Expressionismus Material - Lyrik

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Expressionismus Material - Lyrik
EXPRESSIONISTISCHE LYRIK
JAKOB VAN HODDIS
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
ALFRED LICHTENSTEIN
Die Welt (Einem Clown zugeeignet)
Viel Tage stampfen über Menschentiere,
In weichen Meeren fliegen Hungerhaie.
In Kaffeehäusern glitzern Köpfe, Biere.
An einem Mann zerreißen Mädchenschreie.
Gewitter stürzen. Wälderwinde blaken.
Gebete kneten Fraun in dünnen Händen:
Der Herr Gott möge einen Engel senden.
Ein Fetzen Mondlicht schimmert in Kloaken.
Buchleser hocken still auf ihrem Leibe.
Ein Abend taucht die Welt in lila Laugen.
Ein Oberkörper schwebt in einer Scheibe.
Tief aus dem Hirne sinken seine Augen.
ALFRED LICHTENSTEIN
Punkt
Die wüsten Straßen fließen lichterloh
Durch den erloschnen Kopf. Und tun mir weh.
Ich fühle deutlich, daß ich bald vergeh.
Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.
Die Nacht verschimmelt. Giftlaternenschein
Hat, kriechend, sie mit grünem Dreck beschmiert.
Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert.
Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.
ALFRED LICHTENSTEIN
Die Nacht
Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen.
Zerbrochne Bettler meckern, wenn sie Leute ahnen.
An manchen Ecken stottern starke Straßenbahnen,
Und sanfte Autordroschken fallen zu den Sternen.
Um harte Häuser humpeln Huren hin und wieder,
Die melancholisch ihren reifen Hintern schwingen.
Viel Himmel liegt zertrümmert auf den herben Dingen.
Wehleidige Kater schreien schmerzhaft helle Lieder.
1
RICHARD HUELSENBECK
Phantasie'
Der dicke Kopf blüht auf in Regenbogenfarben
von Negern schrillt es wütend durch die Nächte;
es fahren Wagen schreiend mit den Flammengarben
auf sanften Brücken und zergleiten dampfend.
Das Hochgericht speit seinen Aasduft wilder,
so Trommeln quieken über Land und Stadt.
Aus unseren Ohren johlen die verruchten Bilder
als Schemen tanzend, schöngewellt und matt.
Im Schlafrock gröhlt der alte Oberpriester
und zeigt der Schenkel volle Tostatur.
Aus Menagerien knattern scheugewordene Biester.
Der Zeylonlöwe hebt die Hand zum Schwur.
So hingeschlagen auf den fetten Tischen,
wo Ölstrom läuft, rührt uns der tote Mann.
Sein Hirn ist Glas, sein Bein zischt aus den Nischen
ein Papagei zieht sich die schönen Hosen an.
Er träumt vom Strand, wo in Mangrovebäumen
der Affe purzellt und die Seekuh bellt.
Ein Stern hat glotzend unsere Nacht erhellt
aus der die Meere wie Champagner schäumen.
Es riß der Strick am Leib der Äquatoren!
Ein Heer von Professoren wankend brach
wie tausend Häuser einem Weibe nach,
der Schweiß steht kichernd auf entseelten Poren.
ERNST TOLLER
November
Wie tote ausgebrannte Augen sind die schwarzen Fensterhöhlen
Im Dämmerabend der verhangenen Novembertage,
Wie Flüche wider Gott, hilflose Klage
Wider die Zwingherrn der verruchten Höhlen.
Die Städte sind sehr fern, darin die Menschen leben.
Ein Knäuel würgt die Kehle dir, ein Grauen
Betastet deine Glieder. Wer wird Freiheit schauen?
Wenn endlich wird sich dieses müde Sklavenvolk erheben?
Oh, niemand löscht die Stunden der Gefängnishöfe, die in wirren
Träumen uns gleich Fieberlarven schrecken, antlitzlosen,
Wir sind verdammt von Anbeginn, wir müssen wie Leprosen,
Unstete, durch die Jahre unsrer Jugend irren.
Was ist das Leben uns? Ein formlos farbenleer Verfließen.
Und gnädig sind die Nächte, die wie Särge uns umschließen.
2
GEORG HEYM
Robespierre
Er meckert vor sich hin. Die Augen starren
Ins Wagenstroh. Der Mund kaut weißen Schleim.
Er zieht ihn schluckend durch die Backen ein.
Sein Fuß hängt nackt heraus durch zwei der Sparren,
Bei jedem Wagenstoß fliegt er nach oben.
Der Arme Ketten rasseln dann wie Schellen.
Man hört der Kinder frohes Lachen gellen,
Die ihre Mütter aus der Menge hoben.
Man kitzelt ihn am Bein, er merkt es nicht.
Da hält der Wagen. Er sieht auf und schaut
Am Straßenende schwarz das Hochgericht.
Die aschengraue Stirn wird schweißbetaut.
Der Mund verzerrt sich furchtbar im Gesicht.
Man harrt des Schreis. Doch hört man keinen Laut.
GOTTFRIED BENN
Schöne Jugend
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die ändern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! •
JAKOB VAN HODDIS
Kinematograph
Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.
Man zückt Revolver. Eifersucht wird rege,
Herf Piefke duelliert sich ohne Kopf
Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Krop
Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.
Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder
Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe
Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe
Beleben Kühe und Kartoffelfelder.
Und in den dunklen Raum - mir ins Gesicht –
Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluß nach Licht
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie
3
KURT SCHWITTERS
An Anna Blume
O, du Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir! -Du deiner dich dir, ich dir, du
mir. - Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist - bist du? Die Leute sagen, du wärest - laß
sie sagen, sie sie wissen nicht,wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst auf die Hände, auf den Händen wanderst
du.
Hallo deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich
dir! - Du deiner dich dir, ich dir, du mir.-Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat ein Vogel
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe dir! - Du deiner dich
dir, ich dir, du mir. - Wir? Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a ich träufle deinen Namen. Dein Name tropft wie weiches
Rindertalg.
Weißt du es Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du Herrlichste von allen, du bist von hinten wie
von vorne: »a-n-n-a«.
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken. Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!
ELSE LASKER-SCHÜLER
Sah durch dein Blut
Die Welt überall brennen
Vor Liebe.
Nun aber schlage ich mit meiner Stirn
Meine Tempelwände düster.
O du falscher Gaukler,
Du spanntest ein loses Seil.
Wie kalt mir alle Grüße sind,
Mein Herz liegt bloß,
Mein rot Fahrzeug
Pocht grausig.
Bin immer auf See
Und lande nicht mehr.
Hinter Bäumen berg ich mich
Bis meine Augen ausgeregnet haben,
Und halte sie tief verschlossen,
Daß niemand dein Bild schaut.
Ich schlang meine Arme um dich
Wie Gerank.
Bin doch mit dir verwachsen,
Warum reißt du mich von dir?
Ich schenkte dir die Blüte
Meines Leibes,
Alle meine Schmetterlinge
Scheuchte ich in deinen Garten.
Immer ging ich durch Granaten,
4
GOTTFRIED BENJ
Nachtcafe
824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.
Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.
Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.
Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.
Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.
B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das blut von Chopin durch den Saal.
Damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi!Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft gegen mein Gehirn.
Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.
RENE SCHICKELE Abschwur
Muß ich selber erst
Und ganz und ohne Schwere werden.
Ich muß ein Lichtstrahl werden,
Ein klares Wasser
Und die reinste Hand,
Zu Gruß und Hilfe dargeboten.
Stern am Abend prüft den Tag,
Nacht wiegt mütterlich den Tag.
Stern am Morgen dankt der Nacht.
Tag strahlt.
Tag um Tag
Sucht Strahl um Strahl,
Strahl an Strahl
Wird Licht,
Ein helles Wasser strebt zum ändern,
Weithin verzweigte Hände
Schaffen still den Bund.
Ich schwöre ab:
Jegliche Gewalt,
Jedweden Zwang,
Und selbst den Zwang,
Zu ändern gut zu sein.
Ich weiß:
ich zwänge nur den Zwang.
Ich weiß:
Das Schwert ist stärker,
Als das Herz,
Der Schlag dringt tiefer,
Als die Hand,
Gewalt regiert,
Was gut begann,
Zum Bösen.
Wie ich die Welt will,
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