Im Kreis der Welt - Rowohlt Theaterverlag

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Im Kreis der Welt - Rowohlt Theaterverlag
Leseprobe aus:
Michael Crichton
Im Kreis der Welt
Copyright © 1991 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH
BANGKOK
Ich gehe auf Reisen, seitdem ich denken kann. Meine Eltern, die ausgesprochen gern und viel reisten, nahmen
ihre Kinder immer mit. Sie stopften uns alljährlich im
Juni, wenn die Sommerferien begannen, ins Auto, und
auf ging es zu irgendeinem fernen Ziel: In einem Jahr war
das der Südwesten der Vereinigten Staaten mit Mexiko; in
einem anderen die Nordwestküste am Pazifik, dann wieder lockten die Rockies in Kanada.
Als ich die Schule verließ, war ich in achtundvierzig
Staaten der USA , in Kanada, in Mexiko sowie in fünf
europäischen Ländern gewesen.
Mit einem Stipendium der Henry-Russell-Shaw-Stiftung, das ich nach dem College bekam, bereiste ich ein
Jahr lang Europa und Nordafrika. Das war 1965. Ein ganzes Jahr reisen – welch eine Gelegenheit für einen Studenten ! Ich ging mit besessener Gründlichkeit vor und
betrat die Museen in Paris und Amsterdam schwerbeladen mit Führern und Kommentaren. Wenn in einer Stadt
ein wichtiges Museum geschlossen war, blieb ich einen
Tag länger. Ich sah mir alles an. Ich aß alles. Ich probierte
alles aus. In Ägypten kletterte ich auf die große CheopsPyramide, ging hinein und besuchte dann jede bedeutende archäologische Grabungsstätte zwischen Sakkara
und Assuan. Nichts war mir zu klein oder zu fern; nirgendwo war es zu heiß oder zu verwanzt ; nichts, an dessen Besichtigungswürdigkeit es auch nur den leisesten
Zweifel gab, wurde ausgelassen. In Madrid suchte ich in
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obskuren Wohnblocks Beispiele für die frühen Arbeiten
des Architekten Antoni Gaudí ; in Frankreich hakte ich
eine ganze Liste von Bauten Le Corbusiers ab. In Neapel
quälte ich mich auf der Suche nach Caravaggio-Gemälden durch den Verkehr, und in Frankreich wie Spanien
besuchte ich jede der Menschheit bekannte prähistorische Höhle mit Wandmalereien. Ich begann, mich für
romanische Kreuzgänge zu begeistern. In Griechenland
verbrachte ich volle zwei Wochen mit der Besichtigung
der im Guide Bleu aufgeführten klassischen Stätten auf der
Peloponnes. Den Guide Bleu zog ich anderen Führern vor,
obwohl ich mich mit meinem unzulänglichen Französisch
durch seine Beschreibungen quälen musste – er führte
von allen mir bekannten Reiseführern die meisten Einzelheiten auf.
Ich konnte also, als ich mein Medizinstudium aufnahm,
von ganz Nordamerika, Europa und Nordafrika behaupten : « Da war ich schon.» Ich kannte mich aus, kam mit
mehreren Sprachen und mehreren Währungen zurecht.
Mein Pass wie mein Gepäck sahen entsprechend mitgenommen aus.
Geldknappheit war der Grund dafür, dass ich in den vier
Jahren meines Medizinstudiums nicht viel zum Reisen
kam, und danach hatte ich es mir sozusagen abgewöhnt.
Ich war nicht mehr neugierig auf fremde Länder. Ich
führte mein Leben, kümmerte mich um meinen Beruf.
Eines Tages fiel mir auf, dass ich seit nahezu einem Jahrzehnt nicht mehr gereist war.
Als ich anfing, unter Übellaunigkeit und Trübsinn zu leiden, beschloss ich, mich auf den Weg zu machen. Ich entschied mich für eine Reise nach Bangkok; mein Freund
Davis Pike hatte mich schon immer gedrängt, ihn dort zu
besuchen. Ich buchte einen Flug, setzte Davis telegraphisch
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von meiner Ankunft in Kenntnis und brach auf. Meine
erste Zwischenstation war Hongkong.
Kaum etwas ist so eindrucksvoll wie der Anblick, der sich
bei einer nächtlichen Landung auf Hongkongs Flughafen
Kai Tak bietet. Die Berge, das Meer, die Lichter der Stadt
lassen ihn wie verzaubert erscheinen. Es war, als fliege
man in die Mitte eines leuchtenden Juwels. Beim Blick
durch das Fenster war ich äußerst erregt. Als dann beim
Verlassen des Flugzeugs Düfte auf mich einstürmten – jene
ganz besonders asiatische Mischung aus dem Geruch nach
Seewasser, getrocknetem Fisch und dichtgedrängten Menschenmassen –, verzehnfachte sich meine Erregung. Dann
die Taxifahrt durch die Stadt, vorbei an offenen, taghell erleuchteten Verkaufsständen, Menschen, die auf dem Gehsteig hockten, arbeiteten, das ganze Leben auf der Straße –
einfach hinreißend! Noch nie hatte ich so etwas gesehen!
Ich traf am Peninsula-Hotel ein, und es schien mir das
großartigste auf der ganzen Welt zu sein. So etwas gab es
in ganz Europa nicht. Alles war auf eigentümliche Weise
anders. In jedem Stockwerk stand weißlivriertes Personal
bereit, um dem Gast zu helfen. Die Zimmer waren üppig
ausgestattet, und in dem eleganten Marmor-Badezimmer
lag neben einer Karaffe mit Trinkwasser ein Zettel, auf
dem stand, man solle das Leitungswasser nicht trinken.
Phantastisch! Exotisch! Dieses Nebeneinander von teurem
Marmor und der kleine Zettel ! Dergleichen gab es in
Europa nicht!
Selig und beglückt schlief ich ein.
Am nächsten Morgen erwachte ich, um Asien zu sehen.
Mit dem Führer in der Hand durchstreifte ich die Straßen von Kaulun und nahm dann die Fähre hinüber nach
Victoria. Zu Fuß nahm ich all das Leben auf den Stra15
ßen in mich auf. Da meiner Überzeugung nach Märkte immer interessant sind und einen Einblick in die Bräuche
und Lebensweise der Menschen geben, ging ich zum
Hauptmarkt. In den ländlichen Gebieten Frankreichs und
Nordafrikas hatte ich mir Märkte stets gern angesehen.
Dieser Hauptmarkt war eine zweistöckige offene Betonkonstruktion mit gekachelten Wänden. Es roch dort wie in
einem Leichenschauhaus. Hühner und Kleintiere wurden
gleich auf der Straße geschlachtet. Ich sah, wie ein Mann
auf dem Gehweg die Eingeweide eines Schweins aufschlitzte und ihre geriffelte Innenfläche mit einem Wasserschlauch sauber spritzte.
Mit einem Mal fühlte ich mich erschöpft. Ich musste
mich hinlegen; die Auswirkungen der Zeitverschiebung
beim Fliegen machten sich bemerkbar. Ich kehrte in mein
Hotel zurück und schlief mehrere Stunden.
Am Nachmittag fuhr ich mit einer Taxe zum Stadtteil Aberdeen, auf der anderen Seite von Victoria. Er war
damals etwas ganz Besonderes, ein riesiger Hafen, in dem
Tausende von Menschen auf Hausbooten lebten. Mit einem
gemieteten Boot erkundete ich das Hafenbecken. Es war
eindrucksvoll, das Leben auf den Booten zu beobachten.
Anschließend besuchte ich den Markt am Ufer von Aberdeen, auf dem die Bewohner der Hausboote ihre Lebensmittel kauften.
Chinesen legen großen Wert auf frische Nahrungsmittel.
Häufig konnte ich sehen, wie eine Chinesin einen lebenden Fisch in einer wassergefüllten Plastiktüte heimtrug –
wie ich erfuhr, eine durchaus übliche Methode, das Abendessen für die Familie bis zum letzten Augenblick frisch zu
halten.
Der sehr ausgedehnte und starkbesuchte Markt von
Aberdeen wurde unter dunkelgrünen Zeltdächern abge16
halten. Wegen meines hohen Wuchses wurden mir die
gleichen Blicke und Scherze zuteil wie stets in Asien. Ich
erfreute mich an der Frische und Vielzahl der Gemüsesorten, musterte die feilgebotenen Kleidungsstücke und
sonstigen Gegenstände. Nicht ohne Bedenken näherte ich
mich dem Teil des Marktes, auf dem Fleisch verkauft
wurde. Aber ich war innerlich gewappnet. Der Markt von
Aberdeen machte mir nichts aus. Ich schob mich durch die
Fischstände, an denen Männer die Frische und Güte ihrer
Ware laut anpriesen. Einer hatte seine Fische filetiert;
etwa ein Dutzend lagen auf einer ansteigenden Schräge
vor ihm. An jedem Fisch war ein pulsierender roter Fleck
zu erkennen. Ich wusste nicht so recht, was es war, und
sah näher hin.
Er hatte jeden der Fische so kunstfertig filetiert, dass das
Herz unbeschädigt blieb. Jetzt schlugen diese offen liegenden Fischherzen als eine Art sichtbarer Beweis, dass seine
Ware frisch war. Ich sah mich einem Dutzend schlagender
Fischherzen gegenüber.
Wieder musste ich ins Hotel und mich hinlegen.
Diese Erschöpfung, ein Reflex auf ungewohnte Anblicke, empfand ich in gewisser Hinsicht als demütigend. Ich
war ein erfahrener Reisender. Diese kleinen Erlebnisse
störten mich nicht weiter. Was beunruhigte mich eigentlich ?
Bestimmt lag es an der durch den Flug bedingten Zeitverschiebung. Doch was auch immer der Grund dafür war,
meine Symptome wurden schlimmer.
Einige junge Amerikanerinnen, die ich kennenlernte,
nahmen mich zu einem großen chinesischen Essen mit. Es
war angenehm, aber überaus sonderbar. Der erste Gang
bestand aus Garnelen. Wir alle palten die kleinen Krabben mit den Händen aus und aßen sie. Als der zweite Gang
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kam, legten wir, um dafür Platz zu machen, die Garnelenschalen neben unseren Teller auf das Tischtuch. Da blieben
sie den Rest des Abends liegen, in einem ordentlichen
Häufchen neben dem Teller.
Dann kamen Trinksprüche. Da die Chinesen gern auf
ihre und anderer Menschen Gesundheit anstoßen, wird ein
solches Essen gewöhnlich durch Trinksprüche unterbrochen. Mir fiel auf, dass jeder trank, indem er das Glas mit
einer Hand hielt und den Boden des Glases mit einem Finger der anderen berührte. Ich fragte eine Australierin, die
neben mir saß, was das zu bedeuten habe, und sie sagte,
man muss das Glas mit beiden Händen halten, wenn man
auf die Gesundheit eines Menschen trinkt, aber ein einziger Finger der anderen Hand genügt dafür.
Weitere Gänge wurden aufgetragen. Stundenlang. Man
gewöhnte sich daran, dass etwas in die Mitte des Tisches
gestellt wurde, man eine Weile darin herumstocherte und
dann etwas anderes angeboten wurde.
Schließlich war ein gekochter Fisch an der Reihe, einer
von vielen. Ich sprach mit jemandem, sah wieder hin – der
Fisch war weg! Vollständig abgenagt. Dabei hatte er nur wenige Sekunden lang dagelegen. «Was ist mit dem Fisch passiert?», fragte ich. Er sei eine große Delikatesse, erfuhr ich.
Alle Welt schätze diesen Fisch, der vierhundert Dollar koste.
Dass ich diesen Genuss verpasst hatte, ließ mich nicht
ruhen. Kaum wurde etwas Neues aufgetragen, fuhr ich
mit meinen Stäbchen darauf zu. Bald gab es wieder einen
Fisch, den alle mochten. In wenigen Augenblicken war die
obenliegende Hälfte verzehrt. Man sah die Rückengräte
und das Fleisch darunter. Nichts einfacher, als den Fisch
umzudrehen und die Rückengräte herauszunehmen. Aber
niemand am Tisch tat es. Der halbgegessene Fisch lag einfach da.
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Schließlich hielt ich es nicht länger aus und fragte:
« Kann ich den Fisch umdrehen? »
« Ich weiß nicht», sagte meine australische Nachbarin.
« Ich meine», fuhr ich fort, «darf man Fisch umdrehen ? »
« Selbstverständlich.»
« Und warum tut es dann keiner? », fragte ich.
« Nun, ich vermute, wegen der Art, wie sie hergekommen sind.»
« Wie sie hergekommen sind? »
« Und natürlich, wie sie heimkehren werden.»
Ich verstand nicht. Wir schienen uns von der eigentlichen Frage, die dem Fisch gegolten hatte, entfernt zu
haben. Ich ließ nicht locker: « Dann spricht also nichts
dagegen, dass ich den Fisch umdrehe? »
« Wie kehren Sie denn anschließend heim? », fragte sie.
« Wohl genauso, wie ich gekommen bin, mit einer
Taxe. »
« Aber müssen Sie auf dem Rückweg nicht über das
Wasser ? »
« Doch …» Wir waren mit einem kleinen Boot zu diesem Restaurant gekommen.
« Dann können Sie den Fisch nicht umdrehen», sagte
sie. Sie erklärte, dass niemand den Fisch umdrehen durfte,
der nach der Mahlzeit Wasser überqueren musste.
« Und wenn ich einfach nur die Rückengräte rausnehme? », fragte ich hoffnungsvoll.
Sie schüttelte den Kopf. «Bedaure.»
Dann sagte sie rasch etwas auf Chinesisch, ein Kellner
kam herbei und drehte den Fisch um. Alle begannen erneut zu essen.
« Er wohnt hier», erklärte die Frau mit einem Nicken zu
dem Kellner hin.
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So ging es weiter, wir alle saßen neben unserem Häufchen Garnelenschalen, tranken auf die Gesundheit anderer, wobei wir den Boden unseres Glases mit einem Finger
berührten, und niemand konnte den Fisch umdrehen. Man
wusste nie, was als Nächstes geschah. Schließlich, am Ende
des Abends, gab der Ehrengast, ein älterer Mann, ein chinesischer Filmstar, eine Kampfsportdemonstration. Er wirbelte durch den Raum, leichtfüßig, schnell, anmutig, kraftvoll. Er war sechsundsiebzig Jahre alt.
Ich dachte: Es gibt eine Menge Dinge, von denen ich
nichts weiß.
Vom Flughafen Bangkoks holte mich mein Freund Davis
ab, der seit fünf Jahren in Thailand wohnte. «Was wolltest
du bloß in Hongkong? Da ist es doch schrecklich langweilig, vollständig verwestlicht. Keine Spur von Asien. Hier
wird es viel interessanter sein.»
Im Taxi gab er mir wichtige Ratschläge für das Leben in
Bangkok. «Es gibt vier Regeln, die du nie brechen darfst,
solange du dich in Thailand aufhältst», sagte er. « Erstens,
klettere nie in einem Tempel auf eine Buddhastatue.»
« In Ordnung.»
« Zweitens, achte darauf, dass dein Kopf nie den einer
Buddhastatue überragt.»
« In Ordnung.»
« Drittens, berühre nie einen Thai am Kopf.»
« In Ordnung.»
«Viertens, richte nie deine Füße, wenn sie nicht den Boden berühren, auf einen Thai. Das ist äußerst beleidigend.»
« In Ordnung», sagte ich. Ich dachte bei mir, diese Situationen seien äußerst unwahrscheinlich, und sagte Davis,
dass ich mir zutraute, während meines Aufenthalts in
Bangkok gegen keines seiner Gebote zu verstoßen.
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« Das bezweifle ich», sagte er trübsinnig. «Ich will schon
zufrieden sein, wenn du nicht alle vier brichst.»
Als Nächstes unterwies er mich, wie ich meine Anschrift auf Thai zu sagen hatte. Da ich in seinem Haus
lebte, erklärte er, müsse ich imstande sein, einem Taxifahrer zu erklären, wohin er zu fahren habe. Da diese Männer weder Englisch verstünden noch Thai lesen könnten,
gebe es keine andere Möglichkeit, als mir die Adresse einzuprägen. Ich weiß sie noch heute: Sip-jet, Suk-humvit soi
yie-sip.
Davis’ Haus war wunderschön, ein elegantes Gebäude
aus poliertem Hartholz, mit einem herrlichen Garten und
einem Schwimmbecken dahinter. Er stellte mich den
Dienstboten vor und mahnte mich, die Schuhe vor der
Haustür auszuziehen. Dann brachte er mich zu meinem im
Obergeschoss liegenden Zimmer.
« Den Buddha in deinem Zimmer haben wir umgestellt », sagte Davis. «Wir haben ihn oben auf das Schränkchen gestellt, das höchste Möbelstück im Zimmer, aber bei
dir weiß ich nicht, ob – na bitte, wenn du stehst, überragst
du ihn immer noch. Das ist nicht gut. Ich werde mit den
Dienstboten sprechen.»
« Worüber ? »
« Nun, ich denke, sie werden bereit sein, in deinem Fall
eine Ausnahme zu machen, weil du so groß bist. Aber es
wäre entgegenkommend, wenn du dich hier im Zimmer
ein bisschen krumm halten würdest, damit du den Buddha
nicht unnötig überragst.»
Ich dachte: Ich wohne allein in dem Zimmer, kein
Mensch wird mich hier drin zu sehen kriegen, und dann
verlangt Davis von mir, dass ich mich wegen des Buddhas
krumm hinstelle. Es kam mir ein wenig verrückt vor, aber
ich versprach, es zu versuchen.
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Ich nahm an, Davis mache sich einen Scherz mit mir.
Das aber war nicht der Fall. Die Thai sind herrliche,
äußerst umgängliche Menschen, aber ihre Religion nehmen sie ernst, und sie lassen Ausländern in dieser Hinsicht
nichts durchgehen. Später sah ich eine von einem ThaiZensor bearbeitete Version von Peter Sellers’ Film Ein Mädchen in der Suppe. Es war ein eigentümliches Erlebnis, den
Film zu sehen: Peter Sellers erhob sich vom Tisch, und mit
einem Mal explodierte die Buddhastatue in der Wandnische ihm gegenüber wie ein riesiger schwarzer Tintenklecks, bis sich Sellers wieder setzte. Dann konnte man
wieder den friedlichen Buddha sehen. Der Thai-Zensor
hatte den Buddha immer dann Bild für Bild geschwärzt,
wenn Peter Sellers’ Kopf über den der Statue hinausragte.
Schön, die Thai nahmen die Sache ernst. Mein Freund
sprach mit den Dienstboten, und ich hielt mich in der Abgeschiedenheit meines Zimmers gebückt. Aber eigentlich
hatte ich eine der Regeln bereits gebrochen.
Am nächsten Tag kamen wir an einigen Kindern vorbei,
als wir durch eine Straße in Bangkok gingen. Sie drängten
sich um uns, waren nett und freundlich, und ich tätschelte
einem den Kopf.
« Na, na, na», sagte Davis.
Zwei von vier Regeln gebrochen.
« Buddhisten sind der Überzeugung», erklärte Davis,
« dass der Kopf als höchster Teil des Leibes heilig ist und
daher nicht berührt werden darf. Bei Kindern mag es noch
gerade so durchgehen, aber mach das bei Erwachsenen
nie. Es ist mir ernst. Am besten fasst du einen erwachsenen Thai überhaupt nicht an.»
Zerknirscht versprach ich es. An jenem Abend waren
wir zu einer Gesellschaft eingeladen, und ich sprach mit
einem Thai-Kameramann, der für australische Firmen
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Werbefilme und für den Inlandsmarkt Spielfilme drehte.
Er war sehr interessant, wir unterhielten uns über Arbeitsmethoden und Anforderungen, die man an seine Mitarbeiter zu stellen hatte. Dann rief uns die Gastgeberin zum
Essen. Wir gingen nebeneinanderher und kamen an eine
Tür. Ich bedeutete ihm, er möge zuerst eintreten, und legte
ihm herzlich eine Hand auf die Schulter. Es war eine ganz
natürliche beiläufige Höflichkeitsgeste. Der Mann erstarrte
den Bruchteil einer Sekunde lang, dann trat er durch die
Tür.
Ich sah zu Davis hin. Er schüttelte den Kopf.
Diese zweite Regel einzuhalten war schwieriger, als ich
angenommen hatte. Ich musste meine Neigung, Menschen
anzufassen, unterdrücken.
Nach dem Essen setzten wir uns um einen niedrigen
runden Tisch auf Kissen. Mir gegenüber saß eine ThaiFrau. Sie wirkte unnahbar und unterhielt sich mit einem
anderen Gast. Im Verlauf des Abends warf sie mir unverhüllte Blicke zu und unterbrach später sogar ihr Gespräch,
um mich wütend anzustarren. Ich begriff nicht, was sie
wollte.
« Michael», sagte Davis. «Na, na, na.»
Ich sah an mir herunter. Mir fiel nichts auf.
« Die Füße», erklärte Davis.
Ich saß auf einem Kissen und stützte mich mit den Ellbogen auf dem Boden ab. Die Beine hatte ich übereinandergeschlagen. Mit meinen Füßen war alles in Ordnung.
Keine Löcher in den Socken.
« Michael …»
Weil ich die Beine übereinandergeschlagen hatte, berührte ein Fuß den Boden nicht – und wies auf die ThaiFrau. Deshalb also hielt sie den Blick so unverwandt auf
mich gerichtet.
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