Der Vorleser von Bernhard Schlink beschäftigt sich mit dem Uralten
Transcription
Der Vorleser von Bernhard Schlink beschäftigt sich mit dem Uralten
Der Vorleser von Bernhard Schlink beschäftigt sich mit dem Uralten Thema der Schuld. Von der Ausspruch des Erretters, „Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht“ zu Kuzcos schamlosen Handlungen in Ein Königreich für ein Llama, wird die Frage immer wieder gestellt: wie geht man mit der Schuld um? Hier ist nicht die buchstäbliche Bedeutung der Schuld gemeint, worin man eine Tat begangen hat, die gegen die Gesetze einer Gesellschaft ist. Auch nicht ist die juristische Bedeutung gemeint, nämlich, dass man als schuldig von einem Tribunal gefunden wird. Hier hat es mit dem Gewissen zu tun. Wenn man gegen sein inneres Gefühl von Recht und Unrecht handelt, ist man schuldig. Der Holocaust, der oft als die böseste Tat der Menschheit betrachtet wird, erwacht viele Fragen über die Schuld. Können solche Taten je vergeben werden? Wie geht ein ganzes Volk mit der Schuld um? Wie reagiert die Welt zu solchen Schuld? Und im Allgemein, wie geht man mit der Schuld um? Der Erzähler, Michael Berg, stellt selbst die Frage: „Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen?“ [99]. Das ganze Buch hindurch ringt Michael mit der Schuld, und er geht durch drei Phasen oder Reaktionen: die Betäubung, der Flucht und die Anerkennung. Die Betäubung kann nicht für immer dauern, man kann nur so viele Male fliehen, und am Ende ist nur die Akzeptanz der richtige Weg mit der Schuld umzugehen. Diese Methode des Umgehens sind nicht Rechtfertigungen, sondern Gehilfen, mit der Schuld zu leben. Sie versuchen nicht die Schuld zu verniedlichen, sondern erträglich zu machen. Die Betäubung fängt in bei dem Prozess an. Als Michael mit den entsetzlichen Fakten, die Hanna und die andere Aufseherinnen begangen hatten, reagiert er nicht scharf drauf. Es gibt keine Überraschung, keine Tränen—kein Gefühl. „Ich fühlte nichts“ sagt Michael [96]. Genau wie ein Arzt seine Patienten betäubt vor einer Operation, wird Michael betäubt als er das Verfahren von Kriegsverbrecher erfährt. Statt die Nerven abzuschalten, schaltet diese Betäubung das Gewissen ab— nicht dass man schamlos Verbrechen begeht, sondern dass man die Schuld der Vergangenheit überleben kann. Michael stellt die Frage: „Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht aushalten hätte?“ [97]. Die Betäubung fasst Michaels ganzes Leben um: „Die Betäubung wirkte nicht nur im Gerichtssaal… Ich stand auch bei allen anderen neben mir und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit Eltern und Geschwistern, mit den Freunden funktionieren, war aber innerlich nicht beteiligt“ [97]. Gleich wie die Spritze beim Zahnarzt eine Stunde nachher noch am Wirken ist, ist Michaels Arbeit und Familienleben auch von der Betäubung berührt. Selbst die Sprache vermittelt die Betäubung. In einer Szene im Gerichtssaal kommt es zum Vorschein, dass Hanna verursacht die Kinder im KZ-Lager ihr vorzulesen. Diese Information, die eigentlich Neugier oder Verständnis oder auch Erschrecken in Michael erwecken soll, wird nicht so von Michael empfangen—oder wenigstens wird die Reaktion nicht so in der Text beschrieben: Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand mich sofort, und so merkte ich, dass sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass ich da war. Sie sah mich einfach an. Ihr Gesicht bat um nichts, warb um nichts, versicherte oder versprach nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte Ringe und den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war, sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich wieder der Gerichtsbank zu [112]. Zwar gibt es eine sehr ausführliche Beschreibung von Hanna, aber es gibt keine Ahnung darüber, was Michael sich fühlt. Die Überraschung, die der Leser erfährt, wird nicht vom Text wiederspiegelt. Die Ereignisse wird in derselben Ton berichtet, mit der er den Tod von Hanna berichtet. Noch eine Methode auf der Ebene der Text ist die abrupte Einleitungen zu jeder Kapitel. „Am nächsten Tag war sie weg“ [79] oder „Am nächsten Morgen war Hanna tot“ [192]. Die überraschendste von Plotwendungen werden einfach bekannt gegeben ohne irgendwelche Milderungen. Der Effekt an der Leser ist Atemlosigkeit. Wie kann Michael einfach ohne Emotion, ohne Gefühl, diese Ereignisse berichten? Das ist die Betäubung. Michaels Behauptung, dass er nichts fühlt, kommt durch den Text. Kann es so heiß sein, dass es kalt wird? Kann man so glücklich sein, dass man weint? Auch so kann man so viel erfahren, dass man nichts mehr fühlt. Michael sagt, „Wir sollen nicht meine, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergreiflich ist“ [99]. In Effekt, seine Betäubung ist nicht eine Akt, die das Leiden spottet, sondern verehrt. Michael erkannt die schwerwiegende Verbrechen, wofür sein Volk verantwortlich ist. Er erkannt die endlose Schuld, die sie tragen. Irgendwelche Erwartungen eines Tages vergeben zu werden wurde den Ernst verniedlichen. Die Betäubung versucht nicht von der Schuld loszuwerden, auch nicht leidlich zu machen; sie versucht es einem zu ermöglichen, noch zu Leben mit so schwer einem Gewicht. Michael erklärt: „Ich nahm alles wahr und fühlte nichts… Ich spürte, wie sich die Betäubung, unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte… Aber ich empfand, dass es richtig war. Dass es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren und in ihm weiterzuleben“ [155]. Noch eine Ausarbeitung der Schuld ist die Flucht. Michaels Flucht fängt schon vor dem KZ Prozess an. Michaels beschriebt seine erste Flucht so: „Dann habe ich begonnen, sie zu verraten“ [72]. Wie hat Michael Hanna verriet? Hanna ist weggelaufen, und nicht Michael. In allen Streiten mit Hanna, in allen Schwierigkeiten, kam Michael zu Hanna immer wieder zurück. Der Verrat funktioniert so: „Ich wusste, dass ich Hanna verriet, wenn ich tat, als ließe ich die Freunde wissen, was in meinem Leben wichtig war, und über Hanna schwieg“ [73]. Diese Flucht bedeutet nicht wegzulaufen. Es ist nicht ein Versprechen zu brechen. Auch ist es nicht eine direkte Lüge, wenn man eine Tatsache verleugnet. Diese Flucht bedeutet nichts zu sagen. Eine Freundin stellt die Frage: „Möchtest du nicht darüber reden, oder möchtest du eigentlich schon und weiß nicht, wie?“ [74]. Auch diese Frage antwortet er nicht. Die Flucht ist eine passive Reaktion zur Schuld, aber auch die Unentschiedenheit trägt Konsequenzen. Die Flucht hat zwei Ebene der Bedeutung: die Flucht von Hanna selbst und die Flucht von das, was Hanna repräsentiert, die Verbrechen des Weltkriegs. Michael fasst seine Muster der Flucht zusammen: „Der erste Flucht folgte die nächste“ [172]. In der Prozess wird Michael mit einer moralischen Frage konfrontiert: er weiß, dass Hanna eine Analphabeterin ist, und dieser Fakt würde viele ihre Strafverfolgungen entgelten. Ihre Strafe würde leichter, wenn die Wahrheit präsentiert wäre. Soll er etwas sagen, auch wenn Hanna für sich selbst dagegen entschieden hat? Er weiß schon, was er tun soll. Aber in noch eine Tat der Flucht, geht er zu seinem Vater, einem Philosophen, in der Hoffnung, einen Ausweg zu finden. Er sagt zu seinem Vater: „Na ja, ich wusste nicht, ob man in der Situation, die ich beschrieben habe, handeln muss, und war eigentlich nicht glücklich mit der Vorstellung, dass man handeln muss, und wenn man nun gar nicht handeln darf—ich finde das…“ [137]. Aber auch die Philosophie gibt keine Rechtfertigungen. Sein Vater gibt seine endgültige Antwort: „Wenn man weiß, was für den anderen gut ist und dass er die Augen davor verschließt, muss man versuchen, ihm die Augen zu öffnen“ [137]. Jetzt mit der Philosophie und sein Gewissen im Einklang, flieht er wieder; er macht nichts. Er spricht zwar mit dem Richter, aber er kommt nie dazu. Wenn Michael bekennt, dass er eine Beziehung mit Hanna hatte, dann würde all wissen, dass er eine Verbrecherin liebte. Nichts zu tun ist der Ausweg. Michaels Geschichte ist eine Folge von Flüchten. Als er einen alten Studentenbekannten bei einem Begräbnis begegnet, wird er gefragt: „Und was war jetzt mit dir und der Angeklagten?“ [170]. Statt zu antworten, rannte [er] los, als könne [er] aufs Trittbrett springen, und rannte neben der Bahn her und schlug mit der flachen Hand an die Tür“ [170]. Wenn er fängt an, eine Beruf zu wählen, wählt er gegen Anklagen und Verteidigen und Richten, und entscheidet sich dafür an der Universität zu arbeiten. „Gertrud sagte, das sei eine Flucht, eine Flucht von der Herausforderung und Verantwortung des Lebens, und sie hatte recht“ [172]. Er liest Bücher vor, und macht Kassetten für Hanna, aber nie schreibt er ihr einen Brief. Nie gibt er ihr seine eigenen Worte. Und wenn die Zeit kommt, um sie vom Gefängnis abzuholen, schiebt er den Besuch immer wieder auf. Er sagt: „Ich hatte das Gefühl, sie könne, was sie mir war, nur in der realen Distanz sein. Ich hatte Angst, die kleine, leichte, geborgene Welt der Grüße und Kassetten sei zu künstlich und zu verletzlich, als dass sie die reale Nähe aushalten könnte“ [183]. Am Ende versagt die Flucht der Schuld zu entkommen. Hanna begeht Selbstmord. Ob seine Aktionen der Grund für ihren Tot war oder nicht, werden seine Schuldgefühle noch stärker. Als ob sie ihn anklagt, fragt die Leiterin des Gefängnisses ihm: „Warum haben Sie nie geschrieben?“ [195]. Hanna hatte ein Bild von ihm in ihrem Zimmer. Sie lernte das Lesen von seinen Kassetten. Diese tragen noch zu seiner Schuld. „Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich bin“ [205]. Am Ende kann man nur so lange fliehen. Die Betäubung und die Flucht reichen nicht aus. Am Ende kann der Schuld nur akzeptiert werden, ohne Auswege und ohne Erleichterungen. Michaels Buch selbst ist eine Form der Akzeptanz: „Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die Erinnerungen nicht eingestellt… Sie ist zurückgekommen, Detail um Detail und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, dass sie mich nicht mehr traurig macht… Ich denke, dass sie stimmt und dass daneben „die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist, keinerlei Bedeutung hat“ [206]. In diesem Sinn funktioniert die Schuld wie die Trauer. In der Trauerzeit ist die Schmerz fast unerträglich, aber nach einer Zeit akzeptiert man den Verlust. Immer noch gibt’s eine Lücke, aber jetzt kann man weiterleben. Mit der Schuld muss man zum Punkt kommen, wo man akzeptieren kann. Dieser Punkt kommt zum Schein, wenn Michael mit der überlebenden Tochter es KZ Lagers spricht. Er bringt Hannas Geld. Die Tochter reagiert ganz scharf drauf: „Und Frau Schmitz damit die Absolution geben?“ Michael antwortet: „Können Sie ihr nicht die Anerkennung ohne die Absolution geben?“ [201]. Hier ist die Aktion hauptsächlich die Tochter. Die Tochter lebt weiter trotz der vielen Ungerechtigkeiten in ihr leben. Aber auch Michael akzeptiert seine Schuld. Er akzeptiert, dass Vergeben nicht kommen wird. Das ist noch zu sehen, als hier zum ersten Mal im Buch, bekennt er seine Beziehung mit Hanna. Die Betäubung ist vorüber. Er flieht nicht mehr. Michael nimmt sein Los. Er drückt es so aus: „Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat—es ist nun eben mein Leben geworden“ [205]. Es ist eine Tugend Schmerz mit Geduld zu nehmen. Aber genauso wichtig ist es die Schuld geduldig zu akzeptieren, wenn man der Täter ist. Jeder kommt zu einem Punkt im Leben, wenn man schuldig ist. Wie geht man mit der Schuld um? Das ist nicht eine Rechtfertigung des Täters, sondern eine reife Reaktion der Verantwortung.