Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen unter der - TD-IHK

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Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen unter der - TD-IHK
Vortrag
des Präsidenten der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer
Dr. Rainhardt Freiherr von Leoprechting
vor der
Deutsch-Türkischen Gesellschaft Bonn e.V.
Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen unter
der Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union
Es gilt das gesprochene Wort!
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Sehr geehrter Herr Generalkonsul Basa,
sehr geehrter Herr Schlegel,
sehr verehrte Vorstandsmitglieder der DTG,
liebe Mitglieder der TD-IHK,
sehr verehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute zu Ihnen, den Mitgliedern und Freunden der DTG Bonn, über die
deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen unter der Perspektive eines Beitritts der Türkei zur
Europäischen Union sprechen zu dürfen. Die Deutsch-Türkische Gesellschaft, der ich für die
Einladung zu diesem Vortrag danke, existiert in ihrer heutigen Form seit über 60 Jahren. Die
Tatsache, dass alle ihre Mitglieder im Gründungsjahr 1953 Bundestagsabgeordnete waren, ihre
hochkarätige heutige Zusammensetzung und ihre stetigen Aktivitäten zeigen, welchen Wert sie den
Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei beimisst. So erklärte es schon die Satzung der
Deutsch-Türkischen Gesellschaft von 1955 zum Ziel – ich zitiere -, „die freundschaftlichen,
kulturellen und sozialen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei zu fördern und
zum gegenseitigen Sichkennenlernen und zur Festigung der Freundschaft zwischen dem deutschen
und türkischen Volke
beizutragen“. Dieses, verehrte Damen und Herren, gelingt der Gesellschaft mit ihren mannigfaltigen
Aktivitäten und Veranstaltungen. Deshalb kooperiert die TD-IHK gern mit der DTG und es ist mir
eine Freude, heute einige Überlegungen zur türkischen Wirtschaft und zu den deutsch-türkischen
Handelsbeziehungen vortragen zu dürfen und meine Einschätzungen zu den Auswirkungen des EUBeitritts der Türkei auf diese Beziehungen mit Ihnen zu teilen.
Lassen Sie mich jedoch zunächst einige Worte zur Arbeit der Türkisch-Deutschen Industrie- und
Handelskammer sagen, in deren Namen ich heute hier bei ihnen zu Gast bin. Seit Gründung der
TD-IHK im Jahr 2003 ist es unser Ziel, die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen auszubauen
und zu vertiefen. Die TD-IHK unterstützt in Deutschland und der Türkei sowohl kleine und
mittelständische Unternehmen als auch sogenannte „Global Player“, sowie regionale IHKs und
Wirtschaftsförderungen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt dabei vorrangig den rund 80.000
türkischen und türkischstämmigen Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland. Sie haben
sich im Laufe der Zeit zu einem festen Bestandteil der deutschen Wirtschaft entwickelt und
bereichern unsere Gesellschaft, indem sie beispielsweise zu unserem wirtschaftlichen Wohlstand
beitragen sowie Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen. Wir bemühen uns deshalb, weitere
türkische Investitionen in Deutschland zu fördern.
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Für türkische Unternehmen in Deutschland und deutsche Unternehmen, die in der Türkei
investieren wollen, sind wir als TD-IHK eine wichtige Anlaufstelle. Durch die enge
Zusammenarbeit mit unseren Gründern, dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag [DIHK]
und der Türkischen Kammern- und Börsenunion [TOBB], sowie der Außenhandelskammer in
Istanbul verfügen wir über ein nahezu flächendeckendes Netzwerk an Kontakten sowohl in
Deutschland als auch in der Türkei. Hiervon profitieren unsere Mitglieder beim Ausbau ihrer
Geschäftsbeziehungen und ihrer Unternehmensentwicklung. Mit unserer stetig wachsenden
Mitgliederzahl von inzwischen über 400 Mitgliedern haben wir uns in Deutschland in den
vergangenen neun Jahren zu einem wichtigen Sprachrohr der bilateralen Wirtschaft entwickelt. In
Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erfreuen wir uns großer Akzeptanz.
Als TD-IHK setzen wir uns satzungsgemäß seit Jahren nachdrücklich für einen EU-Beitritt der
Türkei ein. Daher möchte ich heute ganz selbstverständlich die deutsch-türkischen
Wirtschaftsbeziehungen unter der Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei darstellen. Lassen Sie
mich deshalb nun zunächst mit einem kurzen Überblick über die wirtschaftliche Lage der Türkei
beginnen.
Die Türkei ist heute auf dem besten Weg in den Kreis der wichtigen Wirtschaftsmächte. In Europa
steht die Türkei bereits auf dem 6. Platz und global auf Platz 17 der Volkswirtschaften. Durch
effektive wirtschaftspolitische Maßnahmen hat es das Land geschafft, die chronisch hohe
Inflationsrate der letzten Jahre in den Griff bekommen. Während sie im letzten Jahr noch bei etwa
10 Prozent lag, werden für 2012 nur noch 6,5 Prozent prognostiziert. Die Türkei wurde von den
Wirtschafts- und Finanzkrisen in den Jahren 2008 bis 2009 und von der aktuellen
Staatsschuldenkrise in einer vergleichsweise günstigen Lage getroffen, denn der türkische Staat
musste bisher keine einzige Bank vor der Pleite retten. Dies ist kein Zufall, sondern die Türkei hat
nach der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise in 2001 wichtige Reformen im Bankenund Finanzsektor umgesetzt, die sich bewährt haben. Das ist meines Erachtens der Beleg dafür, dass
eine Regulierung des Bankenwesens in der EU notwendig ist.
Zudem erfüllt die Türkei seit Mitte des letzten Jahrzehnts zwei wichtige Maastricht-Kriterien:
Sowohl das Staatsdefizit als auch der Schuldenstand lagen deutlich unter den jeweiligen
Grenzwerten von 3 beziehungsweise 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die türkische
Regierung ist bestrebt, die Wirtschaft durch vermehrte ausländische Direktinvestitionen im Land
aus der Abhängigkeit von Exporten zu lösen und so das kritische Leistungsbilanzdefizit zu
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verringern. Die Türkei ist heute also deutlich stabiler geworden: sie stellt das Land mit dem
höchsten Wirtschaftswachstum in Europa dar. Sie ist, wie bereits gesagt, die sechsgrößte
Volkswirtschaft Europas und gehört zu der G-20 Gruppe.
Der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei gründet sich einerseits auf die Reformen der seit 2002
regierenden AKP hin zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, andererseits jedoch auch auf das
Vertrauen von Investoren in die politische Stabilität des Landes und damit auch der türkischen
Wirtschaft. Daran hat das Ziel der AKP-Regierung, die Mitgliedschaft der Republik Türkei in der
Europäischen Union anzustreben, maßgeblichen Anteil. Insofern stellt sich für mich natürlich die
Frage, was geschehen würde, wenn dieses politische Ziel des EU-Beitritts aufgegeben würde. Ich
vermute, dass sich die ausländischen Unternehmen mit ihren Investitionen künftig zurückhalten
würden.
Aber, die türkische Regierung verfolgt jedenfalls weiterhin das Ziel, das türkische Wirtschaftsrecht
an das der EU anzupassen. Wichtige Gesetzesänderungen wurden schon verwirklicht. Eine
umfassende Reform des Handelsgesetzbuches wurde verabschiedet und das Gesellschaftsrecht den
mitteleuropäischen Vorbildern angeglichen. Die Türkei ist dem Übereinkommen zum UNKaufrecht beigetreten. Ein modernes Investitionsgesetz sorgt für eine weitgehende
Gleichbehandlung zwischen In- und Ausländern. Ausländische Investitionen in der Türkei wurden
vereinfacht, indem Offenlegungspflichten für türkische Kapitalgesellschaften drastisch verschärft
wurden und somit die finanzielle Situation der Unternehmen erheblich einfacher ermittelt werden
kann. Die Popularität der zum dritten Mal wiedergewählten regierenden AKP und insbesondere des
Premiers Recep Tayyip Erdogan ist meines Erachtens auf den wirtschaftlichen Boom, den die
Türkei unter seiner Regierungszeit erlebt und der bei den Bürgern auch tatsächlich, d.h. spürbar
angekommen ist, zurückzuführen. Durch die Liberalisierung wurde der aufstrebende türkische
Mittelstand gestärkt, der in vielen Ländern, gerade auch bei uns in Deutschland, das Rückgrat der
Wirtschaft darstellt.
Die zunehmend zu hörende Auffassung, dass die dynamische Macht am Bosporus mit ihrer
boomenden Wirtschaft das Interesse an der Vollmitgliedschaft in der EU verlieren könnte, ist, trotz
Verständnisses für manche Enttäuschungen, auch für mich besorgniserregend. Ich habe am
vergangenen Donnerstag in Istanbul anlässlich des 60. Geburtstages der Türkischen Kammern und
Börsenunion [TOBB] an deren Internationalem Business Forum teilgenommen. In den Ansprachen
von Vize-Premierminister Ali Babacan, des Ministers für Handel und Zoll Hayati Yazici und des
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Präsidenten von TOBB Rifat Hisarciklioglu wurde intensiv über Europa gesprochen. Vom Beitritt
der Türkei in die EU sprach keiner der drei Redner!
Aber, auch die Türkei braucht die EU. Wenngleich die Türkei durch die aktuellen politischen
Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten zu einer noch bedeutenderen Regionalmacht
geworden ist, so könnte sie als Teil der EU eine noch wesentlich größere, gestaltende Rolle spielen.
Und auch die EU braucht die Türkei. Nur mit der Türkei gewinnt die EU größeren Einfluss in
wichtigen Nachbarregionen. Als Brücke zwischen Asien und Europa hat die Türkei eine
entscheidende strategische Bedeutung für die Energieversorgung Europas aus Zentralasien und dem
Nahen Osten, wenn wir nicht dauerhaft von russischen Erdgaslieferungen abhängig bleiben wollen.
Die Türkei ist ein Land mit großem Markt- und Wachstumspotential. Die Bevölkerungsstruktur der
Türkei ist ausgeglichen. Von den rund 74 Millionen potentiellen Kunden sind 65 Prozent jünger als
34 Jahre. Der Altersdurchschnitt liegt bei ca. 28 Jahren. Von solchen Altersstrukturen können wir in
Zeiten des demographischen Wandels in Deutschland wirklich nur träumen. Die junge türkische
Bevölkerung ist dabei nicht nur ein herausragender Wirtschaftsfaktor. Vielmehr ist sie eine wichtige
Quelle für den Nachwuchs qualifizierter Arbeitskräfte. An diesen mangelt es in Deutschland
bekanntlich in fast allen Bereichen und dieser Trend wird sich dramatisch verstärken.
Die Arbeitslosigkeit in der Türkei ist mit knapp 10 Prozent – bei abnehmender Tendenz - zwar
immer noch hoch, doch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit 2002 mehr als
verdreifacht. Heute hat die Türkei mit der Erfüllung der Maastricht-Kriterien des EuroStabilitätspaktes weniger Probleme als eine Reihe von Vollmitgliedern der EU. Die positive
wirtschaftliche Entwicklung der Türkei lobt auch die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht
aus dem letzten Jahr. Faktoren, die dort positiv betont werden, sind unter anderem das
Wirtschaftswachstum, die gestiegene Binnennachfrage, ein zunehmender Außenhandel und die
sinkende Arbeitslosigkeit.
Dieser Zuwachs an wirtschaftlicher Bedeutung der Türkei schlägt sich auch in den bilateralen
Handelsbeziehungen mit Deutschland nieder. Die Bundesrepublik ist seit langem der wichtigste
Wirtschaftspartner der Türkei. Sie ist der größte Abnehmer türkischer Waren und auf Platz zwei
unter den Hauptlieferanten der Türkei. Der Handel unserer beiden Länder erreichte im letzten Jahr
über 26 Milliarden Euro. Davon fielen rund zehn Milliarden Euro auf den Import türkischer Waren,
der Export in die Türkei betrug etwa 16 Milliarden Euro. Bei den Importen aus der Türkei ist damit
ein Plus von über 21 Prozent zum Vorjahr zu verzeichnen, beim Export sogar fast 31 Prozent.
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Viele deutsche Firmen haben das Potential des türkischen Marktes erkannt und machen es sich zu
Nutzen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind Unternehmen wie Dr. Oetker, Thyssen Krupp,
Mercedes Benz, Siemens und die METRO GROUP, die ich in der TD-IHK vertrete. Daneben
gehört zu den Investoren in der Türkei aber auch eine Vielzahl an klein- und mittelständischen
Unternehmen. Insgesamt führen deutsche Unternehmer die Liste ausländischer Investoren in der
Türkei an und es sind über 5.000 deutsche Unternehmen dort präsent. Gleichzeitig leisten rund
80.000 türkische und türkischstämmige Unternehmerinnen und Unternehmer in der
Bundesrepublik, ich sagte es eingangs bereits, einen wertvollen Beitrag zur deutschen Wirtschaft.
Sie investieren hier etwa acht Milliarden Euro und erwirtschaften einen Jahresumsatz von rund 40
Milliarden Euro. Daneben sichern sie mehr als 400.000 Menschen den Arbeitsplatz.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Zuzug von Türken nach Deutschland rückläufig ist. Zwischen
2008 und 2010 war die Abwanderung in die Türkei sogar größer als die Übersiedlungen nach
Deutschland. Insbesondere gut ausgebildete Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die
in Deutschland aufgewachsen sind, verlegen ihren Lebensmittelpunkt häufiger in das Land ihrer
Eltern und Großeltern, weil dort inzwischen vielversprechende wirtschaftliche Zukunftsaussichten
bestehen. Meine Damen und Herren, viele deutsche Politiker verharmlosen meines Erachtens diese
Entwicklung, indem sie sagen, diese Menschen gehen in ihre Heimat zurück. In Wirklichkeit
handelt es sich um eine Auswanderung aus Deutschland, denn diese Menschen sind hier bei uns
geboren worden, bei uns aufgewachsen und haben hier ihre Ausbildung gemacht. Sie sehen nicht
nur bessere Chancen in der Türkei, sondern sie fühlen sich häufig bei uns nicht willkommen.
Nachteile bei Bewerbungen bei deutschen Unternehmen sind, wie ich leider aus eigener
Wahrnehmung bestätigen muss, bei Bewerberinnen und Bewerbern mit türkischem Namen nicht
selten. Es droht also auch keine ungezügelte Zuwanderung nach Deutschland, sollte die Türkei EUMitglied werden.
Zudem intensivieren, was ich sehr begrüße, deutsche und türkische Universitäten und andere
Bildungseinrichtungen ihre Kooperationen, um den Austausch gut ausgebildeter junger Menschen
beider Länder voranzutreiben. Im kommenden Jahr soll die staatliche Türkisch-Deutsche
Universität in Istanbul ihren Lehrbetrieb aufnehmen, deren Grundstein vor zwei Jahren von den
Staatspräsidenten beider Länder gelegt wurde.
Dieser intensive und rege Austausch zwischen unseren beiden Ländern in Wirtschaft und
Ausbildung zeigt die Bedeutung unserer beiderseitigen Beziehungen. Während die wirtschaftlichen
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Effekte des bilateralen Handels in beiden Ländern schon lange nicht mehr wegzudenken sind, wird
durch die intensivierte Kooperation auf dem Gebiet der Bildung die Grundlage für zukünftige
Zusammenarbeit und erfolgreiches zwischenstaatliches Wirtschaften weiter gestärkt.
Trotz dieser stetigen positiven Entwicklungen entspricht der derzeitige Umfang der
Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nur zu einem Bruchteil dessen, was
zukünftig noch zu erreichen ist. Zwar besteht seit 1996 eine Zollunion zwischen der Türkei und der
Europäischen Union. Sie trat am 1. Januar 1996 in Kraft und stellt derzeit die engste wirtschaftliche
und politische Beziehung zwischen der EU und einem Nicht-Mitgliedsstaat dar. Durch Zoll- und
Gebührenfreiheit und ein Quotenverbot erlaubt sie bereits heute den freien Austausch von Waren
zwischen der Türkei und den derzeitigen 27 Mitgliedsstaaten der EU. Allerdings gilt dies nur für
Industriegüter und verarbeitete Agrarprodukte. Mit Bezug hierauf schreibt die EU-Kommission in
einem Arbeitspapier aus dem Jahr 2004 – also zu einer Zeit, als die türkische Wirtschaft noch nicht
ihre heutige Stärke erreicht hatte - zu einem Beitritt der Türkei: „Es ist zu erwarten, dass eine
weitere Liberalisierung des Handels auf Feldern, die nicht durch die Zollunion abgedeckt werden,
die Handelsströme weiter verstärken wird“. Weiterhin würde der Beitritt das Wirtschaftswachstum
verstärken und den Wohlstand in der Türkei erhöhen.
Die Türkei hat sich bereits im September 1959 um die assoziierte Mitgliedschaft in der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beworben. Das Assoziationsabkommen, das sogenannte
Ankara-Abkommen, das 1964 in Kraft trat, hatte das Ziel, die Türkei nach einer gewissen
Übergangszeit zum Mitglied der EWG zu machen. Doch erst 35 Jahre später, im Dezember 1999,
verlieh der Europäische Rat der Türkei den Status eines offiziellen Kandidatenlandes und erst im
Oktober 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen tatsächlich eröffnet. So lange hat noch kein Land
vor der Tür gestanden, um in das Haus der Europäischen Gemeinschaft eintreten zu dürfen. Heute
stehen die Verhandlungen leider beinahe still und der Beitrittsprozess ist von Vorbehalten geprägt.
Diese Vorbehalte werden manchmal seitens der Europäischen Union selbst vorgebracht, teilweise
von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, nicht selten aber auch durch Teile der deutschen
Regierung und einer an ihr beteiligten bayerischen Partei sowie einer kritischen Öffentlichkeit.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Vorbehalte besteht die Gefahr einer Ermüdung der Reformkraft in
Ankara.
Dabei würde der EU-Beitritt der Türkei allein schon aus wirtschaftlicher Perspektive einen großen
Gewinn darstellen. Die zahlreichen Studien, die sich mit den wirtschaftlichen Effekten der Türkei
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als 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union auseinandersetzen, führen größtenteils nur positive
Auswirkungen an.
Auf türkischer Seite ist, so steht es in dem bereits zitierten Arbeitspapier der EU-Kommission aus
dem Jahr 2004, mit einem signifikanten wirtschaftlichen Wachstumsschub zu rechnen. Grund dafür
sind die zu erwartenden Strukturreformen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem EUBinnenmarkt, eine Intensivierung des bilateralen Handels, vermehrte und höhere
Direktinvestitionen und eine gesteigerte Produktivität. Aber auch die jetzigen 27 Mitgliedsstaaten
würden Vorteile von der Türkei als einem vollwertigen Mitglied der Europäischen Union erzielen.
Laut der Kommission würden alle EU-Länder in ihren Exporten vom beschleunigten
Wirtschaftswachstum der Türkei profitieren. Außerdem würde ein verbessertes Investitionsklima
die Direktinvestitionen in der Türkei erhöhen und das Leistungsbilanzdefizit verringern.
Leider sind mir wenige wirklich aktuelle Studien zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines EUBeitritts der Türkei bekannt. Da das Land in den letzten Jahren ein enormes Wirtschaftswachstum
erlebt hat, ohne dass sich die Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben, sind die Ergebnisse
der etwas älteren Studien in der Regel aber recht gut auf die heutige Lage übertragbar. Eine
Untersuchung des Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Konrad Lammers aus dem Jahr 2006
beispielsweise zeigt, dass die türkische Wirtschaftspolitik schon weitestgehend mit jener der
Europäischen Union harmoniert. Daher sind die Risiken und Kosten einer Erweiterung der Union
gering. Stattdessen bietet sie beispielsweise auf dem Gebiet der Direktinvestitionen offensichtliche
Vorteile. Lammers schreibt: „Das Potenzial bei den ausländischen Direktinvestitionen aus EULändern wird nicht ausgeschöpft. Durch die Erweiterung des Binnenmarktes um die Türkei wird die
Rechtssicherheit für Investoren erhöht werden.“ Sein Fazit lautet daher, dass eine
Vollmitgliedschaft der Türkei von Vorteil sein kann.
Eine weitere Studie des staatlichen Wirtschaftsinstituts in Finnland betont ebenfalls die positiven
Effekte des Beitritts für das Land selber. Demnach würde das Bruttoinlandsprodukt steigen und ein
besonders starkes Wachstum würde vor allem in den Holz-, Elektronik-, Automobil- und
Textilindustrien ausgemacht werden. Diesen positiven Effekt auf die Produktivität und den
Wohlstand in der Türkei betont auch eine Untersuchung des Forschungszentrums „Friends of
Europe“. Außerdem ist in ihr die Rede von einem, zwar geringen, aber deutlich positiven Effekt auf
die Wirtschaft der jetzigen Mitgliedsstaaten. Die Auswirkungen des Beitritts auf Investitionen in
der Türkei bezifferte die Organisation noch vor einigen Jahren mit einem Anstieg um zwei bis vier
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Milliarden Euro pro Jahr. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele dieser potenziellen
Investitionen aus Deutschland kämen und damit auch unsere Wirtschaft davon profitieren würde.
Eine große Hürde für die Intensivierung der deutsch-türkischen Handelsbeziehungen stellt die
derzeitige Visapraxis dar. Während Deutsche visumsfrei in die Türkei einreisen können, müssen
sich türkische Staatsbürger für die Bundesrepublik zunächst um eine Einreiseerlaubnis bemühen.
Dies stellt insbesondere für Geschäftsleute ein Problem dar, denn das Antragsverfahren macht in
vielen Fällen kurzfristige Geschäftsreisen und Arbeitseinsätze ihrer Mitarbeiter unmöglich. Es
mindert massiv die Flexibilität türkischer Geschäftspartner. Dies ist ein klarer Wettbewerbsnachteil.
Um die Verfahrensabläufe weiter zu verbessern, arbeitet die TD-IHK derzeit gemeinsam mit dem
Bundesministerium des Innern, das für die Sicherheitsfragen zuständig ist, an einem Konzept, das
türkischen Geschäftsleuten wenigstens zu längerfristigen Visa verhelfen soll. Dies geschieht in
Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt. Insofern habe ich mich sehr gefreut, anlässlich des
Wirtschaftstages im Rahmen der 11. Botschafterkonferenz am 28. August 2012 in Berlin in der
Rede von Bundesaußenminister Westerwelle gehört zu haben, dass er die Beseitigung der
Visapflicht ebenfalls nachdrücklich fordert und fördert.
In der andauernden, für Europa, den Euro-Raum und einzelne Mitgliedstaaten existentiellen
Schuldenkrise konzentrieren sich die europäischen Staats- und Regierungschefs darauf, die
europäische Integration zu vertiefen und die Finanzpolitiken der Mitgliedstaaten besser zu
koordinieren. In dieser Situation die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, wenn diese es
denn trotz dieser Situation will, bleibt m.E. dennoch eine Chance, die trotz dieser aktuellen
Herausforderungen nicht verpasst werden darf. Im globalen Wettbewerb können sich langfristig
einzelne europäische Staaten nicht behaupten. Auch starke Volkswirtschaften wie Deutschland sind
dazu nicht in der Lage. Nur in einer Europäischen Wirtschaftsunion, auf die ich die EU
selbstverständlich nicht reduzieren möchte - ganz im Gegenteil - werden wir eine Chance im
globalen Wettbewerb haben. Die EU als Wirtschaftsraum würde mit der Türkei wegen ihrer
Wirtschaftskraft und ihrer geographischen Lage größeres wirtschaftliches Gewicht bekommen und
neue Märkte erschließen. Für die Türkei bildete die Perspektive der EU-Mitgliedschaft die
Grundlage für den enormen wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre. Ein EU-Beitritt der
Türkei würde ihre Wirtschaft und den internationalen Handel mit ihr noch weiter verstärken.
Deshalb darf die Türkei dieses Ziel nicht aufgeben.
In den 90er Jahren prägten noch eine hohe Inflation, horrende Zinsen und eine hohe
Krisenanfälligkeit das Land. Doch die Voraussetzungen einer der langwierigsten europäischen
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Debatten haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert: Die Türkei ist nicht mehr jenes
arme Land, das es einmal war. Die starke Wirtschaft der Türkei sowie die Zuversicht türkischer
Unternehmer und weiter Teile der türkischen Gesellschaft sind beeindruckend. Kayseri, Konya,
Gaziantep und viele weitere Städte sind mittlerweile moderne Wirtschaftszentren in der östlichen
Türkei, die auch als „anatolischer Tiger“ bezeichnet wird. Eine neue Klasse türkischer Unternehmer
ist entstanden. Durch die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere durch kleine
und mittelständische Unternehmen, ist die Türkei reicher und moderner geworden. Die EUMitgliedstaaten sind aufgefordert, diese Veränderungen wahrzunehmen und die nationalen
Positionen an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.
Sie sehen also, dass ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union nicht zuletzt aus wirtschaftlicher
Perspektive zu begrüßen ist. Und obwohl das starke Wirtschaftswachstum des Landes in den letzten
Jahren stark mit den Reformen im Zuge des Beitrittsprozesses zusammenhängt, stockt dieser. Seit
dem letzten Jahr ist kein neues Kapitel in den Verhandlungen eröffnet worden. Dies bedauere ich
aufrichtig. Zur europäischen Rechtsstaatlichkeit gehört es, dass geschlossene Verträge eingehalten
werden: Pacta sunt servanda. Für die Beitrittsdebatte um die Türkei bedeutet dies, dass die
Beitrittsverhandlungen, die auf Basis der Erfüllung der sogenannten Kopenhagener Kriterien durch
die Türkei von den Staats- und Regierungschefs zugesagt wurden, mit dem Ziel der
Vollmitgliedschaft geführt werden.
Voraussetzung für einen EU-Beitritt ist und bleibt natürlich die Erfüllung aller Beitrittskriterien und
als Freund der Türkei werde ich nicht verschweigen, dass hier noch einige Probleme zu überwinden
sind. Der Weg in die EU verlangt tiefgreifende Reformen in Staat und Gesellschaft. Die bereits
umgesetzten Reformen zeigen aber, wie wandlungsbereit und –fähig die Türkei ist. Sie wird nach
meiner festen Überzeugung die nötigen weiteren Reformen und Anstrengungen für eine EUVollmitgliedschaft erfolgreich bewältigen können. Die Beitrittsperspektive hat in der Türkei die
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestärkt. Die Beitrittsfähigkeit ist aber noch – ich betone – noch
nicht gegeben. Die nach dem Militärputsch erlassene Verfassung von 1983 ist in sich
widersprüchlich und reformbedürftig, sie schwächt die Demokratie.
Der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit, sie ist ideologisch ausgerichtet und wird politisch
instrumentalisiert. Die Presse-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ist nicht ausreichend
geschützt und wird durch politischen Druck auf die Medien beeinträchtigt. Der Minderheitenschutz
ist weiter zu verbessern. Trotz unbestreitbarer Fortschritte ist außerdem die Religionsfreiheit noch
eingeschränkt. Insofern begrüße ich ausdrücklich, dass eine neue Verfassung in der jetzigen
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Legislaturperiode des türkischen Parlaments angestrebt wird, bei der alle im Parlament vertretenen
Kräfte mitwirken sollen.
Der Zypern-Konflikt stellt ein weiteres Problem dar, das es zu lösen gilt. Insbesondere die aktuelle
Haltung Ankaras gegenüber der EU-Ratspräsidentschaft, die turnusgemäß die Republik Zypern seit
dem 01. Juli 2012 innehat, ist für den Beitrittsprozess nicht hilfreich. Es können nicht für ein halbes
Jahr die Beziehungen zu der Organisation eingefroren werden, der die Türkei beitreten möchte.
Trotz dieser Probleme, die ich nicht nur heute offen anspreche, folge ich nicht einem Rigorismus,
der das Gute ablehnt, nur weil das Beste noch nicht erreicht ist. Das Reformpotenzial der Türkei ist
vorhanden und muss sowohl in Brüssel als auch in Berlin, Paris und Wien stärker anerkannt
werden. Und sowohl im Interesse der Türkei, als auch im Interesse der EU muss mit dem klaren
Ziel der EU-Vollmitgliedschaft weiter verhandelt werden. Denn die EU-Beitrittsverhandlungen
waren und sind Anreiz für durchgreifende politische und wirtschaftliche Reformen in der Türkei.
Dass ich mit dieser Meinung nicht alleine stehe, zeigt übrigens ein gemeinsamer Namensartikel von
16 Außenministern europäischer Staaten vom Juni dieses Jahres. Darin betonen unter anderen der
deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der britische Außenminister William Hague und der
finnische Außenminister Erkki Tuomioja, dass die Beziehungen der EU zur Türkei insbesondere in
Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrisen und einer unsicheren Lage im Nahen Osten wichtiger
denn je seien. Sie begrüßen die jüngsten Bemühungen seitens der EU zur Erleichterung des
Visaverfahrens für türkische Staatsbürger und betonen das starke türkische Wirtschaftswachstum.
Die Türkei sei das Land mit dem zweitstärksten Anstieg des Bruttoinlandsproduktes innerhalb der
G20 nach China und stelle den fünftgrößten Exportmarkt der EU dar. Zwar würden auch die
türkischen Handelsbeziehungen mit der EU stetig ausgebaut, jedoch sei im türkischen Handel mit
anderen Ländern ein stärkeres Wachstum zu verzeichnen. Ein Grund hierfür seien Probleme der
Zollunion und Handelsbeschränkungen. Ein Abbau dieser Hindernisse, so die 16 Außenminister, sei
ein wichtiger Teil der Bemühungen um wirtschaftliches Wachstum. Mit Blick auf den
Beitrittsprozess betonen sie: „So, wie die Türkei ihre Pflichten gegenüber der EU erfüllen muss, so
muss auch die EU ihren Verpflichtungen nachkommen“.
Trotz aller vor uns liegenden Herausforderungen, aber gerade wegen der großen Chancen hat die
Türkei in meinen Augen eine faire Chance auf die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union
verdient. Sie käme nicht zuletzt auch den Wirtschaftsbeziehungen unserer beiden Länder zugute.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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