Forscherinnen werden forscher

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Forscherinnen werden forscher
MEDIZIN
AUS DER REDAKTION
Forscherinnen werden forscher
Die Zahl von Autorinnen wissenschaftlicher Artikel steigt, liegt aber noch deutlich unter
der von Autoren. Sie entspricht dem Anteil von Frauen an den Universitäten.
Christopher Baethge
D
as hätte sich Emilie Lehmus wohl nicht träumen lassen: Fast 140 Jahre nachdem die erste
deutsche Medizinstudentin in Zürich ihr Studium aufnahm, weil sie sich an keiner deutschen Universität
immatrikulieren durfte (1), sind sechs von zehn Studierenden der Humanmedizin in Deutschland Frauen.
Ihr Anteil an den Studienanfängern lag im vergangenen Wintersemester mit 64 Prozent sogar noch höher.
„Die Medizin wird weiblich“, fasste im März das
Deutsche Ärzteblatt die Entwicklung in einer Titelgeschichte zusammen (2).
Diese Feststellung gilt nicht nur für die Studierenden, sondern auch für Ärzte, und nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Der zunehmende Frauenanteil
auf allen Ebenen der Medizin erfährt unter vielen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit: etwa bezüglich eines
tatsächlichen oder vermeintlichen Wandels der medizinischen Praxis, also einer kulturellen Veränderung
des Faches durch die „Feminisierung“ (3) oder unter
dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Entlohnungen
und befürchteter Statuseinbußen für den Berufsstand
(4, 5). Andere thematisieren die nötige Vereinbarkeit
von Beruf und Familie (2, 6). In diesem Beitrag soll es
GRAFIK 1
Frauenanteil an allen Erstautoren von Original- und Übersichtsarbeiten im Deutschen Ärzteblatt (1957–2007) seit Bestehen einer Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion. Für die ersten zehn bis 15 Jahre konnte das Geschlecht der Autoren nicht immer zuverlässig bestimmt
werden, weil der Vorname zum Teil nicht ausgeschrieben war. In dieser Zeit erschienen auch
insgesamt weniger Arbeiten pro Jahr als heute, sodass es leichter zu Ausreißern kam (etwa
1966). Wert für 1957: 0 Prozent, Wert für 2007: 17,24 Prozent.
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um ein wichtiges Detail dieses Themas gehen: Wie
hoch ist der Anteil von Frauen an den wissenschaftlichen Autoren in der Medizinpublizistik im Allgemeinen und im Deutschen Ärzteblatt im Besonderen?
Autorinnen im Deutschen Ärzteblatt
und in anderen Zeitschriften
Im Deutschen Ärzteblatt ist der Anteil von Frauen an
allen Erstautoren erheblich gestiegen. Der Erstautorenstatus bietet sich zur Untersuchung besonders an, weil
der Erstautor – gemeinsam mit dem Letztautor – in der
Regel die für ein Manuskript hauptverantwortliche Person ist. Erstautorenschaften sind daher von besonderer
Bedeutung für die akademische Evaluation. Während
vor 50 Jahren Frauen noch überhaupt nicht als Erstautorinnen auf diesen Seiten repräsentiert waren, führten
im vergangenen Jahr immerhin 17,2 Prozent aller Original- und Übersichtsartikel eine Frau als Erstautorin
(Grafik 1). Diese Zahl liegt ungefähr im Bereich des interdisziplinären holländischen Journals Nederlands
Tijdschrift voor Geneeskunde, das sich wöchentlich an
ein allgemeines medizinisches Publikum wendet, und
auch darüber hinaus ein dem Deutschen Ärzteblatt
strukturell vergleichbares Blatt ist. Zwischen 1948
und 1998 verzeichnete die Nederlands Tijdschrift voor
Geneeskunde einen Anstieg des Anteils weiblicher
Erstautoren von zwei auf neun Prozent (7). Zum Vergleich: Der entsprechende Wert des Deutschen Ärzteblattes für das Jahr 1998 betrug 9,6 Prozent.
Deutlich besser sind Frauen jedoch in vielen amerikanischen Journalen repräsentiert: Jagsi et al. (8) untersuchten für den Zeitraum von 1970 bis 2004 den
Anteil weiblicher Erstautoren in sechs großen medizinischen Fachzeitschriften aus den Vereinigten Staaten: New England Journal of Medicine, Journal of the
American Medical Association, Annals of Internal
Medicine, Annals of Surgery, Obstetrics & Gynecology und Journal of Pediatrics. Im Jahr 2004 waren im
Durchschnitt 29,3 Prozent aller Erstautoren Frauen,
wobei die Zahlen für das New England Journal of Medicine und für die Annals fo Surgery deutlich unter
dem Durchschnitt lagen (Grafik 2).
Andere Untersuchungen bestätigen die zunehmende Bedeutung von Frauen als Erstautoren. In vier zusammen untersuchten amerikanischen HNO-Zeitschriften kam es zwischen 1978 und 1998 zu einem linearen Anstieg von 3,2 auf 11,4 Prozent (9), in der
Notfallmedizin wuchs der Erstautorinnen-Anteil in
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GRAFIK 2
Frauenanteil an allen Erstautoren in sechs internationalen Journalen (8)
vier amerikanischen Zeitschriften von 9 Prozent auf
24 Prozent in der Zeit von 1985 bis 2005 (10). Selbst
in zwei führenden chirurgischen Zeitschriften aus den
USA war im Jahr 2003 der Prozentsatz weiblicher
Erstautoren auf rund 20 gestiegen (11). Gemeinsam ist
den hier referierten Studien, dass die Zahl der Letztautorinnen zum Teil deutlich unter der Zahl der Erstautorinnen liegt.
Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen zweierlei: Erstens liegt der Anteil von Erstautorinnen in den
operativen Fächern (Chirurgie, HNO; Ausnahme:
Gynäkologie) niedriger – wenn auch zum Teil nur geringfügig –, als in konservativen Spezialgebieten (Pädiatrie, Notfallmedizin, Innere Medizin). Zweitens
finden sich auf den Erstautoren-Positionen in amerikanischen Zeitschriften mehr Frauen als in Deutschland und den Niederlanden. Der erste Befund dürfte
damit zusammenhängen, dass in der HNO und der
Chirurgie weniger Ärztinnen arbeiten als in Kinderheilkunde, Innerer Medizin, Notfallmedizin und Frauenheilkunde (12), während das zweite Ergebnis die
Frage aufwirft, ob Frauen hier geringere Veröffentlichungschancen haben.
Um diese Frage zu beantworten, muss man nicht nur
den Anteil der Erstautorinnen der publizierten Manuskripte kennen, sondern diesen Anteil auch für die Gesamtgruppe aller eingegangenen Manuskripte – abgedruckte wie abgelehnte – betrachten. Für das Deutsche
Ärzteblatt ergibt sich folgendes Bild: Wie in Grafik 1
dargestellt, lag der Anteil von weiblichen Erstautoren
publizierter Arbeiten im letzten Jahr bei 17,24 Prozent.
In der gleichen Größenordnung (17,99 Prozent) befand
sich der Erstautorinnen-Prozentsatz unter allen eingereichten Manuskripten. Der Anteil an Erstautorinnen
in abgedruckten Manuskripten entspricht also dem
Erstautorinnen Prozentsatz aller uns zugegangener
Texte – inklusive der abgelehnten Manuskripte. Da
man davon ausgehen kann, dass Frauen und Männer
Artikel ungefähr gleicher Qualität eingereicht haben,
sprechen diese Zahlen für eine Gleichbehandlung von
Männern und Frauen im Deutschen Ärzteblatt.
GRAFIK 3
Frauenanteil in der Medizin. Alle Zahlen beruhen auf den jeweils neuesten verfügbaren Angaben, die Jahre stimmen daher nicht ganz überein.
Die Darstellung berücksichtigt keine Kohorteneffekte: Der Anteil an den Professuren im Jahr 2006 ist nicht ohne Weiteres mit dem Anteil an
den Erstsemester-Studierenden 2007/2008 zu vergleichen, weil in der Kohorte der heutigen Professorinnen weniger Frauen mit dem Medizinstudium begonnen haben als im Wintersemester 2007/2008. Im Jahr 1986 waren es 42,8 Prozent. Bei Gleichheit aller anderen Umstände und
unter der Annahme, dass zwischen Studienbeginn und Professur etwa 20 Jahre liegen (Angaben des Statistischen Bundesamtes und [12]),
wäre dies also der Erwartungswert für den Frauenanteil an den im Jahre 2006 neu besetzten Professuren. Tatsächlich entfielen 2006 bei einem Bewerberinnenanteil von 14,2 Prozent jedoch nur 15,7 Prozent aller Berufungen in der Humanmedizin auf Frauen (15). Quellen: Statistisches Bundesamt, Kassenärztliche Bundesvereinigung und eigene Daten
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Autorenanteil folgt dem Anteil an
Wissenschaftler-Stellen
Tatsächlich dürfte der Frauenanteil an den Autorschaften eng mit dem Frauenanteil in der universitären Medizin zusammenhängen. Die weit überwiegende Mehrheit aller Autoren im wissenschaftlichen Teil des Deutschen Ärzteblatts arbeitet entweder direkt an Universitätskliniken oder ist als Professor oder Privatdozent
Fakultätsmitglied. Dabei schreibt nicht jeder Mitarbeiter einer Universitätsklinik wissenschaftliche Arbeiten, sondern vor allem diejenigen, die eine Habilitation
und eine akademische Karriere anstreben. Betrachtet
man in Grafik 3 den Anteil von Frauen an allen Professuren in der Humanmedizin (11,8 Prozent) und an allen Habilitanden (17,6 Prozent) sieht man, dass Frauen
in der Universitätsmedizin im Vergleich zu den Studierenden oder den anderen ärztlich tätigen Kollegen in
der Medizin unterrepräsentiert sind. Berücksichtigt
man darüber hinaus, dass im Deutschen Ärzteblatt fast
ausschließlich klinische Arbeiten erscheinen, wird die
Zahl an Erstautorinnen im Deutschen Ärzteblatt angesichts der wenigen Professorinnen (8,1 Prozent) und
Habilitandinnen (15,1 Prozent) klinischer Fächer plausibel. Der Anteil an Professorinnen entspricht auch ungefähr dem Anteil weiblicher Hochschullehrerinnen
im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Ärzteblatts. Im Sinne einer weitgehenden Parallelität von
Frauenanteil an den Universitäten und an allen Erstautorenschaften haben auch die Autoren amerikanischer
Studien den Frauenanteil an Publikationen in der Notfallmedizin (10) und der Chirurgie (11) interpretiert –
und auch in anderen akademischen Bereichen, wie etwa in der Biologie (13).
Nachdem Dr. Emilie Lehmus 1875 ihre Studien abgeschlossen hatte, erhielt sie keine Approbation für eine ärztliche Tätigkeit in Deutschland. Im Rahmen der
Kurierfreiheit ließ sie sich dennoch nieder und arbeitete bis zum Jahr 1900 als Ärztin in Berlin (1). Ein
Jahr zuvor hatte Baden es als erstes deutsches Land
Frauen ermöglicht, Medizin zu studieren (14) – rund
fünfzig Jahre, nachdem in den USA Frauen zum Medizinstudium zugelassen worden waren. Mehr als ein
Jahrhundert später ist dieser Beitrag eine weitere Gelegenheit, Autorinnen und Autoren gleichermaßen zu
ermutigen, im Deutschen Ärzteblatt zu publizieren.
4. van der Reis L: Causes and effects of changed gender ratio in
medicine. Med Teach 2004; 26: 506–9.
5. Lyon DS: Where have all the young men gone? Keeping men in
Obstetrics and Gynecology. Obstet Gynecol 1997; 90: 634–6.
6. Bühren A: Ärztinnen-Gesundheit. Dtsch Med Wochenschr 2008;
133; 23–5.
7. van Duursen RAA, Overbeke WH: Toename van het percentage
vrouwelijke artsen die publicieren in het Nederlands Tijdschrift
voor Geneeskunde (1948–1998), gelijkblijvend percentage onder
mannelije. Ned Tijdschr Geneeskd 200; 144: 1171–4.
8. Jagsi R, Guancial EA, Cooper Worobey C, Henault LE, Chang Y,
Starr R, Tarbell NJ, Hylek EM: The „gender gap“ in authorship of
academic medical literature – a 35-year perspective. N Engl J
Med 2006; 355: 281–7.
9. Bhattacharyya N, Shapiro N: Increased female authorship in otolaryngology over the past three decades. Laryngoscope 2000;
110: 358–61.
10. Fai Li S, Latib N, Kwong A, Zinzuwadia S, Cowan E: Gender trends
in emergency medicine publications. Aca Emerg Med 2007; 14:
1194–6.
11. Kurichi J, Kelz RR, Sonnad SS:Woman authors of surgical
research. Arch Surg 2005; 140: 1074–7.
12. Nonnemaker L: Women physicians in academic medicine: new insights from cohort studies. N Engl J Med 2000; 342: 399–405.
13. Stinson S: Participation of women in human biology, 1975–2001.
Am J Hum Biol 2003; 15: 440–5.
14. Burchardt A: Die Durchsetzung des medizinischen Frauenstudiums in Deutschland. In: Brinkschulte E. Weibliche Ärzte. Die
Durchsetzung eines Berufsbildes in Deutschland. Berlin: Edition
Hentrich 1993: 10s–23.
15. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Heft 139: Chancengleichheit in Wissenschaft und Forschung. Bonn: BLK 2007; Tabelle 5.2.1.
PD Dr. med. Christpher Baethge
Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion
E-Mail: [email protected]
First Authors in Deutsches Ärzteblatt: Women are Catching up
Dtsch Arztebl 2008; 105(28–29): 507–9
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0507
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Interessenkonflikt
Der Autor leitet die Medizinisch-Wissenschaftliche Redaktion des Deutschen
Ärzteblattes.
LITERATUR
1. Bornemann R (Hrsg.): Erste weibliche Ärzte. Die Beispiele der
„Fräulein Doctores“ Emilie Lehmus (1841–1932) und Franziska Tiburtius (1843–1927) – Biographisches und Autobiographisches. In:
Brinkschulte E: Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung eines Berufsbildes in Deutschland. Berlin, Edition Hentrich1993; 24–32.
2. Hibbeler B, Korzilius H: Die Medizin wird weiblich. Dtsch Arztebl
2008; 105(12): A 609–12.
3. Kilminster S, Downes J, Gough B, Murdoch-Eaton D, Roberts T:
Women in medicine – is there a problem? A literature review of
the changing gender composition, structures and occupational
cultures in medicine. Med Educ 2007; 41: 39–49.
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