Rechenschwäche / Dyskalkulie - Staatliche Schulberatung in Bayern

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Rechenschwäche / Dyskalkulie - Staatliche Schulberatung in Bayern
Rechenschwäche / Dyskalkulie
Ursachen und Auswirkungen
Dr. med. Roland Ebner
Ambulanz und Tagesklinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie
am Klinikum Deggendorf
Außenstelle des Bezirkskrankenhauses Landshut
Rechenstörung, IDC 10: F81.2
„Eine umschriebene Beeinträchtigung von
Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch
eine allgemeine Intelligenzminderung oder
einie unangemessene Beschulung erklärbar
ist. Das Defizit betrifft v.a. die Beherrschung
grundlegender Rechenfertigkeiten, wie
Addition, Subtratktion, Multiplikation und
Division, weniger die abstrakten
mathematischen Fertigkeiten...“
Die normale Entwicklung
„Die Entwicklung zahlenverarbeitender
Hirnfunktionen ist als ein neuroplastischer
Reifungsprozess zu verstehen, der im Verlauf
von Kindheit und Jugend zu einem komplexen,
spezialisierten neuronalen Netzwerk führt. Der
mentale Zahlenstrahl scheint grundlegend zu
sein für rechnerisches Denken...“
(Kaufmann, v. Aster, Deutsches Ärzteblatt 45, 2012)
Epidemiologie
➔
Rechenstörung 1-8 %
➔
LRS ca. 5 %
➔
Häufig kombiniert mit ADHS, LRS
➔
In der KJP sehr viel seltener als LRS, da kein
Nachteilsausgleich
Auswirkungen
Ab der 4. Klasse bleiben Rechenprobleme -ohne
spezifische Förderung- stabil
➔
Niedriger Bildungsabschluss
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Niedriger Berufsabschluss
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Niedrigeres Einkommen
➔
Benachteiligung am Arbeitsmarkt
➔
„Ich bin dumm, ich kann nichts !“
Misserfolgserleben
●
Üben bringt nichts
●
Misserfolgserwartung
●
Ausgrenzung durch Mitschüler
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Schulangst
●
Einsamkeit
●
Sinkender Selbstwert
●
Motivationsverlust
Leistungsabfall in anderen Fächern
●
Depression
●
Konzentrationsstörung
●
Weiterer Leistungsabfall
●
●
Auswirkungen
Chronifizierte Rechenängste
➔
Hilflosigkeit, Misserfolgserwartung
➔
Physiologischer Stress
➔
Dadurch reduziertes Arbeitsgedächtnis und
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Reduzierte basisnumerische Fertigkeiten
➔
(Kaufmann, v. Aster, Deutsches Ärzteblatt 45, 2012)
Aufgaben der KJP
Multiaxiale Diagnostik nach ICD 10
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Ausschluss von körperlichen und psychosozialen
Ursachen (Genetik, Fetales Alkoholsyndrom,
Vernachlässigung)
➔
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Begutachtung nach §35a SGB VIII
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Koordination der Hilfen
Aufgaben der Schulpsychologie
➔
Differenzierte Leistungsabklärung
➔
Planung von Fördermaßnahmen
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Schullaufbahnberatung
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Nachteilsausgleich ???
➔
Koordination der Hilfen
Diagnose ICD
ICD 10 Forschungskriterien:
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➔
Rechenleistung < 10. Perzentile
T-Wert- Differenz zw. Intelligenz und Rechenleistung
mind. 2 Standardabweichungen
bei IQ=100 (T-Wert: 50) wäre das z.B. eine Rechenleistung mit
T-Wert ≤ 30 (<2. Percentile)
ICD 10 klinische Praxis:
➔
➔
Rechenleistung < 10. Perzentile
T-Wert- Differenz zw. Intelligenz und Rechenleistung
mind. 1,5 Standardabweichungen
Praktikable Lösungen ?
- weniger strenges Intelligenz-Diskrepanzkriterium
Empfehlung für klinische Praxis: 1,5 Standardabweichungen (z.B. Jacobs & Petermann,
2005)
oder: Leistung im Rechtschreib- oder Lesetest PR ≤ 10 & T-Wert-Diskrepanz zum
Gesamt-IQ ≥ 12 T-Wert-Punkte (z.B. Warnke et al., 2002)
- Verzicht auf Intelligenz-Diskrepanzkriterium
vgl. Ehlert, Schroeders, & Fritz-Stratmann (2012), sowie voraussichtliche
DSM-V-Revision: schulische Entwicklungsstörungen dimensional zusammengefasst,
Verzicht auf Diskrepanzkriterium
aber: höhere Prävalenzraten und Widerspruch zum ICD-10
- Marburger Regressionsmodell (Schulte-Körne et. al, 2001)
vgl. auch Empfehlung durch Warnke et. Al (2007)
Aus: Testpsychologisches Curriculum, 26.09.2013 R. Keppler (Dipl. Psych.), KJP Weiden
Diagnose DSM V
➔
Dimensionale Ausprägungen schriftsprachlicher
und arithmetischer Fertigkeiten
➔
Kein Diskrepanzkriterium erforderlich !
➔
Rechenleistung < 10. Perzentile
Multiaxiale Diagnose
I. Achse: Psychiatrische Diagnose
II. Achse: Umschriebene Entwicklungsstörung
III. Achse: Intelligenz
IV. Achse: Körperliche Erkrankung
V. Achse: Psychosoziale Belastungen
VI. Achse: Globalbeurteilung der sozialen
Anpassung
Grundstörung
Neurobiologische Schwäche
mathematischer Basisfunktionen
Defizitäres Mengenverständnis
Aus: Kaufmann, v. Aster, Deutsches Ärzteblatt 45, 2012
Basisfunktionen für den
Rechenerwerb
Aufmerksamkeit
●
Arbeitsgedächtnis
●
Visuell-räumliche
Wahrnehmung
●
Sprache
●
Basisnumerische Fertigkeiten
●
Ursachen für Störung von
Basisfunktionen
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Aufmerksamkeit: AD(H)S, Depression,
Angst, PTBS, Vernachlässigung
Arbeitsgedächtnis: ADHS, Depression,
Angst, PTBS, Vernachlässigung
Visuell-Räumliche Wahrnehmung:
Frühkindliche Hirnschädigung, Fehlende
Bewegungs- und Raumerfahrungen,
schwere frühe Vernachlässigung,
Genetik...
Ursachen für Störung von
Basisfunktionen
Sprache: Emotionale Vernachlässigung,
Genetik, Hörschaden, frühe
Sprachentwicklungsstörungen...
➔
Basisnumerische Fähigkeiten: Genetik,
Frühkindliche Hirnschäden, Epilepsie,
Frühgeburt, Stoffwechselerkrankung,
Fragiles-X-Syndrom, div. Syndrome
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Komorbidität
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➔
➔
Bei Schülern der 9. Klasse waren 52% der
Leistungsvariabilität beim Rechnen durch die
Lesefertigkeiten erklärbar
20-60% haben zusätzlich LRS oder ADHS
Methylphenidat bessert das Arbeitsgedächtnis,
aber nicht die basisnumerischen Fertigkeiten
(Kaufmann, v. Aster, Deutsches Ärzteblatt 45, 2012)
Testverfahren
Curricular orientierte
Testverfahren
Neuropsycholog. Testverfahren
curricular (= an Lehrplänen d.
jeweiligen Klasse) orientiert
an neuropsychologischen
Forschungsergebnissen orientiert
Schulleistungstests, ERT-Reihe,
DEMAT
z.B. RZD, ZAREKI-R
meist nur Bearbeitungsgenauigkeit
relevant
Bearbeitungsgenauigkeit,
-geschwindigkeit und z.T.
Lösungsstrategien
Individual-, Gruppentest
Individualtest
Hat Kind Lernziel der entsprechenden Welches Leistungsprofil liegt den
Klassenstufe erreicht?
Rechenleistungen zugrunde? Welche
Ursachen von Rechenschwierigkeiten
können identifiziert werden? Welche
Bereiche des Rechnens sind
betroffen?
Kaufmann, v. Aster Deutsches Ärzteblatt 45, 2012
Max
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14 Jahre, 8. Klasse Realschule, Einzelkind
Eltern geschieden, Mutter depressiv,
alleinerziehend, überlastet
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Mathe 5er, sonstige Fächer 2-3er
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Früher mal wg. ADHS Methylphenidat
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Vorstellung 2012 wg. oppositionellem Verhalten
in der Familie
Max 2012
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➔
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Diagnostik 2012: HAWIK IV-IQ 102,
Arbeitsgedächtnis 89
„ADHS-Tests“ (TAP) unauffällig
Schul-Fragebögen (CBCL, Conners) unauffällig
für ADHS, nur zu Hause auffällig
Emotionalität in Fragebögen und Tests auffällig,
depressiv - ängstlich
Diagnose: Anpassungsstörung mit Störung von
Emotionen und Sozialverhalten bei familiärer
Belastung
BADYS 5-8+ : T-Wert-Differenz 13, damit keine
Rechenstörung nach dem Differenz-Modell
Psychotherapie von Max und Mutter
Max 2013
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➔
➔
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2013 Vorstellung wegen Rechenproblemen
Ihm geht’s sonst gut, keine ADHS-Medikation
Ein Lehrer empfahl die Dyskalkulie-Diagnostik
Diagnostik 2013:
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Berufsbezogener Rechentest (schriftliche
Aufgaben): <1.Percentile
➔
ERGO-Diagnostik: Störung der visuellen
Wahrnehmung, v.a. der Figur- GrundWahrnehmung
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HAWIK Subtest Rechnerisches Denken an
der unteren Normgrenze (mündlich gestellte
Aufgaben)
Max: Rechenstörung oder
Rechenschwäche ?
➔
➔
➔
➔
Fehlendes Fakten- und Prozedurales Wissen
Hinweise auf Störung von Basisfertigkeiten:
Arbeitsgedächtnis und Visuell-räumliche
Wahrnehmung
IQ nachtesten ? (Depression drückt
Arbeitsgedächtnis)
Schlechtes Arbeitsgedächtnis kann von ADHS
u./o. Depression kommen
Differenzialdiagnostische Überlegungen
Kaufmann, v. Aster Deutsches Ärzteblatt 45, 2012
Multiaxiale Diagnose: Max
I. Achse: Anpassungsstörung F43.2
II. Achse: Rechenstörung F81.2 ?
DD Rechenschwäche ?
III. Achse: Normale Intelligenz (IQ 102)
IV. Achse: Keine körperliche Erkrankung
V. Achse: Psychosoziale Belastungen
Psychisch kranke Mutter; abweichende
Elternsituation; gestörte Kommunikation in der
Familie; Ausgrenzung in der Schule
VI. Achse: leichte Beeinträchtigung der sozialen
Anpassung
Was braucht Max ?
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Ergotherapie der visuellen Wahrnehmung
(Figur-Grund / visuell-räumlich)
Mündliche Aufgabenstellung als
Nachteilsausgleich ?
Spezifische Lerntherapie
Was hilft ?
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Einzel-Lerntherapie durch extra geschulte
Lehrkräfte o. LerntherapeutInnen ist wirksamer
als Gruppen- oder PC-gestützte
Förderprogramme
Ausreichend lange (mehr als 10 Stunden)
Am individuellen Leistungsniveau und
Störungsbild ausgerichtet
Erst Verständnis vermitteln, dann Üben
Bei Bedarf auch Psychotherapie, Ergo- oder
Sprachtherapie oder Medikation
Training von
➔
Basisnumerische Fertigkeiten
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Zahlenraumvorstellung, Mentaler Zahlenstrahl
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Entwicklung von arithmetischem Verständnis
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Prozedurales Wissen
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Automatisierung von Faktenwissen
➔
➔
Blitztraining (Auswendig lernen arithmetischer
Fakten)
Abbau von Angst und Vermeidungsverhalten
(Kaufmann, v. Aster,2012 und Ise, Schulte-Körne 2013)
Kosten der Lerntherapie
➔
Schulisches Angebot ??
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Selbstzahler
➔
Jugendamt, bei drohender seelischer
Behinderung
Literatur
Jacobs, C.; Petermann, F. : Rechenstörungen.
Hogrefe 2007
Ise, E. & Schulte-Körne, G. (2013). Symptomatik,
Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung.
Zeitschrift für KJPP, 41, 271-282
Kaufmann, L. & v. Aster, M. (2012). Diagnostik
und Intervention bei Rechenstörung. Deutsches
Ärzteblatt, 45, 767-777 www.aerzteblatt.de

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