Schritt zurück ins Leben - Deutsches Bündnis gegen Depression eV

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Schritt zurück ins Leben - Deutsches Bündnis gegen Depression eV
Donnerstag
MANNHEIMER
WELT UND WISSEN
10. SEPTEMBER 2015
MORGEN
3
Hilfe: Am heutigen Welt-Suizid-Präventionstag wollen Experten aufklären: Mehr als 100 000 Menschen versuchen jährlich, sich selbst zu töten – obwohl den meisten eine Therapie helfen könnte
ZUM THEMA
Schritt zurück
ins Leben
Suizidalität –
Zahlen und Fakten
BILD: THINKSTOCK
Von unserem Redaktionsmitglied
Laura Schlegel
M
it 17 Jahren kam bei
Dominik
Schmidt
(Name von der Redaktion geändert) zum ersten Mal der Gedanke, dass er vielleicht nicht mehr leben will. „Das
kam fast vom einen Tag auf den
anderen“, erzählt der heute 24-Jährige. Der junge Mann mit den rotblonden Haaren sitzt in einem Café,
die Arme auf dem Tisch abgestützt,
dreht er sein Feuerzeug zwischen
den Fingern. Er spricht leise, aber so
deutlich, dass man jedes Wort versteht: „Ich wusste, dass ich krank
bin.“ Schmidts Krankheit tritt in seiner Familie gehäuft auf. Zwei Angehörige haben sich ihretwegen
bereits das Leben genommen.
Schmidts Krankheit, das ist die bipolare Störung, er ist manisch-depressiv. Betroffene durchleben Phasen: Mal sind sie himmelhoch jauchzend, mal am Boden zerstört. „Diese
Phasen sind bei jedem unterschiedlich lang“, erklärt Hajo Hanson. Er ist
Leiter zweier Selbsthilfegruppen für
Manisch-Depressive. „In Extremfällen wechselt das mehrmals am Tag.
Mitunter kann eine depressive Phase auch ein Jahr andauern.“ Neben
Depression und Suchterkrankungen
ist die bipolare Störung eine der seelischen Krankheiten, die nicht selten
zu Suizidalität – also dem Wunsch,
sich selbst zu töten – führen können.
Die Krankheit ist nicht heil-, aber behandelbar. Hanson weiß: „Es geht
auch darum, die richtige Medikamentenmischung zu finden.“
Der 17-jährige Schmidt hat sich
schon nach einer Woche seinen Eltern anvertraut. Schließlich wusste
Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland etwa 10 000 Menschen
das Leben. Das sind mehr als alle Verkehrs-, Drogenund Mordopfer zusammen. Einer,
der die Kurve gekriegt hat, erzählt seine Geschichte.
er, welche Folgen seine Familienkrankheit haben kann. Was folgte,
war ein Klinikaufenthalt – der erste
von vier. „Es war absolut furchtbar“,
erinnert sich der heute 24-Jährige. In
einer psychiatrischen Station für Jugendliche am Heidelberger Uniklinikum bekam er eine Psychose –
wohl aufgrund für ihn falsch kombinierter Medikamente. Er glaubte,
Menschen würden versuchen, von
der Baustelle gegenüber einen Tunnel in sein Zimmer zu graben.
Suizidalität
쮿 Suizidalität ist der Wunsch,
das Leben aus eigenen Stücken zu
beenden. Sie ist meist einhergehend
mit seelischen Krankheiten.
쮿 Oft werden vier Stufen durchlau-
fen: Todesfantasien, Pläne, konkrete
Vorbereitung und Suizidhandlung.
Ambivalenz und Entscheidung wechseln sich ab.
Freunde auf der Station
„Der Weg raus war hart erkämpft“,
sagt Schmidt. Danach konnte er seine Ausbildung als Kfz-Mechaniker
beenden. Doch später musste er
wieder in eine Klinik, diesmal ins
Psychiatrische Zentrum Nordbaden
(PZN) in Wiesloch. Dort fand sich
Schmidt schneller zurecht: „Ich kam
an einem Donnerstag, am Freitag
ging ich mit einem Mitpatienten joggen. Alles war unkomplizierter. Da
entstehen Freundschaften.“
Freunde auf Station kann man
nicht nur in Wiesloch finden. Susanne Christ, Schwester und Stationsleiterin am Pfalzklinikum in Klingenmünster, hat Ähnliches erlebt. „Wir
haben sogar ein Patenprogramm
entwickelt“, berichtet sie. „Ein Patient, der schon länger da ist, nimmt
einen neuen an die Hand und zeigt
ihm die Abläufe. Das klappt gut“.
Über die Jahre sind der Schwester
Veränderungen aufgefallen. „Heute
haben wir eine lange Warteliste, wer
zu uns in Behandlung kann. Das war
nicht immer so.“ Sie schätzt, das hat
zwei Gründe: Mehr Menschen trauten sich in Behandlung und es gebe
mehr Druck in der Arbeitswelt.
Nach zwei Monaten konnte
Schmidt seinen zweiten Klinikaufenthalt beenden und fand einen Job
bei einer Carsharing-Firma. „Alles,
was ich anfasste, klappte. Oder zumindest habe ich die Fehler schnell
übersehen können“, spricht er von
den nächsten Monaten. Im Nachhinein weiß er: Es war ein Überhoch,
eine manische Phase.
Für die Firma mit dem Auto unterwegs, passierte das, was Schmidt
heute noch beschäftigt: Er fuhr eine
Fahrradfahrerin an. „Zum Glück
hatte sie nur Schürfwunden“, fügt er
schnell hinzu. Doch es brauchte fast
einen quälenden Tag, bis er nach
dem Unfall diese Auskunft bekam.
Schmidt fühlte sich wieder verfolgt
und stürzte in ein Loch, aus dem er
Monate später nur noch einen Ausweg sah: Er schluckte die zehnfache
Dosis seiner Medikamente. Er wollte
sterben. Diesmal wirklich.
Nachts soll er laut um Hilfe gerufen haben – Schmidt erinnert sich
nicht. Seine Mutter holte den Krankenwagen. Sie, die einzig seelisch
Gesunde im engen Familienkreis.
(„Mama, der Fels in der Brandung.“)
Früher benutzte man neben Suizid zwei weitere Worte, für das, was
Schmidt an diesem Abend versucht
hat: Selbstmord und Freitod. Dass
Suizid kein Verbrechen, kein SelbstMORD ist, leuchtet in einer freien
Gesellschaft heute ein. Der Begriff
Freitod ist umstrittener. Hat ein
Mensch nicht das Recht, eine freie
Abwägung zu treffen, Gutes gegen
Schlechtes im eigenen Leben? Und
die „Konsequenz“ zu ziehen?
Olivier Elmer, psychologischer
Psychotherapeut und Projektleiter
im PZN, möchte diese theoretische
Überlegung nicht komplett abstreiten, „doch es entspricht nicht dem,
was ich als Therapeut erlebe. Die
Frage ist, ob die erkrankten Menschen so frei entscheiden können.“
In neun von zehn Fällen geht Suizidalität mit einer seelischen Erkrankung einher. „Nach erfolgreicher Behandlung spüren die Betroffenen
nicht mehr den Wunsch, sich selbst
zu töten.“ Dafür, dass sich dieses
Wissen um die Behandelbarkeit von
Suizidalität verbreitet, kämpft Elmer. Er ist Sprecher des Bündnisses
gegen Depression Rhein-Neckar
Süd, das sich Aufklärung der Öffentlichkeit, der Hausärzte und Lehrer
auf die Fahnen geschrieben hat.
„Gut, dass du versagt hast!“, begrüßt ein alter Freund Schmidt. Der
kann lachen, wenn er von diesem
Freund erzählt. Denn er hat nicht
aufgeben – doch nicht. Es folgten
zwei Jahre voller Fragen und Zweifel:
Wie viele Medikamente tun mir gut?
Soll ich eine neue Ausbildung beginnen? Möchte ich jemals wieder autofahren? Schmidt hat Antworten gefunden: „Ich nehme heute nur noch
ein Medikament. Außerdem habe
ich für mich beschlossen: Seit dem
Unfall ist Autofahren schwierig –
und ich muss es auch nicht.“ Statt
Kfz-Mechaniker zu sein, möchte er
Autos den Rücken zukehren und
Fachinformatiker werden. Einen
Platz an der SRH-Hochschule hat er
in Aussicht. Um sich vorzubereiten,
hat er einen freiwilligen Monat in der
Klinik verbracht („Um die grauen
Zellen wieder in Schwung zu bringen“). Zudem bewirbt er sich um ein
Praktikum und hilft beim Technischen Hilfswerk, die Jagst zu retten.
Schmidt blickt optimistisch in die
Zukunft. Er ist in ambulanter Behandlung und symptomfrei. „Es ist
sehr unwahrscheinlich, dass ich nie
mehr eine Krankheitsphase haben
werde“, sagt er mit klarer Stimme.
„Ich rechne eben damit, dass ich immer auf mich achten muss.“
w
Weiterer Bericht unter
morgenweb.de/wuw
쮿 Gründe: Bei 40 bis 70 Prozent
der Menschen, die sich das Leben
nehmen wollen, gilt Depression
als Ursache – an den auseinanderklaffenden Zahlen ist die Uneinigkeit der Experten zu sehen.
Auch andere seelische Erkrankungen können Ursache sein.
쮿 Tendenz: Die Suizidrate in
Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren um mehr als
30 Prozent gesunken. Gleichzeitig begeben sich mehr Menschen
in Behandlung.
쮿 Geschlecht: Mehr Frauen als
Männer wollen sich das Leben
nehmen – doch bei mehr Männern führt der Versuch zum Tod.
Noch ist sich die Forschung nicht
einig darüber, ob diese Zahlen
mit angelerntem, angeborenem
oder hormonellem Verhalten zu
erklären sind. „Oft wird behauptet, Frauen wollen nur um Hilfe
rufen und gar nicht wirklich ihr
Leben beenden. Das stimmt
nicht“, klärt Olivier Elmer vom
Psychiatrische Zentrum Nordbaden (PZN) einen Mythos auf.
Frauen griffen nur oft zu anderen
Methoden, nähmen eher Tabletten. Wenn sie rechtzeitig gefunden werden, heiße das nicht, dass
sie gerettet werden wollen.
쮿 Alter: Die Suizidrate steigt mit
den Jahren, ist bei den über 84Jährigen am höchsten. Das könnte an Depressionen nach Verlusten liegen: des Partners, der Wohnung, der Leistungsfähigkeit.
쮿 Arbeit: Der Verlust des Jobs gilt
als Risikofaktor für Depressionen,
ebenso Stress und Mobbing. las
ZITAT
„Der Therapeut
muss der Anker
sein. Er gibt
stellvertretend
Hoffnung, ohne
zu behaupten,
dass die Welt da
draußen nur schön ist.“
OLIVIER ELMER, 54, PSYCHOLOGISCHER
PSYCHOTHERAPEUT AM PZN. (BILD: LAS)
Kinder haben
Depressionen
Kinder können depressiv sein.
Der Kinderpsychologe Norbert
Kohl berichtet, vor wenigen Jahren habe sich ein zwölfjähriges
Kind bei Darmstadt das Leben
genommen. Beim Projekt ANNA
(Alles – nur nicht aufgeben) der
Kinderklinik Darmstadt berät
Kohl junge Menschen auf der Suche nach dem Sinn. Mehr als mit
Kindern hat Kohl mit Jugendlichen zu tun. „Die meisten sind 13
bis 19“, sagt er. „Oft geht es um
Liebeskummer oder Mobbing.
Aber auch um sexuellen Missbrauch.“ Die Suizidversuchsrate
ist in keiner Gruppe höher als bei
15- bis 19-jährigen Frauen. las
Interview: Sylvia Claus, Chefärztin für Psychiatrie am Pfalzklinikum, erzählt, wie Angehörige helfen können, wer suizidgefährdet ist und wie hoch die Heilungschancen sind
„Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht Gott sind“
Sylvia Claus hilft Suizidalen aus ihrer
Krise heraus. Seit 2011 ist sie Chefärztin einer Klinik in der Pfalz.
Frau Dr. Claus, woran sehe ich,
dass ein Angehöriger suizidgefährdet ist?
Sylvia Claus: Das ist nicht einfach.
Die Menschen tragen ja keinen Gips
oder ähnliche äußere Merkmale.
Was man bei vielen aber sieht, ist,
dass es ihnen seit längerem
schlechtgeht. Häufig haben sie Gewicht verloren. Den Betroffenen
fehlt es an Kraft für die Körperpflege,
manche hören etwa auf zu duschen.
Man kann also nicht direkt sehen,
wenn jemand die Absicht hat, sich
selbst zu töten?
Claus: Richtig, aber man kann Dinge
hören: Die Betroffenen sprechen
wenig, haben häufig eine sehr pessi-
mistische Sicht auf sich, die Umwelt
und die Zukunft. Hinzu kommen
Todesfantasien, die sie oft auch aussprechen: „Ich muss endgültig zur
Ruhe kommen.“ Bei solchen Andeutungen sollte man hellhörig werden.
Auch wenn der andere das in ironischem Ton sagt?
Claus: Ja, in Verbindung mit Merkmalen wie Gewichtsverlust sollte
man solche Aussagen trotzdem
ernst nehmen. Es gibt weitere Hinweise: Manche ziehen sich zurück,
gehen nicht aus der Wohnung, nehmen das Telefon nicht mehr ab, lesen ihre Post nicht. Vor der Beendigung des Lebens gibt es sehr oft eine
Verabschiedung aus dem Leben.
Wenn mich diese Anzeichen aufhorchen lassen, was kann ich als
Angehöriger tun?
Sylvia Claus
쮿 Dr. Sylvia Claus ist
Chefärztin der Klinik
für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Klingenmünster des Pfalzklinikums.
쮿 Die 50-Jährige hat u.a. einen Facharzt in Neurologie und Psychiatrie.
Claus: Wichtig ist, das Problem anzusprechen: „Ich mache mir Sorgen
um dich.“ Angehörige sollten die
Ängste der Betroffenen nicht abtun,
sondern ernst nehmen. Eine wichtige Aufgabe der Angehörigen ist
auch, professionelle Hilfe zu holen.
Der erste Ansprechpartner ist der
Hausarzt, aber auch der niedergelas-
sene Psychiater und Psychotherapeut. Zudem gibt es Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Telefonseelsorge,
sozialpsychiatrische
Dienste – und letztlich Kliniken.
Kann das jedem passieren?
Claus: Nicht jeder Mensch wird suizidal unter Belastung. Der Wunsch,
sich selbst zu töten, ist bei neun von
zehn Betroffenen ein Symptom einer schweren seelischen behandelbaren Krankheit wie Depression
oder Suchterkrankung. Dennoch
können auch gesunde Menschen
unter starken Belastungen in eine
suizidale Krise rutschen. Dabei
spielt häufig Kränkung und Entwertung eine Rolle: etwa weil dem Betroffenen gekündigt wurde, weil es
Zurückweisungen in der Ehe gibt,
oder weil der Chef die eigene Leistung nicht anerkennt.
Wie hoch ist die Chance auf Heilung mit einer Therapie?
Claus: Da seelische Krankheiten behandelbar sind, ist das die Regel. Das
vermitteln wir auch: „Es ist ganz normal, dass Sie diese Gedanken haben,
es ist ein Symptom Ihrer Erkrankung. Das kann man behandeln, das
geht auch wieder weg.“
Haben Sie trotz aller Professionalität manchmal Probleme, Fälle zu
verarbeiten – besonders wenn sich
ein Patient das Leben nimmt?
Claus: Na klar. Das ist die größte Herausforderung. Wir brauchen hinterher den Austausch im Team.
Worauf kommt es dann an?
Claus: Dass wir uns mit allem Engagement um die Betroffenen kümmern und gleichzeitig akzeptieren,
dass wir nicht Gott sind.
las
Niemand muss
alleine bleiben
Hier finden Sie Ansprechpartner:
쮿 Beratung: Johannes-Diakonie
Mosbach, 06261 / 88 300. Sozialpsychiatr. Dienst Tauberbischofsheim, 09341 / 82-5579.
쮿 Kliniken: Pfalzklinikum, 06349
900-2020. PZN, 06222 / 55 0. ZI in
Mannheim, Tel.: 0621 1703-2150.
쮿 Selbsthilfegruppen: www.aktiv-trotz-depression.de. Heidelberger Selbsth.: 06221/ 18 42 90.
쮿 Für Angehörige nach Suizid:
Überregionales Bündnis AGUS,
Gruppen in über 30 Städten, Tel.
0921/1500380.
Außerdem:
www.lebens-wege.de
쮿 Für Jugendliche und Kinder:
ANNA (Alles – nur nicht aufgeben), Tel. 0800/6688100.
las
w
Listen nach Regionen: www.
buendnis-depression.de