Reaktionen auf die abstrakte Gestik

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Reaktionen auf die abstrakte Gestik
Realismen nach 1945
Reaktionen auf die abstrakte Gestik
In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ist - als Reaktion auf den Abstrakten
Expressionismus - eine Rückkehr zur Gegenständlichkeit feststellbar. Zum Teil
entwickeln die Künstler ihre neue Bildsprache aus dem Informel, zum Teil orientieren
sie sich am Dadaismus und an der surrealistischen Objektkunst.
In Deutschland erfolgt - bedingt durch den Zweiten Weltkrieg - eine verspätete
Auseinandersetzung mit dem Stil der lyrischen Abstraktion (Art Brut, "Cobra").
In England leiten Francis BACON (1909-1992) und Alan DAVIE (geb. 1920) die
Abkehr von der informellen Abstraktion ein. Während Stilmischung in den Werken
von Alan Davie Parallelen zum postmodernen Eklektizismus der achtziger Jahre
aufweist, nimmt der Autodidakt Bacon, indem er die Alltagsbildwelt nutzt, ein
wesentliches Merkmal der Pop Art vorweg. Schon in den frühen fünfziger Jahren
benutzt er fotografische Porträtvorlagen für seine Gemälde, in denen er die
Schrecken der Gegenwart thematisiert. Sein Stil ist durch eine verzerrende und
verwischende Maltechnik gekennzeichnet. Anregungen zu seiner Malweise bezieht
er von Graham SUTHERLAND (1903-1980), der im Zweiten Weltkrieg als offizieller
Kriegsmaler tätig war.
In den USA sind die wesentlichen Quellen der Oppositionsbewegung gegen den
Abstrakten Expressionismus die surrealistische Objektkunst und die dadaistische
Collage. Die Rückkehr zur Gegenständlichkeit wird vor allem von Rauschenberg und
Jasper Johns betrieben.
Robert RAUSCHENBERG (geb. 1925) geht - beeinflusst durch dadaistische
Collagen - von der Überzeugung aus, dass die Wiederanbindung der künstlerischen
Bildwirklichkeiten an die Lebenswirklichkeit am konkretesten durch Hereinholen von
Teilen der realen Wirklichkeit zu erreichen ist. Parallel dazu erschließt sein Freund
John Cage in der Musik neue Klangbereiche durch das Einbeziehen von Zitaten der
Alltagsakustik in seine Kompositionen. Um 1950 experimentiert Rauschenberg mit
großformatigen Blaupausen, auf denen er lebensgroße Figurensilhouetten ablichtet
(vgl.: Rayogramme, Anthropometrien von Yves Klein). Mit dieser unmittelbaren
Gegenstandsabbildung und mit der Ausradierung einer De Kooning-Zeichnung
(1953) dokumentiert er seine Distanz zum Abstrakten Expressionismus.
Rauschenbergs nächster Schritt ist die Integration von Realien in expressiv-abstrakt
gemalte Bilder. Diese Kombination von Ready-Made-Gegenständen und malerischer
Gestik werden als Combine Paintings bezeichnet.
Auch Jasper JOHNS (geb. 1930) strebt durch das Einbeziehen von
Wirklichkeitszitaten eine Abwendung von den unbestimmten Bildräumen des
Abstrakten Expressionismus an.
Seine gemalten Fahnen (1954/55) sind zwar keine illusionistischen Abbilder, sondern
durch ihre aus der expressiven Farbgebärde resultierende Oberflächentextur deutlich
von realen Fahnen unterschieden, aber andererseits wird der Farbgestus durch das
klar gegliedert, einfache Motiv relativiert.
Claes OLDENBURG (geb. 1929) beginnt 1961/62 aus Gips geformte Nachbildungen
wirklicher Gegenstände herzustellen, die zum Teil eine vom Original unterschiedliche
Oberflächen-wirkung aufweisen oder monumental aufgebläht erscheinen.
George SEGAL (geb. 1924) stellt ab 1962 wirkliche Menschen in wirklichen
Situationen dar. Mit seinen Environments aus Alltagsgegenständen und Gipsfiguren,
die von lebenden Modellen abgeformt wurden, sucht er nach einer intimen
Wiedergabe der Wirklichkeit. Das fremde Weiß der Figuren bewirkt eine isolierende
Distanz, die alles Unwesentliche zugunsten der reinen psychischen Aussage bannt
("Eingefrorene Happenings").
Neosurrealismus
Unter dem Einfluß des automatischen Surrealismus (Matta, Tanguy) und der
Künstlerpersönlichkeiten Max Ernst und Salvador Dali entsteht eine Bewegung, bei
der das Phantastische im Widerspruch einer alogisch traumhaften Bildvision mit
Herkunft aus dem Unbewußten und deren fotografisch genauer Darstellung besteht.
Der Neosurrealismus in Deutschland steht unter dem Einfluß von Hans BELLMER
(1912-1975), der während seiner Emigration in Paris von den französischen
Surrealisten begeistert gefeiert worden war. Vor allem sein "künstliches Mädchen"
(1933), eine Puppe, deren Wirkung auf der Ambivalenz von erotischer Faszination
und schockierender Amputation beruhte, inspirierte nach dem Zweiten Weltkrieg
Künstler wie Horst JANSSEN (geb. 1929), Mac ZIMMERMANN (geb. 1912) oder
Paul WUNDERLICH (geb. 1927).
Mit einem dem Jugendstil nahen expressiven Surrealismus findet der
Neosurrealismus in Österreich eine spezielle Ausprägung. Die "Wiener Schule des
phantastischen Realismus" (ab den späten fünfziger Jahren) ist gekennzeichnet
durch einen gezielt manieristischen Stil mit retrospektiver Blickrichtung auf eine heile
Symbiose alles Lebenden in einem idyllischen Chaos und durch ihre altmeisterliche
Maltechnik (Vorbilder: Hieronymus Bosch, Bruegel, Rembrandt und Botticelli). Die
Künstlergruppe rekrutiert sich aus Malern, die um 1950 an der Wiener Akademie der
Bildenden Künste Schüler des Malerliteraten Albert Paris Gütersloh waren: Rudolf
HAUSNER (geb. 1914), Erich BRAUER (geb. 1921), Wolfgang HUTTER (geb. 1928),
Anton LEHMDEN (geb. 1929) und Ernst FUCHS (geb. 1930).
Im Gegensatz dazu zeigt Alfred HRDLICKA (geb. 1928) in seinen Werken die nackte
Wahrheit, anstatt sie mit der Flucht in den reinen Ästhetizismus zu verschweigen.
In Westdeutschland ist in den Arbeiten von Werner HELDT (1904-1954) und Bruno
GOLLER (geb. 1901) eine der neuen Sachlichkeit verwandte Bildmagie feststellbar.
Sie findet eine Fortsetzung in den Maschinenbildern von Gollers Schüler Konrad
KLAPHECK (geb. 1935): Geräte des technischen Alltags (wie Schreib- oder
Nähmaschinen) werden zu hintergründigen Aussageträgern menschlicher
Eigenschaften.
Als wichtiger Vertreter einer neosurrealistischen Objektkunst ist auch der
Österreicher Curt STENVERT (geb. 1920) zu nennen, dessen Assemblagen auf der
Basis des phantastischen Realismus einen Blick hinter die Fassaden werfen lassen.
In diesem Sinne ist er ein bewußter Antipode zur gleichzeitigen Pop Art.
In den USA schafft Edward KIENHOLZ (geb. 1927) in seinen Tableaus und
Environments eine magisch suggestive Horrorkunst des Schocks. "Die
Objektmontagen erweisen sich im Schockerlebnis als Widerspiegelung einer
entlarvten, in sich grotesken Realität, die im Alltag den Mantel konventioneller
Ordnung trägt, aber unter dieser Hülle grauenhafte Entfremdung und kranke
Leidenschaft verbirgt" (Bis Heute, S. 277)
Nouveau Realisme - New Realism - Neuer Realismus
Um 1960 beginnen sowohl in Europa als auch in den USA Künstler danach zu
streben, mit neuen Techniken und ungewohnten Materialien, das Leben in die Kunst
hineinzuholen. Die Integration des Konsumalltags in die Kunst läßt neue
künstlerische Präsentationsformen entstehen (z.B.: Environment als begehbare
Plastik, Installation als Raumgestaltung).
In Frankreich formuliert der Kritiker Pierre Restany die Theorien des Nouveau
Realisme. Die lose Gruppe, die für vieles und viele offen war, pflegte enge
Beziehungen zu gleichgesinnten Künstlern in den USA (z.B.: Rauschenberg, Johns
und Christo). Die gleichzeitige Bewegung in den USA bezeichnete sich selbst als
New Realism und wurde erst später der Pop Art einverleibt.
Den Nouveau Realisme in reinster Form repräsentieren die Fallenbilder von Daniel
SPOERRI (geb. 1930) und die Akkumulationen von ARMAN (geb. 1928). Während
Spoerri in seinen Fallenbildern eine Situation festhält, die der Zufall geschaffen hat,
stellt Arman Gruppen identischer oder ähnlicher Gegenstände in Schaukästen aus.
Erst in dieser Gruppierung wird bewußt, daß gleiche Gegenstände mit gleichem
Funktionscharakter nicht die gleiche äußere Erscheinung haben.
Jean TINGUELY (1925-1991) schafft mit seinen kinetischen Apparaturen aus Schrott
moderne Metaphern des Alltags als Miteinander von Zufall und Ordnung. CÈSAR
(geb. 1921) läßt Autokarosserien und Ölkannen zu "Compressions"
zusammenpressen.
Die sogenannten "Affichisten" François DUFRÊNE (geb. 1930), Jacques VILLEGLÉ
(geb. 1926) und Raymond HAINS (geb. 1926) entwickeln mit ihren "Dessous", der
Freilegung von übereinandergeklebten Plakatschichten, ein neues
Gestaltungsprinzip. Sie beeinflussen damit den Deutschen Wolf VOSTELL (geb.
1932) und den Italiener Mimmo ROTELLA (geb. 1918).
In den USA sind zum Teil ganz ähnliche Tendenzen wie bei den Nouveau Realiste
feststellbar. Wie unterschiedlich und kontrastreich die künstlerischen Äußerungen der
Neuen Realisten sein können zeigt der Vergleich zwischen Niki de SAINT-PHALLE
(geb. 1930) und Cy TWOMBLY (geb. 1929). Während die Nana-Puppen von Niki de
Saint-Phalle einen unmittelbaren Bezug zur Jahrmarktästhetik aufweisen, versucht
Cy Twombly mit seinen auf mauerartige Hintergründe gekritzelten spontanen,
kryptischen Zeichen, die vom Abstrakten Expressionismus beeinflußt sind und an
Werke von Dubuffet erinnern, die Sprache der Graffiti in die Kunst zu integrieren.
Allgemeines Kennzeichen der Nouveau Realiste ist der Rückgriff auf die Ideen des
Futurismus und des Dadaismus. Unübersehbar sind auch die sonstigen Bezüge zur
Kunsttradition: Cèsar variiert das uralte Thema "Stele", Tinguelys Arbeiten erinnern
an barocke Brunnen- Garten- und Theaterarchitekturen und Spoerris Fallenbilder
sind moderne Entsprechungen der holländischen Stilleben.
Als Tinguely 1970 anläßlich der Enthüllung eines monumentalen Phallus vor dem
Mailänder Dom das Ende des Nouveau Realisme verkündet, ist dieser bereits mit der
amerikanischen Pop Art zu einem großen neuen Stil verschmolzen.
Überall streben Künstler nach einer Annäherung von Kunst und Leben unter
intensiver Nutzung aktionshafter, mixed-medialer und multimedialer
Ausdrucksformen:
Der Deutsche Timm ULRICHS (geb.1940) stellt 1965 in Berlin seine eigene Person
als "erstes lebendes Kunstwerk" aus. Er demonstriert damit - auf Ideen des
Dadaismus aufbauend -einen neuen Kunstanspruch, für den alles, was nach dem
Willen des Künstlers Kunst sein soll, auch Kunst ist.
Der Amerikaner Robert INDIANA (geb.1928) entwickelt eine lettrisch-emblematische
Kunst. Er verbindet die Ikonographie der Verkehrszeichen und Reklametafeln mit
einem romantisch gefärbten sozialkritischen Engagement, "das mit schlagwortartigen
Appellen unmittelbar durch visuelle Impulse zur Besinnung aufrütteln soll" (Bis Heute,
S. 280). In seinen berühmten "Love"-Bildern verstärken die Farben dank ihres
Symbolwertes die Textaussage.
Viele europäische Vertreter dieser aus der Synthese literarischer und bildnerischer
Elemente enstehenden Kunst sind dem dadaistischen Vorbild der Zeitungscollagen
und Simultandichtungen der zwanziger Jahre verpflichtet: u.a. Jirí KOLÁR (geb.1914)
und Ernst JANDL (geb. 1925). In den Arbeiten von Thomas BAYRLE (geb. 1937)
treten seriell verwendete Bildelemente als Strukturraster der Darstellung an die Stelle
der Buchstaben, während Peter BRÜNING (1929-1970) kartografische Zeichen als
Bildelemente künstlicher Landschaftsbeschreibungen einsetzt. Brünings These
lautet: "Wenn das Zeichen zum Objekt wird, wird jedes Element des Kodes zu einem
realen Element der bezeichneten Wirklichkeit. Die semiologische Sprache basiert auf
dem vollständigen Aufgehen der Idee in der Form, so daß beide identisch werden."
(Bis Heute, S. 287)
Pop Art und Post-Pop Art
Die Pop Art hat zwei voneinander unabhängige Keimzellen in den USA und in
England. Während sich die amerikanische Pop Art aus dem neodadaistischen New
Realism und der "American Scene" der dreißiger Jahre (Edward Hopper !) entwickelt
hat, ist die englische Pop Art aus einer selbständigen Volks-und Subkultur und
Anregungen von Francis Bacon entstanden.
Beiden Richtungen gemeinsam ist die zwiespältige Haltung von Verehrung und
ironischer Distanz zur Konsumkultur, die Konzentration auf aktuelle Themen und die
Nutzung der künstlerischen Möglichkeiten der Collagetechnik. Beide suchen
Antworten auf die Frage: "Wie nah kann ein Kunstwerk seiner Quelle sein und dabei
seine Identität wahren?"
Als Geburtsstunde der englischen Pop Art gilt die von der "Independant Group"
organisierte Ausstellung "This is Tomorrow" in der Londoner Whitechapel Art Gallery:
Künstler wie Eduardo PAOLOZZI (geb. 1924) und Richard HAMILTON (geb. 1922)
zeigten Werke, die von der Ikonographie des Kinos, des Fernsehens, der Illustrierten
und der Zeitungen geprägt waren. Eine programmhafte Zusammenfassung ist
Hamiltons Collage "Just what it is that makes today´s homes so different, so
appealing?", die alle Klischees enthält, die das Herz des Konsumbürgers erfreuen.
In den USA ist der Übergang vom New Realism zur Pop Art fließend. Die
Begriffsbildung "Pop Art" als verbindliche Stilbezeichnung wird in die Zeit von 1954
bis 1957 datiert, als die Trivialkultur (Reklameannoncen und Science-fictionIllustrationen) in den Magazinen blüht und das Straßenbild von grell, aufdringlichen
Neonwerbungen geprägt wird. Den harten Kern der Pop Art-Künstler bilden Roy
LICHTENSTEIN (geb. 1923), Andy WARHOL (1930-1987), Tom WESSELMANN
(geb. 1931)und James ROSENQUIST (geb. 1933).
Roy Lichtensteins - in der Technik der Rastermodulation gemalten - Bildern fehlt
jegliche subjektive Emotion. In sorgfältig durchkomponierten, überdimensionalen
Comic strips zeigt er die totale Entindividualisierung der industriellen Gesellschaft.
Andy Warhol hingegen integriert sich des standardisierten Arbeitsprozeß der
modernen Produktionsmaschinerie ("Ich würde gerne eine Maschine sein."). Er
versteht sich als Kreativitätsmotor innerhalb eines kollektiven Herstellungsapparates
(Andy Warhol-Productions). Warhol verzichtet auf die Erfindung individueller Sujets,
er beschränkt sich auf die verdichtende Darstellung des Lebens (Superstars,
stereotype Aufzeichnungen und Wiederholungen von Reizbildern).
Tom Wesselmann führt die von Rauschenberg entwickelte kombinierte
Assemblagerechnik weiter und kreiert eine Synthese aus Gemäldewand und
Environment ("Great American Nudes")