakotas findet sich
auch das Thema religiöser Fundamentalismus. Hier ist es eine eindrucksvolle
Geschichte über den Armageddonprediger Billy Peace und seine Frau, die mit
Giftschlangen tanzt. Dieser Roman ist
Erdrichs literarischer Protest gegen die
Gewalt der Verhältnisse.
ZÄH
Marnelle Tokio: Nichts leichter
als das | Diese Überlebensgeschichte
einer Magersüchtigen beginnt in einer
Klinik für Essgestörte, wohin es die 17jährige Marty verschlagen hat. Auf die
Frage der Betreuerin antwortet das Mädchen mit einem ausführlichen Wutausbruch: „Wie es mir geht, ohne Schlankheitspillen, ohne Cola light und ohne
Kaffee...?“ Sie will sofort wieder weg, in
das Leben zu Hause, das doch unlebbar
für sie geworden war, aber in dem sie
wenigstens selbst bestimmt, was sie isst:
möglichst nichts. Ihre Mitpatientinnen
durchschaut sie mühelos, sich selbst nur
teilweise. Und so
lehnt sie sich aggressiv gegen das
ganze System der
Hilfe auf, gegen die
Regeln und Helfer,
begreift aber erst nach und nach, auf
wen sie wirklich wütend ist. Marty
nimmt die achtjährige Lily unter ihre
Fittiche, und das hilft ihr selbst. Als diese
jüngste Leidensgenossin stirbt, stürzt
Marty in die Verzweiflung, und es
scheint, dass sie auch ihren eigenen
Kampf verloren gibt. Doch gerade der
Tod einer anderen wird zum Wendepunkt. Die kanadische Autorin Marnelle
Tokio erzählt die Geschichte mit grimmigem Humor und vielen berührenden
Momenten als einen Kampf zurück ins
Leben.
KLIX
ROMAN. Ü.: CHRIS HIRTE, INSEL VERLAG
JUGENDBUCH, Ü.: MARTINA TICHY,
Eva Karnofsky: Die Straße der
Tugenden / Eine kubanische Familienchronik | 50 Jahre kubanische
Revolution: Hochzeit für Analysen und
Diskurse. Wer dazu keine Lust hat, ist
mit diesem Roman besser dran: Die Autorin war 20 Jahre Lateinamerikakorrespondentin und ist mit einem Kubaner
verheiratet. In Karnofskys Roman erzählt
ein deutscher Schriftsteller, der Groschenromane schreibend auf Kuba lebt,
tagebuchartig während der Jahre 1993
bis 1998 in Rückblicken die Geschichte
der mit ihm befreundeten Bauernfamilie
Perez Valdez seit
1959. Während bitterer Mangel und
politische Desillusion
den Alltag der 90er
Jahre beherrschen,
erinnern die Frauen
der Familie sich an
das Glück kostenloser Schulen und Universitäten, an ihren Bildungshunger, an
Hoffnung und revolutionäres Engagement. Symbol für den Niedergang der
Revolution ist die dritte Tochter, 1959
geboren, Tänzerin, Akademikerin, 1993
an mangelnder medizinischer Versorgung gestorben. Karnofsky erzählt einfach, schnörkellos, mit Sympathie für die
Frauen und Kuba, spinnt souverän eine
Liebesgeschichte und die Wandlung des
Chronisten zum seriösen Schriftsteller.
Mit einem Zeitsprung ins Jahr 2008 entlässt sie uns und ihre Protagonisten am
Ende ratlos und wenig zukunftsfroh. UL
2009, 397 S., 22,80 €
CARLSEN VERLAG 2009, 286 S., 9,95 €
HORLEMANN VERLAG, 350 S., 19,90 €
MÄRZ 2009
K U L T U R B E U T E L 21
FOTOS: TOSSELL FILM/ MMC; PROMO; I WAGNER; M DOMAGE
www.ecoshopper.de | Gäbe es EcoShopper als begehbaren Ort, wäre es
wohl eine Art Messehalle, gefüllt mit
Beratungsständen, Büchertischen,
Prospektständern und schwarzen
Brettern. Ein großes Gewimmel an Informationen und Reizen, das den Verbraucher schnell überfordert. Im Internet heißen solche Konzepte „Portale“
und sind dafür geschaffen, hilfreiche
Orientierung zu bieten. Auch EcoShopper versteht sich als Verbraucherportal
rund um biologische, ökologische,
energieeffiziente, nachhaltige und fair
gehandelte Produkte und Dienstleistungen. Unter
„Öko-Bio-Fair“ finden sich Einkaufstipps und Preisvergleiche zu Bio-Kindersachen, Fahrrädern, strahlungsarmen Handys, Naturtextilien und „grünem“ Büromaterial,
um nur einige zu nennen. Auch Ökostrom, Naturreisen, Bio-Apotheken
und sogar Öko-Mail & Webspace bietet die Navigation als Rubrik an, um
dort Texte und Direktlinks aufzuführen.
Ecoshopper verfügt über eine brauchbare Suchfunktion und viele redaktionelle Verbraucherinfos. Trotz der Fülle
bleibt die gut über Partner und Strategie informierende Seite übersichtlich,
auch durch sparsam eingesetzte Werbeeinblendungen. Ideologisch unverkrampft und verlässlich, diese „grünen
gelben Seiten“.
HEST
www.liveradio.de | Das Ohr in die
Radio-Kulturen der Welt hieß in den
sechziger und siebziger Jahren schlicht
„Weltempfänger“. Heute genügt für
den akustischen Abenteuer-Urlaub ein
Internet-Anschluss. Mittlerweile dürften weltweit mehrere zehntausend Radiostationen ins World Wide Web hinein senden, die meisten davon sogar
ausschließlich im Internet. Für Übersicht in der internationalen Senderflut
sorgt die Seite Liveradio.de, wo derzeit
knapp 3 000 auf Musik fokussierte Internetradios verzeichnet sind. Als Ordnungskriterium dienen die musikalischen Genres, wie
Klassik, Jazz oder
Rock, zudem die so
genannte Bitrate,
von der in der Regel die Klangqualität abhängt. Das Abspielen der als
„Streams“ (Datenströme) gelieferten
Radiosendungen auf dem Computer erledigen Musikprogramme wie „iTunes“
oder „Winamp“. Wer sich bei Liveradio.
de mit Namen und E-Mail-Adresse registriert, kann sich dort eine Favoritenliste anlegen oder auch Bewertungen
eingeben, die dann ihren Einfluss auf
eine nutzergenerierte Bestenliste haben. So gesehen ist Liveradio der Drehknopf am Weltempfänger Internet,
spartanisch aufgebaut, mit Suchfunktion und ein bisschen Verkaufs- und
Werbe-Schnickschnack drumherum.
HEST
SEHEN
Ein echtes Märchen
Slumdog Millionär | Bei Wer wird Millionär? kann man vor allem eins gewinnen:
eine Menge Geld. Jamal allerdings rät sich in der indischen Ausgabe der weltweit
beliebten Spielshow nicht wegen des winkenden Reichtums bis zur 20-MillionenRupien-Frage. Nein, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Hilfsarbeiter will
so seine große Liebe wiederfinden. Doch wie konnte er, ein Junge ohne jede Bildung
aus den Slums von Bombay, all die Fragen wissen, an denen selbst Professoren scheitern?
In geschickt montierten Rückblenden erzählt der britische Regisseur Danny Boyle die
Geschichte eines modernen Simplicissimus: Mit dem etwas einfältig, aber immer aufmerksam durch sein Leben taumelnden Jamal werfen wir einen Blick auf ein Indien
im rapiden Wandel. Ein Land, in dem erbärmliche Armut und verschwenderischer
Luxus dicht nebeneinander existieren, in dem die Gewalt regiert und ein Menschenleben nicht viel wert ist. Ein Indien voller Vitalität, zerrissen zwischen althergebrachter Tradition und rasender Moderne. Boyle nutzt in seiner Reminiszenz an das HindiKino alle Möglichkeiten, die ihm dieses Tableau bietet – und wechselt in fast schon
hysterischer Schnittfolge zwischen Gangsta-Thriller und sozialem Realismus, Burleske
und Tragödie. Dort allerdings, zwischen allen Genres, verliert sich der Film bisweilen
in einer Beliebigkeit, die auch vor einer Ästhetisierung des Elends nicht zurückschreckt. Diese visuelle Kraft aber beförderte Slumdog Millionär zum großen AwardAbräumer: Mit acht Oscars, drei British Independent Film Awards und vier Golden
Globes wurde ausgezeichnet, wie der Film Bollywood-Märchen und soziales Gewissen miteinander zu versöhnen versucht.
In Indien allerdings ist der Film umstritten. Amitabh Bachchan, einer der größten
Stars des Landes und mit einem Kurzauftritt als er selbst in Slumdog Millionär gewürdigt, kritisierte den Film; Hindi-Aktivisten demolierten aus Protest Kinos; zwei
Sozialarbeiter versuchten gar per Klage eine Titeländerung des Films durchzusetzen.
Der zentrale Kritikpunkt: Slumdog Millionär bestätige westliche Vorurteile über Indien und konzentriere sich allein auf die Schattenseiten des aufstrebenden Milliardenlandes. Allerdings: Dass diese Schattenseiten, vom Leben im Slum bis zur allgegenwärtigen Polizeibrutalität, weitgehend korrekt dargestellt sind, wird ebenfalls
kaum bestritten. So beweist Slumdog Millionär: Auch ein Märchen kann von der
Wirklichkeit erzählen.
THOMAS WINKLER
GB/USA 2008; R.: DANNY BOYLE, D.: DEV PATEL, ANIL KAPOOR, IRRFAN KHAN, MADHUR
MITTAL, FREIDA PINTO; L.: 120 MIN., KINOSTART: 19.3.2009
Hilde | Was gibt es an diesem Film
eigentlich auszusetzen? Heike Makatsch
ist hier so grandios wie Julia Jentsch als
Sophie Scholl. Sie spielt nicht Hildegard
Knef, sie ist sie mit Leib und Seele, sieht
ihr zum Verwechseln ähnlich, imitiert
ihre Stimme nahezu perfekt. Sogar bei
den Liedern kommt man ins Grübeln:
Singt nun die Knef oder ihr Double? Das
funktioniert auch deshalb so gut, weil
der Film nicht das Leben seines Stars bis
ins hohe Alter nachzeichnet, sondern im
Zenit der Karriere endet: 1966 mit dem
legendären Konzert in der Berliner Philharmonie. Von da aus zeichnet Kai Wessel in Rückblenden ein atemloses Künstlerleben nach, das mit vielen Erfolgen
und ebenso vielen Misserfolgen einer
Achterbahnfahrt gleicht. Besonders packend das Auf und Ab in den Berliner
Nachkriegsjahren, in denen Hilde in Die
Mörder sind unter uns zum Leinwand-
star reüssiert, dann als skandalöse Sünderin in Ungnade
fällt. Wer sie denn
eigentlich wirklich
sei, wird der erfolgreiche Filmproduzent Erich Pommer
sie nach einem ersten gescheiterten
Anlauf in Hollywood fragen. Von wegen
Wessels Film gebe darauf keine Antwort: Hilde-Heike imponiert mit ihrem
burschikosen Auftreten, Schlagfertigkeit,
Berliner Schnauze und ihrem mutigen,
späten Durchbruch als Sängerin. Sicher,
sie hat auch manche falsche Entscheidungen getroffen, aber wer, bitteschön,
hat das nicht?
KL
D 2009, R: KAI WESSEL, D: HEIKE MAKATSCH, DAN STEVENS, MONICA BLEIBTREU, HANNS ZISCHLER, U.A., L.:136 MIN.,
KINOSTART: 12.3.2009