60 Jahre aGTCM

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60 Jahre aGTCM
60 Jahre AGTCM
Rückblicke · Gratulationen · Danksagungen
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Inhalt
Grußwort von Nils von Below
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„Wir gehören zu den Spitzenreitern in Deutschland“ von Nils Von Below
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Gratulation
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Dreißig Jahre Praxis - Der Sinn? Vortrag von August Brodde
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In Memoriam August Brodde von Helmut Magel
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Eine Persönlichkeit der ersten Stunde von Wilfried Merz
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Unvergessliche Erlebnisse während der ersten Studienreise nach Chengdu von Helen Schreiner
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Wandlungen durch und mit Tcm in Deutschland von Marlies Sonnentag
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Vom langen Ringen um einen Kooperationsvertrag von Herbert Vater
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Die Oscar-Verleihung in China und andere Anekdoten von Gerd Ohmstede
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Zeit der Wende: Auch die Agtcm wird fast „komplett“ von Andreas Noll
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Nach hitzigen Debatten um Ideen: Die Agtcm beschreitet neue Wege von Andreas Noll
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Vor mehr als 30 Jahren begann die Freundschaft zur Tcm-Universität Chengdu von Birgit Ziegler
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Mein Engagement für die Agtcm begann mit einer umstrittenen „Werbeaktion“ von Helmut Magel
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„Halte an der Mitte fest“: Die Pioniere der TCM organisieren sich in Berlin von Annette Moll
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60 Jahre – Nur ein Wimpernschlag der Geschichte? von Dirk Berein
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Eiom München ist seit 2001 Kooperationspartner der Agtcm von Wolfgang Waldmann
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Bis zum Bezug der Schulungsräume war viel Improvisation gefragt von Grita Petersen-Jung
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CCM Nord: Die Geschichte einer „freundlichen Übernahme“ von Christina Koch, Sönke Dorau und Marita Erhardt-Albrecht
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Danksagung von Franziska Kohlmüller
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Impressum
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TITEL: 弘扬光大 „hóng yáng guang dà“ carry forward, develop, enhance
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Liebe Freundinnen und Freunde der AGTCM,
mit dieser Festschrift wollen wir das 60-jährige Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische
Medizin e.V. (AGTCM) würdigen und Ihnen einen kleinen Rückblick auf die bewegte Geschichte unseres Vereins geben.
In 60 Jahren hat sich nicht nur die Welt der AGTCM, sondern vor allem auch die Welt an sich verändert.
1954, als August Brodde und seine Kolleginnen und Kollegen den Arbeitskreis TCM gründeten war der 2. Weltkrieg erst 9 Jahre her. Die
Städte in Deutschland waren zwar schon im Aufbau, aber überall gab es noch Ruinen. Die Welt war in zwei Teile geteilt: Ost und West und
China, und damit die Traditionelle Chinesische Medizin, war noch sehr weit weg. Die Mauer war noch nicht gebaut, geschweige denn als
der große Irrtum einer Generation wieder eingerissen. Bei der Mondlandung, die erst in 15 Jahren, also 1969 stattfinden sollte, wurden
Berechnungen noch mit Rechenschiebern gemacht. Es gab Telefone mit Wählscheiben! Aber die große Umwälzung sollte erst noch stattfinden und hatte 1989! ihren Ausgangspunkt als das World Wide Web im Forschungszentrum CERN gegründet wurde. Wir können uns
heute nicht mehr vorstellen, dass die Welt ohne WWW existiert. Die Arbeit der AGTCM und des TCM Kongress Rothenburg wäre jedenfalls
ohne Web und E Mails so nicht machbar.
Und so wie die Welt sich in den letzten 60 Jahren mehr verändert hat als jemals in seiner Zeit zuvor, so hat sich auch die TCM im Westen
verändert bzw. etabliert. Das was mal von irgendwelchen „Exoten und esoterischen Spinnern“ als netter „Behandlungshokuspokus“ ausgeübt wurde, ist heute eine erforschte und bewiesen effektive Behandlungsmethode die ihren Einzug nicht nur in die Schmerztherapie
erhalten hat sondern auch in alle Bereiche des Gesundheitswesens einfließt.
Vielleicht werden in 60 Jahren unsere Nachfahren diese Festschrift in die Hand nehmen und die Geschichte der AGTCM nachspüren. Auch
sie werden auf die Veränderungen der nächsten 60 Jahre erstaunt zurückblicken und darüber hoffentlich auch erfreut sein. Ich möchte
Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen des Jahres 2074, eine herzlichen Gruß mit einer kleinen Prophezeiung ausrichten: Eines wird sich
auch bis in Eure Zeit nicht verändert haben - so wie es sich auch in den letzten 2500 Jahren nicht verändert hat: Der Mensch mit seinen
Bedürfnissen nach Gesundheit und Glück, seinen individuellen Ursachen für Krankheit und Leid und die wunderbaren Möglichkeiten der
TCM, Erkrankungen zu lindern oder zu heilen und Gesundheit wiederherzustellen oder zu bewahren. Ich hoffe, dass auch Ihr immer noch
die Möglichkeit habt, diese wunderbare TCM in ihrer Vielfalt, Poesie und Kunst auszuüben.
Diese letzten 60 Jahre haben jedenfalls spannende Erinnerungen hinterlassen, die Ihnen hoffentlich so viel Genuss beim Lesen bereiten
wie wir ihn hatten beim Sammeln.
Viel Spaß dabei wünscht
Ihr Nils von Below
1. Vorsitzender AGTCM 2005- 2014 im Namen des Vorstandes der AGTCM 2014
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„Wir gehören zu den Spitzenreitern in Deutschland“
Die AGTCM hat im Lauf ihrer Geschichte immer vom Idealismus und Engagement ihrer Mitglieder gelebt
Von Nils von Below, 1. Vorsitzender der AGTCM
2014 jährt sich zum 60. Mal das Gründungsjahr der AGTCM. Was 1954 als ein Treffen
einer kleinen Heilpraktiker-Arbeitsgruppe
begonnen hatte, ist inzwischen zu einer
Organisation und Gemeinschaft von enthusiastischen Spezialisten der Traditionellen
Chinesischen Medizin gewachsen.
Heute können wir mit Stolz sagen, dass
wir sowohl hinsichtlich unserer Aus- und
Weiterbildungsangebote als auch unseres
Wissensniveaus zu den Spitzenreitern in
Deutschland gehören, und dass die AGTCM
eine der wenigen medizinischen Institutionen in Deutschland ist, in denen Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen sowie Ärzte und
Ärztinnen gemeinschaftlich organisiert sind
– zwei Drittel unserer Mitglieder sind Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen, ein Drittel
Ärzte und Ärztinnen. Mit unserem ,TCM
Kongress Rothenburg‘ haben wir inhaltlich,
organisatorisch und auch atmosphärisch
Trendmarken im Bereich der internationalen
TCM-Kongresse gesetzt. Mit dem Bedeutungszuwachs, den die Chinesische Medizin in den letzten 25 Jahren national als
auch international erfahren hat, ist auch die
AGTCM gewachsen und hat sich zu einem
beachtlichen Verein entwickelt, der seinen
Mitgliedern neben allen Vorteilen einer Vereinszugehörigkeit auch eine starke Identifikationskraft bietet.
Die bewegte Geschichte der AGTCM war immer eng an die Persönlichkeiten gebunden,
die sich in verschiedenen Ämtern und Funktionen für den Verband engagiert haben.
Wichtig sind aber auch drei herausragende
Ereignisse bzw. Entwicklungen, die die AGTCM maßgeblich beeinflusst haben.
Die erste bahnbrechende Veränderung
stellte die Abwendung der AGTCM von der
französisch begründeten TCM hin zu einer
angelsächsisch geprägten Ausübung der Chinesischen Medizin in den 1970er Jahren dar.
Wurden die Wurzeln der TCM in Europa
Kongress Rothenburg‘. Hier spielte insbesondere Gerd Ohmstede eine wichtige Rolle, der als Organisator des ,TCM Kongress
Rothenburg‘ verpflichtet wurde und die heutige Gestalt unseres Kongresses entscheidend prägte. Durch seinen unermüdlichen
Aufbau von internationalen Netzwerken
konnte Gerd Ohmstede viele große Namen
der internationalen TCM-Szene für unseren
Kongress gewinnen, womit er maßgeblich
zu dessen großem Erfolg beitrug.
maßgeblich durch die französischen Jesuiten geprägt, spielten in den 1950er und
1960er Jahren zunächst die französischen
TCM-Kollegen und Kolleginnen eine maßgebliche Rolle für die AGTCM.
Die im Zuge des Besuchs von US-Präsident
Nixons 1972 in China von amerikanischen
Journalisten veröffentlichten Reportagen
und Berichte über Akupunktur bildeten den
Grundstein für ein neues Bewusstsein über
die Möglichkeiten alternativ-medizinischer
Therapiemethoden in der westlichen Welt.
Bücher wie beispielsweise ,The web that
has no weaver‘ von Ted Kaptchuk wurden zu
vielbeachteter Medizinliteratur und fanden
insbesondere in den neuen gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit eine starke
Resonanz. Flower-Power, Befreiung aus traditionellen Gesellschaftsstrukturen und Hinwendung zu östlichen Philosophien stellten
einen wichtigen Nährboden für die Anwendung der TCM im Westen dar.
In diesem Zusammenhang stieg sowohl in
den USA als auch in England die Zahl der
Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten für
Akupunktur - und später für die übrigen Methoden der Chinesischen Medizin - rasant
an, was zu einem breiten Angebot an Bachelor- und Masterstudiengängen in diesen
Ländern führte. Kollegen und Kolleginnen,
die in den USA oder England studiert hatten, brachten das neue Wissen zu uns nach
Deutschland und beeinflussten damit auch
die Ausrichtung der AGTCM und ihres ,TCM
In den 1990er Jahren kam es für die AGTCM
zu einer weiteren wichtigen Entwicklung, die
sich im Bereich des ,TCM Kongress Rothenburg‘ niederschlug und diesem ein neues
Gesicht verleihen sollte. Der Grundstein für
diese Entwicklung wurde durch die ,Entdeckung‘ des Wildbads in Rothenburg und
seinen räumlichen Möglichkeiten gelegt.
Fanden die Vorträge und Kurse bis dahin
fast ausschließlich in der Reichsstadthalle
statt, boten die vielseitigen Räumlichkeiten
des Wildbads, seine umliegenden Wiesen
und die Café-Terrasse die Möglichkeit, neue
Themen anzubieten und Referenten und
Referentinnen einzuladen, Praxiskurse in
Qi Gong und Tai Ji anzubieten und das kollegiale Miteinander unter den Kongressteilnehmern aufzubauen und zu pflegen. Der
zunächst rein wissensorientiert ausgerichtete Kongress erfuhr ein stetig wachsendes
Kursangebot und wurde darüber hinaus mit
zusätzlichen ,Event-Angeboten‘ bereichert,
was ihm einen atmosphärisch einzigartigen
Charakter verlieh und unseren israelischen
Kollegen Yair Maimon zu der Bezeichnung
,Woodstock der TCM-Kongresse‘ inspirierte.
Einen weiteren wichtigen Baustein der Geschichte der AGTCM stellte die Entwicklung
der Ausbildungszentren bzw. Kooperationsschulen dar. Die erste Kooperationsschule
der AGTCM wurde 1984 in Bochum gegründet und zog später als August-Brodde-
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gratulation
Schule nach Wuppertal. Heute zeigen sich
die sechs Kooperationsschulen als echte
Ausbildungszentren: Hier wird nicht nur
das Grundwissen für alle fünf Säulen der
Chinesischen Medizin in verschiedenen
Ausbildungsgängen vermittelt, sondern es
hat sich an allen Ausbildungszentren ein
vielfältiges System an qualitativ hochwertigen Weiterbildungsmöglichkeiten in allen
Bereichen der chinesischen - und zum Teil
auch der japanischen - Medizin etabliert.
Als selbstständige Schulen für Chinesische
Medizin sind die Schulen wichtige lokale
Vertreter und Partner der AGTCM und zudem wichtiger Bezugspunkt für die Mitglieder der AGTCM. Das hohe Qualitätsniveau
der Aus- und Weiterbildungsgänge an den
Kooperationsschulen der AGTCM, das für
eine kontinuierliche und hochwertige therapeutische Qualifikation der Mitglieder der
AGTCM sorgt, wird dabei von der zentralen
Qualitätskommission für Aus- und Weiterbildung (QAW) garantiert.
Die AGTCM hat im Lauf ihrer Geschichte immer von dem Idealismus und Engagement
ihrer Mitglieder gelebt. Die vielen Funktionsträger und Helfer, die ihre Arbeit zu einem
nicht unerheblichen Teil ehrenamtlich geleistet haben, machten sie zu dem, was sie
heute ist. Auch wenn in Zukunft unsere Vorstandsmitglieder aufgrund neuer rechtlicher
Regelungen in ein Angestelltenverhältnis
überführt werden müssen und so ihre Tätigkeit und Vergütung einen genaueren arbeitsrechtlichen Rahmen erhält, wird ihre Arbeit
immer über die im Rahmen der Arbeitsverträge vergütete Arbeitszeit hinausgehen und
ein teilweise ehrenamtliches Engagement
fordern. Für einen mit begrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Verein ist dies
eine Notwendigkeit und ich möchte hiermit
noch einmal allen großen und kleinen Helfern in der Geschichte der AGTCM meinen
tiefen Dank aussprechen!
Gratulation CDUTCM
„Warm Congratulations to the Grand 60th Anniversary of the Founding of AGTCM
Thousands of years’ unique TCM created by our forefathers, are followed by boundless and
endless generations. TCM classics must be abided by strictly, and great Masters are subtle
and loyal in TCM. With extreme nobility and goodness, those sticking to TCM doings can
advance far and long.
By the President, Prof. Liang Fanrong
Chengdu University of Traditional Chinese Medicine, May, 2014“
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世界针灸学会联合会
WORLD FEDERATION OF ACUPUNCTURE AND
MOXIBUSTION SOCIETIES (WFAS)
NGO IN OFFICIAL RELATIONS WITH WHO
A-LIASON ORGANIZATION OF ISO/TC249
To: Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.,
AGTCM e.V.
Message of Congratulations
March 15th, 2014
Dear Dr. Nils von Below, President of AGTCM,
Dear Dr. Gerd Ohmstede, President of TCM Kongress Rothenburg,
It gives me a great pleasure to send this message to Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur
und Traditionelle Chinesische Medizin e.V. (AGTCM e.V.).
First, I would like to congratulate AGTCM on its 60th birthday. During that period of time, AGTCM
has evolved into a respected organization which is much needed to provide a platform for education,
communication and exchange as the use as acupuncture-moxibustion and other forms of traditional
Chinese medicine rapidly increases in Europe.
I would also like to compliment AGTCM for organizing TCM Kongress Rothenburg and making this
great event to its 45th anniversary. It is the oldest and biggest TCM congress in Europe, if not the
Western world, which attracts more than 1,000 delegates from dozens of countries across the globe
every year. TCM Kongress Rothenburg has become an icon for highly quality workshops, scientific
meetings and exchange of experience.
AGTCM became a member society of World Federation of Acupuncture-Moxibustion Societies
(WFAS) in 2000. Since then, AGTCM has been actively involved with promoting acupuncture and
moxibustion in Germany and Europe within the framework built by WFAS.
I’m happy that acupuncture and moxibustion has been widely accepted and acknowledged in many
parts of Europe. This couldn’t have come true if without the joint effort from AGTCM and many
organizations and individuals. Let us hope that TCM Kongress Rothenburg and other work of by
AGTCM will contribute to the integration of Chinese and Western medicine, and also advancing health
and wellness for all people.
Prof. Liu Baoyan
President of World Federation of Acupuncture-Moxibustion Societies (WFAS)
电话(Tel):+861064011210,+861087194973 传真(Fax):+861064018354 网址(Web):www.wfas.org.cn
地址:中国北京东城区广渠门内夕照寺街东玖大厦 B 座 7 层 邮编:100061
Addr: B-7, Dongjiu Mansion, Xizhaosijie, Dongcheng District, Beijing, 100061, China
Gratulation WFAS
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Gratulation WFCM
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Gratulation ETCMA
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DreiSSig Jahre Praxis – der Sinn?
Ein philosophischer Ausflug in die Geschichte des Heilens
Vortrag von August Brodde, gehalten auf einer Heilpraktiker-Tagung 1994
Viele Kollegen können auf mehrere Jahrzehnte erfolgreich ausgeübter Praxis zurückblicken. Wenn wir hier als Überschrift
ausgewählt haben „Dreißig Jahre Praxis“, so
deshalb, weil dieses gerade die Spanne einer Generation ist. Eine Generation Praxis!
Eine Generation verfolgt haben, wie sich
das Kind über Schule, Lehre, Beruf zum Erwachsenen entwickelt, Liebe erfährt, eine
Ehe eingeht und selbst wieder Kinder hat.
Diesen Weg in Höhen und Tiefen sehen, die
von mannigfaltigen Zufällen begleitet werden, von denen die gesundheitlichen Störungen den Menschen durch sein Dasein,
aber auch sein Sosein begleiten.
Sein Dasein mit dem „Kampf ums Leben“,
der seine Zeichen setzt, sein Sosein, das
ihn nicht seinen Veranlagungen - psychischen wie physischen - entrinnen lässt:
Das Ganze als „Schicksal“ oder mindestens als Teil desselben aufgefasst, wird in
seinen psychosomatischen Zusammenhängen und Verquickungen vom Behandler vorsichtig mitgestaltet, wenn sich der
Mensch ihm in seinen Nöten anvertraut.
Und da liegt unsere Aufgabe, über deren
Sinn wir nachzudenken haben, über den
SINN, den wir diesem Weg mitteilen.
Und gerade da, in der Frage nach diesem
Sinn, scheiden sich bereits die Geister. Die
einen meinen, durch verantwortungsbewusstes Einsetzen ihrer Heilkunst eine Lebensaufgabe zu erfüllen, die darin besteht,
dem Menschen bei Minimierung seiner
möglichen Beschwerden ein Maximum an
Lebensqualität und -erwartung zu verschaffen. Wenn wir uns aber das ansehen, was
heute meist unter „Lebensqualität“ bei der
breiten Masse verstanden wird, die - notwendigerweise - dem Materiellen verhaftet
ist, dann können wir mit einem ehrlicheren
Klartext sagen, dass diese Tätigkeit nicht
viel mehr ist als die Reparatur von Gesundheits- und Befindensstörungen zum Zwe-
cke der Erhaltung der Erwerbstätigkeit, die
der Beschaffung materieller Güter dient,
welche die so genannte „Lebensqualität“
ausmachen. Sollte das etwa der SINN sein,
den wir erfüllen und vermitteln?
Andere, die – und Gott sein Dank gibt es so
etwas - im Menschen jene bekannte Dreiheit von Körper, Geist und Seele sehen,
meinen, über die bloße Reparatur des Körperlichen hinaus sich auch um Geist und
Seele kümmern zu müssen. Ein lobenswertes Bemühen, das aber - leider - all zu oft
dazu verführt, vom Körper zu abstrahieren
und nur Geist und Seele zu sehen. Diese
Kollegen vergaloppieren sich leicht ins
nur Esoterische. Und da ist es wohl angebracht, etwas zurechtzurücken. Jedes Ding
oder jede Lehre hat zwei Aspekte: einen für
jedermann bestimmten äußerlichen, exoterischen und einen für die Eingeweihten,
die Adepten bestimmten esoterischen. Das
sollte man vorsichtig abwägen und sich fragen, ob man denn selbst oder ob der Patient wirklich zu den Adepten gehört. Esoterische Literatur, die jedermann zugänglich
ist, kann unmöglich Brevier der Eingeweihten sein. Also: Vorsicht in diesen Dingen,
die zu abstrakt sein sollenden Praktiken
führen und wieder Einseitigkeit bringen.
Vielleicht sogar zu einer gefährlichen. Das
sollte gewiss auch nicht der SINN unseres
Tuns sein.
Was ist nun aber der SINN, von dem ich zu
reden versuche? Eine Antwort darauf kann
nur von der Philosophie gegeben werden,
die man freilich im eigentlichen Sinne des
Wortes zu verstehen hat. Nicht als ein in
„Wolkenkuckucksheim“ angesiedeltes abstraktes Etwas von „erhabenen“ Theorien
und Denksetzungen, sondern in Übersetzung des Wortes die „Freundschaft oder
Liebe zur Weisheit“. Und dazu bieten sich
wiederum verschiedene Lehren an, welche
Der junge August Brodde
eben diese Liebe zur Weisheit zu formulieren versuchen. Mindestens zwei davon
könnten uns am Herzen liegen.
Da ist zunächst einmal die altgriechische
STOA, um etwa 300 v. Chr. durch Zenon aus
Kition (Zypern) gegründet und über Chrysippos bis zu Epiktet verfolgbar. Diese weit
verbreitete Schule lehrte - kurz gesagt - die
Einschränkung weltlichen Genusses und
die Hinwendung zur natürlichen Lebensweise. Auch der römische Kaiser Marc Aurel gehörte ihr an. In ihren späteren Phasen
wurde sie vorwiegend eklektisch gesinnt
und gab der Religion einen größeren Raum
im Dasein. Das lässt sich hervorragend auf
heutige Verhältnisse transponieren. Gelingt
es, den Menschen zur Minimierung seiner
Luxusbedürfnisse zu bewegen und ihm
eine natürliche Lebensweise schmackhaft
zu machen unter Einbeziehung der Erkenntnis, dass es auch höhere Dinge gibt, die religio zur Existenz über die dritte Dimension
hinaus, so ist damit der erste Schritt getan,
ihm einen SINN mitzuteilen.
Richtet er sein Leben nach diesen Maximen aus, ohne die ihm adäquaten Annehmlichkeiten des täglichen Daseins auszuklammern, so kann er durchaus zu einem
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zufriedenen Leben finden, das in psychosomatischer Hinsicht weniger anfällig für Befindensstörungen ist. Vorstehend habe ich
versucht, von der altgriechischen STOA aus
unserem Tun einen Sinn zuzuordnen. Von
anderen Philosophierichtungen ist besonders der TAOISMUS geeignet, den SINN zu
erschließen, nach dem wir suchen. Wenn
Sie über den Taoismus informiert sein
wollen, so ist das Suchen in Lexika unter
diesem Stichwort wenig hilfreich. Dort wird
oft ausgesagt, dass er eine chinesische Religion sei, die in der Vermischung naturphilosophischer Auffassungen mit einem Götterglauben und einem Schuss Buddhismus
bestehe. Dieser Taoismus interessiert uns
hier nicht, sondern nur und ausschließlich
TAOISMUS als Weisheitslehre. Diese geht
aus vom TAO als dem Absoluten, dem Anfang aller Dinge, welches - obschon „dauernd ohne Handeln“ - alles Seiende, den
Himmel, die Erde und alle Dinge hervor
bringt. Richard Wilhelm benennt das Tao
mit SINN. Er trifft damit „den Nagel auf den
Kopf“, wenn man bedenkt, dass eben nur
der in allem steckende Sinn dieses Alles
bewirken kann. Eine Vorstellung, die auch
Philosophien aus anderen Kulturkreisen gemein ist. Lassen Sie mich nur an das Johannes-Evangelium erinnern, welches anfängt:
„Am Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott und Gott war das Wort“. Das
Wort ist im Griechischen gleichbedeutend
mit Sinn. Es könnte dort also auch stehen:
„Im Anfang war der Sinn“. Dieser Sinn nun
- und das ist das typisch taoistische - handelt von sich aus nicht, sondern verharrt
im „Wu wei“, dem „Nicht-tun tun“, was
kein faules Warten ist, sondern als Tätigkeit
aufzufassen ist, welche durch ihre bloße
Existenz als Sinn in den Dingen steckt und
diese hervorbringt. Und zwar mittels des
„Te“, dem an sich passiven Einwirkens des
Tao in die Welt, welches als Vorhandensein
des Sinns die Entfaltung und Erhaltung des
Universums in vollkommener Güte hervorbringt. Sollte Sie dieser Denkansatz interessieren, so empfehle ich Ihnen die Lektüre des LAO TSE zugeschriebenen TAO TE
KING – Dieses existiert in verschiedenen
Übersetzungen, von denen ich empfehle:
1. Die Übersetzung von Victor von Strauß,
TAO TE KING, Manesse-Bibliothek der
Weltliteratur, besonders wegen der darin
enthaltenen Kommentare.
2. Die Übersetzung von Richard Wilhelm,
TAO TE KING, Diedrichs Gelbe Reihe. Ein
angenehm zu lesendes, mehr belletristisches Werk.
Dieser so apostrophierte philosophische
Hintergrund reicht noch nicht aus, die
praktische Bedeutung des Taoismus für
die Chinesische Medizin zu erklären und
damit zu dem zu führen, was wir hier als
die Suche nach dem Sinn unseres Tuns betreiben. Wir müssen vielmehr noch über die
naturphilosophischen Konsequenzen sprechen, welche „Te“, der Weg, des Tao in die
Welt hinein als modus operandi benutzt.
Bar jeder Axiomatik fußt diese Denkweise
auf der Totalität aller denkbaren Antagonisten, Yin und Yang genannt. Zwischen
oben und unten, hell und dunkel, Mann und
Frau und allem nur denkbaren Gegensätzlichen besteht eine potentielle Spannung,
die sich als Energie äußert. Und zwar sowohl in physikalischer als auch biologischer
Hinsicht. Es ist nur logisch, alles energetische Geschehen des Lebens unter diesem
Aspekt zu betrachten. Angefangen beim
Antagonismus zwischen Himmel und Erde
erschließt diese Naturphilosophie der Chinesischen Medizin schlüssige Vorstellungen von der Entstehung der Lebensenergie,
die verdächtig unserer Physiologie ähneln,
bis zu deren Auswirkungen in den verschiedenen Funktionskreisen unseres Körpers.
Ein imposantes, in sich hervorragend funktionierendes Gebäude medizinischer Theorien, welches zu beschreiben nicht der Sinn
meiner Auslassungen sein kann und das
ein spezielles Studium der Dinge erfordert.
Es ist aber von großem Nutzen, weitere Betrachtungen zu unserem Thema, dem Sinn
unseres Tuns anzustellen. Aus der Palette
der Vielfalt philosophischer Aussagen, die
uns nützlich sein könnten, habe ich auszugsweise und komprimiert die eben angedeuteten Lehren der griechischen Stoa
und des chinesischen Taoismus ausgewählt, um zu zeigen, was man unter dem
SINN unseres Tuns verstehen könnte und
was er in der Praxis sein sollte. Ich weigere
mich, als bloßer „Gesundheitsverkäufer“
vor meine Patienten zu treten und meine,
wir alle sollten einen höheren Auftrag erfüllen, indem wir unsere Behandlung so einrichten, dass einerseits der Patient geführt
wird, andererseits auch seinen ontischen,
ihm seinsmäßig zukommenden Platz in der
Schöpfung begreift.
l. Unter Parientenführung kann man die
Aufgabe verstehen, dem Menschen, der
sich uns anvertraut, nicht nur zu zeigen,
welche Lebensweise und welche Mittel er
zur Wiederherstellung seiner Gesundheit
anzuwenden hat. Das ist einerseits Berufsroutine, über die wir vor einem Auditorium
von Fachleuten, die eben hiervon leben,
wohl kaum zu reden haben. Andererseits
aber auch Zielvorstellung im vorher apostrophierten Sinne der Stoa: Der Patient soll
begreifen, dass der Sinn des Lebens nicht
nur in der Jagd nach den Annehmlichkeiten
desselben bestehen darf; Geld, Luxus, kurz
Wohlstand ist nicht alles, sondern eher
morbide Belastung, insofern also vom Neid
diktiert: Weil „der andere“ es hat, muss
man es auch haben - und sich im Streben danach übernimmt und kaputt macht.
Wenn man begreift, dass das Streben zum
Notwendigen in heiterer Gelassenheit auch
etwas „Angenehmes“ sein kann, dann lässt
man sich auch auf eine „natürliche Lebensweise“ ein, genießt das, was die Natur, je
nach Jahreszeit, schönes zum Leben, zum
Erleben und Genießen zu bieten hat, wohl
wissend, dass das alles von einem höheren
Prinzip her kommt und gesteuert wird.
2. Die ontische, seinsmäßig orientierte Position des Patienten in der Welt kann am
ehesten taoistisch begriffen werden. Er soll
wissen, dass er zwischen Himmel und Erde
steht und aus diesem Spannungsfeld nicht
nur seine Kraft, das Leben bezieht, sondern auch alles, was da war, ist und sein
wird. Der „Himmel“ ist nicht nur als theologischer Begriff zu sehen, sondern beginnt
bereits im Außen. Alles, was der Mensch
nicht selbst ist, ist Anfang des Himmels in
diesem Sinne und dehnt sich aus, wenn
man so will bis ins Unendliche, bis in eine
nur denkbare, sinnlich nicht wahrnehmba-
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re Dimension, die - mathematisch gesehen
- keineswegs irreal ist. Wir und der Patient
müssen begreifen, dass wir in diesen unabdingbaren Zusammenhang hineingeboren
sind.
Dann bekommt der 35. Spruch des TAO TE
KING eine essentielle Bedeutung, welche
zu begreifen das Leben sinnvoller machen
kann:
Wer festhält das große Urbild,
zu dem kommt die Welt.
Sie kommt und wird nicht verletzt,
In Ruhe, Gleichen und Seligkeit,
Der SINN geht aus dem Munde hervor,
milde und ohne Geschmack.
Du blickst nach ihm und siehst
nichts Sonderliches.
Du horchst nach ihm und hörst
nichts Sonderliches.
Du handelst nach ihm und findest kein Ende.
Lieber August Brodde, höre ich Sie sagen.
Du spinnst uns ganz schön etwas vor! - Ist
denn das alles, was wir in drei Jahrzehnten
unserer Praxistätigkeit getan haben, ohne
Sinn gewesen? Haben wir nicht so manchen Patienten von seinen Beschwerden
befreit? Haben wir nicht das Vertrauen so
vieler Menschen erworben? Macht das
etwa keinen Sinn? Doch, es macht Sinn.
Nur durch Erfolge kann dieses zustande
kommen, durch Erfolge, die das Selbstwertgefühl des Behandlers erhöhen. Dieses besteht zum großen Teil nicht nur in dem Bewusstsein, von den Patienten gerühmt und
empfohlen zu werden, sondern auch dann,
was man von diesem Erfolge präsentieren
kann: Haus, Auto, Luxus, Reichtum. In dieser materiellen Hinsicht den SINN unserer
Bemühungen sehen, bedeutet, dem Pragmatismus huldigen, einer von den Amerikanern Charles Peirce und William James
begründeten Philosophie, deren Lehre
in der Quintessenz gipfelt „Nur was wirkt
und Erfolg hat ist Wahrheit“. Für den Geist
ist hier nur sehr wenig Platz. Aber gerade
der sollte uns nicht unwichtig sein. Haben
wir bis hierher versucht, den SINN von der
griechischen Stoa, dem chinesischen Taoismus, dem amerikanischen Pragmatismus
her zu deuten, so ist dadurch die Palette
philosophischer Möglichkeiten keineswegs
erschöpft. Erlassen Sie mir weitere Ausflüge in Gebiete, die nicht uninteressant
wären und von denen - zum Beispiel - ein
Superpragmatismus, der Dialektische Materialismus von Karl Marx weltweit politische Bedeutung mit verheerenden Folgen
erlangte.
Jedoch lädt ein Überblick durch meine
oben stattgefundenen Zusammenfassungen aus Weisheitslehren dazu ein, noch ein
Wort über den Eklektizismus zu sagen. Der
Eklektiker wird meist als bloßer Nachahmer
apostrophiert, was ausgesprochen ungerecht ist. Meist ist er ein gebildeter, belesener, aber bescheidener und nachdenklicher Mensch, der nichts Neues erdenkt,
um es zu einem neuen philosophischen Gebäude zusammen zu setzen, sondern der
Überzeugung ist, dass alles Wissenswerte
schon vor ihm durch bedeutende Köpfe gesagt worden ist und man es wohl variieren,
kaum aber Neues hinzufügen kann.
Und aus dieser großen Summe vorhandener Lehren setzt er sein Weltbild zusammen, wie es schon Diogenes Laertios getan
hat und Kameades (212 bis 128 v.Chr.) in
der Spätzeit der griechischen Philosophie
lehrte. Heutzutage würde mehr Eklektizismus weniger Spinner bedeuten. Im 32.
Spruch des TAO TE KING sagt Lao Tse auszugsweise:
Der SINN als Ewiger ist namenlos Einfalt.
Obwohl klein, wagt die Welt ihn nicht zum
Diener zu machen.
Weiß man, wo halt zu machen ist,
So kommt man nicht in Gefahr.
Dreißig Jahre Praxis – der Sinn? Den kann
ich Ihnen nicht sagen und als sichere Erkenntnis mit auf den Weg geben. Es kommt
ganz darauf an, unter welchem Aspekt man
die Dinge anschaut. Für den einen wird
dieser Sinn im materialistischen Pragmatismus zu finden sein: Wahr ist, was mir Erfolg
bringt. Für den anderen liegt die Richtschnur in der Stoa: Sich und den Patienten
auf das Wesentliche zu beschränken und
eine natürliche Lebensweise führen, die
keineswegs Annehmlichkeiten ausklammert. Der dritte sieht den Sinn seines bisherigen, gegenwärtigen und künftigen Tuns
darin, den richtigen Platz im kosmischen
Geschehen - sowohl im Makro als auch im
Mikrokosmos - und ihren unabdingbaren
gegenseitigen Relationen zu orientieren
und zu finden, wobei er auf der Welle des
Taoismus liegt, und der vierte schließlich
orientiert sich mit den Eklektikern an der
Summe ihm bekannter Weisheiten. Ich
muss sagen, dass es den „SINN AN SICH“
als feststehenden, unabänderlichen Begriff
nicht gibt, sondern dass ein jeder aufgerufen ist, sich um seinen SINN zu bemühen,
und er wird ihn je nach dem Stadium seiner
eigenen Evolution zwischen bloßer Materie
und reinem Geist finden. Hoffen wir, dass
Sie auf dieser Skala einen gehobenen ontischen Platz haben.
Hier wie im täglichen Leben überhaupt gilt
der Ausspruch des griechischen Philosophen Epiktet: „Es verwirren den Menschen
nicht Dinge, sondern Meinungen über Dinge“. Arthur Schopenhauer sagt es in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ im
Kapitel „Von dem, was einer ist“ folgendermaßen: „Nicht was die Dinge objektiv und
wirklich sind, sondern was sie für uns, in
unserer Auffassung sind, macht uns glücklich oder unglücklich“.
Wenn ich auch nicht schlüssig oder gar allgemein gültig habe sagen können, was der
SINN einer generationslang ausgeübten
Praxis sei, hoffe ich doch, zu diesem Thema
mindestens Denkanstöße gesetzt haben zu
können, die Sie freundlichst und - vielleicht
- fruchtbar in Ihrem Sinn bewegen wollen,
um Ihren SINN zu finden.
Nun ist aber der Begriff des Sinns nicht nur
ein geistiger Wert, wie bisher abgehandelt,
sondern auch eine Vokabel der Allgemeinheit im täglichen Umgang, an der wir wohl
nicht vorbei können. Erleben wir doch dauernd, dass die Vertreter der offiziellen Medizin – besonders die Funktionäre – unser
Tun als Unsinn bezeichnen und dieses der
Patientenschar schmackhaft machen wollen. Das lasst manchmal die Wogen der öffentlichen Diskussion hochschlagen. Aber
es gibt - Gott sei Dank - eine Unzahl von
Patienten, die mit uns gute Erfahrungen
gemacht haben und die sich deshalb gern
der Meinung anschließen WER HEILT HAT
RECHT!
Damit ist, vom Nutzen her gesehen, die
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Frage nach Sinn oder Unsinn unserer
Praxistätigkeit umrissen und beantwortet. Es bleibt das mehr oder weniger nur
akademische Diskussionsblabla. Da hört
man immer wieder mit der Monotonie einer Gebetsmühle, dass die enormen, von
uns benutzten „Verdünnungen“ - Potenzierungen ist den Herren eine Fremdvokabel
– keinerlei Materie mehr enthalten und
deshalb gar nicht wirken können. Realität
ist, dass selbst Hochpotenzen in der Tiermedizin, auch beim Großtier, wirken. Und
sind Sie nicht sicherlich mit mir darin einig,
dass vierbeinige Kühe in der Regel weder
die Regenbogenpresse lesen noch an naturheilkundlichen Diskussionen teilnehmen
und trotzdem hervorragend auf eine D30,
C30, D200 etc. reagieren.
Das ist zwar schon Beweis genug für den
praktischen SINN der Homöopathie, der
zweifelsohne außerhalb der ständig wiederkehrenden Behauptung vom Placebo-Effekt
liegt und auch nicht mit psychogenen Mechanismen erklärbar ist (und wenn schon
... auch das wäre nicht schändlich). Wir
können stolz sein auf das Geleistete und
die wissenschaftliche Erklärung getrost
denen überlassen, die als Wissenschaftler
dafür kompetent sind. Und die tun sich in
dieser Hinsicht schwer – wenn sie nicht
von vornherein ihre Bemühungen auf das
vorab erklärte Ziel ausrichten, absichtlich
die Unwirksamkeit zu beweisen. Die gewählten Untersuchungsmethoden sind im
Übrigen in der Regel nicht geeignet, das
Problem richtig anzupacken.
Wenn überhaupt die Wirksamkeit der Homöopathie nachweisbar ist, dann bestimmt
nicht pharmakologisch oder chemisch,
sondern eher physikalisch. Da ich kein Wissenschaftler bin, fühle ich mich hier nicht
kompetent, kann aber auf ein interessantes physikalisches Phänomen hinweisen:
Nehmen Sie zwei Tonbandkassetten, eine
leere und eine bespielte. Chemisch sind
beide vollkommen identisch, aber nur eine
davon lässt sich abspielen. Weil hier nämlich die Moleküle der Materie magnetisch
anders angeordnet wurden, was ein physikalisches, kein chemisches Phänomen ist.
Das metallische Band als Informationsträger. Und so ist es auch mit dem homöo-
pathischen Mittel. Das Vehiculum – Alkohol
oder Milchzucker – wurde durch die Potenzierung imprägniert und ist zum Informationsträger geworden. Sei dem wie ihm wolle: Die uns bekannte Wirksamkeit kann am
ehesten noch so erklärt werden.
Diese kleine Erinnerung an bestimmt längst
Gewusstes mag uns darin bestärken, unsere Praxis mit gutem Gewissen auszuüben,
wohl wissend, dass das, was wir tagtäglich
an Wirksamkeit beobachten, „Hand und
Fuß“ hat und auch „wissenschaftlich“ erklärbar sein musste, wenn man es richtig
anfassen würde. Einstweilen gedulden wir
uns mit dem, was uns zur Verfügung steht,
erleb- und beobachtbar ist und das die Patienten so schätzen, dass sie uns Tag für
Tag eine „Abstimmung mit den Füßen“ darbringen. Sie besuchen und empfehlen uns
immer wieder und beweisen ihre Zufriedenheit und ihr Vertrauen dadurch, dass sie in
gleichbleibend großer Zahl unsere Praxen
füllen. Ergo hat unser von ärztlicher Seite
so gern als UNSINN apostrophiertes Tun
doch seinen SINN, und zwar einen höchst
praktischen und ethisch vertretbaren. Der
Vorwurf, in unseren Praxen würden schwere Krankheiten verschleppt, trifft uns nicht,
denn wir wissen sehr wohl, wann wir Patienten zur „Schulmedizin“ zu schicken haben. Zur „Schulmedizin“, die unsere unbestreitbaren Erfolge oft (auch) damit erklärt,
dass viele Krankheiten von selbst heilen.
Was, so wissen wir, in ärztlichen Praxen
durchaus oft mit Erfolg verhindert wird.
Lassen Sie es mich kurz machen. In voller
Verantwortlichkeit gegenüber dem Leben
üben wir unseren Dienst am Patienten in
dem Bewusstsein aus, dass er seinen SINN
hat, und dass die schulmedizinische Behauptung, er sein Unsinn, UNSINN ist.
Dreißig Jahre Praxis – der Sinn? Ich glaube,
wir kommen ihm immer näher, wenn wir
nicht nur in unserer Tätigkeit einen Sinn
sehen, sondern – vor allen Dingen – auch
versuchen, ihn unter philosophischen Gesichtspunkten zu begreifen, wozu eine kleine „Schützenhilfe“ gegeben zu haben ich
hoffe.
August Brodde schreitet zum Gesellschaftsabend,
80er Jahre
In memoriam
August Brodde
Heilpraktiker Brodde startete 1953
seinen Unterricht
Die Geschichte der Arbeitsgemeinschaft
für Klassische Akupunktur und Traditionelle
Chinesische Medizin e.V. und des ABZ West
Von Helmut Magel (2001), Vorstand/Bereichsleiter Didaktik der August-BroddeSchule
August Brodde, ein Praktiker der Akupunktur der ersten Stunde nach dem 2. Weltkrieg, war Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur
und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.
und erster Vorsitzender sowie der Gründer
des Ausbildungszentrums West e.V., das
heute seinen Namen trägt. In französischer Kriegsgefangenschaft mit der Chinesischen Medizin in Kontakt gekommen,
ließ Brodde diese in Deutschland eher
fremde Heilkunde nicht mehr los.
Nach dem Krieg scharte sich nach seinen ersten Veröffentlichungen eine kleine Gruppe gleichgesinnter Heilpraktiker
und Ärzte um ihn, um die Systematik der
Chinesischen Medizin zu erfassen. 1952
fanden erste Kurse unter Leitung von Dr.
Stiefvater und den Heilpraktikern Hörner
und Korn statt. August Brodde begann
13
dann 1953 mit Kursen in ganz Deutschland,
um dem wachsenden Interesse an diesem
Zweig der Medizin gerecht zu werden.
Nach anfänglicher Zusammenarbeit von
Heilpraktikern und Ärzten bekamen letztere zunehmend Schwierigkeiten mit ihren
Standesorganisationen: Zum einen wegen
der Bezeichnung “Akupunkteur” – die TCM
war damals von einer öffentlichen Anerkennung seitens der offiziellen Medizin
noch weit entfernt – zum anderen aufgrund
des im ärztlichen Standesrecht verankerten Konsiliarverbots mit Heilpraktikern. Es
handelte sich jedoch nicht um eine Zusammenarbeit, sondern um eine gemeinsame
Ausbildung, die von diesem Verbot nicht
betroffen war.
Zu diesem Zeitpunkt gründete sich die
“Deutsche Gesellschaft für Akupunktur”
(DGfA), Vorläufer der heutigen “Deutschen
Ärztegesellschaft für Akupunktur” (DÄGfA),
unter Leitung von Gerhard Bachmann. Dies
führte dann zu nicht mehr überbrückbaren
Differenzen mit den zum größten Teil in
der “Deutschen Heilpraktikerschaft” (DH)
organisierten nichtärztlichen Kollegen, so
dass es schließlich zum Bruch kam.
August Brodde gründete 1954 den Arbeitskreis für Klassische Akupunktur in
der Deutschen Heilpraktikerschaft (DH).
Es begann eine Zeit, in der sich Praktiker
mehr und mehr auch auf regionaler Ebene mit der Thematik beschäftigten. Einige
herausragende Größen der damaligen Zeit,
zum Beispiel Else Münster aus Hamburg,
scheuten keine Mühen, um „vor Ort“ zu
lernen. Aus politischen Gründen waren
Reisen in die VR China nicht möglich, so
orientierten sich die Interessenten nach
Japan und Hongkong. Die dort Ausgebildeten kamen sehr enthusiastisch von ihren
Reisen zurück, um zu lehren, was sie dort
erfahren hatten.
Nachdem sich die Mitglieder des Arbeitskreises für Klassische Akupunktur lange
Jahre im kleinen Kreis getroffen hatten, die
Nachfrage nach qualifizierter Ausbildung
aber immer größer wurde, entschloss sich
der Arbeitskreis 1968, eine erste größere
Tagung durchzuführen. Die mittelalterliche
Stadt Rothenburg o.d.T. und dort wiederum das Spitalviertel wurden ganz bewusst
gewählt.
Die Tagungen fanden jährlich in wachsendem Umfang und mit größer werdendem
Zulauf statt. Sie sind bis heute ein Ort
lebendigen Austausches zwischen Kolleginnen und Kollegen und zum größten
TCM-Kongress in der westlichen Welt geworden.
Dieses “Treiben” der Akupunkteure, vor
allem ihr zunehmend selbstbewusstes
Auftreten, fiel der Leitung der damaligen DH auf. Bedingt durch zunehmende
Schwierigkeiten mit der DH-Führung entschloss sich die Gruppe 1981, einen eigenen Verein unter dem Namen “Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und
Traditionelle Chinesische Medizin e.V.” zu
gründen. Die Arbeitsgemeinschaft wurde
in das Vereinsregister eingetragen und erhielt die Gemeinnützigkeit.
Ein weiterer qualitativer Sprung erfolgte
1984, als der bekannte Praktiker Hans
Giesen zusammen mit August Brodde
eine “Schule für Klassische Akupunktur
und TCM” in Bochum gründete. Das Ziel
war, den Interessierten in einer intensiven
Ausbildung die Grundlagen der TCM zur
Praxisreife zu vermitteln. Die erste, damals
noch zweijährige Ausbildung wurde mit
großer Resonanz angenommen. Zur damaligen Zeit gab es in Deutschland keine andere Ausbildung in dieser Form. Angeregt
durch die Bochumer Schule kamen später
weitere Ausbildungszentren hinzu.
Heute gibt es insgesamt sechs, die miteinander in regelmäßigem Austausch stehen
und sich gegenseitig inspirieren. August
Brodde leitete die Arbeitsgemeinschaft bis
1992 und wurde später ihr Ehrenpräsident.
Er ist am 4. Dezember 1997 kurz nach
Vollendung seines 80. Lebensjahres gestorben. Da er maßgeblich zur Verbreitung
der Chinesischen Medizin in Deutschland
beigetragen hat, trägt das ABZ West als
August-Brodde-Schule e.V. zusätzlich seinen Namen.
Das Ausbildungszentrum wird durch einen
gemeinnützigen Verein getragen, in dessen Vorstand auch DozentInnen der Schule vertreten sind. Das ABZ ist somit eine
selbständige Institution, die wie die übrigen Ausbildungszentren für Chinesische
Medizin Ausbildungen durchführt, die mit
der Verleihung des Diploms der Arbeitsge-
meinschaft für Klassische Akupunktur und
Traditionelle Chinesische Medizin abgeschlossen werden. Seit September 1999
findet der Unterricht in eigenen Räumen,
zu denen auch ein Lehr-Ambulatorium gehört, in Wuppertal-Barm statt.
August Brodde 1996 beim TCM Kongress
in Rothenburg
August Brodde und Karl-Friedrich Liebau,
Anfang der 1980er
14
Eine Persönlichkeit der ersten Stunde
Erinnerungen an den Heilpraktiker August Brodde (1917 – 1997)
Von Wilfried Merz, Langzeitmitglied der AGTCM
Mit großem Fleiß hat er über fünf Jahrzehnte versucht, die besonderen Erkenntnisse
der chinesischen Entdeckungen zu verstehen und durchschaubar zu machen. Er
wollte verstehen. In seinen Werken weist er
immer darauf hin, dass er zu diesen Schriften gedrängt wurde. Es war sein Anliegen,
Zusammenhänge zu sehen und die Logik,
die hinter der chinesischen Philosophie
steht, zu durchschauen. Als Persönlichkeit
der „ersten Stunde chinesischen Denkens
in Europa“ hat er schon sehr früh - Anfang
der 1950er Jahre - als Heilpraktiker begonnen, seine Erkenntnisse weiterzugeben.
Vor dem riesigen Wissen der chinesischen
Philosophie hat er nie kapituliert, sondern
- wie er gern sagte - als kleiner Fußgänger
Zusammenhänge gesucht und gefunden.
In seinem Grundwissen war er geprägt von
der französischen Schule. George Soulié
de Morant war - wie ich heute deute - die
erste Quelle seiner Studien. Die Gründung
des Arbeitskreises für Klassische Akupunktur und traditionelle chinesische Medizin
erfolgte im Jahre 1954 als Arbeitskreis in
der Deutschen Heilpraktikerschaft e.V.
Bereits in seinem ersten Werk „Ratschläge
für den Akupunkteur“, 1963 im RichardPflaum-Verlag erschienen, wies er auf die
Wichtigkeit der Maximalzeiten (Sonnenzeiten ) hin: Die Behandlung der Wurzel des
Geschehens unter der Berücksichtigung
der Dynamik der Natur. Dabei muss man
herausheben, dass er in der Therapie des
Ausgleichs die maximale Voraussetzung
zur Selbstheilung gesehen hat. Schon zu
dieser Zeit waren die Behandlungsansätze in Europa unterschiedlich (Goldnadeln,
Silbernadeln, Stahlnadeln, Moxatherapien,
Pflasterbehandlungen, symptomatisches
Behandeln). Ich erinnere mich gut, dass er
die Arbeitsgemeinschaft darüber abstimmen ließ, ob man die Ohrakupunktur als
einen Aspekt der Klassik integrieren kann.
Als ich in den 1960er und 1970er Jahren
die ersten Vorlesungen und Seminare miterlebte, fand ich eine Gruppe von Idealisten, die ihre Arbeit ganz diesen Gedankengebäuden gewidmet hatten. Da wurde am
Wochenende weiter gearbeitet, auch wenn
man eine Fünf-Tage-Woche in der vollen
Praxis hinter sich hatte. Wir alle profitierten
von seinem Drang, uns diese Erkenntnisse
zugänglich zu machen und sie in Europa
zu festigen. Er war seit 1970 Präsident der
Deutschen Heilpraktikerschaft e.V.
1976 veröffentlichte er die dritte Auflage
seines Werkes „Ratschläge für den Akupunkteur“ mit dem Hinweis, kein Lehrbuch
schreiben zu wollen, sondern dass es sein
Anliegen ist, die energetische Akupunktur durchschaubarer zu machen. Zitat: …
„dass das Durchdenken eines Falles nach
den energetischen Prinzipien der klassischen Akupunktur vor dem Stechen stehen
sollte“.
Zitat: „August Brodde betrieb eine allgemeine Heilpraxis, in der die Akupunktur
eine dienende, nicht – wie heute leider so
modern – die herrschende Rolle spielt.“
In seinem Vorwort wies er auf die neuen
Probleme dieser Zeit hin. Zitat: “Die Vielfalt
moderner Bücher bringt eine gewisse Verwirrung in die Ausübung der Akupunktur.
Die energetische klassische Kunst wird nur
von wenigen gelehrt.“… „Das führt mehr
und mehr zur kritiklosen Anwendung und
zur Verflachung von Lehre, Ausbildung und
Erfolg.“
Um der chinesischen Medizin gerecht zu
werden, versuchte er immer mehr Fachleute nach Rothenburg zu holen. Man muss
vor Augen haben, dass in diesen Jahren
die Behandlung mit der Nadel als eine völlig außergewöhnliche Methode gesehen
wurde, die - auch von Heilpraktikern - belächelt und bis zur Scharlatanerie diskrimi-
niert wurde. Wie Kollege Brodde an einer
Stelle schreibt, war er froh, wenn es ihm
gelungen war, einen Patienten oder eine
Patientin zur Behandlung mit der Nadel zu
überreden, ja man musste sogar bitten.
Von der Sache überzeugt lud er Spezialisten, wie zum Beispiel Dr. Westermeyer
(Veterinärmediziner, Ersteller der ersten
Akupunktur-Atlanten für die Großtierpraxis) ein. Er präsentierte diesen immer mit
der derselben Ansage: „Ich habe den Dr.
Westermeier mit seinen interessanten Filmen und Vorträgen wieder eingeladen,
um zu zeigen, dass die Akupunktur auch
bei Kühen wirkt, die nicht vorher die BildZeitung gelesen haben!“
Mit der regelmäßigen Einladung von Jacques Bierlaire nach Rothenburg wurden die
Überlegungen der Therapie des Ausgleichs
untermauert. (Buch: Akupunktur des Ausgleichs - Regeln und ihre Anwendungen
erschienen im WBV)
Natürlich sind hier der Sinologe Prof. Dr.
M. Porkert, Dr. A. Markgraf, die Kollegin
Ockelmann, der Anästhesist Prof. Dr. Dr.
H. F. Herget (Elektrostimulations-Analgesie - 250 offene Herz-Operationen 1973
- 1976) und J. D. van Buren zu nennen. Im
Jahre 1969 fand erstmals in Rothenburg o.
T. im „Hotel Reichsküchenmeister“ eine
kleine Zusammenkunft statt. Die Basis
der Rothenburger Tagungen war gegeben.
Um den Anfängen in Rothenburg gerecht
zu werden, müssen hier selbstverständlich die Kolleginnen Doris Baginsky (klass.
Akupunktur) und Else Münster (japanische
Akupunktur und die besondere Kinderbehandlung - Shoni-Shin) genannt werden.
Besonders sind aber ebenso die Kollegen
Hans Giesen und Dr. Karl O. Heimann zu
nennen, ohne die diese Seminare nicht zu
dem geworden wären, was sie damals waren.
Kollege Hans Giesen hat an der Entwick-
15
lung der Arbeitsgemeinschaft einen sehr
großen Anteil, vielleicht sogar den größten.
Mit einem unermüdlichen Fleiß, immer im
Bewusstsein, Schüler von August Brodde
zu sein, solidem Grundwissen und dem beherrschen der PA FA , hat er diesen Aspekt
der Lehre verinnerlicht und gelebt. Die Erfahrungen seines Wissens hat er in dem
Buch, „PA FA. Klassische Akupunktur für
den Praktiker“ erschienen bei WBV, veröffentlicht. Nicht zu vergessen die vielen Vorträge und Seminare, die zum Teil von Dr.
Karl O. Heimann in den drei Büchern „Beiträge zu den Tagungen“ für die Arbeitsgemeinschaft für klassische Akupunktur und
traditionelle chinesische Medizin veröffentlicht wurden. Dr. Heimann war immer Mitorganisator der Rothenburger Tagungen.
Während Hans Giesen den ersten Arbeitskreis im Westen leitete, gründete Dr. Heimann den Arbeitskreis Süd in München.
Die erste Schule der Arbeitsgemeinschaft
wurde 1983 in Bochum gegründet, an die
auch ich als Lehrer berufen wurde. Nicht
nur im Verstehen des chinesischen Weltbildes, sondern auch für uns Praktiker hat
August Brodde sehr viel geleistet, wie zum
Beispiel in der Ausarbeitung der grafischen
Darstellung des Akabane-Tests. Durch
seine besondere Idee wurde ein Diagnostikum bestätigt und der Heilungsverlauf
gezeigt, obwohl es sich hierbei nur um die
Reflexion der Anfangs- bzw. Endpunkte der
Meridiane gegen Hitze handelt, welche jedoch schon die kleinsten Überreaktionen
oder Verlangsamungen des Stoffwechsels
darstellen. Hier hat er die Basis für eine
echte ganzheitliche Perspektive und die
Belegbarkeit dieser Therapie geschaffen.
(Buch: Brennen mit Moxakraut - Der Akabane-Test als thermisches Diagnostikum,
WBV). Aber nicht nur in diesem Bereichen
half er weiter, sondern er knüpfte ebenso die Beziehungen zu den idealistischen
Verbänden, die anstrebten, die authentischen Kenntnisse der chinesischen Medizin umzusetzen, wie die Société International d’Acupuncture, deren Präsident Jean
Schatz auch in Rothenburg lehrte.
Ich schließe meine Erinnerungen mit dem
Bewusstsein, einen guten Lehrer in August
Brodde gehabt zu haben, der uns nach
Dr. Karl Heimann
1980er Jahre: Wer findet den jungen Herbert Vater?
wie vor ein Vorbild sein sollte. Mit seiner
Anregung auf meine Weiterbildung hat er
meine Tätigkeit als Therapeut mit folgender
Feststellung geprägt: Wenn man einen Bastard bestimmen will, dann muss man erst
die Rasse studieren. Das Studium der Rasse habe ich nach 40 Jahren Vollzeitpraxis
noch nicht abgeschlossen und fühle mich
sehr wohl dabei.
„Der Erkennende ist nicht viel
wissend, der Vielwisser erkennt
nicht.“
Tao Te King LXXXI
Hans Giesen
16
Unvergessliche Erlebnisse während der ersten Studienreise nach Chengdu
Persönliche Erinnerungen an die Jahre der aktiven Vereinsarbeit
Von Helen Schreiner, ehem. 1. Vorsitzende der AGTCM
Nachdem ich bei Frau Heinz in der HPFachschule München eine Grundausbildung in TCM genossen hatte und
im Sommer 1980 bei Hans Giesen ein
fünfwöchiges Praktikum absolviert hatte, nahm ich an den Fachfortbildungen
der AG teil. Unsere damaligen Dozenten
waren hauptsächlich August Brodde und
Hans Giesen. 1984 wurden anlässlich
der Rothenburg-Tagung Prüfungen abgehalten und mit der Nr. 74 wurde ich als
Vollmitglied aufgenommen. Eine weitere
sehr gute Ausbildung erhielt ich durch
Wochenendseminare mit Dr. Nguyen van
Nghi und Dr. Hadida 1986/87 in Barcelona.
Soweit ich mich erinnere, gründeten wir
1989 auf Initiative von Dr. K.O. Heimann
das Ausbildungszentrum Süd in der Giselastraße in München-Schwabing. Neben
A. Brodde und H. Giesen unterrichteten
hauptsächlich H. Weczey, H. Wittmann
und ich. Unvergesslich war der Unterricht
von August Brodde, dem Mitbegründer
der AG, der viel Wert auf den philosophischen Hintergrund der chinesischen
Medizin legte. Das Steckenpferd von
„Charly“ Heimann war die geschichtliche Entwicklung. Hans Giesen war der
Praktiker, der uns durch seine langjährige
Erfahrung wertvolle Tipps auch in anderen Aspekten der Naturheilkunde mitgab. Über Gerd Ohmstede kam Barbara
Kirschbaum als Dozentin dazu. In ihrem
klar strukturierten Unterricht erklärte sie
die Logik und Zusammenhänge der chinesischen Medizin. Durch sie wurden wir
unter anderem in Diagnostik und chinesischer Pharmakologie geschult.
Während meiner fünfjährigen Vorstandsarbeit hatte ich die Möglichkeit, an internationalen Tagungen teilzunehmen.
Herr Brodde bat mich damals, die AG in
Straßburg bei einer Anhörung des EUParlamentes zu vertreten, als es um die
europäische Regelung der nicht ärztlichen Therapeuten ging. Gerd Ohmstede,
der schon mehrfach in China war, organisierte für den Sommer 1990 die erste
Studienreise der AG nach Beijing und
Chengdu. Teilnehmer waren unter anderem Grita Petersen-Jung, Silke Schweinhuber, Sigrid Klain, Renate Ilg, Herbert
Vater, Claude Diolosa, Gerd Ohmstede
und ich.
Nach einer Woche Sightseeing in Beijing
ging es weiter nach Chengdu. Wir waren
im Ausländer-Studentenheim des Provinzhospitals von Sichuan gut untergebracht.
Da unser Aufenthalt ein Jahr nach der
brutalen Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tiananmen- Platz stattfand,
wurden wir dementsprechenbewacht und
man verhinderte die Kontaktaufnahme
mit den chinesischen Studenten. Während eines Wochenendes, an dem wir auf
einer Exkursion waren, wurde sogar das
Verbindungstor, das den Hof der chinesischen Studenten mit dem der ausländischen verband, zugemauert.
Freudig überrascht waren wir von der
Freundlichkeit und Offenheit der Ärzte und Übersetzer uns gegenüber. Auch
die Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und
Patient/in war von einer Kameradschaft
geprägt, wie wir sie hier im Westen nicht
kannten. Intimität gab es nicht. In den
Behandlungsräumen wurden die Patient/
inn/en auf alten Sesseln, Liegen oder
sitzend auf Stühlen behandelt, und jeder
konnte mithören, welche Beschwerden
der Nächste vortrug. Sicherlich hat sich
in den 23 Jahren vieles geändert, aber damals war es für uns einerseits befremdlich, andererseits wurde es durch die
Helen Schreiner als 1. Vorsitzende in der
Reichsttadthalle in Rothenburg
Liebenswürdigkeit der Behandler/innen
und die Geduld der Patient/inn/en ausgeglichen.
Unser Tagesablauf war stressig: 7.30
UhrChi Gong, 8.30 Uhr Frühstück, das
sehr gewöhnungsbedürftig war (kalter
Reis, Erdnüsse, Tee, Sojamilch). Von 9 bis
12 Uhr hospitierten je zwei unserer Gruppe mit einem Übersetzer bei einem Arzt
und konnten auch selbst unter seiner Anleitung nadeln. Noch immer höre ich das
leicht verächtliche „bu tong“ (tut nicht
weh) der Patient/inn/en, weil wir uns
nicht trauten, so zu nadeln wie die chinesischen Ärzte. Dann gab es Mittagessen,
nachmittags hatten wir Vorlesungen.
Die Klinik hatte uns Fahrräder zur Verfügung gestellt, und so konnten wir in die
Stadt fahren. Aber immer wurden wir von
einem Bewacher begleitet. Manchmal
verabredeten wir uns und fuhren ein jeder
in eine andere Richtung, um uns nachher
17
wieder zu treffen. So wurden wir unseren
Bewacher los. Am Wochenende konnten
wir mit einem Bus die nähere Umgebung
erkunden. So machten wir Ausflüge und
besichtigten Lo Shan und kletterten auf
den Er Emai.
Die fünf Wochen waren sehr schnell vorbei. Mit vielen neuen Erkenntnissen und
Erfahrungen sowie beladen mit Souvenirs
kehrten wir zurück.
Eine bemerkenswerte Episode sollte ich
noch erwähnen: Eine Großmutter brachte
ihren achtjährigen, unterernährten Enkel,
der wie ein Fünfjähriger aussah, zur täglichen Behandlung. Der Junge hatte infolge
einer Meningitis das Gehör verloren und
war blind geworden. Der Kleine hielt die
Nadelung tapfer aus, die Oma weinte.
Vielleicht auch, weil sie nicht genügend
Geld hatte, um die Behandlung fortzusetzen. Bevor wir nach Hause flogen, gaben
meine Kollegin Silke und ich der behandelnden Ärztin 50,- DM (oder waren es
Dollar?), um die Behandlung dieses Jungen weiterzuführen.
ten und erwähnten, dass sie das übrige
Geld den Eltern mitgegeben hatten, um
den Kleinen besser ernähren zu können.
Außerdem enthielt der Umschlag eine
Cassette und ein Foto. Darauf sah man
die Großmutter, die Eltern, die Ärzte und
den Kleinen mit einem Spielzeugauto und
einen Blumenstrauß. Auf der Cassette
hörten wir, wie der Junge gefragt wurde,
was er in der Hand hält. Dann wurde er
gebeten, für uns ein Lied zu singen, damit
sollten wir den Erfolg der Behandlung hören. Dieses Erlebnis steht für die ganzen
Erfahrungen, die wir während unseres
Aufenthaltes in Chengdu gemacht haben.
Hiermit möchte ich nochmal meinen
Dank an Gerd Ohmstede für seine gut
gelungene Organisation ausdrücken und
auch allen, mit denen ich während meiner Zeit im Vorstand zusammenarbeiten
konnte. Ebenso möchte ich der AG und
besonders dem jetzigen Vorstand zu seiner Arbeit gratulieren.
Etwa einen Monat später erhielten Silke und ich einen Brief aus Chengdu, es
war ein dicker Umschlag. Dr. Xie Ru, eine
Ärztin, war gerade bei uns im AK Süd zu
einer Fachfortbildung. Sie wohnte bei mir
und übersetzte den Brief. Es war ein Dankesschreiben von den Eltern des kleinen
Jungen und ein Rechenschaftsbericht der
Ärzte, die den Kleinen behandelt hatten.
Sie dokumentierten die Behandlungskos-
Der Kleine hielt die
Nadelung tapfer
aus, die Oma weinte.
Erste Chinareise: Unvergessliche Erlebnisse
18
Wandlungen durch und mit TCM1 in Deutschland
Therapie, Therapeuten, Gesundheitssystem und Gesellschaft
von Marlies Sonnentag, ehem. Mitglied des Vorstandes der AGTCM
60 Jahre sind eine kurze Spanne in der Geschichte von Ost und West und doch eine
wechselvolle Zeit: Es gab massive Veränderung nach dem Ende des 2. Weltkriegs,
die Beschleunigung der Technisierung der
Lebens- und Arbeitswelt, die zunehmende
Internationalisierung und Globalisierung
der Wirtschaft. Auf der sozialen und individuellen Ebene erweiterten sich die Möglichkeiten für einen Teil der Weltbevölkerung: Wahlfreiheit der eigenen religiösen
und philosophischen Ausrichtung, mehr
Informationsmöglichkeiten und Reisefreiheit. Dies hat den Austausch von Ost und
West gefördert und die heutige Rezeption
von TCM im Westen ermöglicht. Hier sollen mit einigen persönliche Skizzen und
Thesen Aspekte zur Entwicklung und Rezeption der Traditionellen Chinesischen
Medizin, Philosophie und Lebenspraxis in
Deutschland dargestellt werden: als Moment zum Innehalten, zur Anregung von
Bescheidenheit und Stolz, zur kritischen
Reflexion und als Motivation zum Weitermachen.
Medizinische
Wissenschaftlichkeit
versus „Ganzheitliche Sicht“ des Menschen
Der technische und wissenschaftliche Fortschritt im Bereich der Medizin hat in den
letzten Jahrzehnten die Möglichkeiten von
Diagnose und Therapie, konservativ wie
chirurgisch, revolutioniert. Es ist sinnvoll,
wenn man aus der eigenen Perspektive
vielleicht gerade kritisch auf manche Entwicklungen der heutigen Medizin schaut,
sich klar zu machen, was vor 60 Jahren
alles noch nicht möglich war. In den wohlhabenden Ländern ist dieser Fortschritt für
viele Menschen real zugänglich, während
er für viele Menschen in vielen Gegenden
der Welt noch eine ferne erstrebenswerte Vision darstellt. Es ist hilfreich, sich zu
vergegenwärtigen, ob man aus einer Pers-
pektive der (Über)Sättigung oder aus einer
Perspektive der Not auf sogenannte Schulmedizin oder Alternativmedizin blickt. Und
dennoch zeigen Stichworte wie „Technisierung“, „Enthumanisierung“, „Apparatemedizin“ oder „Ökonomisierung“ reale
Defizite und ein subjektiv empfundenes
Unbehagen auf: Wo bleibt der Mensch? Wo
wird der Mensch als Subjekt gesehen?
Es gibt in Deutschland eine lange Tradition
der Naturheilkunde, besonders im Bereich
der Kräuterheilkunde auch aus früheren
Jahrhunderten, die in Wellen immer wieder aufgegriffen wurde, früher aus Armut,
mangels anderer Alternativen und heute
hat sich eine Pharmakotherapie mit vielen Herstellern und Präparaten etabliert.
Homöopathie und Anthroposophische
Medizin wurde in Deutschland entwickelt.
Bemerkenswert ist, dass immer wieder
die ganzheitliche Lebenspflege auch von
Geistlichen entwickelt und propagiert wurde – die Klostermedizin im Allgemeinen,
Hildegard von Bingen im Mittelalter, die
Pfarrer Kneipp und Felke in der Neuzeit.
Im Blick dieser Medizin steht der ‚Mensch
in der Verantwortung‘2 für sich selbst und
seine Umwelt.
Heil und Heilung aus der Natur, mit den
Kräften von Natur und Kosmos als Einheit
und Eingebundensein, ist immer wieder
Thema, vielleicht auch Sehnsucht, die
durch die sogenannte wissenschaftliche
Medizin nicht aufgegriffen wird. Die moderne instrumentelle Medizin mit der Gefahr,
den Menschen selbst aus dem Blick zu verlieren, bereitet den Weg für die Suche nach
weiteren Alternativen.3
Die Perspektive von Wissenschaftlichkeit
und von Medizin als wirtschaftliche Großmacht lassen wesentliche Bereiche der
Fragen von Krankheit, Gesundheit, Sinn
und Leid unberührt.4
Rezeption und Akzeptanz von TCM
Die Geschichte der Arbeitsgemeinschaft
für Akupunktur und Traditionelle Medizin
und die verschiedenen Traditionseinflüsse wird an anderer Stelle dieses Bandes
detailliert beleuchtet. Die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft richtet sich vorwiegend
an Therapeuten, damit dann mittelbar an
Patienten.
Ein Teilbereich des Nachfolgenden orientiert sich exemplarisch an der Fragestellung, welche Wandlungen die Rezeption
von Qigong in der BRD bewirkt hat, bei
Übenden, Lehrenden, im Gesundheitssystem und in der Übermittlungspraxis
selbst.5 Meiner Beobachtung nach verläuft
dies in wichtigen Aspekten synchron zur
Rezeption von TCM allgemein.
Bücher spiegeln Interesse und Verbreitung
in gewissem Grade wider. Noch vor 30 Jahren passte die gesamte deutschsprachige
Literatur zu TCM noch in ein einziges Regal – als geschätzte subjektive Erinnerung.
Heute reicht es schon für eine kleine Bibliothek, ähnliche proportionale Zuwächse
gelten für die auch früher schon größere
Vielfalt der englischsprachigen Literatur.
Ab 1960 wächst die Literatur speziell zu
Qigong allmählich und ab 1980 kommen
zunehmend Titel von Autoren heraus, die
entweder selbst asiatische Wurzeln haben oder von Menschen aus dem Westen,
die die Sprache kennen und persönliche
Erfahrungen in China, Taiwan, Japan gemacht haben.
Die Tabelle lässt das zunehmende Interesse schon graphisch deutlich werden. Von
vielen Publikationen erscheinen Folgeauflagen. Qigong als Teilbereich der TCM ist
„angekommen“. Der erste Titel des Ehepaars Stiefvater kam noch aus der französisch geprägten Richtung.
19
68
Erstauflagen von Qigongtiteln
in 5-Jahresperioden
61
60
40
40
20
12
1
1
1961
–
1965
1966
–
1970
1
1971
–
1975
1976
–
1980
1981
–
1985
1986
–
1990
1991
–
1995
1996
–
2000
2001
–
2005
Josefine Zöller hat in Rothenburg auf der Tagung schon früh Qigong unterrichtet und gehörte damit zu den ersten Vermittlerinnen aus eigener Anschauung und Erfahrung als Ärztin,
als Übende, als Lehrende.
Mittlerweile sind grundlegende Begriffe wie Qi, Yin und Yang, 5 Wandlungsphasen im allgemeinen Sprachgebrauch der heutigen Gesellschaft fest verankert. Hier ist erst einmal
nicht wichtig, wie zutreffend die assoziierten Inhalte in der jetzigen Rezeption im Vergleich zum Ursprung sind. Es ist erstaunlich genug, dass in der säkularisierten westlichen
Gesellschaft primär philosophisch, religiös gefärbte Kategorien eine derartige Akzeptanz
erfahren haben. Sie sind nicht als neuer Glaube akzeptiert, sondern eher als ein plausibles
praktisch anwendbares Modell, das eben nicht naturwissenschaftlich ausgerichtet ist.
Es zeigt, dass TCM hier eine potentielle Leerstelle im medizinischen System des Westens füllt: Ein ganzheitliche Denkweise, die praktisch anwendbar ist, „passiv“ in der Anwendung als Patientin oder Patient mit Akupunktur, traditioneller Pharmakologie, Tuina
oder auch „aktiv und damit verantwortliches eigenes Handeln ermöglichend“ mit Qigong,
Ernährung und bewusster Lebensführung. Sie bietet psychosomatische Erklärungen und
Interventionsstrategien. Sie erlaubt die Erweiterung zu philosophischen Fragen zur eigenen Verbundenheit in Welt und Kosmos und einseitige Subjekt/Objektzuordnungen zu
transzendieren. Alles dies geschieht in einer Zeit von Wissenschaftlichkeitsorientierung
und zunehmenden Säkularisierung.
Bis 1990 erschienene Buchtitel zu Qigong in der BRD
Autor
Titel
Erstauflage
Stiefvater, Erich und
Stiefvater, Ilse
Chinesische Atemlehre und Gymnastik
1962
Pálos, Stephan
Atem und Meditation
1968
Zöller, Josefine
Das Tao der Selbstheilung. Die chinesische Kunst der Meditation in der Bewegung - ein Weg
der Selbsthilfe und Heilung
1984
Engelhardt, Ute
Die klassische Tradition der Qi-Übungen (Qigong). Eine Darstellung anhand des Tang-Zeitlichen Textes Fuqi Jingyi Lun von Sima Chengzhen
1987
Höting, Hans
Die sechs heilenden Laute
1988
Jiao Guorui
Qigong Yangsheng. Gesundheitsfördernde Übungen der traditionellen chinesischen Medizin
1988
Chia Mantak
Tao Yoga. Eisenhemd Chi Kung: wirksame Techniken für eine starken und gesunden Körper
(in 2 Verlagen als 2 Bücher)
1989
Jiao Guorui
Die 15 Ausdrucksformen des Taiji-Qigong
1989
König, Georg und
Wancura, Ingrid
100 (Hundert) Jahre in Gesundheit leben - Nach Überlieferung unserer chinesischen Lehrer
1989
Zhu Longyu und
Liselotte Petersohn
Qigong. Das Übungssystem der chinesischen Medizin zur Gesundung und Gesunderhaltung;
Einführung in die Qigong-Therapie, Kranich-Übung, Pfahl-Stand
1989
Hackl, Monnica (Hrsg.)
Qigong: Chinesische Atemtherapie-Methoden
1990
Hinterthür, Petra und
Astrid Schillings
Qi Gong. Der fliegende Kranich. Die selbstheilende Kraft meditativer Bewegungsübungen
für Körper, Seele und Geist
1990
Li Ding
Taiji-Qigong in achtundzwanzig Schritten
1990
20
Wandlungen und Grabenkämpfe – die
„reine“ Lehre
Wenn Systeme sich neu etablieren oder
verändern wollen, entstehen leicht Fremdheit, Missverständnisse, Ablehnung auf
Seiten der Rezipienten, Fanatismus, Kämpfe um Deutungshoheiten, Kampf um die
„reine, richtige Lehre“ und Besitzstandswahrung auf der Seite der Lehrenden.
Auch diese zuweilen schmerzhaften
Phasen hat die Arbeitsgemeinschaft als
Schmelztiegel von diversen Strömungen
der Rezeption aus vielen Bereichen der
TCM-Welt immer wieder durchlaufen –
„symptomatische Punktstecher“ versus
„abgehobene Philosophen“ und Ähnliches.
Es ist eine Herausforderung für alle lange bestehenden Traditionsformen, den
Spagat zwischen Substanzerhalt der Tradition und Anpassung (Wandlung) an den
Verständnishorizont des jeweiligen Adressaten, der jeweiligen gesellschaftlichen
Gruppe oder ganzer Gesellschaften zu
erreichen. Wenn diese Synthese gelingt,
können Menschen der jeweiligen Gesellschaft angesprochen werden und die Substanz der Tradition bleibt trotzdem erhalten. Gelingt diese Synthese nicht oder nur
unzureichend, kommt es aufgrund einer
unreflektierten Anpassung an die Moderne zu Oberflächlichkeit und Substanzverlust der Tradition als Folge falscher Wandlung. Die andere Seite des Misslingens der
Synthese bedeutet, dass als Folge einer
zu geringen Anpassungsfähigkeit eine notwendige Wandlung ausbleibt und die Tradition erstarrt. Es ist hilfreich diese Rezeption als Prozess zu sehen, um eine zeitweise
auftretende Oberflächlichkeit oder Missverständnisse nicht zu verurteilen, sondern als Teil eines Entwicklungsprozesses
zu erkennen. Lernen und Lehren verläuft
nicht gradlinig. Therapeuten, die vielleicht
anfänglich für ausgesuchte Indikationen
symptomatisch einige Akupunkturpunkte
angewendet haben, haben später ein auch
sie ganz persönlich umfassendes tiefgreifendes Interesse entwickelt und verkörpern in ihrer Person die Essenz von TCM.
Andere Therapeutinnen und Therapeuten
bleiben vielleicht bei einer primär symptomatischen Anwendung und integrieren
dies in ihr übriges Repertoire. Auch dies
trägt zur Verbreitung bei. In der Vielfalt der
Methoden und der Möglichkeiten, diese
zu lehren, hat sich ebenfalls eine große
Bandbreite von Lehrerpersönlichkeiten
entwickelt, die für die unterschiedlichen
kulturellen und persönlichen Ausgangsvoraussetzungen von Therapeutinnen und
Therapeuten adressatenorientiert lehrt.
Auch hier kann phasenweise der Eindruck
von zu starker Anpassung oder auch elitärer Fremdheit entstehen. Auch dies ist
Teil eines interkulturellen Rezeptionsprozesses. Die Tatsache, dass TCM in der Gesellschaft angekommen und anerkannt ist,
erleichtert die Toleranz auch nach innen.
Vielfalt zu leben, ohne den Kern zu verlieren, ist nach dem erfolgreichen Comingout viel leichter als vor 30 oder 60 Jahren.
Es ist hilfreich auch für die Zukunft hier
immer wieder den Prozesscharakter von
Entwicklung zu erkennen.
Innere und äußere Wandlung bei Patienten und Therapeutinnen
Denken und Gefühle formen Bewusstsein
und Körper sowie umgekehrt. Der Zirkel
von Körper und Bewusstseinsinhalten sowie
Handlungen war und ist in der Naturheilkunde allgemein und in der TCM ein Kern der
Lehre. Wir üben auch als Therapeutinnen
und Therapeuten, die körperliche Verände-
Anpassung von traditionellen, kulturell fremden Systemen am Beispiel von Qigong
Rezipienten
Individuen, Gesellschaften
Lehrsysteme
· kein Interesse, weil das System fremd ist
· komplexe Übungsanforderungen,
· Kulturell fremde oder nicht zeitgemäße
ideologische Überzeugung
· Ausprobieren von Übungen
· positive Erfahrungen damit
· Senken der Übungsanforderungen
· Herausstellen von modernen Werten:
zum Beispiel Gesundheit, Enspannung
· langfristiges Interesse
· Interesse für Zusammenhänge,
· Bereitschaft, geeignete ideologische
Überzeugungen zu übernehmen bzw. zu
integrieren
· Anpassen an den Lernenden je nach
Übungsfortschritt
· Anpassen der Darstellung an den
Verständnishorizont
· weitere Annäherung bei Streben zur
Erhaltung der Substanz
Synthese und weitere Vertiefung zu einer
verständlichen und den Kern der Tradition
bewahrenden Lehre
21
rung zuzulassen, bewusst zu üben, auch die
Neugier an eigener Erfahrung zu kultivieren:
ob mit Meditation, Qigong, Tai Qi oder asiatische Kampfsportarten. Die „Arbeitsgemeinschaft für Akupunktur und TCM“ hat seit
ihren ersten Anfängen Möglichkeiten dazu
angeboten. Qigong mit einer der Pionierinnen in Deutschland Josephine Zöller, später
mit Gisela Hildebrandt der Qigong Yangsheng Gesellschaft und dann später mit vielen weiteren Lehrerinnen und Lehrern.
Unterstützend für die Etablierung und Anerkennung von Qigong im Westen waren
und sind auch die verschiedenen Richtungen der körperorientierten Psychotherapie – aktuell unter ,Embodiment‘ bekannt
–, in denen noch einmalmoderne Begriffe
und Forschungen die „alten“ Erkenntnisse
untermauern. Nicht nur Qigong oder Yoga
sondern auch Therapieformen westlicher
Autoren wie Rolfing, Alexandertechnik,
Bioenergetik oder Feldenkrais-Übungen
konnten sich seit den 1970er Jahren durch
diese Strömung stärker etablieren. Nur die
eigene Erfahrung und die Bereitschaft zu
eigener auch körperlicher Wandlung kann
dauerhaft die Ganzheitlichkeit von TCM weitergeben.
Einbindung in soziales Umfeld, Gesellschaft und Kosmosphilosophie
Die konkrete Anwendbarkeit über die kulturellen Grenzen hat die Integration in den
Westen gefördert. Bei allem Pragmatismus
ist wichtig, immer wieder zu versuchen,
den größeren Kontext der TCM-Philosophie in den Blick zu nehmen. Es geht nicht
nur um den eigenen Körper und Geist um
seiner Selbst willen – das Individuum als
Teil des Kosmos ist auch verbunden mit
seiner Umwelt und darüber hinaus.
In Deutschland haben wir eine gut begründete Tradition der Neutralität in weltanschaulichen Fragen in medizinischen
Kontexten. Das beugt Indoktrination, Abhängigkeiten und Übergriffen vor. Die zugrundeliegenden Wertvorstellungen sind
eher implizit. Das macht sie in neuerer Zeit
potentiell anfällig für negative Veränderungen, die eher an Zahlen als an Menschen
orientiert sind. Dies als „moderne“ Wertorientierung wird nicht bewusst gesehen,
geschweige denn explizit diskutiert.
Historisch gesehen ist in Europa und hier
in Deutschland die Krankenfürsorge aus
dem christlich kirchlichen Kontext entstanden. Das Prinzip der Nächstenliebe
sollte für den Umgang mit Kranken leitend
sein. Der Umgang mit dem eigenen Körper war aus kirchlicher Lehre im vordualistischen Mittelalter wie bei Hildegard von
Bingen oder Theresa von Avila wesentlich
körperfreundlicher als zum Teil in späteren
Zeiten. Für sich selbst ausgewogen und
genügsam zu sorgen, Harmonie mit der
sozialen Umgebung zu suchen und sich
als verantwortungsvollen Teil der gesamten Schöpfung zu sehen, war die Lehre der
Heilige Hildegard.
Der philosophisch-religiöse Kontext schuf
diese Werteausrichtung, die in der Abstraktion als Weltethos vergleichbar ist mit
den Darstellungen aus dem buddhistischdaoistischen Kontext der TCM.
„Grundsätzlich zielt Qigong {hier als Synonym für TCM, (sic.!)} darauf ab, von einer verschwenderischen und nachlässigen
Haltung seinem eigenen Körper und Bewusstsein gegenüber zu einem ganzheitlichen, heilsamen und rücksichtsvollen Umgang mit sich selbst zu gelangen.“6
In der chinesischen Denkweise wird in der
alten Tradition die Einheit von Geist, Körper und zudem mit den Göttern im Makrokosmos betont. So hat beispielsweise jede
Wandlung durch Übung: Qigong, Yoga, Feldenkrais, Alexandertechnik
Übungsbeginn
Neuausrichtung von Körperhaltung mit bewusster Wahrnehmung des Körpers
erste Wirkung:
· Neuausrichtung muskulären Mustern
· Enspannung
Gewöhnung/Anpassung:
· Verbesserung der Atmung
· Verbesserung der Propriozeption
· psychische Entlasung
weitere Übung
weitere Übung
weitere Übung
Konditionierung:
· Verfestigung der Körperreaktion
stabile Veränderung:
· dauerhafte positve Haltungsänderung bis zur Strukturverbesserung
· Verbesserung der psycho-physischen Belastbarkeit
22
Gymnastikübung einen religiösen Aspekt
aufgrund der Heiligkeit des Körpers als Teil
des Makrokosmos und auch als Wohnort
für die Schutzgötter.7
Die Aufnahme von Qi als Austausch zwischen äußeren göttlichen Anteilen der Welt
und den inneren göttlichen Anteilen hat
ihre Voraussetzung in der Überzeugung,
dass keine wirkliche Trennung zwischen
Innen und Außen existiert. Die eigene verantwortliche Beziehung zu Körper und Bewusstsein soll in der gesamten Lebensführung kultiviert werden. Es ist letztlich nicht
entscheidend, ob TCM-BehandlerInnen
ihre ethischen Grundüberzeugungen und
Werteprägungen aus dem Christentum,
dem Buddhismus, dem Daoismus, philosophischen Überlegungen oder aus anderen
religiösen Richtungen entwickeln, aber es
ist hilfreich, sich selbst darüber im Klaren
zu sein, wo man persönlich verortet ist.
Die Integration von TCM in den Westen
heißt auch Verantwortung für die Entwicklungen im Medizinsystem zu übernehmen.
Wir therapieren nicht im wertfreien Raum.
Es geht nicht darum, Patienten zu missionieren, aber bei passenden Anlässen
Werte- und Sinnfragen aufzuwerfen, kann
Patienten ermutigen, auch ihre eigene jeweilige Verortung im Makrokosmos zu suchen. Wir sollten vermeiden, dass TCM im
Westen bei uns eine reine Reparaturmentalität des herrschenden Medizinbetriebs
adaptiert.
Die AGTCM eröffnet mit dem Sozialforum
und der dort vorgestellten Projekte auf
dem Kongress in Rothenburg seit Jahren
einen Beitrag zu auch konkreter aktiver
sozialer Verantwortung neben den vielen
Angeboten zur philosophischen Reflektion
und Diskussion.
Zwischen Mode, Mammon und Religionsersatz
Immer wieder ist eine kritische Reflektion
nötig auf die Vergangenheit und gegenwärtige Strömungen, im Bewusstsein, dass wir
alle Kinder der jeweiligen Zeit mit den jeweiligen Irrtümern und Perspektiven sind.
Wir wissen nicht, wohin die Reise geht,
was in 5 Jahren, in 50 oder 500 Jahren
sein wird. Das ist scheinbar trivial, aber
unser Alltagsbewusstsein flüstert uns An-
deres zu. Im Kontext unserer aktuellen Lebensrealität und des sozialen realen oder
virtuellen Meinungsumfeldes erscheint
uns vieles intuitiv überzeugend, wahr und
nützlich. Als Deutsche brauchen wir nicht
weit zurückzuschauen: 1914, vor hundert
Jahren brach die Begeisterung über die angeblich segensreiche Wirkung des Beginns
des Ersten Weltkriegs aus. Verheerende
Wirkungen von Nationalismus, oft gepaart
mit der angeblichen Überlegenheit von
Ideologien, Religionen gespeist von finanziellen Interessen, sind aktueller denn je.
In Bezug auf die TCM ist es zurzeit so, dass
diese in Teilen der westlichen Bevölkerung
akzeptiert wird und „modern“ ist. Fakt ist
aber auch, dass nur eine Minderheit aktiv
daran teilhat. Eine persönliche Haltung
von „Lebenspflege“ ist eher bedingt zu
finden. Das war auch im alten China nicht
viel anders. Die Mehrheit war arm, hatte
keinen oder wenig Zugang zu Bildung und
keine Zeit zum Beispiel für Übung wie Qigong; die Reichen und Adeligen frönten
dem Luxus und erwarteten von ihren Ärzten die erfolgreiche Reparatur der Folgen
des Lebenswandels und keine Mahnungen
zum Maßhalten. Hier und heute gilt es
auch in der Therapie gelegentlich maßvoll
zu mahnen und andererseits realistisch
wahrzunehmen, dass wir als Menschen
nicht primär präventiv handeln - und dabei
trotzdem zugewandt zu bleiben, auch uns
selbst gegenüber.
TCM ist auch ein Wirtschaftsfaktor im gegenwärtigen Medizinbetrieb. Das ist im
Prinzip erst mal positiv, da es Wert und Anerkennung spiegelt und durch diese finanzielle Anerkennung eine dauerhafte Basis
ermöglicht. Die Grenzen und Graubereiche
zwischen solidem medizinischen Handwerk, reinem Kommerzdenken, Geschäft
mit Heilserwartungen und Ausbeutung von
Abhängigkeiten durch Guruverhalten müssen in der Medizin immer wieder kritisch
in den Blick genommen werden, wenn
die Glaubwürdigkeit auf Dauer erhalten
bleiben soll. Hier ist die Alternativmedizin nicht weniger im Fokus als Banken
und Kirchen – und da, wo das „Heil“ der
Menschen gefördert werden soll, sind die
Maßstäbe zu Recht strenger. Aber sie sollten auch realistisch sein, sonst wird leicht
Scheinheiligkeit und Doppelmoral erzeugt.
Gesundheit und Fitness als vorrangiges
Lebensziel, ständige Selbstoptimierung,
Machbarkeitsglaube mit Fengshui, Qigong, Kräutern … kann den Charakter
einer Ersatzreligion einnehmen. Dies ist
eine Tendenz des aktuellen Zeitgeistes. Es
gibt Darstellungen von TCM, die unkritisch
diesen Glauben fördern. Auch hier stehen
Behandler in der Verantwortung vielleicht
etwas zurechtzurücken. Eine Behandlerin,
eine Behandler, die oder der Methoden
der TCM ausübt, muss keine Heiligkeit
anstreben. Sie/er muss nicht das ganze
Spektrum der TCM beherrschen. Sie/
er muss nicht alte Schriften im Original
lesen können. Sie/er sollte aber wissen
(und auch wollen?), dass TCM ihr Denken
verändern wird. Je länger und je öfter wir
im Kategoriensystem, im philosophischen
System von TCM denken, umso mehr wird
es Teil unseres Bewusstseins.
Aus dem „Modell“ von Qi, von Yin und
Yang, der Wandlungsphasen und weiteren
Bereichen der TCM-Philosophie wird ein
Bewusstseinsraum, in dem wir uns dann
automatisch bewegen. Wir sollten dies reflektieren, einerseits um es Patienten vermitteln zu können, für die dieses System
fremd ist, andererseits aber auch so, dass
es keine absolute Wahrheit ist, sondern
ein Modell darstellt. Dies sollte ebenso im
Kontakt mit den Anwendern anderer Modelle, wie verschiedenen Ausrichtungen
von Ganzheitsmedizin oder der Schulmedizin gelten. Es ist die Voraussetzung für
Dialog und Weiterentwicklung.
Schlussbemerkungen
Wir haben uns durch den Kontakt zur TCM
verändert und die Westliche Medizin erlebt
Wandlungen durch uns und unsere Arbeit.
Wir stehen in einer langen Überlieferungskette. Dies ist Anlass für Dankbarkeit und
Bescheidenheit. Das kann uns Mut zur
Bewahrung dieser Tradition und zu ihrer
Wandlung an unser jetziges Leben geben.
Das hilft die Breite und Vielfalt der vielen
Aspekte der TCM zu erhalten und zu integrieren, ohne die Tiefe und Anwendbarkeit
für Patienten und Übende zu verlieren, eingebettet in einen weltweiten Kontext von
Menschen, die den Schatz TCM weiter-
23
tragen, aktiv, mutig und im Vertrauen auf
Entwicklung und Wandlung in den Zeiten.
Mögen die vielen individuellen Fähigkeiten
der Mitglieder der AGTCM, der Teilnehmenden der Kongresse, der Lernenden
der Ausbildungen geistige und körperliche
Nahrung finden, gegenseitige Unterstützung und durch alles Schöne, Anstrengende und Alltägliche der Praxis hindurch immer Momente spüren, wo der scheinbare
Unterschied zwischen Mikro- und Makrokosmos aufgehoben ist, wo „eins ist und
nicht zwei“.
1 Es wird hier durchgängig die Abkürzung TCM als Bezeichnung für
Traditionelle Chinesische Medizin im weitesten Sinn benutzt.
2 Titel eines Buches von Hildegard von Bingen
3 „Eine der Einheit der Person entsprechende Einheit der Medizin
droht verloren zu gehen. Die Probleme sind erkannt, aber in einem
hocharbeitsteiligen, Ressortmoral von Privatmoral trennenden, auf
Sachkompetenz und Effizienz ausgerichteten Dienstleistungsgroßbetrieb Gesundheitswesen nur schwer zu lösen. Dazu bedarf
es auch eines neuen Verhältnisses von Theologie, Kirche und
Medizin.“ Toellner, Richard, Heilkunde II, Theologische Realenzyklopädie Bd. 14, 1985, S. 450.
4 Vgl. Toellner TRE1985, 745: „Die Persistenz der magischanimistischen Medizin in der so genannten Volksmedizin, in
alternativen und Naturheilkunden sowie der theurgischen Medizin
in allen Religionen und die Attraktivität dieser Formen der Medizin
auch in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation mit hoch
entwickelter rational-empirischer Medizin macht deutlich, dass die
in ihren Inhalten und Verfahrensweisen so unterschiedenen
Formen der Medizin nicht einfach Stadien eines historischen
„Entwicklungsganges“ der Medizin sind, sondern Ausprägungen
unterschiedlicher Arten der Weltsicht und Weltbewältigung, die
in der modernen Gesellschaft auf dem Felde der Medizin
erfolgreich konkurrieren können, weil Gesundheit, Wohlbefinden,
Leidensminderung, Heilung zu den elementaren Bedürfnissen der
Menschen zählen.“ […] Die Koexistenz und Wirksamkeit sehr alter
und relativ jüngerer Formen der Medizin, die sich in der Geschichte
intensiv gegenseitig beeinflusst haben, macht es schwer, ihre
Bereiche, die sich auch in der Gegenwart weit überschneiden, klar
voneinander abzugrenzen. Jeder Versuch dazu würde die
Wirklichkeit der Medizin unzulässig, weil willkürlich verkürzen. Das
Kriterium der Wissenschaftlichkeit erfasst nicht einmal die Praxis
der rational-empirischen Medizin, allenfalls wissenschaftliche
Disziplinen der Medizin.
5 Sonnentag, Marlies, Explorationsstudie zur Rezeption von Qigong
in der Bundesrepublik Deutschland. 2006.
6 Kohn, Livia, Ebenen des Qigong aus der Sicht des traditionellen
daoistischen Weltbildes, in: Hildenbrand, G. & Geissler, M., Qigong
und Yangsheng, Uelzen 2002, 15-22. S.22.
7 Ebenda.
Vom langen Ringen um einen Kooperationsvertrag
Bis die TCM-Universität Chengdu einer Zusammenarbeit zustimmte, war
Diplomatie und Beharrlichkeit gefragt
Von Herbert Vater, ehem. 1. Vorsitzender der AGTCM
Nils von Below hat mich gebeten, meine Erinnerungen niederzuschreiben - als Mitglied
und teilweise auch Funktionsträger. Kein
einfaches Unterfangen, denn ich bin ja 2012
auf die Philipppinen ausgewandert und habe
keinerlei Unterlagen mehr, aber mein Kopf
funktioniert noch ganz gut. Okay, das sagen
die meisten Alzheimer-Patienten. Ich gehöre
ja der berüchtigten 68er-Generation an. Und
so sah ich vor 40 Jahren auch aus, schulterlanges Haar. Und so tauchte ich das erste
Mal auf der Rothenburger Jahrestagung auf.
Ich war der absolute Außenseiter. Alle waren wesentlich älter als ich, alle in teures
Tuch gekleidet. Und so wurde ich dann auch
angesehen: „Wer ist das denn?!!!“ Glücklicherweise waren aber von den „Etablierten“
zwei Bekannte aus Schleswig-Holstein bzw.
Hamburg dabei, nämlich die Gründungsmitglieder der AG, Johanna Ockelmann
und Else Münster. Letztere war schon damals hochbetagt, aber voll dabei mit einer
wunderbaren Ausstrahlung, wohingegen
Johanna Ockelmann etwas Hanseatisches
an sich hatte, aber auch eine faszinierende Persönlichkeit. Die beiden nun machten
mich erst mal mit der Elite der AG bekannt,
dem Präsidenten der AG, August Brodde,
Hans Giesen, seinem Stellvertreter, Charly
Heimann, der Geschäftsführer, der auch
so ein wenig der „outcast“ war, obwohl er
mit so einer bayerischen Tracht rumlief. Das
waren meine ersten persönlichen Eindrücke, die ich hatte. August Brodde kannte ich
schon von anderen Tagungen. Unverfroren
wie ich war und bin, bezeichne ich ihn als
einen Kauz. Aber: Er war auch eine charismatische Persönlichkeit. Von dieser ersten
Tagung, die ich miterlebte, fuhr ich mit sehr
gemischten Gefühlen wieder nach Hause.
Drei Gründe gab es, die mich nicht aufgeben
ließen: Schon mit 16 Jahren hatte ich mich
intensiv mit chinesischer (Medizin-)Philo-
Herbert Vater und Inge Lützen, 1996
sophie auseinandergesetzt. Daraus ergab
sich zweitens eine absolute Faszination für
Akupunktur. Und drittens diese Seele von
Mensch Else Münster, die mir immer, wenn
ich verzweifeln wollte, zur Seite stand. Und
auch Johanna Ockelmann gab mir vieles. So
setzte ich dann nach und nach immer öfter
Akupunktur in meiner Praxis ein und hatte
teilweise erstaunliche Erfolge. Und immer
mehr durchdrang ich diesen faszinierenden
Dschungel medizinischer Medizinphilosophie, angefangen von den Punkten über die
Pulse (letzteres faszinierte mich besonders
und so kam ich dazu, diese Diagnostik zu
einer gewissen Perfektion zu bringen) bis
hin zu den Wuxing, den Fünf Wandlungsphasen, inklusive des ganzen Rüstzeugs chinesischer Diagnostik, von dem ja die Pulsdiagnose nur ein Teil, wenn auch ein sehr
wichtiger, ist. Und merkwürdigerweise gab
es immer wieder Gespräche zwischen August Brodde und mir. Mit der Zeit erwuchs
24
daraus eine freundschaftlich-väterliche Beziehung. Und eines Tages passierte es doch
tatsächlich, ich mochte es damals kaum
glauben, dass August Brodde mich fragte,
ob ich nicht in Rothenburg einen Vortrag
halten wolle. Ich!!! Ich war doch gar niemand
und gehörte noch viel weniger dazu. Aber so
kam es und ich erntete sogar einigen Beifall.
Unabhängig von der Thematik war das ein
Durchbruch. Ich wurde auf einmal wahrgenommen und ich war auf einmal bekannt,
wenn auch immer noch der Außenseiter.
So langsam kamen aber Mitte der 1970er
Jahre mehr jüngere Leute in die AG. Exemplarisch sei hier Gerd Ohmstede genannt,
der nun auch nicht gerade das Lieblingskind
der Etablierten war. Es vollzog sich aber ein
langsamer unaufhaltsamer Wandel, „wir“
wurden mehr. Nun hatte ich ja meine chinesischen Weisheiten - wie so viele damals
aus Büchern - und hier ein Wochenendkurs
und dort ein Wochenendkurs, aber eben
nichts Systematisches. 1981 nun bot das
Gespann August Brodde/Hans Giesen erstmalig einen zweijährigen Akupunkturkurs
an, systematisch aufgebaut, ein Novum in
Deutschland. Zur damaligen Zeit wohnte
und praktizierte ich in Marburg/Lahn. Es
waren fast 300 km nach Bochum, wo der
Kurs stattfinden sollte. Das war egal, es war
damals das Beste, was man in Deutschland
kriegen konnte. Also machte ich es und
hielt es auch durch trotz der starken Belastung. Das war eine wesentliche Etappe für
meine therapeutische Entwicklung. Und
ich weiß nicht warum, aber im Gegensatz
zu den meisten anderen hatte ich keinerlei
Probleme mit der Bearbeitung des Stoffes.
Und es war klar, es sollte ein drittes Jahr geben, vor allem für mich. Man mag aus der
Sicht des Jahres 2014 darüber lächeln, was
damals inhaltlich angeboten wurde. Aber
1981/82 war das ein ungeheurer Fortschritt
in Deutschland, und nicht nur da. Vergleichbares wurde eigentlich nur in der V.R. China
und in den USA angeboten.
Ja, VR China … Meinen Traum hatte ich mit
16 schon - das war die Zeit der Kulturrevolution: die VR China zu besuchen. Gerd
Ohmstede hatte es irgendwie geschafft,
durch das Land zu reisen und hat dabei
auch das Chengdu College of TCM kennen-
gelernt. Und er erzählte davon, was bei mir
leuchtende Augen zur Folge hatte. So war
schnell der Beschluss klar, dass wir eine
Gruppe aus der AG bilden wollten, um dorthin zu fahren. Und es passierte natürlich,
was passieren musste: Die Führung der AG
lächelte darüber, aber gar nicht chinesisch.
Gerd Ohmstede war ja nun derjenige, der da
im fernen China, im gänzlich unbekannten
Chengdu, einige Kontaktpersonen hatte.
Und es war dann 1989 eine Reise dorthin
geplant, und die war bis ins kleinste Detail
fertig. Aber es sollte anders kommen. Es
gab die Studentenunruhen, die dann trotz
eines gegenteiligen Versprechens von Deng
Xiao Ping in dem blutigen Gemetzel auf dem
Tian An Men in Beijing ihr Ende fanden.
Aus Empörung darüber sagten wir die Reise ab, was in China falsch verstanden wurde. Sie dachten, wir fürchteten um unsere
Sicherheit und bemühten sich, uns davon
zu überzeugen, dass diese gewährleistet
sei. Naja, es sei mir die despektierliche
Bemerkung erlaubt, dass man auf chinesischer Seite dringendst die harten Devisen
brauchte. Aber 1990 war es dann soweit …
Wir reisten natürlich über Beijing und legten dort ein paar Tage Zwischenstopp ein.
Unglücksfall: Eine Teilnehmerin stürzte und
brach sich den Arm. Das (westliche) Krankenhaus meinte sechs Wochen Gips, dann
Krankengymnastik. Nach vier Tagen erreichten wir dann Chengdu. Eine alte und damals
zugleich moderne aufstrebende 4,5 Millionen Einwohner zählende Stadt. Es gab eine
Altstadt mit zweigeschossigen Holzhäusern,
drum herum eine moderne Großstadt. Und
nach unserer Begrüßung wurde dann Rosemarie befragt, was denn mit ihrem Arm sei.
Ein Arzt schlug dann vor, den Gips sofort
abzunehmen und den Arm mit einer Kräuterpaste zu behandeln und mit Tuina. Und
man glaubt es kaum, Rosemarie hat nach
drei Wochen ihren Koffer selbst getragen,
hatte nichts mehr. Ihr Arzt zu Hause wollte
es nicht glauben, dass sie sich überhaupt
den Arm gebrochen hatte. Aber die Röntgenbilder aus Beijing belegten es eindeutig.
Für manchen von uns eine eindrucksvolle
Bestätigung der Wirksamkeit traditioneller
Chinesischer Medizin. Ansonsten war die
Reise schwierig, weil sie in Chengdu keine
Erfahrung mit westlichen Ausländern hatten
und wir eben keine Erfahrung mit Chinesen.
Wir wagten es dennoch, während der Vorlesungen Fragen zu stellen. Oder fast noch
schlimmer: Am ersten Tag nach der Ankunft
wollten wir die Stadt erkunden. Also machten wir uns auf, mieteten uns Fahrräder und
erkundeten die Stadt. Als wir zurückkamen,
gab es ein Donnerwetter seitens des Waiban, des Ausländeramtes des College: Wir
wurden belehrt, dass wir nicht allein den
Campus verlassen durften. Das haben wir
uns nicht bieten lassen und nach einigen
Querelen wurden wir gebeten, wenigstens
unsere Dolmetscher mitzunehmen, wenn
wir rausgingen. Gut, das war ja sogar in
vielerlei Hinsicht praktisch. Solcherlei Anekdoten gab es zahlreiche. Aber nach
vier Wochen Aufenthalt insgesamt waren
wir beeindruckt, einige, wie Gerd Ohmstede und ich sogar begeistert. Wir waren uns
einig, dass das nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. Besonders Gerd Ohmstede
und ich waren der Meinung, dass man das
institutionalisieren sollte. In Deutschland
habe ich das natürlich August Brodde erzählt, der von einer Institutionalisierung
nichts wissen wollte. Nach einiger Zeit hatte ich einen Plan erstellt, wie das aussehen
könnte. Gerd Ohmstede war zu dem Zeitpunkt aus Gründen, die ich bis heute nicht
kenne, irgendwie nicht ansprechbar in der
Richtung. Und August Brodde war genervt
und sagte zum guten Schluss, dass ich das
mal ruhig machen solle (wobei ich deutlich
die unausgesprochenen Worte raushörte
„Das schaffst Du ja doch nicht!“). Hier sei
mal kurz eingeschoben, dass ich 1986 nach
Schleswig-Holstein nach Tönning an die
Nordsee übersiedelte, worüber wiederum
Else Münster glücklich war, weil sie dachte, nun endlich einen Nachfolger für den
Arbeitskreis Nord der AG gefunden zu haben, und nach einigem Zögern dachte sie
richtig. Und wenn, dann wollte ich es gleich
gründlich machen und gründete in Kopie
der Schule von August Brodde/Hans Giesen eine Schule im AK Nord. Insofern hatte
ich also auf einmal zwei Funktionen. Und
das war bedeutsam, weil das in China eine
wichtige Rolle spielt. Resultat: Nach zwei
Jahren und vier Chinareisen kam ich nach
Hause und legte August Brodde einen Kooperationsvertrag zum Unterschreiben auf
25
den Tisch, der eine Zusammenarbeit in der
Lehre zwischen der AG und dem ChengduCollege of TCM festlegte mit Austausch von
Lehrkräften, Studenten etc. August Brodde
war wie vom Donner gerührt und gab auch
seiner Überraschung Ausdruck, dass ich es
geschafft hatte. In letzter Konsequenz hat
dies das ganze Ausbildungssystem der AG
umgekrempelt und wirklich zu der innovativen Kraft gemacht, die sie heute hat. Es hat
danach viele weiterführende Änderungen
gegeben. Das wäre aber alles nicht möglich
gewesen ohne diesen ersten Vertrag! Und
heute ist dieses College ja zur Universität
aufgestiegen. August Brodde machte es
wahr und trat zurück. Helen Blohm wurde
zur 1. Vorsitzenden gewählt. Nach ihrer ersten Amtszeit kandidierte sie nicht wieder,
dann wurde ich gewählt. Es war eine immense Arbeit, aber sie hat mir viel Freude
bereitet. Es war kreativ, viele interessante
Menschen um mich herum, viele interessante Kontakte ins Ausland, die auch heute
noch vorhanden sind. Dann aber kam eine
Phase, in der die Funktionsträger der AG andere Wege gehen wollten als ich in Hinblick
auf internationale Kooperation und gerade
in Hinblick auf EU-Politik. So kam es dann,
dass ich 2001 die Vertrauensfrage auf der
Mitgliederversammlung stellte und sich eine
Mehrheit der Anwesenden für die durch Andreas Noll repräsentierte Politik entschied.
Das war nicht ganz schmerzlos für mich, ist
aber auf der anderen Seite eine Normalität
in der Politik. Eben deswegen habe ich auch
danach versucht, die jeweiligen Vorstände in
ihrer Politik zu stärken, und deswegen bin ich
auch gern der Bitte von Nils von Below nachgekommen, meine Erinnerungen an 40 Jahre
Mitgliedschaft in der AG niederzuschreiben.
Mit Trauer und Bestürzung ist mir in dem Jahr
auch das Ableben von August Brodde mit
einigen Tagen Verspätung von seiner Frau
Hertha mitgeteilt worden. An dem Tag habe
ich meinen Akupunktur-Vater verloren. Obwohl August Brodde als Berufspolitiker mit
allen Wassern gewaschen war, verneige ich
mich noch heute in großem Respekt vor ihm
und bitte alle, ihm ein ehrendes Andenken
zu bewahren, was ja allein schon meisterlich
umgesetzt wurde, indem die Schule des AK
West August-Brodde-Schule genannt wurde.
Das erweckt Dankbarkeit bei mir.
Der Vorstand, 1996
August Brodde war wie
vom Donner gerührt und
gab auch seiner Überraschung Ausdruck, dass
ich es geschafft hatte.
26
Die Oscar-Verleihung in China und andere Anekdoten:
Aus kleinen Begegnungen entwickelte sich über Jahrzehnte ein weltweites
Netzwerk
Von Gerd Ohmstede, ehem. Mitglied des Vorstandes der AGTCM
Nachdem ich von Altmeister Brodde und
Giesen 1978/79 in die Akupunktur eingeführt und sehr neugierig war, wurde der erste
Besuch der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur, wie sie
damals noch hieß, fällig. 1979, zum zehnten
Male, geleitet von Karl O. Heimann. Es war
sympathisch, doch leicht komisch und etwas
einsam, als 25jähriger frischgebackener HP
unter den vielen „alten“ Kollegen zu sitzen.
Über zweieinhalb Tage, mit zwei parallelen
Kursen am ersten Tag und dann das Plenum
mit einstündigen Vorträgen und um die hundert Teilnehmer/innen/n - das Ganze in der
Reichsstadthalle, im Spitalviertel Rothenburgs. Zum Jubiläum waren die führenden
Vertreter der Akupunktur/TCM aus Europa eingeladen. Diesmal war Dr. van Buren
aus England da und faszinierte durch ganz
„neue“ Einblicke in die Pulsdiagnostik. Dr.
Manman Wong aus Hongkong war da, der
wohl als erster Chinese in Rothenburg in die
TCM einführte. Auch Prof. Herget, der in Gießen als erster in Deutschland AkupunkturAnalgesie bei Operationen anwendete. Und
Prof. M. Porkert mit einer Einführung in die
chinesischen Arzneimittel.
Van Buren war so beeindruckend, dass ich
mich für seine vierjährige Ausbildung in Holland anmeldete. Aber nicht ohne zuvor einen
Besuch bei Dr. Nguyen van Nghi in Marseille
gemacht zu haben, um den anderen großen
Mann der Akupunktur und deren Ausbildung
kennenzulernen. Doch dort gab es nur eine
dreijährige Ausbildung auf französisch mit
einer Unterrichtsstunde pro Monat (!). Inakzeptabel.
Zusammen mit Dr. de Tymowski aus Paris
und Alain Lerner, der in China ausgebildet
worden war (!), war das Programm schon
recht international. Der „Gesellschaftsabend“ mit einer Drei-Mann-Kombo und
Standardtanz war der reine Graus, da blieb
nur die Flucht in die örtliche Disko.
Der erste Weltkongress für Akupunktur
der AGTCM
Er fand 1989 in Düsseldorf statt. Als Mitglied der SIA (Societé Internationale
d’Acupuncture, die AG war Mitglied in der
französisch geführten Weltgesellschaft für
Akupunkturgesellschaften) sollte der 20.
Kongress ein ganz besonderer sein. Manager
war Horst Ferger, der nach dem Ausscheiden von K.O. Heimann die Jahrestagungen in
Rothenburg für eine kurze Zeit organisierte.
Die Vorgaben der SIA waren wohl recht klar
und die Referenten kamen aus aller Welt. Als
ich von Ferger den ersten Programmentwurf
bekam, war ich doch sehr erstaunt, dass
kaum Dozenten von der AG vorgeschlagen
wurden. Das ging gar nicht, so bescheiden
durfte die AG nicht sein. Und so durfte ich
dafür sorgen, dass Barbara Kirschbaum,
Gisela Hildenbrand, Claude Diolosa, Stefan
Kappstein und Prof. Gao Lishan auch vortrugen. Prof. Gao war der erste Arzt aus der VR
China, den die AG eingeladen hat.
Die ersten Kongresse
In den 1970ern und Anfang der 1980er Jahre
gab es in Deutschland keine richtige Ausbildung im Sinne einer Schule, die für eine
geschlossene Schulung in der Akupunktur/
TCM sorgte. Es waren vielmehr einzelne
Lehrer, die in Deutschland in Kursform das
nötige Fundament legten. Allerdings gab es
damals auch schon große Namen in Europa,
Nguyen van Nghi aus Marseille (in Rothenburg 1987 und 1989), John R. Worsley in Leamington (1978) und J.B. van Buren in East
Grinstead (1979, 1981) aus England. Anfang
der 1980er kamen die ersten Fachbücher
meist von Ärzten, die in China Kurse besucht hatten, heraus. Auch Manfred Porkert
spielte eine zunehmend bedeutende Rolle
in der Ausbildung. So kamen denn Sigrid
Klain und Friedlinde Adt (beide Raum Frankfurt, Worsley-Schule), Josef Weber (Berlin,
van Nghi), Hermann Vecsey (Herrenberg,
Porkert) und Gerd Ohmstede (Aachen, van
Buren) auf die Idee, eine vernünftige Schule
zu gründen. In regelmäßigen Treffen (Claude Diolosa war teilweise auch dabei) wurde
über zwei Jahre ein Curriculum erarbeitet,
das als Fundament für eine Schule dienen
sollte. Als es aber dann an die technische
Realisierung ging, wurde klar, dass je nach
Ort der TCM-Schule die Entfernung zu groß
war. Es gab keine familien- und praxisfreundliche Lösung. Wir hatten aber eine gute Zeit
und haben viel von einander gelernt.
August Brodde und die französischen
Wurzeln
August Brodde war als Kriegsgefangener in
Frankreich, lernte dort Französisch und bekam ein französisches Buch über Akupunktur in die Hand, studierte dieses ausführlich
mit großer Faszination und war durch die
Anwendung so überzeugt, dass er diesen
Weg intensiv weiterverfolgte. Durch seine
Sprachkenntnisse öffnete sich die für die damalige Zeit recht umfangreiche französische
Akupunktur-Literatur (Soulié de Morant,
Chamfrault, Rogier de la Fuye) sowie der Unterricht in den Kursen dort. Die Akupunktur
der AGTCM hat also zweifellos einen französischen Ursprung, der sich auch in der engen Verbindung zur SIA ausdrückte (Societé
Internationale d’Acupuncture, die AG war
Mitglied in der französisch geführten Weltgesellschaft für Akupunkturgesellschaften,
für die sie 1989 in Düsseldorf ihren bisher
einzigen Weltkongress ausrichtete) unter der
27
Leitung von Jean Schatz, der auch häufiger
Gast in Rothenburg war – begleitet von seiner Dolmetscherin Elisabeth Rochat de la
Valleé.
Else Münster und die Reise nach Japan
Else Münster führte eine Landpraxis im Dörfchen Belau in Schleswig-Holstein und hatte
in der 1950er Jahren von einem Prof. Manaka in Japan gehört, der eine spezielle FünfElemente-Akupunktur praktizierte. Sie verkaufte ihr Haus, um ihre Reise nach Japan zu
finanzieren. Leider gab es von Manaka keine
Adresse, und es dauerte wohl drei Monate,
bevor sie ihn fand. In drei intensiven Wochen
hat er sie in seine Lehre eingeweiht, die sie
dann in der AGTCM unter anderem auch bis
1993 in Rothenburg vortrug. Wir haben von
Brodde und Giesen damals (Endsiebziger)
die Akupunktur mit japanischen Nadeln mittels Führungsröhrchen gelernt. Es kam also
neben dem französischen auch ein japanischer Einfluss hinzu.
Mein erster Vortrag in Rothenburg
1985 hatte ich meine erste Studienreise (vier
Monate) in die VR China unternommen. Ich
war eigentlich auf der Suche nach berühmten Qi-Gong-Lehrern, deren Adressen ich
von Gisela Hildenbrand (Bonn) bekommen
hatte. Die Literatur von in China ausgebildeten Kollegen ließ nicht auf ursächliches,
hintergründiges Denken schließen – oberflächlich, symptomatisch und ziemlich uninteressant kam sie mir vor. Und doch war
ich natürlich sehr neugierig darauf, wie die
Praxis aussah. Ich besuchte einige TCMKrankenhäuser und kam schließlich in eine
vierwöchige Ausbildung für Fortgeschrittene
im Dongzhimen-Training-Center, in der mir
schnell klar wurde, dass der wahre Schatz
im klinischen Alltag an der Seite guter Ärzte
zu finden war. Auch schimmerte hier und da
schon auch wieder hochinteressante Hinter-
grundtheorie hervor, die derzeit offiziell noch
verboten war. Mao hatte ja durch westliche
Ärzte die Chinesische Medizin von allem
„Aberglauben“ befreien lassen und nannte
das Produkt TCM - eigentlich ja alles andere
als traditionell. Doch in der Praxis gab es je
nach Arzt unterschiedlich spannendste Anregung für die Praxis. Prof. Gao Lishan war
einer von ihnen. Wieder zurück, habe ich
Karl Heimann berichtet, der mich, obwohl
das Programm für Rothenburg schon feststand, noch irgendwie einflechten wollte.
Und so kam es zu einem Diavortrag vor dem
Essen des Festabends - ziemlich ungünstig
vor hungrigen Kollegen zu sprechen. Außerdem war Manfred Porkert, der für seine bissige Kritik berüchtigt war, anwesend. Dann
kam die saloppe Ankündigung von Präsident
Brodde, dass ein junger Kollege gern noch
mal schnell seine Urlaubsschnappschüsse
zeigen wolle. Welch eine Schmach: Meine
rein medizinische Fotosammlung mit außergewöhnlichen Einblicken in die vielgestaltige
Praxis der TCM. Brodde hatte halt immer
eine Neigung zu exzessivem Understatement.
Die Übergabe der Kongressleitung
1994 bin ich von der Mitgliederversammlung
in Rothenburg zur Leitung des Kongresses
freiwillig verdonnert worden. Meine liebe
Vorgängerin Marlies Sonnentag lud mich im
Herbst zur Übergabe ein. Gemütlich saßen
wir zusammen, sie meinte: „ Ja, da setzt du
dich mal ein bis zwei Wochenenden hin,
dann steht das Programm und die Organisation.“ Zur Übergabemasse gehörte auch
ein Kleinkopierer, der bis heute seinen zugegebenermaßen sparsamen Dienst versieht.
Lang lebe Rothenburg!
Mein erster Kongress 1995 war schon zeitlich eine Erweiterung – der Sonntag kam
hinzu – und der Einfluss der amerikanischen
Referenten begann. Bob Flaws und Andrew
Gamble waren namhafte Autoren, die unserer Gemeinschaft Neues bringen sollten.
Drei Vorträge im Donnerstagsplenum, zwei
samstags. Wir hatten ja nur die beiden Räume in der Stadthalle und den Musiksaal, der
dieses Jahr wieder zu Geltung kommt. Und
Schluss war mit dem Standardtanz-Abend.
Herbert Vater, der damalige Präsident, hatte
eine tolle Empfehlung: DJ Raven und Kilo aus
München, der sich so etwa zehn Jahre gehalten hat. Wie sich später herausstellte, war er
ein Nachbar von Paul Unschuld.
Die erste Chinareise - inspiriert durch
Porkert
Prof. M. Porkert kann mit Fug und Recht als
einflussreichster Dozent im Rothenburg der
1980er und frühen 1990er Jahre bezeichnet werden. Er hat mit großer Akribie das
verwestlichte Verständnis der Chinesischen
Medizin in ein wirkliches Verstehen gewandelt. Das war ein ganz wichtiger Schritt in
der AGTCM. Wenn er von China sprach, hat
er immer die TCM-Universität in Chengdu
als Hort der Tradition und der Klassiker gelobt. So kam es denn auch, dass sich aus
einer TCM-Arbeitsgruppe drei AGTCMler
(Friedlinde Adt, Sigrid Klain, Gerd Ohmstede) 1988 auf unterschiedlichen Wegen nach
Chengdu aufmachten. Friedlinde war schon
früher gereist. Und wie es der Zufall wollte,
begegneten wir uns im berühmten Peace
Hotel in Beijing, wo sie mir freudestrahlend
entgegen kam und voller Begeisterung über
ihre spannende Lehrzeit mit einem Dr. Li
sprühte, wie der Dolmetscher bei den intensiven Diskussionen über die Extraleitbahnen
einen heißen Kopf bekam und die Einsichten
täglich weiter wurden. Also begab ich mich,
frisch in Chengdu angekommen, auf die Suche nach Dr. Li, der allerdings gerade im Unterricht war, als ich an der TCM-Universität
nach ihm fragte. Später dann – zum Glück
war auch ein Dolmetscher anwesend – traf
28
ich Prof. Li Zhongyu, der mich allein durch
seine Erscheinung schwer beeindruckte und
meine Frage nach den Stämmen und Zweigen mit einem Satz weise beantwortete. Bei
van Buren ausgebildet (der in seiner Schule
eine Therapie nach den Stämmen und Zweigen entwickelt hatte) war ich auf der Suche
nach dem alten, wirklichen Wissen der Chinesischen Medizin. Denn die derzeitige TCM
schien mir oberflächlich und vereinfacht.
Jetzt war nur noch der Unterricht mit der Verwaltung zu verhandeln (nicht ganz einfach),
und es konnte beginnen. XieRu war meine
Dolmetscherin. Vorher aber traf ich noch
Sigrid und konnte sie überreden, an dem
Unterricht teilzunehmen. Prof. Li sprudelte
dieses komplexe Wissen an die Tafel, dass
uns vor Erstaunen und Fülle fast schwindelig
wurde. Es gab es also doch noch, das alte
chinesische Wissen. Nebenbei erfuhr ich,
wie angenehm und unterstützend es ist, zu
zweit zu lernen und sich anschließend auszutauschen. Ich beschloss, für das nächste
Jahr eine Studienreise, die erste der AGTCM,
zu organisieren, die dann leider wegen der
TianAnMen-Revolution auf 1990 verschoben
wurde.
Der Oscar für die Universität in Chengdu
Die Chengdu-Universität für TCM gehört zu
den vier ersten Unis in China, die 1956 gegründet wurden. 2006 war also ein großer
Geburtstag fällig. Die Ehreneinladung an die
AGTCM wurde von Birgit Ziegler, Andreas
Noll und mir angenommen. Zudem wurde
der riesige, zwei Stunden außerhalb des
Zentrums liegende Campus eingeweiht. Es
war eine beeindruckende Szenerie: Vor dem
achtstöckigen Hauptgebäude war eine riesige Bühne aufgebaut, sicher 40 m breit mit
zwei Tischreihen für die vielen bedeutenden
Repräsentanten. Große rote chinesische
Lettern, rote, große Ballons in 15 m Höhe mit
Spruchbändern und ein unheimliches Gewusel aus Professoren, Offiziellen, Studenten,
Arbeitern, Musikanten und einigen wenigen
Ausländern. 4000 Teilnehmer wurden erwartet. In der Vorbereitung hatte ich mich
mit Birgit über die Frage ausgetauscht, was
schenkt man denn einer Uni zu Geburtstag?
Schwierig. Aber dann war klar, ein Oscar sollte es sein, ein Oscar für beste TCM-Uni. Birgit besorgte einen wunderschönen kleinen
Oscar mit Gravur. Ms. Huang, die Leiterin des Waiban (foreign affairs office) informierte mich,
dass ich die Ehre hatte, im Namen aller ausländischen Gäste eine Rede zu halten. Zunächst
trugen die aus ganz China angereisten Honoratioren und Repräsentanten ihre üblichen Reden
vor. Das Publikum schien geduldig zu schlafen, bis dann ein begeisterter Westler auf die Bühne
kam und eine Lob- und Honigrede auf die Qualitäten der CDUTCM hielt, anschließend bejubelt,
den Oscar schwenkend über die ganze Bühne schreiten musste, um dem Dekan die Trophäe
zu überreichen. Ein Erlebnis der besonderen Art, das wohl die Verbindung fester geknüpft hat.
Zeit der Wende: Auch die AGTCM wird fast „komplett“
Nach dem Mauerfall trafen sich Kolleg/inn/en aus dem Osten Deutschlands in
Berlin
Von Andreas Noll, ehem. 1. Vorsitzender der AGTCM
Es ist bald 25 Jahre her: Aufbruchsstimmung nicht nur im Osten Deutschlands,
sondern auch in der sehr übersichtlichen
Akupunktur-Szene Berlins. Die „Arbeitsgemeinschaft“ hatte gerade mal eine knappe
Handvoll Mitglieder in Berlin, die sich in
kleinen Arbeitsgruppen mit den rudimentären Quellen klassischer Akupunktur beschäftigten. Die auch heute noch essentiellen Werke von Prof. Porkert, aber auch
die aus dem Vietnamesischen/Französischen übersetzen Bücher von Nguyen Van
Nghi und das „Lehrbuch“ von Schnorrenberger – überaus neugierig wurden sie diskutiert und verschlungen. Macciocia kam
wie J. Ross erst später in deutsche Lande.
Weitgehend profitierte man von der „französischen Schule“, ehe via USA-England
die volksrepublikanische, wohlstrukturierte
„TCM“ den Weg nach Europa fand. Ausbildungen in klassischer Akupunktur oder gar
in TCM insgesamt?
Es gab seit einigen Jahren die Schule der
AGTCM in Bochum, auch ein Ausbildungszentrum in Bayern - aber in Berlin wurden
diese vielversprechenden Ansätze neugierig beäugt, und es wuchs der Wunsch nach
„mehr“. Wandlungsphasen, psychische
Aspekte, ja, sogar das exotische „Qigong“
sollten aus der Perspektive der Berliner in
ein ganz neues, umfassendes Ausbildungskonzept münden.
West-Berlin war etwas Besonderes in jeglicher Hinsicht, eine kreative, aber am
„Tropf“ des Westens hängende Metropole.
Zwei Autostunden über die Transitstrecken
durch die – aus Sicht der West-Berlinerterra incognita DDR von Westdeutschland
abgekoppelt. Bekanntermaßen blüht in
den „Marginalien“ die Kreativität...Und
1989/90 – die DDR ging ihrem Ende entgegen – besuchten auch neugierige Kolleg/inn/en aus Dresden, Leipzig, Frankfurt/Oder und aus dem Umland Berlins
die Workshops, die Radha Thambirajah,
Claude Diolosa und meine Wenigkeit zusammen mit Peter Weber-Bluhm und Ulla
Blum anboten. Es stand für uns auf der
Tagesordnung, uns dieser westlichen Vereinigung anzuschließen, die als Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur
solide ausbildete und jährlich die Maßstäbe setzende Jahrestagung in Rothenburg
o.d.T. veranstaltete. Und die - das war für
uns sehr wichtig - interdisziplinär für Heilpraktiker/innen, Ärzte und Ärztinnen sowie Sinolog/inn/en offen war.
Ich traf mich zur Vorbereitung dieser
„Komplettierung“ der AG, der zu diesem
Zeitpunkt neben dem Osten auch noch die
Mitte fehlte, mit Gerd Ohmstede und Herbert Vater, dann auch mit den „Gründungsvätern“ August Brodde und Hans Giesen.
Der Weg war frei – obgleich die Skepsis
des Westens angesichts der bunten, kreativen und etwas revoluzzerhaften Ost-Szene
deutlich war.
Konkret war in der „Dokumentation“ der
29
Gründung des Arbeitskreises Ost und der
Schule für TCM (später: „Shou Zhong“)
zu lesen: Angesichts zahlreicher auch in
den neuen Bundesländern gemachter Bemühungen, die Akupunktur lediglich als
„Hautreiz-und Schmerztherapie“ den dortigen zahlreichen Interessenten in Schnellkursen anzubieten, fand in Berlin am 15./
16.12.90 die Gründungsveranstaltung des
Arbeitskreises Ost der Arbeitsgemeinschaft für klassische Akupunktur und traditionelle chinesische Medizin e. V. statt.
In den Räumen der Samuel-HahnemannSchule trafen sich ca. 80 Freunde der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM),
unter ihnen Heilpraktiker, Ärzte, Tierärzte,
Apotheker und Sinologen. Das Vortragsprogramm verdeutlichte, daß die chinesische Heilkunde weit mehr als ein exotisch
anmutendes Therapiemodell, sondern daß
Grundlage für zum Beispiel die Akupunktur
eine umfangreiches und universal gültiges
Denksystem ist Herr Hans-Josef Weber
(Anm.: Mitbegründer der TCM-Schule)
aus Berlin verwies in seinem Referat über
„Die Wandlungsphasen der chinesischen
Medizin und die Archetypen“ auf die tiefgreifenden Wirkungen der Akupunktur im
Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlungsstrategie. Herr August Brodde, 1.
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft und
nunmehr auch Präsident der Societe International d‘ Acupuncture rief die Bedeutung
der „Geistigen Energien Shen, Hun, Po,
Chi, Yi“ in Erinnerung. Viele Teilnehmer
kannten Frau Dr.med.vet. Annerose Weiß
aus Pfaffenried.
Auf der Berliner Veranstaltung zeigte sie
auch anhand von zahlreichen Beispielen
die Aspekte der Wandlungsphase Wasser
bei der Akupunkturbebandlung von Tieren
auf. Qi Gong- dieser Teil der Traditionellen
Chinesischen Medizin, für Prophylaxe und
Therapie unerläßlich, wurde von Frau Ulla
Blum (Berlin, Anm.: Mitbegründerin der
TCM-Schule) dargestellt und anband von
Übungen demonstriert. Herr Dr. Bierlaire
(Belgien) – der Vortrag wurde von A.Brodde
verlesen- der ein großes Spektrum der
chinesischen Medizin quasi überspannte,
von den grundlegenden kosmologischen
Aspekten bis hin zu den Träumen und den
Zyklen der Wandlungsphasen. Den Wurzeln
chinesischen Denkens war der Beitrag des
Sinologen und Religionswissenschaftlers
Dr. Frank Fiedeler gewidmet, eines Denkens, das in Form der 64 Hexagramme des
I Ging universal gültige Strukturen vorgegeben hat. Herr Gerd Ohmstede (Aachen)
berichtete in seinem Beitrag über „Moxibustion- Vorstellung und Differenzierung
der verschiedenen Techniken“.
Prof. Wang Shiming und Frau Dr. Xie Ru
(Anm.: Chengdu University of TCM) gaben
in ihrem Vortrag über Moxibustion bei Hitze-Erkrankungen einen Eindruck von den
in den geplanten Seminaren vermittelten
Wissensstoff. Frau Gulde aus Dresden, als
Akupunkteurin aus Rothenburger Vorträgen bekannt, versuchte in ihrem Beitrag
über den „Nadelstich“ auch anhand von
anschaulichen Experimenten eine Überleitung herzustellen von Anatomie und
Physiologie zum energetischen Aspekt der
Akupunktur. Herbert Vater (Tönning) stellte
anhand der acht diagnostischen Leitkriterien der TCM einen Weg zur homöopathischen Mittelfindung dar. Möglichkeiten zur
Nutzung einheimischer bzw. westlicher
Heilpflanzen in der TCM erläuterte Herr
Andreas Noll (Berlin, Anm.: Mitbegründer
der TCM-Schule).
Das gewaltige Spektrum der chinesischen
Medizin, die enorm vielfältigen Beziehungen zu jedem Aspekt unseres Daseins,
so mancher hiermit bisher nur oberflächlich hiermit in Kontakt gekommene Zuhörer, der vielleicht die Ausbildung des AK
machen wollte, „verzweifelte“ schier angesichts dieser Dimensionen, eine „Verzweiflung“, die mit einer gehörigen Portion
Begeisterung und Respekt genährt wurde.
Neben den Vorträgen wurde eine umfangreiche Ausstellung über die chinesische
Medizin präsentiert. Vom Arbeitskreis Süd
(München) der Arbeitsgemeinschaft (Anm.
Dr. K.O Heimann) zusammengestellt, wurden zahlreiche Exponate aus allen Bereichen der TCM dem Publikum präsentiert.
Schautafeln informierten über Tai Ji und
Qi Gong, die Nadeltypen der Akupunktur,
die Tierakupunktur, über geschichtliche
Hintergründe, verschiedene Pharmaka und
vieles andere mehr. Vor allem diese Ausstellung stieß auf lebhaftes Interesse der
Presse und des Fernsehens.
So war es dann geschehen: Der Arbeitskreis Ost war gegründet, es gab ab Januar
1991 eine dreijährige TCM-Ausbildung in
Berlin und anfangs ein bis zweimal im Monat von den wissenshungrigen Adepten der
chinesischen Heilkunde begierig aufgenommene Weiterbildungsveranstaltungen.
Andreas Noll bei der Gründungsveranstaltung AK Ost
Chinareise mit Affe
30
Nach hitzigen Debatten um Ideen: Die AGTCM beschreitet neue Wege
Andreas Noll – Vorsitzender von 1999 bis 2005 – erinnert sich
Von Andreas Noll, ehem. 1. Vorsitzender der AGTCM
Man hat mich gebeten, etwas über die sechs
Jahre meiner Präsidentschaft in der AGTCM
zu schreiben. Neun Jahre ist es inzwischen
her, dass ich diesen „Job“ aufgegeben habe.
So einiges hat sich geändert und weiterentwickelt, in vielem sehe ich auch heute noch
die Resultate meines „Wirkens“. Wenn ich
jetzt über diese Zeit schreibe, so muss dies
subjektiv sein, durch das Raster meiner
Sichtweise gefiltert und den Gesetzen der
Mythisierung gehorchend.
Vor zehn Jahren schrieb ich anlässlich des
50jährigen Bestehens der „Arbeitsgemeinschaft“: „… und in diesem Jahr kann nun
die „Arbeitsgemeinschaft für Klassische
Akupunktur und TCM e.V.“ (AGTCM) ihr
50jähriges Bestehen feiern. Es war ein Jahr
des Pferdes, 1954, die Aufbruchsstimmung
des „Wirtschaftswunders“ führte auch dazu,
dass sich die „Akupunkturbeflissenen der
ersten Stunde“ zusammenfanden: Die Heilpraktiker August Brodde und Hans Giesen
sowie die Ärzte Stiefvater und Schmidt.
Später dann setzten sich immer mehr von
der asiatischen Heilweise Begeisterte zu einem zunächst noch sehr kleinen Kreis von
Neugierigen zusammen. Ihr Ziel: Mehr zu
wissen über dieses fremde Heilsystem, sich
weiterzubilden und das Wissen in einem
häufig geradezu missionarischen Eifer zu
verbreiten.
Bereits nach einigen Jahren schon wurden
die ärztlichen Akupunkteure aus diesem
Kreis von ihren Standesorganisationen zurückgepfiffen und so schloss sich diese
Arbeitsgemeinschaft der „Deutschen Heilpraktikerschaft“ (DH, der spätere FDH) an.
Sie wurde bis in die frühen 1980er Jahre ein
Arbeitskreis des Heilpraktikerverbandes.
Der Gedanke an ein über alle Berufsschranken hinweggehendes Zusammenwirken aller derjenigen, die ein tatsächliches Interesse an einem fundierten Wissen hatten, war
die Jahre über aber nicht vergessen. Und
so wurde Anfang der 1980er Jahre die „Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur“ als eigenständiger Verein beim Amtsgericht Iserlohn registriert. Noch mehr als
zehn Jahre bestimmten August Brodde und
Hans Giesen den Werdegang der AG - vom
Rothenburger Kongress, der vor 35 Jahren
erstmals in den Hinterstuben Rothenburger
Restaurants abgehalten wurde, über die
Gründung von regionalen Arbeitskreisen für
die Weiterbildung von Heilpraktikern und
Ärzten bis hin zu Ausbildungszentren in Bochum, München, Hamburg/Kiel, Berlin und
Offenbach.
Die Grundstruktur war geschaffen, die
1990er Jahre brachten viele neue Ideen,
Impulse aus China und den USA. Die Wandlungsphase „Holz“ begann sich zu entfalten
und entwickelte eine kräftige Dynamik für
die AG und die immer bekannter werdende
chinesische Medizin in Deutschland. Neue
Gesichter übernahmen das Lenken der AG –
Helen Blohm, Herbert Vater und dann 1999
der jetzige Vorstand. Die mittlerweile über
1000 Mitglieder, vielfältigstes Engagement
in Aus- und Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit, Verbindungen zu internationalen
Organisationen, Zusammenarbeit mit Berufsverbänden der Heilpraktiker und Ärzte
und hohe Ansprüche an die Qualität von
Verabschiedung 2005
Aus- und Weiterbildung erforderten neue
kommunikative Strukturen – offensichtlich
war die AG in der Wandlungsphase „Feuer“
angelangt! Holz und Feuer mündeten wiederum in eine Phase des Bauens, der Konsolidierung, Sammlung und Etablierung: die
„Erde“.
Der Name „Arbeitsgemeinschaft“ steht
heute so nicht nur in Deutschland für hohe
und höchste Qualität im Aus- und Weiterbildungsangebot – hierzu haben der Rothenburger Kongress und die Ausbildungszentren, aber auch die Arbeitskreise in den
Regionen gemeinsam beigetragen. Der
„Erde“ folgt bekanntermaßen das „Metall“.
Nach Assimilation und Sammlung folgt eine
Phase des Reflektierens und Sortierens,
des Überdenkens und Neuschaffens von
Strukturen, die dem Ganzen einen stabilen
Rahmen geben. „Geschmiedet“ wird dieser
Rahmen durch die Wandlungsphase „Feuer“, durch den in vielen Jahren gewachsenen Geist der „Arbeitsgemeinschaft“. Es ist
der Geist, der vor 50 Jahren einige Kollegen
dazu brachte, den Samen für diesen Verband in die Erde zu setzen. Und obwohl es
damals ein „Pferdejahr“ war - es hatte auch
damals schon etwas mit der Neugierde und
Lebendigkeit von der Energie zu tun, die uns
in diesem Jahr des Affen (2004) begleiten
wird. Wir sehen, das System der fünf Wandlungsphasen lässt sich sehr gut auch auf die
Entwicklung eines Verbandes anwenden.
Auf das Stärken des Metalls folgt die Stabilität, die Stärke und Festigkeit des Wassers
- der Fundamente des gemeinsamen Arbeitens, Lernens und Lehrens.“
Und nun, zehn Jahre später: 1999 - die
Konflikte vor allem der Schulleiter und anderer Funktionsträger der AGTCM mit dem
Vorstand hatten sich zugespitzt. Es gab damals einen dreiköpfigen Vorstand, dessen
Arbeitsweise nicht in die Zeit passte mit seinen Hierarchien und der zudem das unsere
therapeutische Freiheit (in Deutschland als
31
Heilpraktiker) einschränkende Berufsbild
des TCM-Therapeuten anzustreben schien.
Mediationen und Supervisionen zwischen
den Kontrahenten waren seit Mitte 1998
vorausgegangen, ebenso wie regionale Mitgliederversammlungen, Statements, Strategiediskussionen, viel Aufregung, meterlange
Faxe und erhitzte Telefonate (E-Mails mit
dem überbordenden „cc“ oder gar „bcc“
gab es noch nicht so richtig). Das Ergebnis
der bis weit nach Mitternacht dauernden
Mitgliederversammlung im Mai 1999: Ich
wurde als Vorsitzender eines nunmehr achtköpfigen Vorstandes gewählt. In der Konsequenz legte ich meine Position als Schulleiter von Shouzhong (ABZ Ost in Berlin)
nieder. Eine neue kreative Phase begann,
eher Teamarbeit, zumindest Aufteilung der
Verantwortlichkeiten - nach einer mühsamen Zeit der Lösung von den jahrzehntelangen, zu ihrer Zeit durchaus bewährten
hierarchischen Muster. August Brodde
und Hans Giesen, dann Helen Blohm und
schließlich Herbert Vater hatten 45 Jahre
die AGTCM geleitet: Jetzt waren wir dran.
Altes hinterfragen, Neues schaffen - neue
Wurzeln zusätzlich zu den zwar bewährten,
aber etwas morsch und starr gewordenen
Fundamenten der AGTCM.
Nun ein großer Vorstand - acht Plätze für
das Team gab es zu „besetzen“. Nicht so
einfach. Birgit Ziegler war von Anfang an dabei, auch Gerd Ohmstede (natürlich!). Einige
Monate später auch Michael van Gorkom
als Sekretär an Bord. Voller Elan gingen
wir an die Arbeit, sortierten und initiierten,
diskutierten, delegierten und agierten. National und international, nach außen und
innen. Sitzungen, unzählige Telefonate, ein
Bericht- und Protokollwesen und monatliche Telefonkonferenzen sorgten für meist
reibungslose Kommunikation. In den Archiven der AGTCM müsste noch ein Menge
Text liegen, aber es gab eben viel zu tun. Mit
den Ausbildungszentren konnten wir durch
Kooperationsverträge die Arbeitsteilung zwischen Aus- und Weiterbildung regeln – damals gab es noch regionale Arbeitskreise,
die Fortbildungsveranstaltungen unabhängig von den ABZ anboten. Es gelang, die
hohe Qualität der im Rahmen der AGTCM
angebotenen Ausbildungen sowohl bei den
HP-Verbänden als auch zum Beispiel bei
den Hebammen als Maßstab zu etablieren.
Im Rahmen der Qualitätssicherung entstand
in dieser Zeit auch das Kreditsystem für die
kontinuierliche Fortbildung - und die Therapeutenliste im Internet. Zwei Websites
wurden aufgebaut, für die AGTCM und den
Kongress. Eine Zeitschrift („Der Heilpraktiker“) veröffentlichte monatlich Beiträge
aus unserer sprunghaft wachsenden TCMWelt. Später ging die Kooperation über an
die „Naturheilpraxis“ mit fest garantiertem
Der Vorstand 2001 in Heidelberg“ v. li: Anna Mietzner,
Wolfgang Waldmann, Andreas Noll, Dirk Berein,
Gerd Ohmstede, Annette Wrobel, Catherine Herwartz,
Birgit Ziegler
redaktionellem Umfang – so wurden unsere
Anliegen und Ansichten einem Leserkreis
von damals 18.000 Therapeut/inn/en bekannt gemacht. Gute Kontakte konnte ich
mit den vorher auf deutliche Distanz zur
AGTCM gegangenen Heilpraktikerverbänden knüpfen und (damals unter der Hand)
auch mit den Ärztevereinigungen. Und wir
wollten uns voller Begeisterung mit nahezu
missionarischem Eifer weltweit „vernetzen“:
International erreichten wir die jahrelang
angestrebte Mitgliedschaft in der WFAS,
dem Weltverband für Akupunktur auf deren
Kongress in Seoul. Auch europaweit wurde
in Rothenburg schon im Jahr 2000 ein Meilenstein gesetzt: Es fand ein erstes Treffen
europäischer TCM-Gesellschaften aus elf
Staaten statt.
Ziel: Ein europäischer TCM-Verband zur Vertretung der Interessen sowohl ärztlicher als
auch nichtärztlicher TCM-Therapeuten. Ungeachtet ihres jeweiligen sehr unterschiedlichen juristischen Status’ in den einzelnen
Ländern. Offensichtlich waren dies Zeichen
der Zeit – denn völlig unabhängig von unserer Initiative wurde ich im Sommer nach
Wien zu einem internationalen Treffen von
TCM-/Akupunkturgesellschaften eingeladen. Beides ging dann einen gemeinsamen
Weg bis zur Gründung der (damals) EATCM
in Brüssel 2001. Was dann für ein Jahr folgte,
möchte ich an dieser Stelle nicht beschreiben. Es war ernüchternd und erschreckend
mit dem Ergebnis, dass die „Wiener Initiative“ für einige Zeit eigene Wege ging. Bis
heute wächst und gedeiht jedoch die (nun)
ETCMA. Mein Nachfolger Nils von Below
unterstützte bei diesem Projekt maßgeblich
den Vorstand, erst als Beauftragter in Europafragen, dann als Vorstandsassistent.
China: Die Beziehungen zur Chengdu TCM
University hatte Gerd Ohmstede initiiert
und auch mein Vorgänger Herbert Vater
weitergeführt. Meine Wenigkeit versuchte
mit Kooperationsverträgen die Zusammenarbeit auf ein neues Niveau zu heben, was
auch nachhaltig gelang. Absolvent/inn/en
der ABZ konnten nun unter anderem nach
erfolgter Studienreise ihr Diplom mit dem
Stempel der Universität „besiegeln“ lassen.
Professor/inn/en aus Chengdu reisten
nach Deutschland, sowohl nach Rothenburg als zu intensiven Praxisseminaren an
die ABZ. Mehrwöchige Studienreisen mit
vielen Teilnehmern wurden von der AGTCM
32
Vor mehr als 30 Jahren begann die Freundschaft zur
TCM-Universität Chengdu
Die ersten Kontakte knüpften Sigrid Klain, Gerd Ohmstede und Andreas Noll
Von Birgit Ziegler, ehem. 2. Vorsitzende der AGTCM
Freundschaftliche Beziehungen zur Universität Chengdu
organisiert, und nicht wenige Kolleg/inn/en
studierten auch längere Zeit an dieser Universität, die mit Recht als die „klassischste“
TCM-Universität Chinas gilt. Freundschaftliche Bindungen entstanden, die bis heute
noch ihre Früchte tragen. Mit Feuer und
Flamme waren wir dabei und der Pioniergeist verbrannte sicher auch so manche
Reserven. Ärgernisse und Streitigkeiten gab
es auch, Gerichtsprozesse und nervenaufreibende Machtkämpfe. Es liegt in der Natur
des Menschen, dass wir uns bevorzugt an
das Gute erinnern. Das Schlechte können
wir abspeichern, aber es sollte nicht unser
Handeln bestimmen. 2005 konnte ich mein
„Amt“ an Nils von Below weitergeben. Ich
habe mich gefreut, dass Vorstandskolleg/
inn/en für die unerlässliche Kontinuität
bürgten. Besonders Birgit Ziegler danke ich
für die gefestigten und gewachsenen Beziehungen zu unserer chinesischen PartnerUniversität. Und Gerd Ohmstede für das
Wachsen und Gedeihen des internationalen
TCM-Kongresses - der zu meiner Zeit anfangs noch „Jahrestagung der AGTCM“ hieß.
Mit im Team waren damals:
· Seit 1999 Michael van Gorkom als unermüdlicher Sekretär,
· Dorothea Laner und ein Jahr später
Catherine Herwartz als Geschäftsführerin,
· Stefan Penns und Annette Wrobel für den
Bereich Pharmakologie,
· Dirk Berein als Vertreter der ABZ und
überaus wichtiger Impulsgeber,
· Clemens Prost und Anna Mietzner für die
besonderen Belange der Ärzte,
· Wolfgang Waldmann und Bernd Michel
für die Arbeitskreise
· und viele andere im Hinter- und Vordergrund.
Dankeschön!
Im Rahmen meiner Tätigkeit als 2. Vorsitzende der AGTCM e.V. reiste ich erstmals Mitte Oktober 2005 mit meinen Kollegen Nils
von Below, Dirk Berein und Gerd Ohmstede
nach Beijing und Chengdu. In Beijing trafen wir uns mit dem Präsidenten der WFAS
(World Federation of Acupuncture Moxibustion Society). In dieser führenden Akupunktur-Organisation Chinas waren wir damals
schon einige Jahre Mitglied, und wir wollten
Möglichkeiten einer stärkeren Vernetzung
diskutieren.
Unsere Reise führte uns weiter nach Chengdu, denn mit der dortigen „Chengdu University of Traditional Chinese Medicine“ verbindet uns schon eine langjährige Freundschaft,
deren Anfänge bis in die 1980er Jahre reichen. Die ersten Kontakte wurden durch Sigrid Klain, Gerd Ohmstede und Andreas Noll
geknüpft. Damals war eine Reise zu Studienzwecken nach Chengdu noch ein echtes
Abenteuer. Doch dank dieser Pioniere ist
ein derartiges Unterfangen zwar auch heute noch eine Herausforderung, aber was die
Bedingungen sowohl an der Universität als
auch im täglichen Leben angeht, wesentlich
entspannter.
Unser damaliger Besuch hatte unter anderem zum Ziel, unsere Kontakte noch enger
zu knüpfen, aber auch die dortigen Professor/inn/en und Lehrer/innen in ihren jeweiligen Fachgebieten näher kennen zu lernen. Zu diesem Zweck vereinbarten wir eine
Reihe von Treffen, in denen sich die Professor/inn/en vorstellten und über ihre Fachgebiete referierten. Auf Seiten der chinesischen Ärzte herrscht – zum Teil auch noch
heute - die Meinung, dass westliche TCMler
nur über rudimentäre Kenntnisse der chinesischen Medizin verfügen. Sie sind oft nur
sehr zögerlich bereit, ihr umfangreiches Wissen mit uns zu teilen. Stetige Diskussionen,
die wir während unserer wiederkehrenden
Besuche dort und auch in Rothenburg mit
Vertretern der Universität Chengdu geführt
haben, dienten und dienen dem Ziel, diese
Einschätzung unserer chinesischen Freunde
über unser Wissen allmählich zu verändern.
Im Jahr 2006 feierte die Universität in
Chengdu ihr 50jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass gab es einen Kongress und beeindruckende Feierlichkeiten, zu denen Vertreter der AGTCM eingeladen waren. Dieses
Mal reiste ich mit Andreas Noll und Gerd
Ohmstede. Unserer Gruppe hatten sich aber
auch zwei ETCMA-Mitglieder aus Irland angeschlossen sowie jeweils eine Vertreterin
des Thieme-Verlags und des Elsevier-Verlags. Der Kongress und die Feierlichkeiten
gingen über drei Tage. Der Höhepunkt war
eine beeindruckende Open-Air-Veranstaltung auf dem neuen Campus in den weiteren Außenbezirken von Chengdu, mit vielen
Reden und sehr schönen Tanzdarbietungen.
Wir nahmen natürlich die Gelegenheit wahr
und führten Gespräche zu allen möglichen
aktuellen Themen, aber insbesondere ging
es auch bei diesen Treffen um die Verbesserung der Studienmöglichkeiten für unsere
westlichen Kollegen. Im Rahmen der Veranstaltungen wurde Andreas Noll zum Gastprofessor der Universität Chengdu ernannt.
Im Jahr 2009 reiste ich wieder nach China,
und zwar mit den Dozentinnen und Dozenten des ABZ Mitte. Ich hatte eine dreiwöchige Reise organisiert, die uns zuerst nach
Shanghai und dann nach Hangzhou führte.
Dort trafen wir uns mit der Leitung der dortigen Universität, um über die Möglichkeit
von Studienaufenthalten zu diskutieren.
Weiter führte uns unsere Reise in die Provinz Yunnan, wo wir die Städte Lijiang und
Dali und deren Umgebung besuchten. Den
33
Abschluss bildete ein zehntägiger Aufenthalt
in Chengdu am dortigen Hospital und an der
Universität.
Neben dem touristischen Programm stand
für mich vor allen Dingen im Vordergrund,
dass meine Kolleginnen und Kollegen vor
Ort einen Eindruck von den Möglichkeiten
und Bedingungen gewinnen konnten, unter
denen Fortbildungsreisen stattfinden, und
über diese auch den Schülern des ABZ berichtet werden konnte. Ich bin sicher, dass
unser gemeinsames Reiseerlebnis allen Beteiligten in guter Erinnerung geblieben ist.
Im November 2010 besuchte ich den 3. Internationalen Kongress zur Modernisierung
der TCM in Chengdu. Im Rahmen dieses
Kongresses hielt ich einen Vortrag über die
Trainingsstandards an den Kooperationsschulen der AGTCM. Da ich seit 2010 die
Verantwortung für die China-Reisen habe,
nahm ich die Gelegenheit war, mit dem
dortigen „Office for Foreign Affairs“ über
Bedingungen und Preise der Studienreisen
zu verhandeln. Die Gespräche fanden – wie
immer – in freundschaftlicher Atmosphäre
statt. Mittlerweile hatte ich zu allen Verantwortlichen eine gute Beziehung aufgebaut.
Im Oktober 2013 fand in Chengdu der 4.
Internationale Kongress zur Modernisierung
der TCM statt. Erstmals bekam die AGTCM
unter der Federführung von Gerd Ohmstede, der als zweites Mitglied der AGTCM zum
Gastprofessor ernannt wurde, die Möglichkeit, ein Panel, das heißt eine Vortragsreihe
im Rahmen des Kongresses, mitzugestalten.
Dieser Kongress ist weltweit die größte derartige Veranstaltung. Neben der Universität
Chengdu findet sie unter Federführung der
Zentralregierung und der Provinzregierung
von Sichuan statt. Dort waren auch wichtige
Organisationen wie WHO, WFAS und WFCMS vertreten.
ABZ Mitte im Reich der Mitte
Bis einschließlich 2013 reiste jedes Jahr eine
Gruppe nach Chengdu. Die Teilnehmer/innen rekrutierten sich mehrheitlich aus dem
Kreis der ehemaligen Schüler des ABZ Mitte.
Es meldeten sich aber zu jeder Reise auch
Interessenten außerhalb der AGTCM. Natürlich gibt es auch 2014 wieder eine Reise
nach Chengdu.
Die meisten Teilnehmer entscheiden sich für
einen zweiwöchigen Studienaufenthalt. Das
ist zwar relativ kurz, aber doch nachvollziehbar, weil niemand seine Praxis viel länger
schließen kann oder möchte. Trotz der Kürze der Zeit gelingt es aber immer, einen guten Einblick in die Arbeitsweise der dortigen
Ärzte und Ärztinnen und Professor/inn/en
zu erlangen. Es ist mit Sicherheit eine lohnende Erfahrung.
Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, dass ich eine weitere Studienreise für
die Dozentinnen und Dozenten des ABZ Mitte organisierte. Diese führte uns im Oktober
2012 nach Beijing. Wir wollten direkt bei Dr.
Wang die Palpitation der Leitbahnen sehen
und lernen, weil Dirk Berein seinen Schüler
Jason Robertson eingeladen hatte, im ABZ
Mitte eine Fortbildung zu veranstalten. Diese war so inspirierend, dass wir beschlossen, Dr. Wang persönlich kennen zu lernen.
Neben dem wertvollen Wissen, das uns Dr.
Wang vermittelte, hatten diese zwei Wochen
aber auch einen guten Teambildungseffekt,
wie auch schon unsere gemeinsame Reise
im Jahr 2009.
34
mein Engagement für die AGTCM begann mit einer umstrittenen „Werbeaktion“
Rückblick auf die ersten Begegnungen bei Seminaren und Kongressen
Von Helmut Magel, Schulleiter der August-Brodde-Schule
In den 1980er Jahren war die Ausbildungssituation für Chinesische Medizin vom
Umfang bescheiden, aber ähnlich unübersichtlich wie heute. Über das Internet
konnte man sich noch nicht informieren.
So kam es, dass ich meine TCM-Ausbildung in der Nähe von Bochum, dem Sitz
des 1984 von August Brodde und Hans
Gießen gegründeten Ausbildungszentrums
West (ABZ) bei Peter Weinfurt absolvierte.
So erging es damals einigen Kolleginnen
und Kollegen, die später zur AGTCM stießen, ebenfalls.
August Brodde begegnete ich erstmals
1988 auf dem SIA-Kongress („Société
Internationale d’Acupuncture“) in Düsseldorf. Er saß vorn auf dem Podium neben
dem berühmten französischen Akupunkteur Nguyen van Nghi. Das war noch zu
Zeiten, als in der TCM-Szene eher französisch als englisch (und aufgrund der erst
beginnenden Öffnung Festland-Chinas)
schon gar nicht chinesisch gesprochen
wurde. Die französischen Akupunkteure
waren bis in die 1980er Jahre seit Soulié
de Morant (gest. 1955) die Avantgarde
in Europa. In den 1990er Jahren änderte sich dies mit den Lehrbüchern von
Maciocia, Bensky, Flaws und Ross: Die
Anglo-Amerikaner strukturierten die TCM
über die Syndromlehre um und schienen
für manche Adepten „Klarheit“ in diverse
Merkwürdigkeiten zu bringen. Hier kam
man noch ohne Syndrome aus: „Gar nicht
oft genug kann es wiederholt werden, dass
das A und O jeglichen Akupunkturerfolges
die Ausgleichung der deregulierten Meridianpulse ist, wobei man sich der Standardpunkte bedient und gegebene Regeln
befolgt. So wird eine Ausgleichung des
gestörten vegetativen Gleichgewichtes
angestrebt, die vegetative Steuerung der
Organfunktionen normalisiert und eine
ganze Anzahl funktioneller Störungen zum
Weichen gebracht, ohne dass man ihnen
einen Namen gegeben zu haben braucht.
Dieses ist im Sinne der Akupunkturlehre
die Behandlung der „Wurzel“ der Krankheiten.“ (Brodde, Wundermeridiane)
Als ich meine eigene Akupunktur-Praxis
1990 eröffnete, hatte ich das große Bedürfnis, mich mit anderen Kolleginnen und
Kollegen auszutauschen. Zu diesem Zweck
gründete ich mit einigen einen Verein und
bald darauf gaben wir eine bescheidene
Zeitschrift in Eigenarbeit heraus: „ZECHInfo“. ZECH stand unbescheiden für „Zentrum für europäische und chinesische
Heilkunde“. Von vorn herein war uns klar,
dass wir keine Chinesen waren und unsere
Heilkundetradition - zum Beispiel die der
Kräutermedizin - mit einbezogen werden
sollte. Ohne dass wir das damals wussten,
bezog auch August Brodde sowohl die europäischen Philosophen als auch die homöopathische Heilkunst in seine Theorie
und Praxis ein.
Mit der AGTCM bekam ich erst Anfang der
1990er Jahre über Fortbildungsseminare
in Bochum verschiedene Kontakte, unter
anderem mit Guido Fisch, jenem Akupunktur-Arzt aus Lausanne, der heute leider in
Vergessenheit geraten ist und auch aus
der französischen Schule um Van Nghi
stammt. In der ZECH-Zeitschrift verbreiteten wir auch die Termine des Arbeitskreises West der AGTCM, was von Frau Brodde, die ihrem Mann organisatorisch zur
Seite stand, aber gar nicht gern gesehen
wurde. Sie war der Meinung, unsere Zeitschrift „bediene“ sich des Arbeitskreises.
Ähnliches geschah dann auf dem TCMKongress in Rothenburg, den ich - die
ZECH-Zeitschrift unter dem Arm - 1994
erstmals besuchte. Mein argloses Ansinnen, dort unsere Zeitschrift auszulegen,
machte mich rasch mit dem Vorstand
der AGTCM bekannt. Die Kollegin Helen
Blohm, damals 1. Vorsitzende, meinte, das
ginge deshalb nicht, weil die AGTCM die
Zeitschrift „Volksheilkunde“ als ihr Organ
nutze, in dem monatlich Beiträge zur TCM
publiziert würden. Aber sie sei, sagte sie
sehr freundlich, nicht die richtige, um mit
mir darüber zu verhandeln. Die (wörtlich)
„große Klappe“ habe der 2. Vorsitzende.
Das war Herbert Vater, mit dem ich dann
auch bekannt gemacht wurde.
Nach einigem Hin und Her machte mir
Herbert Vater ein überraschendes Angebot: Ob ich bereit sei, unsere Zeitschrift
einzustellen und stattdessen die Redaktion der monatlichen TCM-Beiträge in der
„Volksheilkunde“ redaktionell zu betreuen, da die bisherige Redakteurin diesen
Posten aufgeben wolle. Offenbar hatte ich
keinen schlechten Eindruck mit meinem
Engagement gemacht. Ich brauchte nicht
lange zu überlegen und erklärte mich bereit und dankte für die Ehre. Die bisherige
Redakteurin war übrigens Marlies Sonnentag, die zusammen mit Inge Sander auch
viele Jahre Dozentin im ABZ West in Bochum war.
So geriet meine Werbeaktion für unsere Zeitschrift, die immerhin eine Auflage von 60 Exemplaren mit Abonnenten
in ganz Deutschland aufwies, zu einem
„Senkrechtstart“ in die AGTCM, schließlich gehörte die Redaktion zum damaligen
„Beirat“, eine Art Beratergremium des Vorstandes.
Als Fach-Redakteur hatte ich genügend
Gelegenheit, mich mit Kolleginnen und
Kollegen inhaltlich über Artikel auszutauschen und auch selbst Beiträge zu publizieren. Insofern wurde ich aktiver Zeuge
eines Wandels der Chinesischen Medizin
in Deutschland, bei dem der Einfluss der
französischen Schule durch den angloamerikanischen Einfluss und schließlich
den - immer noch schillernden - Einfluss
der VR China verdrängt wurde. Gab es in
den 1980er Jahren nur wenige Lehrbücher
35
zur Chinesischen Medizin, so hat sich das
heute gewandelt: Die Zahl der internationalen Veröffentlichungen ist fast unüberschaubar geworden.
Auf dem Rothenburger Kongress 1994
hielt noch Manfred Pokert einen Vortrag,
dessen international beachtetes Grundlagenwerk zur Chinesischen Medizin heute
nur noch wenigen bekannt sein dürfte. Er
war der Meinung, die alten chinesischen
Fachbegriffe dürften nur in einer ebenso
alten, nicht mehr gebräuchlichen europäischen Sprache, dem Latein, übersetzt
werden, um ihren Sinngehalt nicht „modern“ zu übertünchen. Inzwischen liegen uns vielfältige Ausgaben klassischer
Schriften vor, die neben dem chinesischen
Text gleich die Übersetzung (meist ins Englische) mitliefern, so dass sich jeder selbst
ein Bild machen kann. Zugleich hat mit der
großen Zahl von Veröffentlichungen auch
die Zahl der Systeme und Lehrmeinungen
zugenommen. Das war im alten China immer so, wir im Westen müssen das aushalten.
Was August Brodde gegenüber der Vielfalt
von Weisheitslehren sagte, passt gut in
den angesprochenen Zusammenhang: „Jedoch lädt ein Überblick durch meine (...)
Zusammenfassungen aus Weisheitslehren
dazu ein, noch ein Wort über den Eklektizismus zu sagen. Der Eklektiker wird meist
als bloßer Nachahmer apostrophiert, was
ausgesprochen ungerecht ist. Meist ist er
ein gebildeter, belesener, aber bescheidener und nachdenklicher Mensch, der
nichts Neues erdenkt, um es zu einem
neuen philosophischen Gebäude zusammenzusetzen, sondern der Überzeugung
ist, dass alles Wissenswerte schon vor ihm
durch bedeutende Köpfe gesagt worden
ist und man es wohl variieren, kaum aber
Neues hinzufügen kann. Und aus dieser
großen Summe vorhandener Lehren setzt
er sein Weltbild zusammen, wie es schon
Diogenes Laertios getan hat und Kameades von Kyrene (212 bis 128 v.Chr.) in der
Spätzeit der griechischen Philosophie
lehrte. Heutzutage würde mehr Eklektizismus weniger Spinner bedeuten.
Im 32. Spruch des TAO TE KING sagt Lao
Tse:
Der SINN* als Ewiger ist namenlos Einfalt.
Obwohl klein,
wagt die Welt ihn nicht zum Diener zu machen.
Weiß man, wo halt zu machen ist,
so kommt man nicht in Gefahr.
Dreißig Jahr Praxis - der Sinn? (...) Ich muss
sagen, dass es den „SINN AN SICH“ als
feststehenden, unabänderlichen Begriff
nicht gibt, sondern dass ein jeder aufgerufen ist, sich um SEINEN SINN zu bemühen, und er wird ihn je nach dem Stadium
seiner eigenen Evolution zwischen bloßer
Materie und reinem Geist finden. Hoffen
wir, dass Sie auf dieser Skala einen gehobenen ontischen Platz haben.“ (aus einem
Vortrag von August Brodde, gehalten auf
einer Heilpraktiker-Tagung)
* Richard Wilhelm übersetzte Dao (Tao)
Herbert Vater, Claudia Papst-Dippel, Peter Waltz, 1998
Ehepaar Brodde und Karl-Friedrich Liebau, 1980er Jahre
Meisterkurs 1995
36
„Halte an der Mitte fest“: Die Pioniere der TCM organisieren sich in Berlin
Mehrere Umzüge prägen die Geschichte des Ausbildungszentrums Ost - Shou Zhong
Von Annette Moll, Journalistin und Journalisten-Ausbilderin, im dritten Ausbildungsjahr Akupunktur im Shou Zhong
Seit 1991 bietet das Ausbildungszentrum
Ost für Chinesische Medizin in Berlin Ausund Fortbildungen in TCM an. Shou Zhong
ist eine von insgesamt sechs Kooperationsschulen der „großen Mutter“ AGTCM
und hat eine bewegte Geschichte.
Es gibt Bagels mit türkischen Aufstrichpasten, auf dem Stövchen dampft eine
chinesische Teekanne vor sich hin. Vor der
Regalwand mit den Kräutergläsern und der
eingelegten Echse sind die Seminartische
zu einem Quadrat zusammen geschoben:
Dozententreffen im Shou Zhong Ausbildungszentrum Ost in Berlin-Schöneberg.
Nach der wie immer intensiven Diskussion über den Lehrplan der dreijährigen
Akupunkturausbildung lenkt Schulleiterin
Suzanne Rainer das Thema auf die Geschichte von Shou Zhong: Wie ging es los
vor 23 Jahren, welche Stationen gab es auf
dem Weg bis heute – und die Stimmung in
der Runde wird aufgekratzt. Erinnerungen
fliegen hin und her: Dass die Akupunkturschüler/innen der ersten festen Schuladresse, einer alten Villa in Babelsberg, im
Winter in den Heizungskeller hinab steigen
und Kohle schippen mussten, wenn der
Hausmeister mal wieder vergessen hatte, frühmorgens anzuheizen. Lachen, als
man sich an rußgeschwärzte Wangen und
Hände erinnert, ans Zusammenkuscheln
unter wärmenden Decken während des
Unterrichts – oder daran, dass ständig die
Sicherung heraus flog und Patient/inn/
en und Behandler/innen in der Lehrpraxis
plötzlich im Dunkeln saßen.
Das sind die Anekdoten, die der Blick in
die Vergangenheit spontan hervorzaubert – doch alle, die damals dabei waren,
sagen vor allem: Es war eine Pionierzeit.
Aufbruchsstimmung herrschte in der noch
kleinen Berliner Akupunkturszene kurz
nach der Wiedervereinigung, denn mit
dem 1991 aus der Taufe gehobenen Ausbildungszentrum Ost gab es in der Regi-
on nun endlich eine wirklich umfassende
Ausbildung in chinesischer Medizin. Gründervater Andreas Noll hatte bereits Ende
der 1980er Jahre anderthalbjährige TCMKurse angeboten. Doch er wollte mehr:
Akupunktur und das ganzheitliche Konzept
der chinesischen Medizin intensiv erfahrbar machen, inspiriert von den vielfältigen
Impulsen der AGTCM sowie ihren spannenden Jahrestagungen in Rothenburg.
Lernen und Spüren, drei Jahre lang.
Noch im Jahr 1990 gibt es diesen legendären Abend in Berlin-Kreuzberg: Andreas
Noll und Peter Weber-Bluhm treffen sich in
einer Kneipe im Graefe-Kiez, nach ein paar
Stunden und einigen Getränken steht ihr
Entschluss: Wir gründen eine Schule für
chinesische Medizin! Eine Ausbildungsstätte, die Theorie mit der praktischen Arbeit, der Patientenbehandlung, verbindet,
in der die Wandlungsphasen mit Körper,
Geist und Seele erlebt werden. Auch das
damals noch etwas exotisch anmutende
Qi Gong soll einen zentralen Ausbildungsteil bilden – zum Führungstriumvirat der
neuen TCM-Schule gehört auch Ulla Blum,
die die angehenden Akupunkteure mit
ihren Qi Gong Workshops für die energetische Arbeit öffnet. Ende des Jahres
schließt sich die Schule der AGTCM an. Zu
diesem Zeitpunkt gibt es bereits Kooperationsschulen in München, Bochum und
Hamburg.
Im Januar 1991 ist es dann soweit, der
erste Ausbildungsjahrgang geht an den
Start. Zu den 15 „Erstklässlern“ zählt
Clemens Prost, damals knapp 30 Jahre
alt, frisch ausgebildeter Arzt und auf der
Suche nach der Essenz ganzheitlicher
Behandlung. Akupunktur interessiert ihn
schon geraume Zeit, seit einem Kurs bei
Radha Thambirajah liegt in seinem WGZimmer eine Matratze auf dem Boden, auf
der sich aufgeschlossene Mitbewohner
und Freunde Übungsnadelungen hinge-
ben. Den chinesischen Klassiker Su Wen
hat Clemens schon Mitte der 80er Jahre
gelesen, sonnenbadend auf dem Berliner
Kreuzberg. Er wusste damals noch nicht,
ob er den alten Text genial oder völlig
verrückt finden sollte. Doch jetzt mit der
fundierten TCM-Ausbildung erschließt sich
ihm allmählich der Sinn. Verwirrung stiftet
anfangs eher die Vielzahl der Ausbildungsorte: Bis 1993 finden die Kurse nämlich in
lockerer Folge im Berliner Ökowerk statt
sowie in der selbstverwalteten Heilpraktikerschule, damals in der Hasenheide,
sowie in der Samuel-Hahnemann-Schule.
„Jeden Samstag stellte sich mir die gleiche Frage: Bei wem, wann und wo findet
der Kurs heute eigentlich statt?“, erzählt
Clemens Prost und gibt ehrlich zu, dass er
wahrscheinlich jener Schüler war, der damals am häufigsten „ein bisschen verpeilt“
vor der falschen Adresse stand.
Damit ist Schluss, als die TCM-Schule
1993, nun ein gemeinnütziger Verein, nach
Babelsberg zieht: in eine alte, etwas baufällige, aber charmante Villa am Ufer des
Griebnitzsees. „Die Idee war, nach der
Dreiteilung der Ausbildungsorte ein echtes
Zentrum zu schaffen, unsere Mitte zu finden“, erzählt Andreas Noll. Diese Grundidee spiegelt der Name wider, mit dem die
Schule damals getauft wird: Shou Zhong
– halte an der Mitte fest, ein Spruch aus
Laotses Daodejing.
Babelsberger Villa:
Erste Heimat ABZ Ost nach der Wende
37
Um die Villa in der Karl-Marx-Straße ranken sich viele Geschichten. Jutta Bernig,
damals Schülerin, heute Shou Zhong-Dozentin, erinnert sich nicht nur ans muntere Kohleschippen im Heizungskeller,
sondern auch an einiges Befremden in
der Nachbarschaft. Schon der Einzug der
Gründungstruppe mit Trommeln und chinesischem Löwentanz hat die Offenheit
der alteingesessenen Babelsberger herausgefordert. Und wenn die Schüler dann
im Garten Qi Gong übten, in bunten Pumphosen oder Batik-Shirts; wenn seltsame
Geräusche aus den WandlungsphasenSeminaren drangen, „glaubten die Leute
wohl, hier sei eine Sekte eingezogen.“ Einmal kam sogar die Polizei vorbei, um nach
dem Rechten zu sehen.
Es war ein weiter Weg hinaus zur Shou
Zhong Villa: Die Fahrt in der träge polternden S-Bahn, gefolgt vom Fußmarsch
am Ufer des Griebnitzsees entlang – im
Sommer wunderschön, im Winter aber
mitunter eine Herausforderung, auch für
die Patient/in/en. „Sie mussten gut zu
Fuß sein und ein stabiles Immunsystem
haben, um überhaupt zu uns in die Lehrpraxis, das Ambulatorium, zu kommen“,
meint Clemens Prost heute. Bis zu drei
Stunden Anreise hätten damals einige in
Kauf genommen. Dennoch seien alle natürlich gesünder gegangen als sie kamen –
eine gute Behandlung habe immer im Mittelpunkt gestanden. Der Schule ist er bis
heute tief verbunden: Gleich im Anschluss
an seine Ausbildung fängt Clemens Prost
als Ambu-Lehrer an; wenige Monate später wählen ihn die Schüler zum stellvertretenden Schulleiter.
Wegen des weiten Weges verbringen viele
Schüler das Wochenende in der Villa, da
kommt eine familiäre Atmosphäre auf. Gemütliche Kochabende, rauschende Partys,
außerdem streichen und renovieren die
Schüler notdürftig die besonders baufälli-
Party Babelsberg
gen Teile der Villa - und nachts geschehen
manchmal merkwürdige Dinge. Im Gebäude war Jahrzehnte zuvor ein russisches
Lazarett untergebracht. Manche Schüler
berichten nach einer unruhigen Nacht, sie
hätten die Geister der Verwundeten gesehen.
Die Jahre kommen und gehen, der Lehrplan, den Andreas Noll und seine beiden
Mitstreiter Ulla Blum und Peter WeberBluhm entworfen haben, wird immer wieder leicht verändert, verbessert, neu justiert. Im steten Austausch mit der AGTCM
und den anderen Kooperationsschulen
wird ein Curriculum entwickelt, das einen
neuen Standard für Akupunkturausbildungen in Deutschland setzt. Anfangs gibt
es kaum Lehrbücher, die Dozenten teilen
keine Skripte aus, alles wird mitgeschrieben; die Schüler lernen das Akupunktieren
noch mit Mehrweg-Nadeln, die sie nach
jeder Behandlung selbst sterilisieren.
„Wir haben damals auch improvisiert,
waren aber mit sehr viel Herzfeuer bei
der Sache“, erzählt Margot SchlemenderMischo, die Mitte der 1990er Jahre als
Ambu-Lehrerin zum Team stößt und später
Schulleiterin wird. Ihr fallen viele hitzige
Diskussionen von früher ein, lange basisdemokratische Entscheidungsprozesse –
darüber, ob der Unterricht an Tischen oder
auf Futons stattfindet, ab welcher Nadellänge das Qi erreicht wird oder wie viel
Raum Prüfungen einnehmen sollen. Über
eines seien sich allerdings immer alle einig gewesen: dass die Kooperation mit der
Universitätsklinik von Chengdu durch alle
Jahre beibehalten und vertieft wird. Dass
die Patient/inn/en in der Ausbildungssituation einer Lehrpraxis die bestmögliche
Behandlung erhalten. Und dass die Offenheit für viele verschiedene Therapieansätze den Schülern ein gutes Fundament für
ihre spätere Heilarbeit schafft.
Und dann hängt auf einmal eine Rechtsklage wie ein Damoklesschwert über
der Schule: Anwälte der Jewish Claims
Conference (JCC) haben die alte Villa in
Babelsberg ausfindig gemacht. Deren Besitzverhältnisse während der vergangenen
Jahrzehnte sind unklar – möglicherweise
haben jüdische Opfer des Nationalsozialismus Anspruch auf Entschädigung. Davon
wissen die Shou-Zhong-Vertreter nichts.
Sie haben mit der Stadt Potsdam einen
einfachen Nutzungsvertrag abgeschlossen: Instandhaltung und Beheizen des alten Gemäuers, dafür dürfen sie die Räume
nutzen. Doch die JCC verklagt die Schule
auf 200.000 Euro – und trifft damit Andreas Noll als Privatperson. Denn er hatte
einst den Vertrag nur mit seinem Namen
unterschrieben, der Schulstempel fehlt.
Bis 2004 zieht sich das Verfahren hin,
dann endlich entscheidet der Bundesgerichtshof, dass die Klage hinfällig ist.
Schule im Gildehaus Frankfurter Allee
38
Zu diesem Zeitpunkt hat Shou Zhong seine
Mitte längst an einem anderen Ort gefunden, die Unsicherheit des Rechtsstreits
gab den Ausschlag für den Umzug in die
Frankfurter Allee im östlichen Herzen
Berlins, Anfang der 2000er Jahre. Zur rituellen Weihung der Räume im alten Haus
der Schlossergilde kommt ein buddhistischer Mönch und wirft eine Handvoll Reis
in den laufenden Unterricht; Jutta Bernig
muss immer noch schmunzeln, wenn sie
an die verdutzten Gesichter der Schüler
denkt. Ihr Dozentenkollege Achim Wypler,
Meister der non-invasiven Akupunktur und
Qi Gong-Kenner, schwärmt von der guten
Akustik in den Räumen und vom hervorragenden Resonanzraum für die energetischen Schwingungen bei der Behandlung.
Die Organisation der Schulverwaltung wird
weiter professionalisiert, das Shou-ZhongTeam lässt sich von einem Coach beraten.
Und die Schüler arbeiten nun mit sterilen
Einwegnadeln.
Eine Zeit des Wachsens und Reifens für
Shou Zhong – bei allen praktischen Herausforderungen. Der Seminarraum, ein alter Gildensaal, steht unter Denkmalschutz;
die Wandfarbe, ein in Schulkreisen noch
immer legendäres „Dunkel-Blut-Rostrot“,
darf nicht überstrichen werden. Nägel in
den Wänden sind verboten, ebenso angeschraubte Deckenlampen. Das Team
behilft sich mit auf dem Boden aufgestellten Halogenstrahlern, die die düsteren
Wände notdürftig anleuchten. Frischluft
bringt Lärm: Die Fenster nach vorn bieten
Anblick und Geräuschkulisse der mehrspurigen Frankfurter Allee, am Wochenende ziehen Demonstrationszüge mit
Sprechchören und Trillerpfeifen vorbei.
Das Drogenzentrum im Hinterhof sorgt
zuverlässig für Musikbeschallung aus der
anderen Richtung. Bis 2007 bleibt Shou
Zhong an dieser Adresse, dann steht der
nächste Umzug an. Die Schule soll noch
professioneller werden, die Räume praktischer, geeignet auch für größere Veranstaltungen. Margot Schlemender-Mischo,
damals Schulleiterin, macht sich auf die
Suche und findet eine große Hinterhofetage, schräg gegenüber vom Schöneberger
Rathaus. Die Abstimmung über den neuen
Ort endet im Dozentenkreis nur mit knappem Zuspruch. Manche Kolleg/inn/en
halten die ehemaligen Fabrikräume in der
Belziger Straße energetisch für eine Zumutung, andere sehen ganz pragmatisch das
Potenzial, die Räume hell und freundlich zu
gestalten und die bis heute gern genutzte
offene Wohnküche einzubauen. Vor allem
Platz gibt es nun genug, in drei großen Seminarräumen kann gleichzeitig Unterricht
stattfinden. Der ständig weiter entwickelte
Lehrplan für die Akupunkturausbildung ist
inhaltlich auf gut das Doppelte dessen angewachsen, was die ersten Ausbildungsjahrgänge durchnahmen.
„Früher gab es vielleicht noch mehr
Zeit fürs Spüren, auf jeden Fall mehr Qi
Gong“, sagt Bastiane Hartmann – eine
von etlichen früheren Schülerinnen, die
heute im Dozententeam arbeiten. Andererseits vermisst heute kaum jemand die
Tatsache, dass Fachbücher Mangelware
waren oder die Schüler noch die lateinischen Punktebezeichnungen von Porkert
pauken mussten. Allein die Vielzahl der
Lehrer mit ihren ganz unterschiedlichen
Werdegängen und Behandlungsansätzen
sorge dafür, dass die Schüler heute sehr
viel am eigenen Leib erfahren und mitnehmen können – eine gute Balance zwischen
Wissen und Intuition. Bastiane Hartmanns
Weg in Beruf wie auch Berufung hat Shou
Wohnküche Schöneberg
Steven Birch unterrichtet in Schöneberg
Zhong jedenfalls stark geprägt. In jungen
Jahren hat die studierte Politologin viel
Frauenpolitik gemacht und „versucht, die
Welt zu retten“. Kaum eine Demo, die sie
nicht mitorganisiert oder auf der sie mitmarschiert ist, Straßenkampf rund um die
Uhr: „Ich habe mich nicht geschont“. Und
dann schlichen sich irgendwann gesundheitliche Probleme an, Zeit zum Anhalten
und Durchatmen.
Sie lernt Clemens Prost kennen, der begeistert von seiner Ausbildung erzählt.
Bastiane wird eine jener Freiwilligen, die
sich auf der WG-Matratze als „Versuchskaninchen“ für seine ersten AkupunkturBehandlungen zur Verfügung stellen. Sie
fängt Feuer - und 1994 selber die Akupunkturausbildung an, im Jahrgang der
Holzhunde. Nach den aufreibenden Jahren
ständiger Revolutionsbereitschaft, politischer Arbeit und analytischen Denkens
spürt sie zum ersten Mal das Qi, erlebt die
spirituelle Komponente der chinesischen
Medizin, kommt in tiefen Kontakt mit anderen und mit sich selbst. Heute, 20 Jahre später, ist sie erfolgreiche Therapeutin
sowie Dozentin und sagt: „Ich bin dieser
Schule sehr dankbar dafür, dass ich bei
mir selber angekommen bin“.
Suzanne Rainer, ebenfalls Shou Zhong-Absolventin, war bereits als Schülerin begeistert von dem Fachwissen und der langjährigen praktischen Erfahrung der Dozenten.
Heute, in ihrer Funktion als Schulleiterin,
schätzt sie an ihren Kollegen auch deren
Teamfähigkeit, Loyalität und stetes Ringen
um das höchstmögliche Ausbildungsniveau. Teetassen und Teller klappern, als
die Dozenten den Tisch abräumen, das
Teamtreffen hat heute ein bisschen länger
gedauert – viele Erinnerungen sind hoch
gekommen. Und es wird noch viele weitere Geschichten zu erzählen geben, da ist
sich Suzanne Rainer sicher. Denn auch
wenn Shou Zhong stets die Mitte behalten
hat – das Prinzip des ewigen Wandels geht
weiter.
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60 Jahre – Nur ein Wimpernschlag der Geschichte?
„Erfahrung und Tradition – in Frage stellen und Neues zu wagen: ein kontinuierlich spannender Prozess“
Von Dirk Berein, Schulleiter des ABZ Mitte
Die erste Frage, die mir zum „überraschenden“ 60-jährigen Bestehen der AGTCM in den Sinn kam war: „Was bedeuten
60 Jahre? und „Ist das nun alt oder jung?“
Als Praktiker und Dozent der Chinesischen Medizin kann ich da nur sagen:
„Das kommt auf die Perspektive an“. Da
ich 2013 auch 60 geworden bin, hat mich
diese Frage „schon alt oder noch jung“
sehr beschäftigt.
Was die Entwicklung der Chinesischen
Medizin betrifft, sind 60 Jahre natürlich
ein „Wimpernschlag“ der Geschichte. Diese Betrachtungsweise bedeutet für mich
einfach: Vieles nicht so wichtig nehmen,
alles etwas gelassener sehen; Was heute
so neu und wichtig erscheint, hat morgen
vielleicht schon keine Bedeutung mehr;
der allgemeinen Schnelllebigkeit etwas
entgegen setzen. Was eignet sich mehr
dazu als die Chinesische Medizin? Und
auch: Bewährtes nicht gleich umkrempeln.
Bezieht man die 60 Jahre auf die Entwicklung der Chinesischen Medizin in
Deutschland, sieht es für mich schon anders aus. Da gehört die AGTCM und mit ihr
der Mitbegründer August Brodde zu ihren
Pionieren. Die AGTCM ist mit vielen Mitstreitern/innen in den letzten 60 Jahren
zu der Organisation geworden, welche die
Entwicklung der Chinesischen Medizin in
Deutschland maßgeblich beeinflusst hat.
Natürlich hat die „60“ für uns „Chinesen“
auch noch eine weitere Bedeutung: Die
Vollendung eines Zyklus der Himmelsstämme und Erdenzweige und damit auch
den Beginn eines neuen Zyklus.
Für mich begann das Kapitel AGTCM 1985
mit dem Akupunkturunterricht bei Wilfried
Merz – auch ein Pionier der Akupunktur in
Deutschland – in der Heilpraktikerschule
in Hochheim. Er begeisterte mich und andere für die Akupunktur und die Sichtweise von Gesundheit und Krankheit in der
Chinesischen Medizin sowie mit seiner
Art, uns dies alles näher zu bringen. Mit
Wilfried trafen wir uns nach der Ausbildung in einer Arbeitsgruppe in Fulda, und
er führte uns auch nach Rothenburg zum
TCM-Kongress.
Diesen erlebte ich 1986 zum ersten Mal.
Der TCM-Kongress war schon damals ganz
anders als alle Heilpraktiker-Tagungen, die
ich bis dahin besucht hatte. 1986 empfand
ich den Tagungsort, die Atmosphäre mit so
vielen TCMlern und die Möglichkeiten des
Austausches einfach umwerfend. Gleichzeitig war der Respekt vor und die Distanz
zu „denen da oben“ ziemlich groß, und die
Eröffnung des damals so genannten „Gesellschaftsabends“ mit Standard-Tänzen
für uns eher belustigend. So verabschiedeten wir uns gleich nach dem Essen in
die nahe gelegene Disco.
Ein Lichtblick in meinen frühen Rothenburg-Jahren war der Vortrag eines jungen
Mannes über seine Fahrradtour durch
China und seine Eindrücke von dort. Das
war mal etwas Anderes und sehr beeindruckend. Dieser junge Mann hieß Gerd
Ohmstede, und wir alle sollten noch viel
von ihm hören als den Entwickler, Gestalter und weltweiten Netzwerker des TCMKongresses in Rothenburg.
Wir genossen tagsüber neben den Seminaren besonders das herrliche Wetter auf
den Wiesen im schönen Taubertal und ließen es uns einfach gut gehen.
1986 erfuhren wir erst nach dem TCMKongress, dass die radioaktive Wolke
der Tschernobyl-Katastrophe auch über
Rothenburg gezogen war. Wir waren erschrocken, aber es trübte nicht unsere
positive Erfahrung und das Gefühl, „Teil
eines großen Ganzen“ oder im heutigem
Sprachgebrauch „Teil einer Community“
zu sein. Mich hat das Ganze auf jeden
Fall so beeindruckt, dass ich die nächsten
27 Jahre den Termin in Rothenburg um
Christi Himmelfahrt nicht mehr missen
wollte.Besonders fasziniert mich seither
die Möglichkeit, sich in der AGTCM für die
Sache der Chinesischen Medizin zu engagieren. Ich habe letztlich immer – wenn
auch manchmal verbunden mit heftigen
Diskussionen – Offenheit und Unterstützung erfahren, sei es zum Beispiel bei der
Gründung des Arbeitskreises Mitte 1992
oder des ABZ Mitte 1993. Die Gründung
des Ausbildungszentrums Mitte war sicher ein solch heftiger Diskussionspunkt
mit dem damaligen Vorstand der AGTCM. Aber das gemeinsame Engagement,
die Argumente von uns Gründern (Astrid
Kratz, Sigrid Klain, Nils von Below und Ulrich Cordes), viele Gespräche sowie die
Unterstützung von Barbara Kirschbaum
überzeugten letztlich auch den Vorstand
der AGTCM (damals unter der Führung
von Helen Blohm) „uns mal machen zu
„Das war mal etwas
Anderes und sehr
beeindruckend.“
40
lassen“. Damit konnten wir 1994 unseren
ersten dreijährigen Akupunkturkurs im ABZ
Mitte beginnen und auch mit dem Diplom
der AGTCM als Abschluss werben.
Die nächsten Jahre waren meine Kollegen
und Kolleginnen und ich als Schulleiter mit
dem Aufbau und Ausbau des ABZ Mitte beschäftigt, aber auch mit der Intensivierung
der Zusammenarbeit der Kooperationsschulen innerhalb der AGTCM. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war 1999 das
erste gemeinsame Akupunktur-Curriculum
für alle Schulen der AGTCM und damit
verbunden auch der erste Kooperationsvertrag der Schulen mit der AGTCM sowie
2006 die Gründung der Qualitätskommission für Aus- und Weiterbildungen (QAW).
Diese hat die Aufgabe, die zwischen AGTCM und den Kooperationsschulen erarbeiteten Qualitätsstandards für die Aus- und
Weiterbildungen kontinuierlich weiter zu
entwickeln und zu kontrollieren.
Wir alle – Dozent/inn/en und Schulleitungen der Kooperationsschulen der AGTCM,
der Vorstand der AGTCM und die vielen Engagierten der Chinesischen Medizin – haben in den letzten Jahrzehnten in Deutschland die Qualität der Aus- und Weiterbildung
sowie die Praxis der Chinesischen Medizin
mit sehr viel – auch ehrenamtlichem – Engagement auf ein hohes Niveau entwickelt.
Dies spiegelt sich in den Workshops des
TCM-Kongresses in Rothenburg wider sowie im umfangreichen Aus- und Weiterbildungsangebot der Kooperationsschulen.
Für die vielfältige Zusammenarbeit auf den
verschiedenen Ebenen danke ich allen Mitstreitern/innen der letzten Jahrzehnte und
ich möchte alle „Jungen“ ermutigen, sich zu
engagieren und einzumischen.
Das ABZ Mitte ist jetzt 20 Jahre alt und
gerade haben wir unseren 21. Akupunkturkurs begonnen. Damit ist es gerade ein
Drittel so alt wie die AGTCM, und die 60
Jahre scheinen noch weit entfernt. Aber
auch das ABZ Mitte hat schon eine kleine
Tradition, die einerseits gepflegt und andererseits immer wieder belebt werden muss.
Ein Beispiel ist für mich unser Dozent/inn/
enteam der Akupunkturausbildung. Die
Gründer/inn/en und Dozent/inn/en der
ersten Jahre unterrichten – als alte Hasen –
immer noch mit Begeisterung. Gleichzeitig
ist es uns gelungen, jüngere behutsam in
unser Team zu integrieren. Diese Verbindung von Erfahrung und Tradition, in Frage
stellen und Neues zu wagen, ist ein spannender Prozess, den wir als Team kontinuierlich fortsetzen.
Das Ziel dieses Teams ist seit 20 Jahren
und auch in Zukunft, die Vielfalt der Chinesischen Medizin zu lehren. Faktenwissen,
Theorie, energetisches Verstehen und die
Erfahrung der Dozent/inn/en sollen letztlich jeden Einzelnen unserer Schüler/inn/
nen qualifizieren, die Patient/inn/en mit
eigenen Augen zu betrachten, einen eigenen Ansatz der Behandlung zu entwickeln
und mit ihnen den richtigen Weg der Behandlung zu finden. Denn die Chinesische
Medizin lebt von der individuellen Interpretation der spezifischen Erkrankung und der
therapeutischen Beziehung zwischen Patient/inn/en und Therapeut/inn/en.
In diesem Sinne ist Chinesische Medizin
eine Heilkunst. Diese bedarf einer soliden,
qualifizierten Handwerksausbildung sowie
der Verfeinerung der eigenen intuitiven Fähigkeiten.
Die Entwicklung des ABZ Mitte in den letzten 20 Jahren ist als Kooperationsschule
eng verbunden mit der AGTCM. So war
ich bis zum Jahr 2007 Sprecher der Ausbildungszentren im Vorstand der AGTCM.
Birgit Ziegler gehört zu einer der sehr frühen Dozentinnen im Team (von 1999 bis
2007 zweite Vorsitzende der AGTCM) und
Nils von Below, einer der Mit-Gründer des
ABZ Mitte, war bis 2014 neun Jahre erster
Vorsitzender der AGTCM.
In diesen Jahren gab es viele kontroverse
Diskussionen über die richtigen Strategien,
Marketingkonzepte im Verhältnis zwischen
AGTCM und Kooperationsschulen. Was uns
aber immer verbunden hat und verbindet,
ist das gemeinsame Ziel, die Chinesische
Medizin für Patient/inn/en und Therapeut/inn/en weiter zu entwickeln und
ihre tiefgehenden Wirkungen bekannter zu
machen. Vor diesem Hintergrund beschäftigen mich diese „60 Jahre AGTCM“ noch
einmal besonders.
Der 60er-Zyklus legt nahe, darüber nachzudenken „Was schließt sich und was öffnet sich?“ – „Was geht zu Ende und was
entsteht neu?“
Das Jahr des Holz-Pferdes liefert uns mit
seiner Dynamik eine gute Anschub-Energie, diesen Fragen in den nächsten Jahren
nachzugehen.
Die Zeit „der Gründerjahre der Chinesischen Medizin“ in Deutschlang ist zu
Ende – wie das halt mit Gründerjahren so
ist. Stürzten wir uns in den 1980er Jahren
noch auf jedes neue Buch zur Chinesischen Medizin und entdeckten so immer
neue Aspekte, so werden wir heute von
teilweise immer kurzlebigeren Büchern
überschwemmt. Waren wir früher in unserer Literaturauswahl begrenzt, besteht
heute die Schwierigkeit die „wirklich Wichtige“ auszuwählen und dabei auch noch
herauszufinden, „was für einen selbst die
Richtige ist“. Gerne lese ich zum Beispiel
Artikel von den Rothenburger TCM-Kongressen aus den 1970-, 1980er Jahren.
Darin werden viele grundsätzliche energetische Aspekte beschrieben, die uns heute
in der Flut der Einzelinformationen drohen
verloren zu gehen. Unser Wissen hat sich
in den letzten Jahren auf vielfältige Weise
erweitert und dies wird auch nie beendet
sein. Das ist ja gerade das Spannende an
unserer Arbeit mit PatientInnen. Dabei
ist es immer wieder hilfreich, sich auf die
Grundlagen zu besinnen - zum Beispiel
auf Yin und Yang, die Fünf Wandlungsphasen, die Leitbahnen - um das Wesentliche
nicht zu übersehen -, den Wald: Das sind
unsere Patient/inn/en in ihrer gesamten
Lebenswirklichkeit. Die Aufgabe der AGTCM und der Schulen sehe ich auch darin,
ein Forum zu sein, um immer wieder den
eigenen Kompass in diesem Sinne auszurichten.
Als Therapeut/inn/en begegnen wir sehr
oft einer komplexen Lebenssituation unserer Patient/inn/en, die auf den verschiedenen Ebenen – der körperlichen, psychischen, geistigen und spirituellen – aus dem
Gleichgewicht geraten ist. Die Chinesische
Medizin bietet uns hier vielfältige Möglichkeiten, diese verschiedenen Ebenen –
41
auch in ihrer Interaktion – zu betrachten
und zu behandeln. Dies erfordert – neben
der rein fachlichen – eine hohe persönliche Kompetenz von uns Therapeut/inn/
en und der Fähigkeit der Reflexion. Dafür innovative Angebote – zum Beispiel
in Form von Supervision – zu entwickeln,
die uns in dieser Reflexion der Therapeut/
inn/en-Patient/inn/en-Beziehung unterstützen und weiterbringen, wäre eine interessante Aufgabe. Hierzu gehört auch
die Verbindung der Chinesischen Medizin
mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der
Hirnforschung, der Psychoneuroimmunologie, aber auch der Faszienforschung.
Für die AGTCM und die Kooperationsschulen wird es auch wichtig sein, Strategien
und Wege zu überlegen, wie wir die Chinesische Medizin noch stärker in unser
Gesundheitswesen einbringen können,
gerade auch mit ihrem wichtigen Präventionsgedanken.
eigenständige TCM-Schulen – bei aller
Konkurrenz – untereinander sowie als Kooperationsschulen mit der AGTCM abstimmen und zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit und der Austausch sind von
Vorteil für alle von uns und unsere große
Stärke. Hier gilt es aus meiner Sicht in Zukunft darum, einerseits zu bewahren und
auszubauen, was sich bewährt hat, sowie
andererseits, da wo sich neue Entwicklungen, Bedürfnisse und Erkenntnisse zeigen,
Strukturen zu verändern und neue Wege
der Zusammenarbeit zu finden.
Wie aus meinen Beispielen deutlich wird,
geht es darum, das sich Schließende als
Grundlage des sich Öffnenden zu begreifen. Dazu gehören immer wieder Rückbesinnungen auf Bewährtes, aber auch der
Mut zum Abschneiden „alter Zöpfe“, das
Beschreiten neuer Wege und das Erarbeiten neuer Visionen.
Ich wünsche dem Vorstand der AGTCM
und uns allen auch für die Zukunft ide-
enreiche, spannende, respektvolle und
mutige Diskussionen mit dem Ziel, die
vielfältigen Wurzeln der Chinesischen
Medizin noch besser zu verstehen, diese
– wo möglich und sinnvoll –, mit unserem
westlichen Verständnis von Gesundheit
und Krankheit zu verbinden. Ich wünsche
uns, dass wir die Chinesische Medizin als
Heilkunst den Patient/inn/en und Therapeut/inn/en immer näher zu bringen und
hoffe ebenso, dass wir die Mitglieder der
AGTCM als qualifizierte Therapeut/inn/en
der Chinesischen Medizin noch stärker in
das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken
können.
Wie sieht es mit neuen Formen der Weiterbildungsangebote aus? Webinare, OnlineVorlesungen, E-Learning, TCM lernen über
Facebook, Twitter und Google? Eigentlich
müssten wir uns kaum noch treffen, oder?
Wir können neue Formen der Vermittlung
ausprobieren und an einigen Stellen sinnvoll in unsere bestehenden Lernformen
integrieren. Wir sollten aber nicht jedem
neuen Hype hinterherlaufen - bei den „Jungen“ soll Facebook ja schon wieder „out“
sein. Dieser Form der Schnelllebigkeit etwas Persönliches, Bedächtiges und Ruhiges entgegenzusetzen, kann auch wohltuend sein und ist der Chinesischen Medizin
angemessen. Der Rothenburger TCM-Kongress ist ein wunderbares Beispiel vielfältiger persönlicher Begegnungen in einer
ruhigen, naturnahen Umgebung – und wird
es auch hoffentlich noch lange bleiben.
Das Verhältnis zwischen AGTCM und
Kooperationsschulen, ihre jeweiligen
Strukturen und Interessen sowie ihre gemeinsamen aber auch unterschiedlichen
Aufgaben sollten auf dem Hintergrund der
Erfahrungen der letzten Jahrzehnte diskutiert werden. Es ist sicherlich einmalig
in Europa, dass sich sechs wirtschaftlich
Das Team ABZ Mitte
42
EIOM München ist seit 2001 Kooperationspartner der AGTCM
Die Aus- und Fortbildungen werden kontinuierlich weiterentwickelt
Von Wolfgang Waldmann, Geschäftsführer der EIOM gGmbH
Das European Institute of Oriental Medicine (EIOM) in München wurde 2001 gegründet. Damals leitete ich bereits seit
mehreren Jahren den Arbeitskreis Süd der
AGTCM. In dieser Zeit wurde das Fortbildungsprogramm, für das der Arbeitskreis
zuständig war, kontinuierlich erweitert.
Es fanden erstmals mehrjährige Fortbildungszyklen zu wichtigen chinesischen
Medizinklassikern wie dem Shanghan lun
statt. Diese vom AK Süd innerhalb der
AGTCM geleistete Pionierarbeit wurde von
angesehenen Lehrern wie Dan Bensky,
Volker Scheid, Ma Shouchun unter anderem unterstützt. Der Professionalisierung
im Fortbildungsbereich sollte aus Sicht
des seinerzeit aktiven AGTCM-Vorstandes
auch eine Verbesserung des Ausbildungsniveaus folgen. Die Zusammenarbeit zwischen dem damaligen Ausbildungszentrum Süd und der AGTCM wurde beendet,
als Folge sollte eine neue Kooperationsschule für den süddeutschen Raum gegründet werden.
In dieser Situation wurde dann 2001 EIOM
als neue Schule ins Leben gerufen. Initiatoren waren dabei Cinzia Scorzon, Volker Scheid und Wolfgang Waldmann. Die
Namensgebung ‚European Institute of
Oriental Medicine unterstrich das erste
ehrgeizige Vorhaben: Als erste Schule im
deutschsprachigen Raum einen ‚Bachelor für Akupunktur‘ und ‚Master für Chi-
Das neue EIOM gGMBH in München
nesische Medizin‘ vergeben zu können.
Parallel zur Gründung durchlief die neue
Schule deshalb einen aufwendigen Akkreditierungsprozess der University of Wales.
Der Lehrplan wurde von vornherein so
konzipiert, dass er sowohl den Vorgaben
der AGTCM, als auch den Vorgaben der
University of Wales entsprach. Dieser Prozess wurde zwar erfolgreich abgeschlossen, leider legten dann aber die bayerischen Behörden zu viele Hindernisse in
den Weg für dieses, die Schule von Anfang
an prägende Projekt.
Der neuen Situation Rechnung tragend
war fortan die Devise: Soviel wie möglich des entwickelten Ausbildungsniveaus
auch ohne universitäre Vorgaben umsetzen, sich der gestalterischen Freiheiten
bewusst zu sein und diese nutzend, im
Sinne einer praxisorientierten und soliden
Ausbildung.
2003 hat EIOM die ersten eigenen Räume in der Augustenstraße bezogen, 2008
erfolgte dann der Umzug in die Leonrodstraße. Zwischenzeitlich haben wir die
13. dreijährige Akupunkturausbildung und
neunte zweijährige Ausbildung in chinesischer Arzneimitteltherapie begonnen. Es
hat sich mit annähernd 300 Absolventen
eine ordentliche Anzahl an qualifizierten
Akupunkteuren und Therapeuten der Kräutermedizin gebildet. Nicht wenige davon
unterrichten zwischenzeitlich in diversen
Gesellschaften und Schulen. Mit jedem
Jahrgang ist das Dozententeam, das zum
allergrößten Teil seit der Gründung kontinuierlich mitwirkt, gereift, zusammengewachsen und bildet somit einen recht
erfahrenen Lehrkörper.
EIOM misst in seiner Ausbildung der inhaltlichen Vielfältigkeit der chinesischen
Medizin eine große Bedeutung zu. So ist
beispielweise neben der traditionellen chinesischen Akupunktur auch die japanische
Akupunktur (Meridiantherapie) von Anfang
an fester Bestandteil des Unterrichts.
EIOM hat sich in den letzten Jahren aktiv
an der Ausarbeitung des BSc-Studiengangs mit der Dresden International University beteiligt. Dieses, aus unserer Sicht
sehr innovative Ausbildungsangebot, hat
ja bekanntermaßen nicht die erwartete
Nachfrage erfahren. Dennoch war auch
diese Arbeit sinnvoll, so musste beispielsweise unser gesamtes Curriculum einmal
mehr einer gewissenhaften universitären
Prüfung standhalten.
Unsere zukünftigen Planungen werden
demnach auf die kontinuierliche Weiterentwicklung unserer Aus- und Fortbildungen ausgerichtet sein, um auch in Zukunft
im Verbund mit der AGTCM und deren Kooperationsschulen ein verlässlicher Partner für alle diejenigen zu sein, die an der
chinesischen Medizin Interesse haben und
sich eine sichere Basis für eine erfolgreiche Praxistätigkeit erwerben möchten.
Unterricht mit Cincia Scorzon im EIOM
43
Bis zum Bezug der Schulungsräume
war viel Improvisation gefragt
Die Geschichte der Drei-Länder-Schule e.V. in Steinen
Von Grita Petersen-Jung, ehem. Schulleiterin der Drei-Länder-Schule
Nach dem Ausscheiden des ABZ Süd aus
der AGTCM wurde ich im Jahre 2000 gefragt, ob wir nicht ein neues ABZ im Süden
eröffnen wollten. Daraufhin gründeten wir
im November 2001 den Verein „Drei-Länder-Schule e.V.“. In den Vorstand wurden
Grita Petersen-Jung, Martina Neuper und
Markus Granzow gewählt.
Im darauffolgenden Januar starteten wir
auch schon mit dem ersten Lehrgang. Es
wurden für jedes Unterrichtswochenende
Räume angemietet, um die Kosten möglichst gering zu halten: zum Beispiel im
„Haus der Sicherheit“, wo direkt nebenan
Feuerwehr, Polizei und Rotes Kreuz ihre
Räumlichkeiten haben. Dort, wo sonst der
Gemeinderat über der Finanzlage brütet,
wurde von Januar 2002 an unterrichtet:
Wir zogen also mit Flipchart, Overhaed,
sämtlichem Unterrichtsmaterial und Behandlungsliegen aus meiner Praxis, wo
alles unter der Woche gelagert wurde, in
die entsprechenden Räumlichkeiten. Große Aufregung herrschte während der ersten Hebammenausbildung, die im „Haus
der Sicherheit“ stattfand. Damals musste
eine Hebamme von der Feuerwehr befreit
werden, da ich sie nach Unterrichtsende
versehentlich im Gebäude eingeschlossen
hatte.
Im Seniorenzentrum wurde die „Wandlungsphase Feuer“ gelehrt. Die Dozentin
brachte Kräuterbüschel mit, die sie anzündete, um so die Assoziation mit dem
Feuer zu erspüren. Es gab eine riesige Aufregung, denn überall waren Rauchmelder
an der Decke. Zum Glück ließ die Dozentin sich überreden, das Feuer zu löschen,
bevor die Feuerwehr anrückte. Lange Zeit
fand der Unterricht auch in den Praxisräumen Petersen statt.
Endlich fanden wir 2006 in einem alten
Fabrikgebäude sehr schöne Schulungsräume. Bei der Eröffnungsfeier kamen
Interessenten aus der Umgebung, um die
Chinesische Medizin und das schuleigene
Ambulatorium kennenzulernen.
Zum Teil waren es drei Jahreskurse, die parallel liefen, und Fortbildungen die gleichzeitig stattfanden. Während der Fortbildungen wurde ein gemeinsames Essen
für alle Teilnehmer/innen angeboten, was
das Kennenlernen der Schüler/innen mit
den Kolleg/inn/en, die schon in der Praxis standen förderte. Ein reger Austausch
wurde dadurch gefördert. Besonders
lustig ging es vorab in den Räumen der
Vermieterin zu, wenn unser „KrauthobelCatering“ (unsere Vermieterin und unsere
Sekretärin) das Essen zubereiteten.
In den letzten Jahren kam noch das Angebot der „Wiesental-Lounge“ dazu, wodurch die Schüler/innen im Schulgebäude
übernachten konnten. Besonders im Winter wurde das Angebot reichlich angenommen.
Aus Altersgründen wollte ich 2013 aufhören. Leider haben wir, trotz langer und intensiver Suche zu diesem Zeitpunkt keine
passende Nachfolge gefunden. Die Schule war deshalb im „Ruhezustand“. Neue
Mitglieder im Verein und kompetente und
engagierte Kollegen/innen lassen ab September 2014 die Drei-Länder-Schule e.V.
aus ihrem Ruhezustand wieder erwachen.
Innerhalb der letzten 14 Jahre ist aus einem „Drei-Mann-Betrieb“ eine über die
Grenzen der Region bekannte, anerkannte
und beliebte Schule geworden.
„Es gab eine riesige
Aufregung, denn
überall waren Rauchmelder an der Decke.“
Grita Petersen-Jung
44
CCM Nord: Die Geschichte einer „freundlichen Übernahme“
Die Kooperationsschule in Hamburg ist die jüngste der AGTCM
Von Christina Koch, Sönke Dorau und Marita Erhardt-Albrecht, Schulleiter des CCM Nord
Da gab es einmal eine TCM-Therapeutin,
die im schönen Hamburg in ihrer Praxis
fröhlich vor sich hin arbeitete. Nebenbei
unterrichtete sie noch angehende Heilpraktiker und war bei ihrer Regierung, der
AGTCM, aktiv. Eines Tages im Frühjahr des
letzten Jahres bekam sie einen Anruf von
einem sehr geschätzten Kollegen, der sich
mit ihr auf ein Bier verabreden wollte.
„Nanu“, fragte sich die Therapeutin, „was
ist wohl das Begehren dieses Herrn?“
Voller Neugier traf sie sich mit ihm und –
siehe da – er hatte ihr etwas mitgebracht,
an das die Therapeutin nie gedacht hätte:
Ein Geschenk, das anzunehmen sicher intensiv bedacht werden wollte.
Es dauerte nicht lange, da wusste die
Therapeutin: Das Geschenk ist so groß
und umfangreich, mit Ecken und Kanten,
das sollte und musste mit anderen geteilt
werden. So ging sie auf die Suche. Und es
dauerte nicht lange und sie hatte zwei weitere TCM-Therapeuten gefunden, die das
Geschenk ebenfalls ganz spannend fanden. So kam es, dass die drei im Sommer
des letzten Jahres dieses Geschenk ganz
und gar angenommen haben.
Seither sind sie am Auspacken und so
manche kleine und große, nette und auch
manchmal anstrengende Überraschungen
sind dabei aufgetaucht. So sind alle drei
Therapeuten bis heute sehr glücklich mit
diesem umfangreichen Geschenk. Und
wenn sie nicht gestorben sind… na, ihr
wisst ja alle, wie Märchen so enden.
Soweit einige Gedanken zum Thema
„Märchen können ab und an doch wahr
werden…“. Das CCM-Nord, die „jüngste“
Schule unter den Kooperationsschulen der
AGTCM, wurde 2006 von Catherine und
Rolf gemeinsam mit Michael gegründet.
Wieviel Herzblut, lange Nächte, Kopfzerbrechen, Bangen und Hoffen, Einkaufen,
Organisieren, durchgearbeitete Wochen-
Das Leitungsteam Sönke Dorau, Marita Albrecht und Christina Koch
enden, aber auch Freude, Anerkennung,
vielfältige Kontakte und Visionen damit
verbunden sind, lässt sich vermutlich nur
erahnen. Aber nur aufgrund dieses enormen Engagements steht das CCM-Nord
heute auf einem guten Fundament und verkörpert inzwischen in ganz Norddeutschland den höchsten Ausbildungsstandard
in TCM. Das zeigen auch die Schüler, die
aus Oldenburg, Bremen, Kiel, Flensburg,
Rostock, Schwerin, Hannover, Lüneburg,
Göttingen und selbstverständlich aus
Hamburg und ganz Schleswig-Holstein,
Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern anreisen, um Ausbildung oder Fortbildung am CCM-Nord zu machen.
Catherine, Rolf und Michael haben nun
seit dem Sommer 2013 die Schulleitung
in unsere Hände gegeben. Diese Aufgabe
weiter zu führen, ist ein hoher Anspruch,
an dem wir ständig arbeiten.
Aber: Neben all den vielfältigen Aufgaben
ist uns das CCM-Nord als „Baby“ sehr ans
Herz gewachsen. Wir sind davon überzeugt, dass ein Projekt wie das CCM-Nord
nicht nur fachlich und organisatorisch gut
geführt werden muss. Was mindestens genau so wichtig ist, ist der „Shen“, der „Spirit“, der in der Schule herrscht. Und wie
wir alle wissen, ist das eine Herzenssache.
In diesem Sinne werden wir uns weiter unserem „Baby“ intensiv widmen und freuen
uns sehr, wenn der eine oder andere mal
vorbeikommt, um an unserem Spirit zu
schnuppern.
„Märchen können
ab und an doch
wahr werden …“
45
Der aktuelle Vorstand 2014
v. li. Wiegbert Lummer, Christian Yehoash, Franziska Kohlmüller, Michael van Gorkom (Sekretariat),
Nils von Below, Babett Ohlen, Ina Horn, Dr. Andrea Hellwig
Etwas zu wissen ist nicht so viel wert,
wie etwas zu lieben.
Etwas zu lieben ist nicht so viel wert,
wie seine größte Freude daran zu haben.
Konfuzius
60 Jahre AGTCM im Überblick
Hans Giesen und August Brodde
gründen TCM Schule in Bochum,
damals zwei Jahre Ausbildung
Erste größere Tagung in Rothenburg zwecks Austausch
Gründung der Arbeitsgemeinschaft für klassische Akupunktur
In der DH (Vorläufer der AGTCM) durch A. Brodde
1954
1955
1956
1957
1958
1959
1960
1961
1962
1963
Doris Baginski, Dr. Karl, O. Heinamann Einsatz
für Rothenburger Jahrestagung
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
Eintrag der AGTCM e.V. ins Vereinsregister
1976
1977
1978
1979
1980
1. Vorsitzende(r):
Danksagung
Der Weg in die nächsten 60 Jahre AGTCM liegt vor uns
Von Franziska Kohlmüller, 2. Vorsitzende der AGTCM
Mein Dank gilt allen Mitwirkenden, die durch ihre Beiträge und Unterstützung – neben
ihren beruflichen Verpflichtungen – diese Festschrift möglich gemacht haben!
Darüber hinaus möchte ich all denen meinen Dank aussprechen, die durch ihre nachhaltige Begeisterung für die chinesische Medizin die Erfolgsgeschichte der AGTCM auf den
Weg gebracht haben. Das Feuer der AGTCM brennt durch die besondere Identifikation und
Zusammengehörigkeit ihrer Mitglieder.
Durch Globalisierung und Technisierung befinden wir uns in einer Zeit des extremen Wandels: Transformationsprozesse müssen aktiv gestaltet werden, Chancen daraus gilt es zu
nutzen. Nur Lernende können sich stetig weiterentwickeln.
Mit einer Mischung aus Optimismus und kritischer Selbstreflexion gilt es, die Ziele der
AGTCM und ihren Spirit nach außen zu kommunizieren, um die Einzigartigkeit des Vereins
und ihrer Mitglieder weiter in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen.
1981
1982
1983
1984
47
Kontakt mit dem damaligen
Chengdu College of TCM
(heute Chengdu University of TCM)
Erste Studienreise nach China
1985
1986
August Brodde
1987
1988
1989
1990
’99 – 05 Anerkennung der TCM-Ausbildung an
Koop Schulen durch Chengdu Universität, ETCMA
Gründung: elf Länder und 7000 Praktizierende
Erweiterung des Vorstandes
auf acht, Abschaffung Beirat
1991
1992
1993
Konsolidierung der ABZ
1994
Helen Blom
1995
1996
1997
1998
1999
Herbert Vater
Einführung CS
2000
2001
2002
2003
ABZ Nord scheidet aus der
Koop aus, Gründung CCM-Nord
2004
2005
2006
2007
2008
2009
Andreas Noll
2010
2011
IMPRESSUM
Herausgeber
Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur
und Traditionelle Chinesische Medizin e. V.
Geschäftsstelle
Rüschenkamp 12 · 59558 Lippstadt
Verantwortliche
Nils von Below
Franziska Kohlmüller
Michael van Gorkom
Redaktion
Franziska Kohlmüller, Katja Kuhlmann
Gestaltung
Johanna Trapp · Gottschalkstraße 1a · 13359 Berlin · www.johannatrapp.de
Druck
WIRmachenDRUCK GmbH
Mühlbachstraße 7 · 71522 Backnang · www.wir-machen-druck.de
2012
Nils v. Below
2013
2014
Wer festhält das große Urbild,
zu dem kommt die Welt.
Sie kommt und wird nicht verletzt,
In Ruhe, Gleichen und Seligkeit,
Der SINN geht aus dem Munde hervor,
milde und ohne Geschmack.
Du blickst nach ihm und siehst nichts Sonderliches.
Du horchst nach ihm und hörst nichts Sonderliches.
Du handelst nach ihm und findest kein Ende.
TAO TE KING, 35. Spruch

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