Die Zahnsteinfee

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Die Zahnsteinfee
JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 70
Die Zahnsteinfee
M
eine Dentalphobie ist legendär. Ich bin schon bei einer
Zahnsteinentfernung ohnmächtig geworden und habe bei einer
anderen Gelegenheit wartende Patienten vergrault, obwohl ich
nicht einmal im selben Raum mit ihnen saß, nur durch
akustische Warnsignale. Bei einem Münchner Zahnarzt habe ich
den kleinen Hahn, aus dem das Mundspülwasser kommt,
abgebrochen, als er mir im Mund herumfuhrwerkte. Ein anderer
verzichtete nach dem dritten Mal auf weitere Besuche und
behauptete, er nehme gar keine neuen Termine mehr an, weil er in Ruhestand gehe. Dabei
war der Typ keine vierzig Jahre alt.
Meistens sagen Zahnärzte, sie wollten bloß mal gucken. Aber schon wenn nur mal
unverbindlich nachgesehen wird, benötige ich die Unterstützung der Sprechstundenhilfe.
Während sie absaugt, muss sie meine Hand halten. Sobald ich drücke, nimmt sie den Sauger
aus meiner Zahnkollektion und der Arzt macht eine Pause. Die Behauptung, sie wollten nur
mal kurz reinsehen, stimmt übrigens nie. Zahnärzte sind besessen davon, mit diesem Haken
innen an Zähnen entlang zu kratzen. Sie sagen, dass sie gucken, aber dann kratzen sie. Ich
habe wegen dieser evidenten Behandlungsgeilheit ein Problem mit Dentisten.
Die Anzahl derer, die meine Zähne schon nackt gesehen haben, steht übrigens in keinem
Verhältnis zur Symptomatik. Ich habe sehr gute Zähne und bis heute keine Karies. Doch
bereits die jährliche Inspektion dieses erfreulichen Umstandes und der Anblick des
Mundspiegelchens verursachen bei mir Schweißausbrüche. Ich wechsele schon wegen der
peinlichen durchnässten Abgänge aus dem Behandlungszimmer sehr regelmäßig den Arzt.
Es wurden mir auch schon viele empfohlen, einige haben sich auf Angsthasen spezialisiert.
Das merkt man daran, dass die Praxis nicht weiß ist, sondern aus Naturholz. Außerdem läuft
Klaviermusik und der Arzt spricht langsamer. Hilft bei mir aber alles nicht.
Doch jetzt habe ich meinen endgültig letzten Dentisten gefunden. Ich schätze an ihm
besonders, dass ich ihn nur einmal gesehen habe. Er sah mir in den Mund, ohne hinein zu
fassen und entschied, dass ich nur eine Zahnreinigung brauche. Ich solle am Dienstag zu
Olivia kommen, Zahnstein entfernen. Ohne Narkose. Olivia sei bereits eine Art Droge, da sei
Betäubung nicht nötig. Ein paar Tage später war ich also wieder da und stand vor Olivia. Sie
ist schwer zu beschreiben, weil ich praktisch nichts von ihr gesehen habe, denn sie trug einen
Mundschutz und vor den Augen eine Art Grubenlampe mit Vergrößerungsgläsern. Ich kam
auch gar nicht erst dazu, meine Angstgebete zu sprechen, denn Olivia winkte gleich ab und
sagte: „Hinsetzen, Mund auf und Klappe zu, wie ich so gerne sage.“ Sie setzte sich vor mich
und erklärte: „Ich komme aus Bochum. Mein Vater war Bergmann. Dreißig Jahre unter Tage,
Kohle abbauen. Und ich mache im Prinzip gezz dasselbe. Nur nicht unter Tage. Und das hier
ist meine Spitzhacke.“ Sie zeigte mir ihren Zahnsteinhaken. Aus reiner Neugier öffnete ich
den Mund. Und sie verrichtete ihr Werk. Zwischendurch rief sie: „Wat ham wa denn da?“
Und: „Hau ruck, so, dat war’s mit die 31.“ Während sie Stein um Stein aus meinen Zähnen
brach machte sie Geräusche wie Monica Seles beim Aufschlag.
Zwischendurch saugte sie ab und musterte mich, als hätte ich den Schatz vom Silbersee im
Mund. Dann sagte sie: „Wenn Zahnstein aus Gold wär, dann wär ich reicher wie die AldiBrüder. Weiter geht’s.“ Sie ackerte sich im bergmännischen Vortrieb durch meine Zähne,
irgendwann sang sie sogar das Steigerlied: „Ins Bergwerk 'nein, wo die Bergleut' sein,
die da graben das Silber und das Gold bei der Nacht aus Felsgestein.“ Sie machte eine
Pause, in der ich spülen durfte und ächzte: „Nur schwere Arbeit macht glücklich.“ Dann
schob sie mir den Sauger in den Mund und raspelte weiter. Das Ultraschallgerät verstieß
offenbar gegen ihre Bergmannsehre. Nach einer guten halben Stunde ließ sie von mir ab und
sagte: „So, Sportsfreund. Spülen und ab nach Hause.“ Jede Kollegin hätte mich nun noch
ermahnt, bitte häufiger zu kommen, aber Olivia sagte: „Und warten Se ruhig, bisse wieder
einen Termin machen. So hab ich mehr Spaß anne Arbeit.“ Ich war so fasziniert, dass mir erst
im Auto einfiel, dass ich gar keine Angst gehabt habe. •
11. APRIL 2016

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