19. Typo Berlin

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19. Typo Berlin
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«Mann trifft Frau» –
Yang Liu seziert in
ihrem neuen Buch
alte und neue
Rollenbilder.
Wurzelwerk und Steine
Geschriebene und am Computer gebaute Schrift, klassische
Typografie und Bauhaus-Moderne – die 19. Typo Berlin stand unter
dem Motto «Roots». Über 70 Referenten setzten sich mit ihren
Wurzeln auseinander und präsentierten den knapp 2000 Teilnehmern
die Ergebnisse. In vielen Workshops gab es zudem Gelegenheit,
mit Feder und Stift selbst aktiv zu werden. Darüber hinaus feierte
der Veranstalter Fontshop mit Lotterie, Freibier und Musik seinen
25. Geburtstag. Steve Jobs war ein Stein-Stratege. Der Ap­pleGründer hatte nämlich nicht nur visionäres
Gespür, er beherrschte vielmehr auch die
Gabe des klugen Abwartens. «I’m going to
wait for the next big thing», erwiderte Jobs,
als er 1998, nach seiner Rückkehr zu Apple,
gefragt wurde, was seine Strategie angesichts der prekären Marktsituation sei. «Als
Ausdruck von gut abgehangener Klugheit
und Demut vor der Zukunft» bezeichnet der
Journalist und Volkswirt Holm Friebe das in
seinem Buch «Die Stein-Strategie. Von der
Kunst nicht zu handeln». Als Eröffnungsredner der Typo Berlin führte er das Publikum in
genau diese Kunst ein.
«In einer von sinnlosem Stress, Hektik und
Atemlosigkeit geprägten Zeit ist intentionale Passivität eine rare und zu Unrecht verfemte Kunstform, die durch nichts besser versinnbildlicht wird als durch den ruhenden
Silvia Werfel
Stein.» So die Botschaft, die allerdings nicht
als Plädoyer für mehr Müssiggang oder Faulheit missverstanden werden will. Vielmehr
ziele die Stein-Strategie durchaus «auf die
Durchsetzung handfester Eigeninteressen
von Individuen und Organisationen». Blinder Hyperaktionismus richte da weitaus mehr
Schaden an als gewissenhaftes Abwägen und
Abwarten. Man muss nicht jedem (technischen) Hype hinterherhecheln; Innovationen der eigenen Gegenwart würden ohnehin
meist überschätzt. Aber merke: «Wenn du
dich bewegst, musst du wissen, wohin. Wenn
du dich nicht bewegst, musst du wissen, warum.» Holm Friebes angenehm entspannter,
humorvoller Auftritt war gespickt mit Zitaten und Anekdoten und bot reichlich Anstös­
se zum Nachdenken und Innehalten.
Auch Fabian Hemmert, frisch promovierter
Designforscher an der Berliner Universität
der Künste, beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Maschine (sprich
Smartphone) und mit dem alltäglichen Informationskonsum. Unseren nahezu unstillbaren Hunger nach ständig neuen Informationen aus den sozialen Netzwerken setzte er in
Beziehung zur Esskultur (bzw. Unkultur).
Demnach befinden wir uns womöglich gerade im Fastfood-Zeitalter der Informationsaufnahme. Dagegen hilft nur eins: Selektion,
Separation, also auswählen, das Mobiltelefon auch mal ausschalten und sich, wenigstens ab und zu, aufs Mensch-Sein besinnen
und auf die eigenen Wurzeln.
Mit der Kreide in der Hand …
Das Thema Roots sei genau sein Ding, soll
Gerrit Noordzij geantwortet haben, als Fontshop ihn zum Vortrag einlud. Aus gesundheitlichen Gründen musste der inzwischen
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83-Jährige seinen Auftritt bei der Typo Berlin dann jedoch absagen. Daraufhin führte
Fontshop-Mann Jürgen Siebert mit dem
legendären Schriftgestalter und streitbaren
Meister des Schriftunterrichtens zuhause in
Holland ein Video-Interview – Sternstunde
der Typo 2014.
«Gerrit denkt mit der Kreide in der Hand»,
charakterisierte Erik van Blokland, der Jürgen Siebert begleitet hat, seinen Schriftlehrer. Und so erlebten die Typo-Teilnehmer ihn
dann auch: mit Kreide an die Wandtafel
schreibend, veranschaulichte Gerrit Noordzij das Gesagte. Er entzauberte einiges an
landläufigen wie auch akademischen
Er­kenntnissen – spitzbübisch humorvoll, provozierend auch, in jedem Fall eigenständig
denkend. Wichtigste Botschaft: Die DNA der
typografischen und digitalen Satzschriften
liegt im Handschriftlichen. Schon nach
Er­f indung der Typografie haben Gutenbergs
berühmte Nachfahren auf unterschiedlichen
Wegen neue Schriften entworfen. Jenson,
Fournier, Baskerville gestalteten schreibend
ihre Satzschriften, sogar Bodoni, denn:
lächelt der König der Drucker auf dem allseits
bekannten Bild nicht verschmitzt? Und was
hat er denn da in der Hand? Genau, eine
Schreibfeder … Was geschieht aber mit der
Schriftkultur, wenn womöglich bald niemand mehr richtig zu schreiben vermag? Pädagogen und Psychologen arbeiten heutzutage tüchtig am Niedergang der Schrift mit, so
Gerrit Noordzij, weil sie selbst das Handwerk
des Schreibens weder beherrschten noch verstünden. Was sein eigener Antrieb zu gestalten sei? Produktive Unzufriedenheit.
Neuer Look fürs Bauhaus-Archiv
Auf Gerrit Noordzij folgte – ganz leibhaftig –
Sascha Lobe. Der Gründer des Stuttgarter Kreativbüros L2M3 und Professor für Typografie
an der HfG Offenbach fühlt sich der BauhausModerne verpflichtet. Der Auftrag, das Corporate Design des Bauhaus-Archivs in Berlin
zu erneuern, führte ihn zu den eigenen Wurzeln. Ein Traumjob. Und zugleich eine enorme Herausforderung. Er zeigte die Essenz, von
der Annäherung mittels intensiver Recherche im Archiv bis zu den ersten Ergebnissen.
Am Bauhaus machten nicht Gebrauchsgrafiker, sondern Künstler das Grafikdesign, so die
entscheidende Erkenntnis. Sie spielten mit
Konstruktionsprinzipien und Reduktion, frei,
experimentell, manchmal nahezu ornamental. Diesen «Spirit aufzugreifen» war das
erklärte Ziel Sascha Lobes. Am deutlichsten
bringt dies die rund 500 Glyphen umfassende neue Schrift zum Ausdruck. Als Grundlage dienten Herbert Bayers Universal und sein
später fürs Bauhaus-Archiv entworfener
Schriftzug sowie das im Laufe der Arbeit entstehende «fiktionale Archiv» mit besonders
interessanten Einzelbuchstaben aus alten
Bauhaus-Drucksachen. Daraus wurde ein realer Font aus konventionellen und unkonventionellen Buchstabenformen, mit gut lesba-
ren Zeichen für den Mengensatz und Cha­
rakterdarstellern für die Anwendung in
Übergrösse. Zu besichtigen ist die Schrift im
aktuellen Halbjahresprogramm des BauhausArchivs sowie auf ersten Ausstellungsplakaten. Eine Edition von Typo-Plakaten soll nun
entstehen und das Konzept weiter offen und
lebendig gehalten werden.
Boris Brumnjak zeigte Plakate aus seiner
Sammlung, z. B. dieses von Anna Griesbach.
Der neue Look fürs Bauhaus-Archiv, gestaltet
vom Stuttgarter Kreativbüro L2M3.
Feiner Kreidestrich auch für die Anwendung
in Übergrösse – Fritz Grögels WeberChalk.
Gemalt, gesetzt oder subversiv?
Geschrieben und konstruiert – mit gezeichneter Schrift, neudeutsch Lettering, bot Fritz
Grögel eine weitere Facette des Umgangs mit
Buchstaben. Er betreibt zusammen mit Elena Albertoni das Studio LetterinBerlin und
hat sich während seines Studiums in Potsdam, Paris und Den Haag intensiv mit der
Geschichte der Schrift im öffentlichen Raum
beschäftigt. Auch Fritz Grögel erwischt man
manchmal mit der Kreide in der Hand, denn
die Exklusivschrift für das neue Erscheinungsbild von Weber Grill, die Weber Chalk,
stammt von ihm. Die Herausforderung
bestand darin, den Kreidestrich so zu digitalisieren, dass er auch in Übergrösse wirklich
wie ein Kreidestrich und nicht wie eine
Ansammlung zerfaserter Pixel aussieht. Im
Mittelpunkt des Vortrags standen aber nicht
die eigenen Projekte, sondern die Schriftenmaler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
sowie die Wechselwirkungen zwischen
gemeisseltem, gemaltem und typografischem Schriftdesign. Erkenntnis: «Im deutschen Lettering überwogen im 19. Jahrhundert lateinische Schriftmodelle, gerade im
öffentlichen Raum.» Dabei handelte es sich
bevorzugt um Serifenlose.
Ein besonders aufwendiges Projekt stellten
die Master-Studenten Clarissa Becker und
Arne Vogt zusammen mit Dirk Fütterer,
ihrem Professor, vor. Am Institut für Buchgestaltung der FH Bielefeld läuft seit 2009
das Unternehmen «Bielefelder Bibel» (so der
Arbeitstitel). Die 73 Bücher, aus denen die
Bibel besteht, waren typografisch neu zu
interpretieren und vor allem lesefreundlich
zu gestalten. Begleitet von der Exegetin Dr.
Melanie Peetz von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main, galt es zunächst, die literarischen Gattungen herauszuarbeiten, denn die
Vielfalt ist enorm: Da gibt es Gesetzestexte
und belehrende Briefe, romanhafte und
novellistische Erzählungen, theologische
Geschichtsschreibung, Lieder, Gebete und
vieles mehr. Der «spirituellen und kulturellen sowie der narrativen und emotionalen
Dimension der Texte» gerecht zu werden, war
das erklärte Ziel. Allein mit typografischen
Mitteln und der Schriftgrossfamilie FF Nexus
von Martin Majoor (mit Sans, Serif, Slab,
Mono) gelang am Ende eine adäquate Differenzierung. Der besseren Handhabbarkeit
wegen verteilte man die 2500 Seiten auf fünf
Bände und sucht nun den passenden Verlagspartner. Interessenten gibt es schon. Zu den
Kreativen, denen lesefreundliche Typogra-
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Typografie für die literarische Vielfalt der Bibel
– das Bielefelder Bibel-Projekt.
Fraser Muggeridge: «Look at the dots!» – Plakatkunstaktion im Londoner Untergrund.
fie schlicht zu langweilig ist, gehört David
Carson, bekanntermassen erklärter Gegner
von Lesbarkeit und Perfektion. Auch Fraser
Muggeridge, mit Büro in London, spielt viel
und überschreitet gern Grenzen, subtil und
subversiv. «New rave typography» nennt er
das. Während üblicherweise die (Mikro-)
Typografie nahezu unsichtbar bleibt, lässt
sich Fraser Muggeridge lieber von der Kunst
inspirieren. Fussnoten lässt er am Rand rundum laufen, setzt verschiedene Kommata
(warum sich mit einer Form begnügen, wenn
man drei haben kann?) und diese dann schön
gross oder entwickelt mit Giorgio Sadotti
einen konzeptionellen Megafont namens «­ HI
DE» (sprich Heidi). Zu den über 670 Glyphen
gehören sich überlagernde, halbierte, gerollte Buchstabenformen – Experiment und Herausforderung für Lesewillige. Fraser Mugge-
ridge mischt auch gern Schriften, mit Vorliebe solche, die einander viel zu stark ähneln,
und stellt den Betrachter so auf die Probe.
Kein Wunder, dieser kreative Typograf arbeitet vornehmlich für den Kunstbereich.
Ausschliesslich schwarz/weisse Plakate
sammelt Boris Brumnjak. Es sei wie die Liebe auf den ersten Blick. Ist er einem Plakat
verfallen, muss er es haben. Recherche, Kontaktaufnahme mit dem Gestalter per Brief
mit Bleistiftskizze, Besuch vor Ort – viele Plakatkünstler, darunter etliche aus der Schweiz
(z.B. Armin Hofmann, Wolfgang Weingart,
Hans Rudolf Bosshard, Niklaus Troxler), hat
er auf diese Weise persönlich kennen gelernt
und durfte das jeweilige Objekt seiner Begierde seiner Sammlung zuführen. Eine Auswahl
von 100 Plakaten war im Oktober 2013 in
Luzern zu sehen.
Witz und Irritation
Die Konferenz war bunt und vielfältig wie
immer. Mittendrin ein Künstler wie Jim Avignon, ein «Tizian des Techno», der in der Schule des Lebens lernte statt in einer Akademie;
der mit aberwitzigen Aktionen im Kunstmarkt kreativ Unruhe stiftet und am liebsten Kunst macht, die sich jeder leisten kann.
Ein Bleistift, ein Blatt Papier und eine gute
Idee – mehr braucht er nicht zum Gestalten.
Dann die «Illustratorin» Sarah Illenberger,
die – ganz analog – Bilder und Infografiken
aus Gemüse, Kerzen, Luftballons oder Papier
baut, menschliche Organe strickt und die
Mona Lisa schon mal einer Schönheitsoperation unterzieht. Oder Roger Law, einst Miterfinder der so meister- wie fratzenhaft hässlich überzeichneten Puppen in der Satiresendung «Spitting Image», der nun aber schon
Emil Schult, Künstler und Musiker: Vom Planar Transistor (1956) zum Pentium Chip – die Geschichte der Mikroelektronik als Hinterglasmalerei.
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Kreativer Unruhestifter: Jim Avignon (Foto: Gerhard Kassner) beherrscht kleine und grosse Formate, hier ein Ausschnitt seines neuen Gemäldes
für die East Side Gallery an der Berliner Mauer.
seit 15 Jahren in der chinesischen Porzellanstadt Jingdezhen wunderschöne feinste Keramik produziert.
Sehgewohnheiten aufzubrechen und zu irritieren, darin sehen viele Kreative ihre eigentliche Aufgabe. Die in Berlin lebende Chinesin
Yang Liu entwickelt tolle Konzepte für Messe- und Museumsdesign. Mit ihren inzwischen weithin bekannten Piktogrammen
bringt sie dagegen kulturelle und geschlechtsspezifische Unterschiede augenzwinkernd
auf den Punkt. Ihr Büchlein «Ost trifft West»
wurde ein Bestseller und auch ihr neues Projekt hat das Zeug dazu. Es erscheint im September 2014 im Verlag Taschen. Auf der Typo
gab sie einen ersten Einblick. In «Mann trifft
Frau» nimmt sie alte und neue Rollenbilder
aufs Korn. Ein Hausmann ist modern, eine
Hausfrau bleibt das altmodische Heimchen
am Herd? Ein Mann im Kleid ist merkwürdig,
eine Frau in Hosen dagegen normal? Als
«mysteriöse Dinge» stellt Yang Liu die Werkzeuge des Heimwerkers den Schminkutensilien einer Frau gegenüber. Einladung zum
Schmunzeln und Nachdenken über Klischees.
Den wunderbaren Schlusspunkt markierte
Emil Schult. Er hat als Künstler und Musiker
zehn Jahre die Gruppe Kraftwerk begleitet.
Elektronische Musik und Kunst seien die
Metasprachen der Zukunft in einer Welt, in
der alles möglich ist, davon zeigt er sich überzeugt. In einer Serie von Bildern dokumentierte er die so bedeutsame Geschichte der
Elektronik. Emil Schult plauderte über sein
Leben, appellierte an die Verantwortung der
Künstler und Gestalter als «Kritiker der
Wahrheit» und erinnerte an Nick Holonyak,
den Erfinder des LSD, nein: LED, wie er sich
schmunzelnd korrigierte, nachdem das Publikum laut aufgelacht hatte. Er zeigte sich
beeindruckt von den Vorträgen der Konferenz und vom Gestalternachwuchs. Diesem
boten die Organisatoren im «Nest» ein schönes neues Forum. Studierende von sechs
Hochschulen stellten hier ihre Projekte vor.
Um die Zukunft des Kommunikationsdesigns
muss einem nicht bange sein ...
Mehr Informationen gibt es unter www.typotalks.com. Die nächste Typo Berlin findet vom
21. bis 23. Mai 2015 im Haus der Kulturen der
Welt statt. Das Motto lautet dann «Charakter».
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