Der Vorleser - Zwischen Hermeneutik und Kritik

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Der Vorleser - Zwischen Hermeneutik und Kritik
Bernd Springer
Bernhard Schlinks “Der Vorleser” Vergangenheitsaufarbeitung zwischen Hermeneutik und Kritik
Vor genau einem Jahr versuchte die SZ in ihren Ausgaben vom 30. März, 20. und 27.
April 2002 das Buch “Der Vorleser” von Bernhard Schlink, eines der weltweit
erfolgreichsten deutschen Bücher der letzten 50 Jahre, als “Kulturpornographie” und
“Holokitsch”, als abscheulich und unmoralisch gewissermaßen auf den Index der
politisch unkorrekten Bücher zu setzen. Als Vorwand diente dabei eine Debatte, die
angeblich unter “britischen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern” “entbrannt”
sei. (SZ 27.4.02, S.16).
Tatsächlich hatte es im britischen Times Literary Supplement – neben lobenden
Kritiken - im März auch 3 Leserbriefe gegeben, die sich über den vor mittlerweile 8
Jahren erschienen Roman empörten. In der SZ kamen diese Kritiker nun ausführlich zu
Wort – die Fürsprecher nicht. Die Titel zeigen bereits die Leitideen an, unter denen das
Buch im Feuilleton behandelt wurde. Lawrence Norfolk versucht zu zeigen, Warum (…)
“Der Vorleser” ein so schlechtes Buch ist, Jeremy Adler, Sohn eines HolocaustÜberlebenden, erhob Einspruch gegen Die Kunst, Mitleid mit den Mördern zu
erzwingen und Tanja Dückers erklärte auf derselben Seite mit Bezug auf Schlink,
Warum die “Enkelgeneration” nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht zum
“entspannten Umgang” mit der Vergangenheit geneigt ist.
Damit ist das Stichwort gefallen, worum es in Wirklichkeit ging und geht: um den
Umgang mit der Vergangenheit. Das wiederum weckte die Vermutung, dass die
literarischen Aspekte des Vorlesers gar nicht der eigentliche Gegenstand der Kritik sind,
sondern allenfalls ein Vorwand. Der Spiegel bestätigte dies sogleich in seiner Ausgabe
vom 9. April 2002. Unter dem Titel Autoren unter Generalverdacht hieß es dort:
“Kulturkritiker rüsten zu einer bizarren Literaturdebatte: Verharmlosen erfolgreiche Bücher wie Günter
Grass’ Novelle Im Krebsgang oder Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser die Schuld der Deutschen am
Holocaust und am Zweiten Weltkrieg?”
Was den genannten Autoren, oder auch Schiftstellern wie Peter Schneider und Dieter
Forte, zwar nicht nachgewiesen, aber in vorausgreifender Erfassung der wahren
Autorintention unterstellt wird, wäre in der Tat geeignet, die Alarmglocken der
bundesdeutschen Öffentlichkeit läuten zu lassen – wenn es denn wahr wäre: eine
“Transformation der Täter- in eine Opfergesellschaft” (Neue Zürcher Zeitung) oder eine
“Entlastung der Deutschen von ihrer Schuld” (SZ) will man in oder hinter den Werken
der genannten Autoren sehen. Der Spiegel resümiert:
“Tatsächlich hat es seit den Tagen der DDR keine derart ideologischen Gutachten über deutsche Literatur
gegeben.”
Es ist daher sicherlich sinnvoll, dieseits des Dogmas von der Kollektivschuld die
literarische Qualität von Schlinks Buch zur Grundlage eines Urteils zu machen, wenn
man nicht Hunderttausenden von Lesern in aller Welt dunkle Absichten der
Geschichtsrevision unterstellen will. Aus diesem Grund werde ich etwas mehr „mit dem
Buch in der Hand“ argumentieren, als dies normalerweise bei solchen Gelegenheiten
üblich ist.
Der Vorleser präsentiert eine ehemalige KZ-Aufseherin zwischen Strafverfolgung und
Liebesgeschichte. Er bringt damit nicht nur den Vorleser im Buch, sondern auch den
1
Leser des Buches in den moralischen Konflikt zwischen Verstehen und Verurteilen.
Diesen Konflikt möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Analyse machen.
Hermeneutik und Kritik sind zwei intellektuelle Grundeinstellungen, metaphorisch
könnte man sagen: zwei gegensätzliche Bewegungen des Geistes, die sich im Idealfall
ergänzen, aber in der Praxis oft schwer mit einander vereinbar sind. Die Hermeneutik,
also die Kunst des Verstehens, holt sich den Gegenstand des Verstehens möglichst nah
heran, sie zielt auf Empathie, auf Horizontverschmelzung, wohingegen die Kritik eine
Bewegung der Distanzierung ist. Die Hermeneutik wird in Deutschland vor allem im
Gefolge der Gadamerschule betrieben, die Kritik vor allem in der Form der
Ideologiekritik und in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.
Das Ziel der Hermeneutik ist Erkenntnis, sie will alles in seinem So-und-nicht-andersgeworden-Sein verstehen. Aufgrund dieser affirmativen Grundtendenz kann sie Gefahr
laufen, Verstehen mit Legitimieren oder Entschuldigen zu verwechseln. Auf der
anderen Seite ist das Ziel der Kritik, vor allem der Ideologiekritik, die ideologische
Demaskierung. Sie ist ein Erbe des Fortschrittglaubens und des Optimismus' der
Aufklärung und sie kritisiert, d.h. verneint das Bestehende mit dem Ziel der
Weltverbesserung. Ein Dialog zwischen Vertretern beider Richtungen könnte dem
Prolog von Goethes Faust ähneln:
„Kommst du nur ewig anzuklagen / Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?“ – „Nein Herr! Ich find es dort
wie immer, herzlich schlecht.“
Das erkenntnistheoretische Problem der Kritik ist ihre - in der Vergangenheit oft
marxistische - Parteilichkeit, d.h. der Standpunkt, von dem aus man kritisiert. Denn, hat
man keinen Standpunkt, dann handelt es sich nur um eine gehobene Form von Nörgelei,
hat man aber einen Standpunkt, dann gleicht der in der Regel dem blinden Fleck einer
Kritik, die jedes andere Bewusstsein richtet und verurteilt, ohne sich selber zu
hinterfragen. Ziel der Kritik sollte es sein, konstruktiv, nicht destruktiv zu operieren,
aber schon ein Blick auf ihre gängigen Attribute macht skeptisch: Kritik ist im
Deutschen „scharf“, „vernichtend“, „beißend“, „zersetzend“ und selten auch mal
„positiv“.
Die große Kunst, die Bewegung des Verstehens, d.h. des Annehmens und der Nähe zur
menschlichen Kreatur, und die Bewegung der Kritik, d.h. der Distanz und des
Verurteilens, zu vereinen, ist auch das poetologische Ideal von Bernhard Schlinks "Der
Vorleser" und vielleicht ein Schlüssel zu seinem Erfolg. Inwieweit er sich diesem Ideal
tatsächlich angenähert hat, sei zunächst dahingestellt. Die dramaturgische Bewegung
von Nähe und Distanz, nämlich durch die Liebesgeschichte Hanna Schmitz als eine
liebenswerte Person vorzustellen und durch den Prozess die KZ-Wächterin Hanna
Schmitz als verurteilenswerte Täterin anzuklagen, gehört jedenfalls zur Grundstruktur
des Buches.
Dass diese Bewegung nicht nach einem Schwarz-weiß-Schema, sondern durchaus
vielschichtig durchgeführt ist, spricht zunächst einmal für die literarische Qualität des
Buches. Hanna Schmitz ist nämlich nicht einfach eine attraktive, sympathische,
gutherzige Frau, die sich später als teuflische KZ-Wächterin entpuppt. Vielmehr fällt
die Identifikation mit ihr im 1. Teil des Buches so schwer, wie später, im 2. Teil, ihre
Verurteilung, denn es handelt sich im Grunde um einen dummen Menschen, der nicht
versteht und nur schwer in seinen Entscheidungen zu verstehen ist: sie gesteht eine Tat,
die sie nicht begangen hat, nur um das Geheimnis ihres Analphabetismus nicht
preiszugeben, sie glaubt mit 7000 Mark für eine Überlebende des Kirchenbrandes eine
Art Absolution zu erhalten, und nach verbüßter Haftstrafe erhängt sie sich. Schlink zeigt
2
ebenso die Grenzen und Ungewissheiten unserer Verstehensbemühungen, wie die
zweifelhaften Motive des Sich-Reinwaschens in unserem Drang nach Verurteilung.
Hätte es Schlink tatsächlich auf die "Kunst, Mitleid zu erzwingen" abgesehen, dann
hätte er sich stärker desjenigen Mittels bedient, das in der Literatur seit je her für die
Mobilisierung des Gemütshaushaltes zuständig ist, nämlich das Mittel des Kontrastes.
Stattdessen lernen wir Hanna Schmitz als eine egoistische 36-jährige Frau kennen, die
einen 15-jährigen Schüler verführt und von ihm mit "selbstverständlicher"
"Gründlichkeit" Besitz ergreift (33)1, sich nicht einmal Gedanken darüber macht, dass
er bei ihren Zusammenkünften gegen 12 Uhr mittags ja die Schule schwänzt, aber sich
ernsthaft aufregt, als sie dies erfährt, weil sie will, dass der von ihr sexuell dominierte
Knabe etwas Anständiges lernt und es einmal besser hat als sie. Sie hat keinerlei
Hemmungen, per Liebesentzug seine Unterwerfung zu erzwingen und reagiert auf
Unsicherheit mit Brutalität: bei einem Streit zieht sie dem Ich-Erzähler Michael Berg
einen schmalen Ledergürtel quer durchs Gesicht, dass ihm die Lippe platzt.
Nein, so gestaltet man keine Figur, mit der man Mitleid erregen will. Stattdessen schafft
es der Autor, diese Erinnerung an die eigene Pubertätszeit - nachträglich getrübt durch
das Wissen um die Vergangenheit der Exgeliebten - in einer unverklärten Poesie
darzustellen, wie man sie nicht alle Tage findet.
Bei einem Abendessen, kurz nachdem Michael sich verliebt hat, erscheinen die Wirren
der Pubertät als schmerzlicher Abschied von der Kindheit. Er vermisst einen Vater, der
sich mehr um die Familie gekümmert hätte, statt nur um die Universität. Wörtlich:
„Ich hätte gerne gehabt, dass wir, seine Familie, sein Leben gewesen wären. Manchmal hätte ich auch
meinen nörgelnden Bruder und meine freche kleine Schwester lieber anders gehabt. Aber an dem Abend
hatte ich sie alle plötzlich furchtbar lieb.“(31)
Es folgt eine Aufzählung der einzelnen Familienmitglieder, die zum ersten Mal
Verständnis für jeden einzelnen und seine Probleme aufbringt. Der Ich-Erzähler, der
eine Liebschaft zu einer mehr als doppelt so alten Frau verheimlicht, ahnt plötzlich, dass
vielleicht auch die anderen mit verborgenen Problemen zu kämpfen haben. Sein
sexuelles Erwachen wird von einem geistigen Reifeprozess begleitet:
„Ich war da und schon weg. Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern, und die
Sehnsucht, bei der Frau zu sein.“ (32)
Der Abschied schmerzt, aber ein neuer Zauber lockt und als der Vater ihn selber
entscheiden lässt, wann der von seiner Krankheit Genesende wieder zur Schule gehen
möchte, da fühlt er sich zum ersten Mal mündig, d.h. er lässt die Kindheit hinter sich:
„Ich war froh. Zugleich hatte ich das Gefühl, jetzt sei der Abschied vollzogen.“ (32)
Schlink stellt uns keineswegs eine herzergreifende Liebesgeschichte vor, etwa um
späteres Mitleid mit der Protagonistin vorzubereiten. Die dominierende Perspektive des
1. Teils ist vielmehr Michael Bergs Trauer um seine verlorene Unschuld, um ein
verlorenes und nie wieder erreichbares Glück. Wörtlich:
„Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke? (...) Ist es das Wissen, was danach kam
und dass danach nur ans Licht kam, was schon da war? Warum? Warum wird uns, was schön war, im
Rückblick dadurch brüchig, dass es hässliche Wahrheiten verbarg.“ (38)
1
Ich zitiere nach der 1. Auflage der Diogenes-Taschenbuch-Ausgabe, Zürich 1997.
3
Solche Sätze sprechen vielleicht die Lebenserfahrung einer ganzen Generation aus, die
ihre lebenshungrige und illusionsfrohe Kindheit in der NS-Zeit ohne Auschwitzbewusstsein verbrachte. Vielleicht liegt der Erfolg des Buches auch an seiner
Melancholie, die sich zwar anhand von Michael Bergs Erinnerungen an seine Pubertät
entfaltet, aber auf allgemeinere Erfahrungen verweist:
„In der Schule war ich nicht gut und nicht schlecht; ich glaube, viele Lehrer haben mich nicht recht
wahrgenommen und auch nicht die Schüler, die in der Klasse den Ton angaben. Ich mochte nicht, wie ich
aussah, wie ich mich anzog und bewegte, was ich zustande brachte und was ich galt. Aber wieviel
Energie war in mir, wieviel Vertrauen, eines Tages schön und klug, überlegen und bewundert zu sein,
wieviel Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen begegnet bin.
Ist es das, was mich traurig macht? Der Eifer und Glaube, der mich damals erfüllte und dem Leben ein
Versprechen entnahm, das es nie und nimmer halten konnte? Manchmal sehe ich in den Gesichtern von
Kindern und Teenagern denselben Eifer und Glauben, und ich sehe ihn mit derselben Traurigkeit, mit der
ich an mich zurückdenke. Ist diese Traurigkeit die Traurigkeit schlechthin?“(39)
Diese Traurigkeit ist nicht nur die über einen zerstörten Traum oder der Schmerz des
Verlustes, weil Hanna eines Tages ohne jede Vorankündigung verschwand. Es ist auch
die Traurigkeit über die Vergänglichkeit der Liebe und die Unzulänglichkeit des
Protagonisten selber. Denn noch bevor sie verschwindet, verrät er sie indem er sie
verschweigt und verheimlicht. Er tut dies im wachen Bewusstsein des Verrats, begleitet
vom Gefühl der Schuld. Es ist das, was er den „Gleitflug unserer Liebe“ nennt, es sind
die verlorenen Illusionen der ersten Liebe. Ich weiß, sagt der Ich-Erzähler,
„dass ich die Erinnerung an Hanna zwar verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte. Mich nach Hanna nie
mehr demütigen lassen und demütigen, nie mehr schuldig machen und schuldig fühlen, niemanden mehr
so lieben, dass ihn verlieren weh tut (…) ich präsentierte mich als einen, den nichts berührt, erschüttert,
verwirrt.“ „Freundschaften, Liebschaften und Trennungen fielen mir nicht schwer, nichts fiel mir schwer.
Alles fiel mir leicht, alles wog leicht.“(84)
Es wäre falsch, Hanna für Michael Bergs Folgeschäden nach seiner gescheiterten ersten
Liebe verantwortlich zu machen, aber die Erinnerungen an Hanna bleiben doch für ihn
prägend:
„Ich habe nie aufhören können, das Zusammensein mit Gertrud (seiner späteren Frau – B. Sp.) mit dem
Zusammensein mit Hanna zu vergleichen, und immer wieder hielten Gertrud und ich uns im Arm und
hatte ich das Gefühl, dass es nicht stimmt, dass sie sich falsch anfasst und anfühlt, dass sie falsch riecht
und schmeckt. Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren. Ich wollte von
Hanna frei sein. Aber das Gefühl, dass es nicht stimmt, hat sich nie verloren.“ (164f.)
Hanna ist zu Michael Bergs Lebensschicksal geworden, nicht im Sinne einer ersten
Ursache, die eine Kette von Reaktionen in Gang setzt – diese Rolle hätte jede mögliche
erste Frau im Leben Michael Bergs spielen können – sondern als ein Schatten, der – im
Prozess und danach - wiederkehrt, und der die ganze Erinnerung an die Pubertät in ein
neues Licht taucht, ein Schatten, der die Farben der eigenen Vergangenheit nachträglich
traurig verändert. Natürlich hat diese Geschichte eine besondere Parallele zur jüngeren
deutschen Vergangenheit und zur Lebenserfahrung einer ganzen Generation.
Bis hier ist es eine Geschichte voller Poesie und Symbolkraft, die sich leider am Ende
eine etwas schwache und überflüssige Legitimation verabreicht:
„Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem Kopf viele Male geschrieben … So gibt es neben der
Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr dafür, dass die geschriebene die richtige ist,
liegt darin, dass ich sie geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die geschriebene
Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen wollten es nicht.“ (205f.)
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Das vermag in der Tat kaum jemanden zu überzeugen, schon gar nicht in Bezug auf den
konfliktträchtigen 2. Teil der Geschichte.
„Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde
der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich den Staub
aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen. (…)
Auch wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Dass verurteilt werden müsse, stand für uns fest.
Ebenso fest stand für uns, dass es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ-Wächters
und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert
oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, stand vor Gericht.“ (87)
Das gilt natürlich nicht nur für die Juristen, sondern für die gesamte
Geschichtsschreibung seit dem Ende der 60er Jahre. Aber dieses „Aufarbeitung!
Aufarbeitung der Vergangenheit!“ bekommt nun bei Schlink einen doppelten Sinn:
einmal bezieht es sich auf die Aufarbeitung der NS-Geschichte in den 60er und 70er
Jahren, d.h. in den Jahren der erzählten Zeit, zum anderen auf die Aufarbeitung dieser
Geschichtsschreibung heute, in der Erzählzeit – und das ist es, was Schlink bzw. sein
Ich-Erzähler indirekt betreibt. Noch einmal: „wir setzten nicht auf juristische
Gelehrsamkeit. Dass verurteilt werden müsse, stand für uns fest.“
Was dies im Einzelfall heißt, zeigt der Fall Hanna Schmitz. Um auf die Dichotomie von
Hermeneutik und Kritik zurückzukommen: der Ich-Erzähler gehörte einer Zeit und einer
Generation an, die – vielleicht notwendigerweise – ganz auf Kritik und Verurteilung
setzte. Aber für Schlink bzw. für den Ich-Erzähler ist die Zeit gekommen, auch die
damit verbundene Einseitigkeit und Selbstgerechtigkeit – den blinden Fleck der Kritik
selber - in den Blick zu nehmen:
„Mein Vater wollte nicht über sich reden. Aber ich wusste, dass er seine Stelle als Dozent der Philosophie
wegen der Ankündigung einer Vorlesung über Spinoza verloren und sich und uns als Lektor eines
Verlags für Wanderkarten und -bücher durch den Krieg gebracht hatte. Wie kam ich dazu, ihn zu Scham
zu verurteilen? Aber ich tat es.“ (88)
Was der Opposition im deutschen Bundestag in den Jahren kurz vor und nach der
Jahrtausendwende aufgrund der Durchsichtigkeit ihrer Motive nicht gelungen ist,
nämlich die Verunglimpfung und Verdammung der 68-Generation anhand ihrer
führenden Vertreter - und das ist nichts anderes als die Repetition dessen, was diese
Generation mit der ihrer Eltern machte – das wird bei Schlink auf literarischem Gebiet
weitaus glaubwürdiger vollzogen, nämlich nicht als Abrechnung, sondern als
nachträglichen Durchschauen und Verstehen der Motive im Einzelfall:
„Zunächst machte ich mir vor, ich wolle nur den wissenschaftlichen oder auch den politischen und den
moralischen Eifer teilen. Aber ich wollte mehr, ich wollte das gemeinsame Eifern teilen. (…) Ich selbst
hatte (…) das gute Gefühl, dazuzugehören und mit mir und dem, was ich tat (…) im reinen zu sein.“ (89)
Die Selbstgerechtigkeit der Ankläger und ihre narzistischen Motive kommen ins Visier.
Dahinter könnte man die von konservativen Strategien inspirierte Frage vermuten: Darf
eine Generation, die Freiheit und Demokratie geschenkt bekam über eine richten, die
beides verspielte? Aber das sind Spekulationen, Unterstellungen. Der Erzähler geht so
weit nicht. Er ist vorsichtiger.
Zunächst: Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung setzen verstehen-wollen voraus. Alles verstehen-wollen heißt nicht alles-entschuldigen-müssen. Aber Verstehen bedeutet sehr
wohl, bei der Verurteilung auch den Aspekt der Notlage der Schuldig-Gewordenen in
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Betracht zu ziehen, was in der ebenso ernst gemeinten wie hilflosen Frage Hannas an
den Richter gipfelt: „Was hätten Sie denn gemacht?“ (107)
Diese Frage, die für Hanna essentiell ist, um ihre Schuld zu begreifen, muss sich
derjenige stellen lassen, der ihre Situation verstehen, ihre Schuld feststellen und Recht
sprechen will. Doch was ist Recht? Und was Gerechtigkeit?
An diesem Punkt gewinnt das Buch eine Vielschichtigkeit, angesichts derer der
Vorwurf es handele sich um ein schlechtes Buch“ doch sehr verwundert. Schlink, der
Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Bonn und für öffentliches Recht
und Rechtsphilosophie in Berlin sowie Richter des Verfassungsgerichtshofes in NRW
war, weiß natürlich sehr wohl um den Unterschied zwischen Gerechtigkeit – das ist eine
substantielle Angelegenheit – und Rechtssprechungsverfahren – das ist eine formale
Angelegenheit.
Vielleicht ist Gerechtigkeit ein Ideal, dessen Realisierung die menschlichen Kapazitäten
übersteigt, weil die Hermeneutik, das Verstehen- und Urteilen-Wollen hier auf das
gleiche Problem trifft wie die Kritik: die Begrenztheit des eigenen Sehepunktes, wie
man früher formulierte. Vielleicht sieht darum die christliche Religion zu wahrer
Gerechtigkeit nur eine einzige Instanz befähigt, nämlich Gott selber. Aber das entbindet
die Menschen nicht von der Aufgabe, nach diesem Ideal zu streben und sich um
Verständnis zu bemühen, denn ohne Verstehen ist keine Gerechtigkeit möglich. Die
Ermittlung der Schuld und die Festsetzung des Strafmaßes müssen den Weg nehmen
über das Verstehen der Handlungsmotivation, d.h. der Umstände, die einen Menschen
zu einer Tat bewogen haben.
Dass das Gericht damit nur allzu oft überfordert ist – zumal in einem Fall, in dem für
die Öffentlichkeit nicht eine Person, sondern eine Generation auf der Anklagebank sitzt
– weiß Schlink aus Erfahrung und er führt es uns im 2. Teil im Detail vor.
Ein Beispiel. Als Hanna, deren sorgsam gehütetes Geheimnis ihr Analphabetismus war,
im Herbst 1943, als sie bei Siemens arbeitete, eben dort eine Stelle als Vorarbeiterin
angeboten wurde, bei der Lesen und Schreiben erforderlich waren, ging bzw. floh sie
zur SS. Das heißt, sie ging nicht zur SS obwohl, sondern weil ihr bei Siemens eine Stelle
als Vorarbeiterin angeboten worden war. Vor Gericht stellt sich das so dar und man
achte vor allem auf den Verteidiger:
„Sie sind freiwillig zur SS gegangen?“
„Ja“
„Warum?“
Hanna antwortete nicht.
„Stimmt es, dass Sie zur SS gegangen sind, obwohl Ihnen bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin
angeboten worden war?“
Hannas Verteidiger sprang auf. „Was heißt hier ‚obwohl‘? Was soll die Unterstellung, eine Frau hätte
lieber bei Siemens Vorarbeiterin zu werden als zur SS zu gehen?“ (91f.)
Ohne es zu wissen, hat der Verteidiger Recht mit der Infragestellung des obwohl,
allerdings kommt es ihm darauf an, die SS in Schutz zu nehmen und das schadet
natürlich seiner Mandantin:
Es „blieb der Eindruck, dass sie es mit Bedacht und ohne Not getan hatte. Dass ein Beisitzer Hanna
fragte, was für eine Arbeit sie bei der SS erwartet habe, und dass Hanna erklärte, die SS habe bei
Siemens, aber auch in anderen Betrieben Frauen für den Einsatz im Wachdienst geworben, dafür habe sie
sich gemeldet und dafür sei sie eingestellt worden, änderte am negativen Eindruck nichts mehr.“(92)
So häufen sich die negativen Eindrücke, es kommt eine Verurteilung zustande, die
möglicherweise im Strafmaß gerecht, aber auf jeden Fall mit der Wahrheit nichts zu tun
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hat. Das 6. und 7. Kapitel des 2. Teils machen dann auch deutlich, dass es in der Tat
weniger um die Wahrheit geht als um Spielregeln, Strategien und Verfahrensfragen:
„Hanna wollte es richtig machen. Wo sie meinte, ihr geschehe Unrecht, widersprach sie, und gab zu, was
ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen wurde. (…) Aber sie merkte nicht, dass ihre
Beharrlichkeit den Vorsitzenden Richter ärgerte. Sie hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln,
nach denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich ihre Äußerungen und die der anderen zu
Schuld und Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten.“ (105)
Dieser Mangel und der Umstand, dass Hanna nicht lesen kann, sorgen dafür, dass der
Prozess immer ungünstiger für sie verläuft. Aber Schlink präsentiert Hanna keineswegs
als Justizopfer. Dass hieße in der Tat, aus Tätern Opfer machen. Ihr Analphabetismus
erweist sich vielmehr als eine geistige Beschränktheit, die moralische Konsequenzen
hat, indem sie die Grenze zwischen Pflichterfüllung und Verbrechen nicht einsieht und
Ordnung zum Selbstzweck macht:
„Hatten Sie Angst? Hatten Sie Angst, dass die Gefangenen Sie überwältigen würden?“
„Dass die Gefangenen uns … nein, aber wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das
hätte ein Durcheinander gegeben, mit dem wir nicht fertig geworden wären. Und wenn sie zu fliehen
versucht hätten …“
Wieder wartete der Vorsitzende, aber Hanna sprach den Satz nicht zu Ende. „Hatten Sie Angst, dass man
Sie im Fall der Flucht verhaften, verurteilen, erschießen würde?“
Diese Frage könnte Hanna zu ihrem Schutz bejahen, aber sie ist an der Wahrheit, an
ihrer Wahrheit interessiert und stellt sich damit selber bloß:
„Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können! Wir waren doch dafür verantwortlich … Ich
meine, wir hatten sie doch die ganze Zeit bewacht, im Lager und im Zug, das war doch der Sinn“. (122)
Abgesehen von einem elementaren Mangel an Mitleid mit den Gefangenen, die in einer
Kirche verbrannten, weil niemand ihnen die Tür öffnete, ist Hanna noch im Gericht
offensichtlich nicht zu einer einfachen Reflexion fähig: Der Sinn ihrer Aufgabe bestand
darin, die Gefangenen zu transportieren. Wenn sie entfliehen, haben die Wächterinnen
ihre Aufgabe ebenso wenig erfüllt, wie wenn sie sie verbrennen lassen, aber in letzterem
Fall laden sie eine weit größere Schuld auf sich, als die der Vernachlässigung ihrer
Aufsichtspflicht. Es sieht so aus, als sei Hanna mit solchen Überlegungen überfordert.
Sie hat ein simples Weltbild, in dem Sinn, Gehorsam und Pflichterfüllung zu
Synonymen werden. Nicht ihre Dummheit, sondern ihr Mangel an Mitgefühl, der ihre
intellektuellen Beschränkungen hätte korrigieren können, lässt sie schuldig werden.
Schließlich kommt die Frage, ob Hanna den Bericht der SS, auf den sich die Anklage
stützt, geschrieben habe. Eine Mitangeklagte beschuldigt sie dessen, Hanna streitet ab.
Der Staatsanwalt schlägt einen Schriftvergleich vor, bei dem Hannas Analphabetismus
ans Licht käme:
Dann sagt sie: „Sie brauchen keinen Sachverständigen zu holen. Ich gebe zu, dass ich den Bericht
geschrieben habe.“(124)
Der Leser fragt sich hier, ob Hanna aus Scham vor der Bloßstellung als Analphabetin
eine nicht begangene Tat zugibt und die Sühne deshalb auf sich nimmt, weil sie sich im
Grunde doch schuldig fühlt. Oder, fragt der Ich-Erzähler: „War sie einfach dumm?“
(128) Oder war sie eitel und ihre Selbstdarstelung war ihr die Gefängnisjahre wert? Der
Ich-Erzähler gibt Antwortversuche, versucht zu verstehen ohne zu entschuldigen, aber
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die Zweifel über ihre Motive bleiben bestehen. Der Ich-Erzähler präsentiert uns den Fall
Hannas, ohne letzte Klarheit über ihre Handlungsmotive zu gewinnen. Deutlich wird
eine diffuse Schuld, die Hanna auf sich zu nehmen scheint, aber wir wissen nicht, ob
ihre Ursache in Dummheit, Eitelkeit oder Bosheit zu suchen ist. Auch ihr törichter
Versuch der Sühne, sich mittels einer Summe von 7000 Mark die Absolution einer der
Überlebenden zu erkaufen und ihr Selbstmord bei Ablauf der Haftstrafe bleiben
Spekulationen ausgesetzt.
Gestaltet man so etwa eine Person, die Mitleid erheischen soll? Der Roman ist offenbar
vielschichtiger als die pseudomoralistische Debatte über ihn.
Die Fragen, die offen bleiben, verweisen uns letztlich auf die Grenzen unseres
Verstehens. Diese wiederum mahnen uns zur Vorsicht im Umgang mit verurteilender
Kritik. Lawrence Norfolk sieht in all dem allerdings nicht mehr als einen Bauerntrick:
Das Buch manipuliere „uns Leser an einem Punkt, wo wir Mitleid für ein Ungeheuer empfinden und
fordert uns dann heraus: Wagt ihr es, euch moralisch überlegen zu fühlen? Aber wer sind wir denn, dass
wir diese Frau verurteilen dürften? Wir haben den Vorteil, dass wir lesen können. Wenn sie nur auch
hätte lesen können, dann wäre nichts von all dem Schlimmen geschehen. Dieser verführerische Gedanke
spielt brillant-zynisch mit der liberalen Lieblingsvorstellung, dass eine gute Bildung den Menschen
moralisch besser macht.“ (SZ, 27./28. April 2002, S. 16)
Gegen diesen mit überlegener Rhetorik vorgetragenen Zynismusvorwurf bleibt mir
nicht viel mehr übrig, als an die weit schlichter daherkommenden Einsichten etwa des
Neuen Testaments zu erinnern. Da finde ich die Mahnung an die Selbstgerechten, die so
gern den ersten Stein werfen möchten, und ich halte diesen Gedanken weder für
neofaschistisch und noch für „brillant-zynisch“. Ich halte zum andern die im Buch
vorgestellte Hanna Schmitz auch nicht für „ein Ungeheuer“. Aber selbst wenn sie es
wäre, so wäre doch gerade ein solcher Fall der Prüfstein für unsere Fähigkeit zur
Empathie. Und dass dies nicht einfach fällt, macht erneut für jeden sichtbar, dass es in
dem Buch nicht um die Kunst geht, Mitleid mit den Tätern zu provozieren.
Stattdessen geht es um Schuld, um das Verstehen als Voraussetzung für das Verurteilen
und um Sühne. Hanna Schmitz begreift ihre Schuld während des Prozesses – wenn auch
nicht im Sinne der Anklage - und ist bereit zur Sühne. Aber Schuld und Sühne liegen
auf einer anderen Ebene als Strafbarkeit und Strafmaß. Letztere werden öffentlich und
formal durch das Recht und einen Strafprozess bestimmt, wohingegen Schuld und
Sühne auf einer personalen Ebene durch Gerechtigkeit und Gewissen ermittelt werden.
In diesem Bereich hat die christliche Vorstellungswelt für den Schuldig-Gewordenen
die Idee der göttlichen Gnade entwickelt, und auf menschlicher Ebene die fast
übermenschliche Herausforderung des Verzeihens. Beide sind ohne Empathie und
Mitleid nicht denkbar und ich sehe nichts Zynisches darin, wenn ein Buch anhand eines
schwierigen Falles zu Reflexionen über dieses Thema einlädt.
Gegen Ende des Buches sagt Hanna:
„Ich hatte immer das Gefühl, dass mich ohnehin keiner versteht, dass keiner weiß, wer ich bin und was
mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner
Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die
Toten können es. (...) Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte, oder nicht. Vor dem Prozess habe
ich sie, wenn sie kommen wollten, noch verscheuchen können.“ (187)
Hanna hat gelernt und verstanden. Sie hat auch lesen und schreiben gelernt und damit
„den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan“ (178). Natürlich ist sie damit
kein besserer Mensch geworden. Moral hängt nicht von der Bildung ab. Aber
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literarische Bildung hilft, die menschliche Existenz in ihrer ganzen Abgründigkeit zu
verstehen und eine tiefere Menschlichkeit in uns reifen zu lassen. Das ist keine „liberale
Lieblingsvorstellung“, sondern eine abendländische Überzeugung, die wir schon bei
Aristoteles und noch bei Lessing und Schiller finden. Ich denke, wir tun gut daran, sie
nicht der erstbesten Spottlust preiszugeben und ein wenig mehr auf die Kraft des
geschriebenen Wortes zu vertrauen, denn der Sinn von literarischen Texten ist homolog
zum Sinn von Existenz.
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