Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik

Transcription

Braunschweigisches Land in der Weimarer Republik
Braunschweigisches Land
in der Weimarer Republik
1918 – 1933
Otto Antrick
August Merges
Sepp Oerter
Gerhard Marquordt
Werner Küchenthal
Dr. Heinrich Jasper
Braunschweigisches Land
in der Weimarer Republik
1918 – 1933
Impressum
Projektleitung:
Harald Schraepler
AG der Heimatpfleger der
Braunschweigischen Landschaft
Redaktion und Layout der Ausstellungstafeln:
Rudolf Zehfuß
Layout, Konzeption und Gesamtherstellung:
Beyrich DigitalService, Braunschweig
Gefördert durch:
Braunschweigisches Land
in der Weimarer Republik 1918 – 1933
Herausgegeben von der
Braunschweigischen Landschaft e. V.
Wir danken:
Volksbank Börßum-Hornburg eG
Volksbank eG Braunschweig Wolfsburg
Volksbank Hankensbüttel-Wahrenholz eG
Volksbank Helmstedt eG
Volksbank Peine eG
Volksbank Vechelde-Wendeburg eG
Volksbank Wittingen-Klötze eG
Volksbank Wolfenbüttel-Salzgitter eG
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Harald Schraepler................................................................................................... 4
Grußwort Hermann Isensee................................................................................................ 5
Vorsitzende des Staatsministeriums im Freistaat Braunschweig 1919 – 1933........................ 6
Dr. Heinrich Jasper............................................................................................................... 8
General Maerckers Landjäger in Helmstedt........................................................................ 10
Wahlen und Wählerverhalten im Amtsbezirk Vorsfelde...................................................... 12
Wahlen – Wahlplakate....................................................................................................... 14
Die Anfänge der NSDAP im Gebiet der heutigen Stadt Salzgitter........................................ 16
Das Wilhelmstift in Bevern................................................................................................. 18
Inflation und Notgeld der Ilseder Hütte.............................................................................. 20
1926: Das Ende der Salzerzeugung in Salzgitter................................................................. 22
Die Seesener Blechwarenindustrie...................................................................................... 24
Kritisch beäugt: Der Aufstieg des Automobils..................................................................... 26
Der Gutsbetrieb des Grafen von der Schulenburg in Wolfsburg.......................................... 28
Der Seilbahnberg in Lengede............................................................................................. 30
Die Braunschweiger Landeskirche...................................................................................... 32
Weltliche Schulen in Braunschweig.................................................................................... 34
Mädchenpensionate in Blankenburg.................................................................................. 36
Die Ingenieurschule in Wolfenbüttel................................................................................... 38
Wolfenbüttel – Stadt der Schulen....................................................................................... 40
Fachschule für Tischler in Blankenburg............................................................................... 42
Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen............................................................................ 44
Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Bebelhof............................................... 46
Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Siegfriedviertel...................................... 48
Der Peiner Architekt Anton van Norden............................................................................. 50
Das Wasserwerk in Lobmachtersen.................................................................................... 52
Café Winuwuk, Bad Harzburg........................................................................................... 54
Der Mittellandkanal – Bauzeit 1906 – 1938........................................................................ 56
Gefallenenehrung in Barum............................................................................................... 58
Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten in Wolfenbüttel........................................................... 60
Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung e.V...................................................... 62
Die Mode in den Goldenen 1920er Jahren im Freistaat Braunschweig................................ 64
Vergnügungslokale in Braunschweig.................................................................................. 66
Tonfilm in Helmstedt.......................................................................................................... 68
Braunschweiger Originale.................................................................................................. 70
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Vorwort
Harald Schraepler
In der über 800-jährigen Geschichte des
Braunschweigischen Landes ist die Zeit von
1918 bis Anfang 1933 nur ein sehr kurzer
Zeitabschnitt, jedoch brachte er den nicht
einfachen Übergang von der Monarchie in
die Demokratie und am Ende den zur Diktatur des Nationalsozialismus. Insofern war
er für die Geschichte in unserem Raum von
Bedeutung.
Die Braunschweigische Landschaft hat sich
seit ihrer Gründung im Jahr 1990 das Ziel
gesetzt, sich mit der Geschichte des alten
Landes Braunschweig zu beschäftigen und
zugleich die kulturelle Entwicklung in der
Region zu begleiten und zu fördern.
Zu ihr gehören die kreisfreien Städte Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie die
Landkreise Helmstedt, Peine und Wolfenbüttel und 195 Vereine, Verbände und Gemeinden, die im Beirat zusammengefasst sind.
Sie bringen ihre Aktivitäten in 10 Arbeitsgruppen ein, die Foren zum Wissens- und
Erfahrungsaustausch, zur Gestaltung unterschiedlicher Projekte und deren verantwortlicher Durchführung sind.
Eine davon ist die AG Heimatpfleger. Sie
besteht aus den Stadt- und Kreisheimatpflegern der drei kreisfreien Städte und der drei
Landkreise und arbeitet erfolgreich mit den
ca. 350 Ortsheimatpflegern aus dem Gebiet
der Braunschweigischen Landschaft zusammen. Sie hat sich als kulturstiftende Gruppe
Themen aus der Geschichte angenommen
und sie in Ausstellungen präsentiert wie:
„Spurensuche“ und „Braunschweigisches
Land in der Kaiserzeit 1871 – 1918“.
Nunmehr hat sie die Ausstellung „Braunschweigisches Land in der Zeit Weimarer
Republik 1918 bis Anfang 1933“ erarbeitet,
um diese Zeit den Bürgerinnen und Bürgern
näherzubringen. Sie soll in allen Gebieten
des alten Landes Braunschweig vorgestellt
werden.
Auf 33 Tafeln werden vielfältige und unterschiedliche Themen aus den Bereichen
Politik, Wirtschaft, Architektur, Infrastruktur
und Gesellschaft behandelt. Sie beziehen
sich auf alle Gebiete des Freistaates Braunschweig von 1918 bis 1933.
Die Braunschweigische Landschaft dankt
allen, die Beiträge für die 33 Tafeln erstellt
haben. Es sind: Rolf Ahlers, Elmar Arnold,
Dr. Claudia Böhler, Werner Cleve, Dr. Sandra
Donner, Reinhard Försterling, Christiane
Geides, Markus Gröchtemeier, Manfred Gruner, Birgit Hoffmann, Klaus Hoffmann, Dr.
Ralf Holländer, Karl-Heinz Löffelsend, Jürgen Kackstein, Elke Keese, Friedrich Orend,
Rolf Owcarzki, Dr. Andreas Reuschel, Dr.
Mathias Seeliger, Rolf Siebert, Peter Steck-
han, Werner Strauß, Peter Stübig, Hartmut Wegner, Reinhard Wetterau, Dr. Ursula
Wolff und Rudolf Zehfuß, dem ich auch
recht herzlich für die Redaktion und das Layout danke. Hilfreich zur Seite stand bei der
Konzeption und der Umsetzung die Firma
Beyrich DigitalService. Dafür ein herzliches
Dankeschön. Ein besonderer Dank gebührt
den Volksbanken in der Region Braunschweig/Wolfsburg, namentlich Herrn Bankdirektor Hermann Isensee, und der Stiftung
Braunschweigischer Kulturbesitz, namentlich
Herrn Direktor Tobias Henkel, für die finanzielle Unterstützung der Ausstellung und
des Kataloges. Ohne diese Unterstützung,
die auf einer mehrjährigen vertrauensvollen
Zusammenarbeit beruht, hätte dieses Projekt
nicht verwirklicht werden können.
Möge die Ausstellung und der Katalog dazu
beitragen, dass das Wir-Gefühl und die regionale Identität gestärkt werden. Dies ist
gerade im Zeitalter der Globalisierung sehr
wichtig, damit die Menschen in der Braunschweigischen Region nicht die Beziehungen
zu ihren Wurzeln verlieren.
Harald Schraepler
Sprecher der Arbeitsgruppe Heimatpfleger
und Beiratsvorsitzender der Braunschweigischen Landschaft e.V.
Grußwort
Hermann Isensee
In Gesprächen und Diskussionen über aktuelle Probleme und Schwierigkeiten wird
häufig angeführt, dass es in früheren Zeiten
einfach besser gewesen ist. Wenn aber die
Geschichtsbücher einmal aufgeschlagen
werden, dann bleibt oftmals nicht viel von
der „guten alten Zeit“ übrig. So auch von
der Weimarer Republik in den Jahren von
1918 bis 1933. Die Menschen haben in
diesen schwierigen Zeiten nach dem ersten
Weltkrieg viel erlebt und ertragen müssen.
Von der ausufernden Inflation im Jahre
1923, der anschließenden Währungsumstellung, von Bankschließungen, Geldflucht
und schließlich der Weltwirtschaftskrise
ergeben sich viele Anknüpfungspunkte zu
den heutigen aktuellen Problemen. Insofern
begrüßen wir die Initiative der Heimatpfleger in der Braunschweigischen Landschaft,
die Weimarer Republik von 1918 bis 1933
in einer besonderen Ausstellung der breiten
Öffentlichkeit vorzustellen.
Die Volksbanken in der Region Braunschweig/Wolfsburg sind ein aktives Mitglied
dieser Region und fühlen sich allein schon
aufgrund Ihrer genossenschaftlichen Unternehmensform ganz besonders mit den hier
lebenden Menschen verbunden. Seit rund
150 Jahren verbinden Volksbanken und
Raiffeisenbanken wirtschaftlichen Erfolg mit
gesellschaftlich verantwortlichem Handeln.
Genossenschaften wurden gegründet, um
durch freiwillige Zusammenschlüsse mehr zu
erreichen und damit die Unabhängigkeit des
Einzelnen zu stärken. Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung sind nicht
nur die Grundprinzipien der genossenschaftlichen Unternehmensform, sondern nach
unserem Verständnis zugleich Grundlagen
der Bürgergesellschaft. Auch Unternehmen
sind ein Teil dieser Bürgergesellschaft und
tragen damit Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das
Gebiet der Braunschweigischen Landschaft
ist überwiegend deckungsgleich mit dem
Geschäftsgebiet der in unserer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen acht
Volksbanken. Insofern war es für uns eine
Verpflichtung, wenn nicht sogar eine Selbstverständlichkeit, dieses interessante Projekt
auch gemeinschaftlich zu fördern.
Die Volksbanken in der Region Braunschweig/Wolfsburg haben das Projekt
„Braunschweigisches Land in der Weimarer
Republik“ gern gefördert und wünschen
den Initiatoren der Ausstellung viel Erfolg
und den Lesern dieser kompakten Broschüre
viele interessante Einblicke in diese Zeit.
Hermann Isensee
Sprecher der Bankenarbeitsgemeinschaft
Volksbanken in der Region Braunschweig/
Wolfsburg
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August Merges
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Sepp Oerter
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Dr. Heinrich Jasper
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Otto Antrick
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Vorsitzende des Staatsministeriums
im Freistaat Braunschweig 1919 – 1933
Gerhard Marquordt
Foto: Dr. Henning Prellberg
Werner Küchenthal
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
In der Verfassung des Freistaates Braunschweig vom 6. Januar 1922 wurden die
Regierungsgeschäfte wie folgt geregelt:
Unter „Abschnitt V. Das Staatsministerium” lesen wir: „Das Staatsministerium führt
die Gesetze und Beschlüsse des Landtages
aus... Artikel 33. Die Mitglieder des Staatsministeriums werden vom Landtag gewählt
... Artikel 34. Das Staatsministerium regelt
die Zuständigkeit der einzelnen Minister und
gibt sich eine Geschäftsordnung.“
Aus der Verfassung geht nicht hervor, ob
der „leitende“ Minister Ministerpräsident
oder Präsident genannt wird. August
Merges trägt den Titel „Präsident des Rates
der Volksbeauftragten“. Den Vorsitzenden
oder Leiter des Staatsministeriums kann man
also eher als primus inter pares ansehen.
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Kohlezeichnung
von H. Waltmann
Foto: Braunschweigisches
Landesmuseum 98/2
Dr. Heinrich Jasper
Dr. Heinrich Jasper war der bedeutendste
Politiker der Weimarer Zeit im Freistaat
Braunschweig. Er stammte aus (fast) großbürgerlichem Hause (geb. 1875), machte
1894 am Wilhelmgymnasium in Braunschweig Abitur, studierte Jura und absolvierte seine Referendarzeit bis 1901. Im gleichen Jahr wurde er zum Dr. jur. promoviert.
1902 trat er nach einem langen Prozess
der Hinwendung in die SPD ein, nachdem
er schon als Jugendlicher mit sozialdemokratischem Gedankengut in Berührung gekommen war und dieses dann im Studium
vertiefte.
Er erlangte schnell hohe politische Ämter:
Stadtverordneter (1903 – 28), Landtagsabgeordneter (1909, 1918 – 33), Faktionsvorsitzender der SPD im Landtag, Landtagspräsident (1919), Minister und Ministerpräsident
(1919/20, 1922 – 24 und 1927 – 30). Geprägt durch Ideale und Humanität setzte
er sich mit großem Engagement vor dem
1. Weltkrieg gegen das Dreiklassenwahlrecht und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter ein. Nach dem
Krieg galten seine Ziele darüber hinaus der
Trennung von Staat und Kirche und dem
Widerstand gegen die revolutionären Aktivitäten der extremen Linken. Immer wieder
setzte er sich für die parlamentarische Demokratie ein und war offen für Koalitionen
mit den gemäßigten bürgerlichen Parteien.
1931 trat Dietrich Klagges (NSDAP) seine
Schreckensherrschaft an. Für Heinrich Jasper
war es eine unvorstellbare Leidenszeit mit
mehrfacher Folter, Gefängnis- und KZ-Inhaftierungen. Den Strapazen war er nicht gewachsen. Er starb am 19. Februar 1945 im
KZ Bergen-Belsen.
Jasper-Denkmal
Foto: Sigrid Zehfuß
Portrait Heinrich Jasper
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Errichtet: 23. Dezember 1951
Anlass: Ehrung Heinrich Jaspers
Entwurf: Jakob Hofmann
Ausführung: Jakob Hofmann
Material: Stein (Elmkalk)
Aufstellungsort: zunächst auf der Ostseite des
Gebäudes der Bezirksregierung (Bohlweg),
seit 1998 auf der Westseite (Ruhfäutchenplatz).
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Im September 1918 erkennt die Oberste
Heeresleitung des Deutschen Kaiserreiches
die Aussichtslosigkeit einer weiteren Kriegsführung. Im Oktober bietet die Reichsregierung unter Kanzler Prinz Max von Baden
den Waffenstillstand auf der Basis des vom
US-Präsidenten Wilson vorgeschlagenen
14-Punkte-Programms an. Die Verhandlungen ziehen sich hin. Da kommt es in Kiel
am 3. November zum Aufstand der Matrosen auf den Einheiten der Kriegsmarine, er
wird Auslöser von Aufständen in anderen
deutschen Städten, am 9. November in
Berlin. Der Kaiser dankt ab, die Regierungsgeschäfte werden auf den Vorsitzenden
der SPD, Friedrich Ebert, übertragen.
Landjäger vor Helmstedt
Foto: Stadtarchiv Helmstedt
Überall im Reich bilden sich Arbeiter- und
Soldaten-Räte. Sie fordern die Einrichtung
einer Räte-Republik nach sowjetischem Vorbild. Der neu gebildeten Reichsregierung
stehen keine Machtmittel zur Verfügung,
die Einheiten des Heeres hatten sich aufgelöst. So bietet es sich an, die sog. Freikorps,
zu denen sich entlassene Soldaten zusammenschlossen, zur Aufrechterhaltung der
Ordnung in der jungen Republik einzusetzen.
General Maerckers Landjäger in Helmstedt
In Braunschweig wurde am 9. April 1919 ein
Generalstreik ausgerufen. Auf dem Schlossplatz verlas August Merges die Forderungen
der Streikleitung: Alle Macht den Räten;
Beseitigung der „Mörderregierung“ EbertNoske; Auflösung der Parlamente; Bewaffnung der Arbeiterschaft; Anschluss an die
russische Räterepublik.
Eine Volkswehr besetzte die wichtigsten
Bahnhöfe im ehemaligen Herzogtum. In
Braunschweig drohte ein Bürgerkrieg. Die
Reichsregierung verhängte über das Land
Braunschweig den Belagerungszustand und
General Maercker wurde von Magdeburg
aus mit zehntausend Mann seines Landjägerkorps in Marsch gesetzt.
Truppen der Braunschweiger Volkswehr
und einer Volksmarine-Division hatten in
Helmstedt neben dem Bahnhof die Post und
das Rathaus besetzt. Bürgermeister SchöneLandjäger auf dem Holzberg
Foto: Stadtarchiv Helmstedt
mann wurde abgesetzt, vom Rathaus wehte
die Rote Fahne. Die Masse der Landjäger
wurde am Morgen des 14. April in Güterzügen von Magdeburg aus bis Marienborn
transportiert.
Im Schutze eines Panzerautos erstürmten
Landjäger den Holzberg, dort befand sich im
Hotel „Stadt Hamburg“ das Hauptquartier
der Roten. Über den inzwischen eroberten
Bahnhof rückte Verstärkung an.
Auf den Straßen rückten gepanzerte Fahrzeuge Richtung Helmstedt an, die Stadt
wurde umfahren und die Straßen nach
Braunschweig gesperrt. Die Fußtruppen
drangen durch den Lappwald fächerförmig
in die Stadt ein.
Auch Rathaus und Marktplatz wurden
besetzt. Das war das Ende des Kampfes in
Helmstedt. Im Hotel Pätzold richtete Major
Meyn, der Kommandeur der Kampfeinheit,
sein Hauptquartier ein. Hier übergab der
Major den aus Braunschweig angereisten
Volksbeauftragten das Ultimatum: Die Volkswehr entwaffnen; die Waffen abgeben, die
Stadt Braunschweig kampflos an General
Maercker übergeben. So geschah es! Nach
der Bildung einer neuen Regierung unter Dr.
Heinrich Jasper rückten die Maerckerschen
Truppen dann aus Braunschweig ab.
Von der Stadtmauer her und auf dem
Postberg wurden die Truppen beschossen.
Hauptmann Koch fiel beim Angriff auf eine
Gruppe mit Maschinengewehr, ein Bürger
wurde tödlich verwundet. Eine Schwester
von St. Marienberg wurde Opfer ihrer Neugier. Auf dem Turm der Kirche wurde sie
durch Geschosse der Maerckerschen
Truppen getötet.
Landjägernachschub vom Bahnhof Helmstedt
Foto: Stadtarchiv Helmstedt
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Karte der Amtsbezirke um 1900.
Das Amt Calvörde liegt außerhalb
des dargestellten Bereichs.
Entnommen: Pohlendt, Heinz u.a.,
Der Landkreis Helmstedt.
Bremen-Horn 1957
Wahlen und Wählerverhalten im Amtsbezirk Vorsfelde
Der Amtsbezirk Vorsfelde war sehr stark
von der Landwirtschaft geprägt, mit vielen
kleinen Dörfern dünn besiedelt und verfügte
über eine protestantisch dominierte Bevölkerung. Das ländlich-konservative Milieu spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen der
Weimarer Republik wieder. In der Landtagswahl am 22.12.1918 verfügten die bürgerlich-konservativen Parteien im Amtsbezirk
Vorsfelde (LWV, DDP) mit mehr als 70 % der
Stimmen über eine klare Mehrheit gegenüber den Sozialisten (USPD, MSPD).
Bei der Reichstagswahl am 6.6.1920 erzielte
die DVP als Erbin der Nationalliberalen mit
48,0 % im Bezirk Vorsfelde ein besonders
gutes Ergebnis. Vor allem Kleinbürgertum
und Bauernschaft fühlten sich von ihr angesprochen. Die erstarkte USPD gewann
23,0 % und die MSPD 11,5 %. Weitere
Resultate: DDP 6,0 %, DNVP 8,3 %. Zwischen der Landtagswahl 1922 und der
Reichstagswahl 1924 vollzog sich die Einigung zwischen USPD und MSPD. Im Lande
Braunschweig war die SPD äußerst linksorientiert und verhielt sich gegenüber den
bürgerlichen Parteien sehr kritisch. Bei der
Reichstagswahl am 4.5.1924 erzielten DNVP
und DVP in den Amtsbezirken Vorsfelde und
Calvörde ihre besten Ergebnisse. Anlässlich der Landtagswahl am 27.11.1927 hatte
sich die Parteienlandschaft zum Teil gravierend geändert. Neben dem Aufkommen der
NSDAP mit 5,8 % im Amtsbezirk Vorsfelde
errang u.a. die SPD ein Drittel der Stimmen.
Die national-konservativen und bürgerlichen
Kräfte hatten noch die Mehrheit der Stimmen. In den folgenden Wahlen setzte die
NSDAP im Amtsbezirk Vorsfelde ihren Aufwärtstrend fort. Eine Wirtschaftskrise ab der
zweiten Hälfte des Jahres 1928 löste heftige
Wahlkämpfe aus. Das Reichstagswahlergebnis vom 14.9.1930 zeigte den Stimmenzuwachs der NSDAP im Amtsbezirk Vorsfelde
mit dem Endergebnis von 42,9 %. Weitere
Ergebnisse: SPD 31,0 %, DVP 5,7 %, DNVP
8,8 %. Andere Parteien hatten nur geringe
Stimmenanteile. Die Landbevölkerung nahm
vermehrt Abstand von den bürgerlichen
Parteien. Den absoluten Durchbruch der
NSDAP im Landkreis Helmstedt brachte die
Reichstagswahl am 31.7.1932. Während die
NSDAP im Kreisdurchschnitt 48,9 % erhielt,
gewann sie im Amtsbezirk Vorsfelde mit
64,7 % fast zwei Drittel der Stimmen. Neben der SPD mit 23,4 % sind nur noch die
DNVP mit 6,1 % und die KPD mit 3,0 % der
Stimmen zu nennen. Bei der Reichstagswahl
am 05.03.1933 wurde der NSDAP ihre beherrschende Mehrheit sowohl im Landkreis
als auch im Amtsbezirk Vorsfelde bestätigt.
Zeitungsanzeige der SPD.
„Der Bote“ vom 15.11.1927
12 13
Alle Plakate:
Stadtarchiv
Braunschweig
Wahlen – Wahlplakate
Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg
wurde am 9. November 1918 die Republik
ausgerufen. Kaiser Wilhelm II. und die Monarchen der deutschen Staaten mussten abdanken, so auch Herzog Ernst August von
Braunschweig. Die junge Republik wurde
von revolutionären Unruhen geschüttelt. Im
Land Braunschweig wurde eine sozialistische
Republik installiert. 1919 musste Deutschland den Versailler Friedensvertrag unterzeichnen. Seine Bestimmungen waren eine
große Bürde für die junge Demokratie.
Vielmehr erfolgte eine drastische Verbildlichung von Inhalten. Bei der Verunglimpfung
der politischen Gegner war keine der damals
agierenden Parteien zimperlich. Während
der Weltwirtschaftskrise nach 1929 erfolgte
eine deutliche Radikalisierung. Die von Gewalt gekennzeichneten Darstellungen der
Plakate entsprachen den Wahlkämpfen, die
zum Ende der Weimarer Republik mit blutigen Auseinandersetzungen ausgetragen
wurden.
Anfang 1922 erhielt der Freistaat Braunschweig eine Verfassung. Mit dem Ende
der Inflation von 1923 stabilisierten sich
die Verhältnisse. Nach den Landtagswahlen
1924 etablierte sich erstmals eine bürgerliche Koalition (der DVP, DNVP u.a.), während
in Folge der Wahl von 1927 ein SPD-Kabinett gebildet wurde. Die Reichstags- und
Landtagswahlen vom 14. September 1930
standen bereits unter dem Einfluss der grossen Weltwirtschaftskrise. Die konservativen
Parteien gingen ein Bündnis mit den Nationalsozialisten ein. Von nun an führte der
Weg direkt in die Hitlerdiktatur von 1933 bis
1945. Bezeichnend für die politische Landschaft im Freistaat war der scharfe Gegensatz zwischen dem bürgerlich-konservativen
und dem linken Lager sowie eine Tendenz
zur Radikalisierung.
Die Zeit der Weimarer Republik brachte
den Durchbruch der Parteienwerbung mit
Plakaten. Am Anfang standen zumeist einfach gestaltete Blätter mit Texten. Im Laufe
der 1920er Jahre fanden immer häufiger
grafische Darstellungen Eingang in die
politische Propaganda. Selten wurden die
Konterfeis führender Politiker abgebildet.
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Auch bei Familienfeiern wurde, wie bei
dieser Hochzeit 1931 in der Gaststätte zum
Lindenhof in Thiede, mit Hakenkreuzfahnen
geschmückt. Foto: Hartmut Alder
Die Anfänge der NSDAP im Gebiet der heutigen Stadt Salzgitter
Die im gegenrevolutionären Klima nach der
Niederwerfung der Münchner Räterepublik
entstandene Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde durch
Hitler bald über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt. Im November 1922 wurde in
Wolfenbüttel die erste NSDAP-Ortsgruppe
im Freistaat Braunschweig gegründet. Ihre
Mitglieder erkannten die Notwendigkeit,
„die Bewegung aufs Land zu tragen“, so
auch in die ehemaligen Gemeinden der heutigen Stadt Salzgitter. Hier lebten die Menschen überwiegend von der Landwirtschaft,
die sehr krisenanfällig geworden war, und
im Inflationsjahr 1923 wurden in Lesse und
in Osterlinde erste Ortsgruppen der NSDAP
im Salzgittergebiet gegründet. Weitere Erfolge erreichten die Nationalsozialisten bei
der Reichstagswahl im Mai 1924, an der sie
nach dem gescheiterten Hitlerputsch vom
9. November 1923 in München und dem
Verbot der NSDAP als „Völkisch-SozialerBlock“ teilnahmen.
Übertraf das Ergebnis für diese Partei im
Kreis Wolfenbüttel mit 15,4 Prozent das
Reichsergebnis von 6,5 Prozent schon um
mehr als das Doppelte, so ließen die im Amt
Salder erzielten 25,3 Prozent schon erahnen,
dass sich hier in den Folgejahren ein Stützpunkt der Nationalsozialisten bilden würde.
Zwischen 1930 und 1932 entwickelte sich
die NSDAP dann zur stärksten politischen
Kraft im Salzgittergebiet. Dies zeigte sich
auch bei der Reichstagswahl im Juli 1932,
bei der die Nationalsozialisten in den ehemals braunschweigischen Gemeinden 61,3
Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten
und in den ehemals preußischen Gemeinden 43,8 Prozent, während der Reichsdurchschnitt bei 37,4 Prozent lag. Nach der
Neuorganisation der NSDAP-Ortsgruppen im
Herbst 1932, die eine Mindeststärke von 50
Mitgliedern je Ortsgruppe vorsahen, gab es
im Salzgittergebiet zehn Ortsgruppen, die,
bis auf Lesse, Mitglieder aus mehreren Orten
umfassten.
oben:
Bericht des Landjägermeisters Bröker über
eine öffentliche Versammlung der NSDAP in
Lobmachtersen am 16. Juni 1929, an der etwa
900 Personen teilnahmen.
Foto: StA Wf 127 Neu, Nr. 2632
unten:
Vor einem SA-Aufmarsch
durch Salzgitter(-Bad), 1932.
Foto: HStA H, Hann310, A86
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Flugblatt aus Bevern zum Volksentscheid
über das Volksbegehren der KPD zwecks
Auflösung des Laandtags am 15. November
1931 mit Bezug auf die Entlassungen in der
Landeserziehungsanstalt
Foto: Staatsarchiv Wolfenbüttel: 141 N Nr. 35
NS-Personalpolitik in der
Landeserziehungsanstalt Bevern
Zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen
ist eine Regierung auf die Mitwirkung der
Verwaltungen angewiesen. Als nach der
Landtagswahl am 14. September 1930 eine
Koalition aus DNVP und NSDAP im Freistaat
Braunschweig regierte, waren republikanisch
gesinnte Beamte unerwünscht. Dies galt für
Sozialdemokraten ebenso wie für Mitglieder
der DDP. Innen- und Kultusminister Franzen
(NSDAP) revidierte möglichst viele Stellenbesetzungen der vergangenen Jahre.
In der Landeserziehungsanstalt Bevern war
gegen den „linken“ Direktor der Anstalt,
Gotthard Eberlein, bereits ein Dienststrafverfahren wegen „eigenartige[n] Benehmen[s]“
Federzeichnung von Gotthard Eberlein
Foto: STAWO 12 Neu 7 II Nr. 96-1
einer Sekretärin gegenüber anhängig. Dies
diente als Anknüpfungspunkt, Eberleins
Entlassung herbeizuführen. Sein Nachfolger,
Direktor Milzer, gehörte zur DNVP und verfolgte das ihm „vorgezeichnete Ziel“, in
Bevern „Ordnung, Sauberkeit in sittlicher
Beziehung und Ruhe“ zu gewährleisten.
Dies geschah u. a. durch bevorzugte Einstellung nationalsozialistischer Mitarbeiter.
Sie verbreiteten ihr Gedankengut nicht nur
in der Anstalt, sondern betätigten sich auch
intensiv als Propagandisten für den Nationalsozialismus im Kreis Holzminden. So Bruno
Friedrich, ein „alter Kämpfer“ (Mitgliedsnummer 13.210, Ortsgruppe München):
Seit 1923 war er glühender Verehrer Adolf
Hitlers, wurde nach mehreren Vorfällen aus
Das Wilhelmstift in Bevern
dem preußischen Schuldienst entfernt und
erhielt im Braunschweigischen eine Stelle an
der Landeserziehungsanstalt. „Kaum war
er drei Tage in Bevern, da hatte er nichts
Eiligeres zu tun, als dort eine nationalsozialistische Versammlung aufzuziehen“, so
berichtete die sozialdemokratische Tageszeitung. 1932 war er „Gauredner“ und trat
in dieser Funktion überregional als Wahlkämpfer auf.
Erziehungsinspektor Heinz Wiegand kam
etwa zeitgleich mit Direktor Milzer nach
Bevern. Auch er verfolgte das erklärte Ziel,
„die ‚Roten‘ auszurotten“. 1932 fungierte
er als Ortsgruppenleiter in Bevern. Die SPD
kritisierte, „Wiegand sei mehr auf dem Parteibüro“ als bei seiner eigentlichen Arbeit.
Durch Denunziationen politischer Gegner
zeichnete sich „Erziehungspraktikant“ Paul
Timmermann aus. Er brachte kritische Ansichten von Mitarbeitern zur Meldung, wobei er entsprechende Äußerungen teilweise
offenbar gezielt provozierte. In mehreren
Fällen lieferte er den Anstoß, missliebigen
Angestellten ihren Arbeitsplatz zu nehmen.
Bruno Friedrich; Passbild, ca. 1931
Foto: Staatsarchiv Wolfenbüttel:
12 Neu 6 Nr. 282
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Bekanntmachung der Ilseder Hütte
Foto: Stadtarchiv Salzgitter
Inflation und Notgeld der Ilseder Hütte
Unvorstellbare 78 Millionen Mark kostete am 24. September 1923 die Bahnfahrt
in der zweiten Klasse von Salzgitter nach
Braunschweig. Ursache für den galoppierenden Währungsverfall war die ständige
Erhöhung der Geldmenge seit Beginn des
Ersten Weltkrieges. Am 4. August 1914 hatte die Regierung die gesetzliche Noteneinlösungspflicht der Reichsbank in Metallgeld
bzw. Gold aufgehoben, gleichzeitig wurden
die staatlichen Möglichkeiten zur Schuldenaufnahme und der Vermehrung der Geldmenge erweitert. Die Finanzhilfe für die zum
passiven Widerstand („Ruhrkampf“) gegen
die Besetzung durch französische und belgische Truppen aufgerufene Bevölkerung
des Ruhrgebietes war 1923 schließlich der
Auslöser zur Hyperinflation, während der die
Nachfrage nach Banknoten nicht mehr befriedigt werden konnte. Das Drucken von
Notgeld war für Städte, Banken und Betriebe zur staatlich geduldeten Alternative
geworden.
das Maß voll“, titelte das Salzgittersche
Kreisblatt am 10. Oktober 1923 nach einem
Einbruch in ein Schuhgeschäft und rief die
Einwohner dazu auf, einen „nächtlichen
Selbstschutz“ zu gründen. Zwei Tage später kam es auf dem Bohlweg in Salzgitter
zu ersten Ausschreitungen. Eine empörte
Menschenmenge verschaffte sich Zutritt zu
einem Lagerraum der Lebensmittelgroßhandlung Hammer & Böttcher und entwendete Lebensmittel in großem Stil.
Am 16. Oktober 1923, die Fahrt von Salzgitter nach Braunschweig kostete inzwischen
über zwei Milliarden Mark, beschloss das
Kabinett die Ausgabe eines neuen Zahlungsmittels. Doch allein der Beschluss führte
noch zu keiner Verbesserung der Lage. Ende
Oktober 1923 gab die Ilseder Hütte „durch
die Zahlungsmittelnot gezwungen“ erneut
Notgeld heraus. Erst die Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 sorgte für
eine allmähliche Stabilisierung der Währung,
einen Aufschwung der Wirtschaft und eine
Normalisierung des Alltags.
Am 11. August 1923 gab die Direktion der
Ilseder Hütte per Annonce im Salzgitterschen Kreisblatt bekannt, dass „zu Lohnzwecken für unsere Grube Hannoversche
Treue 500.000- und 100.000-Markscheine“
in Umlauf gegeben werden. In einer weiteren Bekanntmachung am 31. August
1923 bat die Direktion darum, auch noch im
September 1923 das Notgeld als Zahlungsmittel zu akzeptieren.
Während es in den ländlichen Gebieten im
Vergleich zu den Ballungsräumen zunächst
noch relativ ruhig geblieben war, mehrten
sich im Herbst 1923 auch hier Proteste und
Einbrüche, was zu einer weiteren Verunsicherung der Bevölkerung beitrug. „Jetzt ist
linke und rechte Seite: Geldscheine
und Geldstücke aus den Jahren 1922/23
Fotos: Deutsche Bundesbank
20 21
Die Entstehung und Entwicklung Salzgitter-Bads wurde bis in das 19. Jahrhundert
in erster Linie durch das Salz bestimmt.
Archäologische Grabungen bestätigen eine
Salzgewinnung schon vor mehr als 1000
Jahren, im Jahre 1125 wurde die Saline erstmals urkundlich erwähnt. Die Solequellen
lagen am Schnittpunkt der Gemarkungen
der Dörfer Gitter, Kniestedt und Vepstedt,
deren Bewohner schon seit dem Frühmittelalter am Warnesumpf die Salzgewinnung
betrieben. Im 12./13. Jahrhundert errichteten sie in der Nähe der Salzbrunnen eine
befestigte Siedlung – das spätere Salzgitter.
Nach mehr als 1000 Jahren wechselvoller
Geschichte wurde 1926 in Salzgitter die
Salzerzeugung in der Saline Liebenhalle
endgültig eingestellt. Schon 1913 waren der
alte Salinenbohrturm, ein Wahrzeichen des
Ortes, und jahrhundertealte Anlagen in der
Saline einem Brand zum Opfer gefallen. Es
wurden jedoch in kurzer Zeit neue Gebäude
errichtet und die Saline 1915 wieder in Betrieb genommen. Doch schon nach wenigen
Jahren wurde die Saline an eine Gesellschaft
verkauft, 1926 kam es nach einem Konkurs
zur Schließung und zur Versteigerung.
oben:
Der Salinenbezirk im Herzen der Stadt
Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter
unten:
Werbung für das Solbad
Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter
1926: Das Ende der Salzerzeugung in Salzgitter
Schon 1825 wurde die Sole auch zu Heilzwecken verwendet, ab 1879 etablierte sich
neben der Salzgewinnung der Kurbetrieb.
Nach der Schließung der Saline gelang es
dem Flecken, das 1911 neu errichtete Badehaus zu erwerben, einige Jahre später den
Gesamtkomplex. Der früher sichtbar abgegrenzte Salinenbezirk öffnete sich allmählich, der Gutsbezirk Liebenhalle wurde nach
Salzgitter eingemeindet.
Die Zahl der Badenden und der Kurgäste
stieg merklich an. „Bad Salzgitter am Harz“
erlebte zu Beginn der 1930er Jahre eine
Blütezeit, die wohl nicht zuletzt auf umfangreiche Werbemaßnahmen der Stadt zurückzuführen war. Es wurde eine städtische
Badeverwaltung eingerichtet, ein Bade- und
Verkehrsausschuss tagte, eine „Kur- und
Badezeitung“ informierte die Gäste und
es wurden überregionale Werbeanzeigen
veröffentlicht. Die Stadt investierte und
verbesserte die bade- und heiztechnischen
Anlagen im Kurhaus. Mit dem Beginn des
Aufbaus der Reichswerke im Salzgittergebiet ging jedoch der Kurbetrieb zurück und
ruhte während des Zweiten Weltkrieges
ganz. Schon 1946 konnte in Salzgitter wieder gekurt werden. Heute ist Salzgitter-Bad
ein staatlich anerkannter Ort mit Solekurbetrieb, noch immer wird die Sole im früheren
Salinenbezirk, dem heutigen Rosengarten,
gefördert und zum Thermalsolbad am Greif
hinaufgeführt.
22 23
Blechwarenfabrik Fritz Züchner
Foto: Museum Seesen
Seesener Blechwarenfabrik
Foto: Museum Seesen
Heinrich Züchner und sein Sohn Rudolf
arbeiteten als „Konservierende Klempner“.
Sie leisteten in Deutschland Pionierarbeit auf
dem Gebiet der Konservenfertigung. Der eigentliche Aufschwung der Seesener Blechwarenindustrie begann 1907 mit der Gründung
der „Seesener Blechwarenfabrik Fritz Züchner“ durch Rudolfs Sohn Fritz Züchner, „der
Ältere“. Die Firma entwickelte sich rasch und
war vielfältig aktiv. Der Erste Weltkrieg führte
zu erheblichen Geschäftsvergrößerungen.
Überkapazitäten, fehlendes Kapital und die
einsetzende Inflation führten im Mai 1926
zur Umwandlung der Firma in die „Seesener
Blechwarenfabrik AG“. Im Juni übernahm
dann Schmalbach das neugegründete Unternehmen. Bereits am 1. Juli gründete Fritz
Züchner, „der Jüngere“, zusammen mit seiner
Ehefrau Irma die „Blechwarenfabrik Fritz Züchner“, die sich zum bedeutendsten Familienunternehmen in der Verpackungsindustrie
entwickeln sollte.
Die Seesener Blechwarenindustrie
Eine Quadriga in Seesen
Die Seesener Figurengruppe war die dritte
Version einer von Ernst Rietschel (1804–
1861) für das Braunschweiger Schloss entworfenen Quadriga. Sie entstand 1893 für
die Chicagoer Weltausstellung. Fritz Züchner
der Ältere kaufte sie später, um damit nach
dem Ersten Weltkrieg einen Triumphbogen
für das siegreiche deutsche Heer zu
schmücken.
Aber, es kam ja anders.
Nun hatte er vor, die Quadriga auf das
neue Haus seines Sohnes Fritz und dessen
Frau Irma zu setzen. Das Paar konnte die
Aktion zunächst verhindern. Doch als die
jungen Züchners auf Reisen waren, ließ Fritz
der Ältere die Quadriga auf das Dach des
Hauses heben. Erbost verlangte das Ehepaar
die Entfernung der Quadriga. Doch die Demontage wäre zu aufwändig gewesen und
so steht sie noch heute auf der Züchnervilla.
Die Seesener Quadriga ist die letzte existierende Ausführung nach Rietschels Entwurf.
Nach ihrem Vorbild ist die heutige Quadriga
auf dem Braunschweiger Schloss entstanden
und auch für den Wiederaufbau der Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin
stand sie Modell.
Quadriga auf Züchners Haus
Foto: Museum Seesen
24 25
Ein Wolfenbütteler
Fabrikant in seinem
Cabriolet mit Chauffeur
Foto: Wolfgang Lange
Der überwiegende Teil der Wolfenbütteler
stieg in die „Straßeneisenbahn“, um von
der Herzogstadt ins benachbarte Braunschweig zu reisen. In der Hauptverkehrszeit
fuhr das Schienenfahrzeug alle 20 Minuten
vom Bahnhof Wolfenbüttel über Herzogtor, Sternhaus, Klein Stöckheim, Melverode,
Braunschweig-Augusttor bis zum Hagenmarkt. 1928 zählte man knapp eine Million
Fahrgäste, die die Straßenbahn (so titulierte
man diese später) in nur sechs Monaten
benutzten. Jahrhundertelang waren Pferdekutschen das Fortbewegungsmittel Nummer
eins gewesen. Nach dem ersten Weltkrieg
eroberte nach und nach das Automobil die
Straßen der Lessingstadt und des Landkreises Wolfenbüttel.
Zwar weist die Statistik des Jahres 1921 im
gesamten Kreis Wolfenbüttel lediglich 77
Personenkraftwagen auf. Doch der beste
Beweis für den Anbruch eines neuen Zeitalters in Sachen Mobilität war das Jahr 1924,
in dem sich die Zahl der Pkw um 40 Prozent
erhöhte. Für viele Wolfenbütteler jedoch
war die neue, kostspielige Technik ein Dorn
im Auge, vergleichbar mit der Einführung
der Eisenbahn rund 100 Jahre zuvor. Der
Wolfenbütteler Stadtverordnete der Deutschen Volkspartei Studienrat Lampe klagte
1927: „Ich bin kein Freund der Automobile,
die fahren uns unsere schönen Straßen
entzwei und wir können sie wieder zurecht
machen“.
Offensichtlich hatten unsere Vorfahren
große Probleme bei der Beherrschung der
neuen Technik. In nur fünf Monaten zählte
die Wolfenbütteler Polizei 30 Verkehrsunfälle, darunter 15 Sach-, drei Personenschäden und sogar ein Todesopfer. Die Wolfenbütteler Zeitung stürzte sich geradezu auf
Kritisch beäugt: Der Aufstieg des Automobils
das Thema Auto. Auch die Produktion der
damals nur wenige PS-starken Wagen am
Fließband wurde kritisch beäugt. Ford setze
Autos „wie Kaninchen in die Welt“, kritisierte die WZ im September 1926. Die Presse
erweckte den Eindruck, dass sich an fast
jedem zweiten Tag ein Horror-Crash auf
Wolfenbüttels Straßen ereigne. Minutiös
wurde der Unfallhergang in der Berichterstattung geschildert. Und: Immer häufiger
kam es zu Geschwindigkeitskontrollen im
Kreis Wolfenbüttel. Dabei war innerorts
gerade einmal eine Geschwindigkeit von
25 Kilometer pro Stunde erlaubt.
Ein Automobil der Marke Hanomag
der Brüder Hagemann
Foto: Wolfgang Lange
Die 20er Jahre waren jedoch nicht nur die
Zeit des Autos: 669 Krafträder zählte man
im Sommer 1928 in der Herzogstadt. Im selben Jahr gründete sich ein Motorsportklub.
Der Aufbruch in die Moderne eröffnete
zudem neue Möglichkeiten des Geldverdienens. Der Wolfenbütteler Feilenfabrikant
Karl Schmidt richtete eine private Autobuslinie ein, mit der die weit auseinanderliegenden Stadtteile verbunden wurden. Über
einen Antrag auf Errichtung einer ersten
öffentlichen Tankstelle in der Lessingstadt
diskutierten die Stadtverordneten 1930.
Die Zahl der Personenkraftwagen hatte sich
von Sommer 1927 bis Sommer 1928 in
Wolfenbüttel von 60 auf 496 erhöht. Und
ein neues Phänomen trat auf: Der Verkehrsstau. Zu Pfingsten 1929 kam es zu einem
Stau am Herzogtor. Wochenend-Ausflügler
verstopften Ende 1928 die steile Landstraße
zwischen Bad Harzburg und Torfhaus. Gezählt wurden innerhalb von nur zwei Stunden 268 Kraftfahrzeuge, 178 Motorräder
und 580 Fahrräder, die sich den Berg herauf
quälten, doch nur noch 34 Fuhrwerke.
26 27
Der erste Ökonomiehof. Der Gutsinspektor
mit seinen auf den Feldern und in den
Stallungen tätigen Arbeitern (1928).
Der Gutsbetrieb der Grafen von der
Schulenburg als größter Arbeitgeber
der Region Wolfsburg
Zu Mitte des 18. Jahrhunderts (1742/56)
übernahmen die Grafen von der Schulenburg die Herrschaft Wolfsburg. In der Weimarer Republik war zunächst Graf Werner
(1895 – 1924) und dann sein ältester Sohn
Graf Günther (1924 – 1941) Gutsherr. Ihr
Arbeitszimmer, in dem Absprachen mit den
höhergestellten Gutsverwaltern getroffen
wurden, lag in der zweiten Etage des Süd-
flügels der Wolfsburg (heute: Städtische
Galerie).
Zentrum der Gutsverwaltung war das
Rentamt, das sich über lange Zeit in der
alten Gerichtslaube (heute: Hochzeitsstube) befand und dann in ein neu errichtetes
Backsteingebäude bei der Allerbrücke in
der Gutssiedlung vor dem Schloss verlegt
wurde. Von hier aus führte der Rentmeister,
unterstützt von ungefähr 10 Mitarbeitern,
die Oberaufsicht über die gesamten Gutsbe-
triebe. Bestandteil des westlich des Schlosses
befindlichen Stall- und Wirtschaftsflügels
(heute: Städtisches Museum) war das Wohnhaus der Familie des Kutschers, dem die
gräflichen Reit- und Kutschpferde einschließlich der Geschirrkammer anvertraut
waren und der u. a. die in der Remise untergestellten Wagen zu Inspektionsfahrten vorbereitete.
Begab man sich über die Allerbrücke in die
Gutssiedlung Alt-Wolfsburg, so sah man
Der Gutsbetrieb der Grafen von der Schulenburg in Wolfsburg
linker Hand der Straße den als Bauhof bezeichneten Betriebshof. Ein Bauhofleiter
hatte die Aufsicht über zahlreiche Gewerke
(u. a. Maurer, Zimmermann, Maler, Dachdecker, Dreher, Schmied, Fass- und Kiepenmacher sowie seit 1916 auch Elektriker =
18 Pers.). Gab es an den Gutsgebäuden Reparaturen, wurde etwas verändert oder gar
neu gebaut, dann kamen diese Handwerker
zum Einsatz. Mit einem Büssing-LKW transportierte man schwere Lasten.
In der benachbarten Oberförsterei wurden
alle jagd- und waldwirtschaftlichen Entscheidungen getroffen. Revierförster in den Forstund Jagdhäusern (u.a. Bistorf/Hehlingen,
Rothehof, Klieversberg/Ehrarer Holz, Bockling, Brome, Kaiserwinkel/Heidau, Neumühle)
hatten diese Bestimmungen umzusetzen (17
Pers.). Der von einem Gutsinspektor geführte
erste Ökonomiehof, der aus dem noch erhaltenen Ackerpferdestall und Kuhställen sowie
Futter- und Getreidespeichern bestand, war
der Zentralhof der Landwirtschaft (86 Pers).
Pflüge und Erntewagen wurden hier bereitgestellt. Dort waren auch die Familie des
„Schweizers“ und seine Stallknechte sowie
Hirten (9 Pers.) tätig. Dieser Melkmeister
betrieb nach alter eidgenössischer Tradition die Molkerei einschließlich der Käseherstellung. Die Hirtenjungen wurden auch zur
Hütung von Schweinen eingesetzt, die auf
dem „Schweinehof“ (zweiten Ökonomiehof)
untergebracht waren.
In der Schmiede, der Feuergefahr wegen an
das nördliche Ende des Gutsbezirkes gelegt,
war der Schmiedemeister für Hufbeschlag,
Pflug- und Wagenbau sowie Reparatur landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte verantwortlich (8 Pers.).
Graf Gebhard Werner (*1722; †1788) hatte
bei seinen Besuchen in England die Zucht
von Merinoschafen kennengelernt, die zunächst weniger des Fleisches als ihrer feinen
Wolle wegen gehalten wurden. Sie hatten
ihre Stallungen in der Vorburg, am nördlichen Rand des Dorfes Hesslingen, wo der
Oberschafmeister mit seinen Mitarbeitern
(ca. 7 Pers.) wohnte. Südlich von Hesslingen
lag die wasserbetriebene Schillermühle.
Diese, kurz vor 1600 als Mahlmühle errichtet, war bis 1862 verpachtet. Ab 1863 wurde sie um eine mit Dampfkraft betriebene
Sägemühle erweitert und der alte Mühlenbetrieb modernisiert. Neben der Lohnmüllerei für die Bauern der Umgebung wurde
jetzt auch Handelsmüllerei in Eigenregie
betrieben. Unter einem Mühleninspektor
arbeiteten ein Sägewerksleiter und ein
Müllermeister mit etwa einem Dutzend Mitarbeitern. Unter Leitung eines Fischmeisters
stand der gutsherrliche Fischereibetrieb
(10 Pers.).
Zählt man die Schlossgärtnerei, geführt
von einem Obergärtner, und auch noch das
Haus- und Küchenpersonal des Schlosses
inklusive des Schlossdieners dazu (über 10
Pers.), so arbeiteten für die Grafen in der
Weimarer Zeit rund 200 Personen in den
Gutsbetrieben Wolfsburgs. Da auch noch
die Rittergüter Bistorf (bei Königslutter) und
Brome sowie in der Altmark befindlicher
Streubesitz zur Herrschaft Wolfsburg gehörte, standen damals bei den Grafen von
der Schulenburg-Wolfsburg insgesamt um
die 300 Personen in Lohn und Brot.
Im Schlosshof der Wolfsburg – das Haus- und
Küchenpersonal sowie die gräflichen Forstbeamten (1928).
Der Bauhof – Betriebshof der für die Gutswirtschaft benötigten Gewerke (1928).
Fotos: Gräflich von der Schulenburgisches
Schlossarchiv Wolfsburg, Rittergut Nordsteimke
28 29
Bei einem Unwetter 1926
umgestürztes Seilbahngerüst
Foto: Archiv Lengede
Daten des Berges:
Höhe 156,6 m ü.N.N.
65 m über Umgebung
ca. 375 m in N-S
ca. 240 m in W-O
Christusdarstellung
in der Apsis.
(Foto: Dr. Norbert Funke)
Der Seilbahnberg in Lengede
Wenn man Lengede nach Osten in Richtung Vallstedt verlässt, kommt man in einer
sonst ebenen Landschaft plötzlich an einem
Berg vorbei. Es ist der Seilbahnberg, auch
allgemein Lengeder Berg genannt. In Bodenstedt wird er aber als Bodenstedter Berg
bezeichnet, weil er bei seiner Entstehung
(1917 –1927) als Abraumhalde in der Feldmark von Bodenstedt aufgeschüttet wurde.
Lengeder Erde (Landkreis Peine) wurde dort
im Landkreis Braunschweig aufgehaldet.
Im Ortswappen von Bodenstedt ist der Seilbahnberg sogar dargestellt. Bei der Bildung
der Einheitsgemeinde Lengede 1972 wurde
das Gebiet des Berges Lengede zugeschlagen und damit der Berg die höchste Erhebung im Landkreis Peine.
Der Seilbahnberg ist ein gutes Beispiel dafür,
wie der Mensch die Landschaft verändert
hat. 1872 hat die Ilseder Hütte die Eisenerzfelder von Bodenstedt und Lengede gekauft
und damit begonnen, Eisenerz zu fördern,
das im Hochofenwerk Ilsede verhüttet wurde. Bis zum 1. Weltkrieg wurde das Eisenerz
ausschließlich in Tagebauen gewonnen (Gru-
be Sophienglück-Mathilde) und danach bis
1977 zusätzlich im Tiefbau. Im Tagebaubetrieb lag naturgemäß Abraumerde über den
Erzschichten, die erst weggeschafft werden
musste, um das Erz fördern zu können. Den
Abraum hat man an tiefer gelegenen feuchten Stellen in der Lengeder Feldmark und an
ausgeerzten Stellen im Tagebau verschüttet. 1917 waren diese Möglichkeiten der
Abraumbeseitigung ausgeschöpft. Es wurde
eine Drahtseilbahn gebaut, die den Abraum
zu einem Berg aufschüttete. Das Abwurfgerüst sollte einen Schüttkegel von 90 Meter
Höhe ermöglichen.
Von dieser „Seilbahn“ hat der Berg seinen
Namen erhalten. Die Kipploren der Seilbahn
wurden im Tagebau Mathilde (Lengede)
gefüllt, zum Tagebaurand und zur Antriebsstation gezogen und dann ging es über den
Vallstedter Weg hinweg in die Höhe. Die
Antriebsstation der Seilbahn war gegenüber
dem Berg auf der Südseite des Vallstedter
Weges. Auf der einen Seite gingen die mit
Abraumerde gefüllten Kipploren nach oben,
auf der anderen Seite kamen sie wieder leer
nach unten, nachdem sie oben durch eine
Vorrichtung gekippt worden sind. Immer
höher wurde die Abraumhalde durch die
aufgeschüttete Erde. Wie ein Kegel mit einer
langen Seite ragte der Berg aus der ebenen
Landschaft hervor und galt bald als Wahrzeichen von Lengede, weil er von weit her zu
erkennen war. Im März 1926 wurde durch
einen orkanartigen Sturm die gesamte Seilbahn mit dem dazugehörigen Gerüst umgeweht und wieder aufgebaut. Das Bild links
zeigt die umgewehte Seilbahn mit Gerüst
am Berg. Etwa im Mai 1927 wurde die Ablagerung der Abraumerde eingestellt, weil
wieder in den Tagebauen genügend ausgeerzte Flächen zur Verfüllung vorhanden waren. Die Drahtseilbahn wurde abgebaut und
zur Verfestigung der Berghänge im unteren
Bereich wurden auf allen Seiten und um
den Berg Bepflanzung vorgenommen, eine
bunte Mischung von Büschen und Bäumen.
Kinder nutzten Berg und Park auch gern als
Spielplatz. Bei klarem Wetter hat man von
der Kuppe des Berges eine herrliche Aussicht bis zum Brocken und in alle Himmelsrichtungen.
links:
Gerüst für Seilbahn mit Kipploren zur Aufschüttung einer Abraumhalde Anfang 1917
Foto: Archiv Lengede
rechts:
Kinder spielen im Park am Abraumberg,
um 1930
Foto: Irmgard Stache
30 31
Aufruf zu Protestversammlung wegen
Erhalt des Buß- und Bettages, Blankenburg
(um 1921)
Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, Pfarrarchiv
Blankenburg St. Bartholomäus 48
Kindergottesdienst 1918
(Braunschweig St. Martini)
Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 6560
Landesbischof Alexander Bernewitz
(1863 – 1935)
Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 3038
rechte Seite: Evangelischer Landesverband
für die weibliche Jugend Braunschweigs,
Freizeit in Bad Harzburg 1921
Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 6952
Brautpaar Else Kramme und Walter Horney,
Lehrer in Abbenrode, 25.06.1924
Foto: Lkl. Archiv Wolfenbüttel, FS 7308
Die Braunschweiger Landeskirche
Mit der Abdankung des Herzogs verlor die
Landeskirche ihr Oberhaupt, am 21. November 1918 entzog der Arbeiter- und Soldatenrat ihr mit der Volksschulaufsicht den letzten
Einfluss auf den Erziehungssektor.
Die bislang privilegierte Staatskirche sah
nun ihrer Loslösung vom Staat entgegen;
eine unsichere Situation, die Vertreter einer
volkskirchlich orientierten Zukunft zugleich
als Chance begriffen.
Die Weimarer Verfassung vom 14. August
1919 verfügte die Trennung von Kirche und
Staat und die Religionsfreiheit der Bürger.
Sie garantierte den Kirchen Selbstverwaltung, Besteuerung ihrer Mitglieder und Ersatz für bisherige staatliche Leistungen und
bestätigte den Sonn- und Feiertagsschutz
sowie einen schulischen Religionsunterricht.
Der braunschweigische Staat griff in Letzteren dennoch ein und schaffte Ende 1921
den Buß- und Bettag vorübergehend ab.
Gegen den Entzug staatlicher Zahlungen
für ihre Bauten und ihr Personal hatte die
Landeskirche unter den wechselnden Regierungen bis 1930 erheblich zu kämpfen. In
ihrer Not suchte sie vielfach die gerichtliche
Klärung, verschärfte damit aber den Gegensatz zur parlamentarisch-demokratisch
verfassten Staatsmacht. Bleibende Konfliktfelder und die nur mühsame Integration
der Kirche, welche sich schwertat, die neue
weltanschauliche Wahlfreiheit zu akzeptieren, trugen gegen Ende der Weimarer
Republik dazu bei, dass sich ein beachtlicher
Teil der Pfarrerschaft dem Nationalsozialis-
mus öffnete. Einen Anknüpfungspunkt bot
für Landesbischof Alexander Bernewitz, seit
1923 erster leitender Geistlicher der Landeskirche, vor allem die Abwehr atheistischer
linker Kräfte. Neben der Einführung eines
Kirchenoberhauptes erforderte die landeskirchliche Eigenständigkeit den Entwurf
einer Kirchenverfassung.
1922 verabschiedet, ordnete sie die künftigen demokratisch-synodalen Verwaltungsstrukturen der Landeskirche. Diese blieb,
wenn auch die Einführung einer Landeskirchensteuer eine zunehmende Kirchenferne
verstärkte, durch ihre diakonischen Angebote, ihre volkskirchlich und gruppenbezogen ausgerichtete Gemeindearbeit und ihre
Amtshandlungen in der Weimarer Zeit ein
bedeutender gesellschaftlicher Faktor.
32 33
Grafik Schulsystem
Karl-Heinz Löffelsend
Beide Zeichnungen:
Bildungsplankritik
Quelle: Braunschweiger
Landeszeitung 1930
Adolf O. Koeppen
Der Weimarer Schulkompromiss
1919 beschloss man den „Weimarer
Schulkompromiss“, der die Abschaffung
der kirchlichen Schulaufsicht und die Einrichtung einer vierjährigen Grundschule für
alle Kinder vorsah. Die weitere Gestaltung
des Schulwesens bestimmten Landesschulgesetze.
Schulpolitik im Lande Braunschweig
In Braunschweig wurde die Kirchliche Schulaufsicht bereits am 22.11.1918 abgeschafft.
Rechtlich waren die Volksschulen des Landes
evangelische Bekenntnisschulen, jedoch
ohne Religion als Pflichtfach. Vermehrt
setzten sich Eltern (u.a. im Weltlichen Elternbund) für die Einrichtung von sog. Sammelklassen ein, in denen statt Religion lebenskundlicher Unterricht erteilt wurde.
Einrichtung von Sammelklassen
und Weltlichen Schulen
Zu Ostern 1926 nahmen drei weltliche
Schulen (Maschstraße, Ottmerstraße,
Weltliche Schulen in Braunschweig
Ottmerschule 1958, 1959 abgerissen
Foto: städtische Bildstelle
Schule Bültenwega
Foto: Karl-Heinz Löffelsend
Bürgerstraße) den Betrieb auf, vier weitere
Klassen waren an die Schule Comeniusstraße ausgelagert, 1927 kam als vierte die
Schule Bültenweg hinzu. Die Schülerzahlen
an den weltlichen Schulen stiegen von 2053
(1926) auf 2945 (1930). Gleichzeitig sank
die Schülerzahl an den evangelischen
Schulen von 8247 auf 7977.
die wesentliche Impulse aus der Arbeiterbewegung umsetzten und Reformansätze
von Adolf Reichwein, Georg Kerschensteiner
oder Hugo Gaudig übernahmen.
Die weltlichen Schulen waren
Reformschulen
Die weltlichen Schulen waren eine Gemeinschaft von Lehrern, Kindern und Eltern. Die
Kinder sollten zu freien, zuverlässigen, nicht
autoritätsgläubigen und gerecht denkenden
Persönlichkeiten heranreifen. Das drückte
sich in der praktischen Schularbeit u.a. so
aus: Gruppenarbeit, praktisch keine Prügelstrafe, demokratische und schülerbezogene
Unterrichtsmethoden, audiovisuelle Lehrmittel, musische Erziehung und Arbeitsunterricht und intensive Mitarbeit der Eltern im
Schulleben. Weltliche Schulen waren demnach Gemeinschafts- und Reformschulen,
Schule Bürgerstraße
Foto: Karl-Heinz Löffelsend
Abbau der Sammelklassen und
der weltlichen Schulen
Nach 1931 baute die bürgerlich-nationalsozialistische Koalition die weltlichen Schulen
ab. Als Begründung gab man an, dass die
in den weltlichen Schulen betriebene „Pädagogik vom Kinde aus“ dazu führe, dass
dadurch die Kulturtechniken vernachlässigt
würden und es zu einem katastrophalen
Bildungsstand käme.
Schule Comeniusstraße
Foto: Karl-Heinz Löffelsend
34 35
Töchterheim Bergemann Blankenburg
Foto: Heimatsammlung der Stadt Blankenburg
rechte Seite:
Reform-Erziehungsheim Kiepert
in der Rübeländere Str. 3
Foto: Heimatsammlung
der Stadt Blankenburg
Mädchenpensionate in Blankenburg
Im Jahre 1875 begründete in Blankenburg
im Harz die 25-jährige Volksschullehrerin
Elisabeth Kühne eine „Lehr- und Erziehungsanstalt für Töchter höherer Stände“. Schon
nach drei Jahren konnte am schönsten,
höchstgelegenen Ort der Stadt ein eigenes
zweckmäßig ausgestattetes Haus errichtet
werden. Auf Jahre hinaus waren stets alle
Plätze für Töchter der angesehensten Familien vorbelegt. Die Zahl von 25 Schülerinnen
wurde grundsätzlich nicht überschritten.
Die Aufnahme erfolgte vom 12. und nur
ausnahmsweise vom 10. Lebensjahr an.
Der Unterricht fand im Töchterheim statt.
Einen besonderen Schwerpunkt im Lehrplan
bildeten hier z.B. Fremdsprachen.
Die Leiterin des Heimes engagierte sich später aktiv in der Bewegung für Frauenrechte
und Frauenbildung. Bereits 1888/89 existierten vier Töchterpensionate in der Stadt
Blankenburg, deren Schulen seit Anfang
des Jahrhunderts einen guten pädagogischen Ruf besaßen. In Blankenburg gab es
schon früh mehrere Musikschulen und ein
Lyzeum.
Der Besuch des Gymnasiums der Stadt durch
Mädchen war bereits vor dem I. Weltkrieg
möglich. Die Zahl der Töchterpensionate,
die eine traditionelle Ausbildung mit dem
Ziel der Heranbildung guter Hausfrauen und
Mütter anboten, stieg in den zwanziger Jahren weiter an.
Zum Teil waren es nun auch Witwen aus
begüterten Schichten, die angesichts der
wirtschaftlichen Lage ihre ererbten Villen
in Heime umwandelten. Aber nur wenige
der Einrichtungen verfügten über eigene
Bildungsangebote, die über Hauswirtschaft,
sportliche und kulturelle Lehrgänge hinausreichten. Eines der größten Pensionate war
das Heim von Meta Kiepert.
Beworben wurde es als Reformanstalt auf
hygienischer Grundlage für Töchter gebildeter Stände. Es bot Heim und Unterricht
für Schulpflichtige. 6 Lehrkräfte, 2 Villen,
eine Turnhalle und Liegeterrasse gehörten
zu der Ausstattung des Pensionats.
Zusätzlich wurden hauswirtschaftliche,
wissenschaftliche und künstlerische Kurse
für Erwachsene angeboten. Die Nutzung des
bestehenden Lyzeums für die Ausbildung
der Mädchen aus den Pensionaten war aber
auch möglich.
1928 gab es in Blankenburg 15 solcher
„Heime für Töchter gebildeter Stände“.
In den Einrichtungen wurden Töchter zahlungskräftiger Eltern erzogen und ausgebildet. In seinem autobiografischen Roman
„Frührot“ erwähnte der in den 20er Jahren
bekannte Schriftsteller August Winnig seine
Erfahrungen mit den „Pensionsmädeln“. Er
schrieb: „Es wurde manche heimliche, süße,
verbotene Stunde geschenkt,
bei der ein artiger Kuss ein seltenes Festtagsgeschenk war.“
Die Erziehung erfolgte mit aus heutiger Sicht
fast klösterlicher Strenge. Die Mädchen aus
den Pensionaten, die regelmäßig zum Einkauf in die Stadt kamen, prägten das Bild
mit, welches die Geschäfte in der Innenstadt
boten und damit auch die Erinnerung
vieler Blankenburger an jene Jahre.
36 37
Technikum Wolfenbüttel
am Rosenwall
Foto: Museum Schloss
Wolfenbüttel
Bau der Ingenieurschule
an der Salzdahlumer Straße
Foto: Museum Schloss
Wolfenbüttel
Die Ingenieurschule in Wolfenbüttel
Ingenieurschule
Salzdahlumer Straße
Foto: Museum Schloss
Wolfenbüttel
In der Stadt, in der Julius Elster und Hans
Geitel schon im Kaiserreich bahnbrechende
Forschungen zur Radioaktivität und Atomenergie gemacht hatten, öffnete mit Beginn
des Sommersemesters 1928 das „Technikum
Wolfenbüttel, Höhere Technische Lehranstalt
HTL für Maschinenbau und Elektrotechnik“
seine Türen. Dipl.-Ing. Bernhard Harder war
der Gründer des Technikums, er und sein
Studienfreund Dr.-Ing. Fritz Massig waren
die ersten Dozenten. Sie bestritten zunächst
alle Lehrveranstaltungen für 30 Studenten
des Maschinenbaus und 20 Studenten im
Vorsemester. Das Studium dauerte fünf
Semester, die Semestergebühr betrug 195
Reichsmark, hinzu kamen noch Laboratoriums-, Einschreib-, Vor- und Hauptprüfungsgebühren. Das Hauptgebäude der privaten
Bildungseinrichtung war das Haus Rosenwall
14, das Laborgebäude lag in der Stobenstraße 15. Auf rund 400 m² lernten und arbeiteten 1930 schon 125 Studenten und im
gleichen Jahr wurden die ersten Ingenieure
entlassen. Hier wurde privat studiert, aber
staatlich anerkannt geprüft.
Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre
drohte allerdings diese vielversprechende
Entwicklung zu beenden. 1936 beantragte
Bernhard Harder beim Braunschweigischen
Ministerium für Volksbildung daher die Verstaatlichung des Privatunternehmens, die
allerdings erst sechs Jahre später vollzogen
wurde. Seit Mai 1942 existierte nun die
„Staatliche Ingenieurschule Wolfenbüttel”.
und der Übergang in die Trägerschaft des
Landes Niedersachsen im Jahr 1949. Aus der
Ingenieurschule wurde später die Ingenieurakademie, dann Teil der Fachhochschule und
schließlich die „Ostfalia – Hochschule für
angewandte Wissenschaften“. Die Entwicklung der Wissenschaftsinstitution Ostfalia ist
allerdings eine Erfolgsgeschichte, die ältere
Wurzeln hat als in Wolfenbüttel. Schon seit
1853 wird in Suderburg und seit 1905 in
Braunschweig gebildet und ausgebildet,
erst 23 Jahre später entstand der Studienort
Wolfenbüttel. Heute hat die Ostfalia mehr
als 10.000 Studenten, die in 70 Studiengängen an den vier Standorten Salzgitter, Suderburg, Wolfenbüttel und Wolfsburg lernen
und arbeiten.
Der Schließung der Schule nach Kriegsende
folgte die Wiedereröffnung im Jahr 1946
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Van Deyk-Torte und Buttercreme-Dessert-Streifen
Foto: Schule Lambrecht,
Festschrift
Wolfenbüttels Ruf als Stadt der Schulen
wurde schon weit vor dem 20. Jahrhundert
begründet. Schon im Jahr 1543 wird die erste Lateinschule für Knaben im Zusammenhang mit der Christlichen Kirchenordnung
für das Land Braunschweig-Wolfenbüttel
erwähnt. Die Schulordnung, die 1651 von
Herzog August erlassen wurde, ist ebenfalls
ein Beweis für die lange Bildungstradition.
Wolfenbüttel kann im Bereich Weiterbildung, Ausbildung und akademischer
Bildung auf eine große Vergangenheit zurückblicken. So gab es seit Mitte des 18.
Jahrhunderts ein Schulmeisterseminar,
später Lehrerseminar, nach 1836 auch ein
Predigerseminar zur Weiterbildung junger Theologen. Und mit der Gründung der
Schlossanstalt und dem Breymannschen Institut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten sogar zwei Institute, in denen junge Frauen auf eine Erwerbstätigkeit
im Erziehungswesen vorbereitet wurden.
Berufsfördernd wirkten außerdem Fortbildungsschulen für Handwerkslehrlinge,
junge Kaufleute und Landwirte.
Lehrerseminar (heute
Schule Harztorwall)
Foto: Museum Schloss
Wolfenbüttel
Wolfenbüttel – Stadt der Schulen
Das Jahr 1928 war mehr als ereignisreich für
die Schulstadt Wolfenbüttel, zwei traditionsreiche Lehranstalten verschwanden aus der
Bildungslandschaft und zwei wegweisende,
private Bildungseinrichtungen begannen
ihre Arbeit. Nach 175 Jahren wurde das
Wolfenbütteler Lehrerseminar geschlossen, die zunehmende Hochschulausbildung
für Lehrer hatte endgültig diesen seminaristischen Ausbildungsweg verdrängt. Auch
die Samsonschule, jüdische Schule und Internat, hatte keine Zukunft mehr, nach 142
Schuljahren schloss sie ihre Pforten. Wirtschaftliche Gründe waren ausschlaggebend
für diese Entscheidung, das Stiftungskapital
war durch die Inflation entwertet und auch
der Rückgang der Schülerzahlen machte die
finanziellen Schwierigkeiten unüberwindbar.
Erfolg, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt werden konnte. „Zentrum
einer ästhetisch-geschmacklichen Revolution“, so wurde die international bekannte
Konditorenschule bezeichnet. Im Jahr 1948
wurde sie als Ausbildungsstätte vom Deutschen Konditorenbund übernommen.
Bis zum Jahr 2004 wurde in der „Bundesfachschule für das Konditorenhandwerk“
das süße Handwerk gelehrt, dann musste
die Schule geschlossen werden.
Konditorenschule am Neuen Weg, heute
Konferenzzentrum des Klinikums Wolfenbüttel
Foto: Harry Hofmann, Museum Schloss
Wolfenbüttel
Zunächst in der Lessingstraße, dann am
Neuen Weg etablierte sich 1928 in Wolfenbüttel ein Bildungsinstitut der besonderen
Art, die „Erste Privatschule für neue Konditoreikunst“. Orientiert an den Ideen des
Bauhauses wurde hier eine neue Formensprache aus Funktionalismus und Sachlichkeit im Bereich Backen gelehrt.
Ob Karamellblumen, Marzipanrosen oder
Zuckerhutmeißelung, alle neuen Entwicklungen in diesem süßen Fachgebiet fanden
Aufnahme in den Wolfenbütteler Stundenplan Bernhard Lambrechts, dem Gründer
der Schule. Schnell verbreitete sich der
gute Ruf dieser neuen Einrichtung. Konditoren aus dem In- und Ausland kamen nach
Wolfenbüttel und absolvierten hier ihre
Meisterlehrgänge. Bald betrug der Anteil der
ausländischen Schüler um 10 %. Die „Mohrenkopffabrik” – so der Wolfenbütteler
Name für diese Institution – war ein großer
40 41
Schüler der Tischlereifachschule
in Blankenburg 1928 (Postkarte)
Foto: Heimatsammlung der Stadt
Blankenburg
Fachschule für Tischler in Blankenburg
Ein Glücksfall für die Stadt Blankenburg im
Harz war es, dass Louis Friedrich Ferdinand
Reineking (1862 – 1945) seine 1887 in Detmold gegründete private Tischlereifachschule 1909 hierher verlegte. In eigenen großen
Schulgebäuden mit Werkstätten konnte er
hier mit 130 Schülern den Unterricht aufnehmen.
Bedingt durch den ersten Weltkrieg musste
dieser aber schon kurze Zeit später für mehrere Jahre eingestellt werden.
Nach dem Krieg erlebte die Schule in der
zweiten Hälfte der 20er Jahre eine Blütezeit.
Nach Verfügung des Ministeriums für Volksbildung in Braunschweig wurde sie nun ab
1924 als „Staatlich anerkannte Fachschule
für Tischlerei und Innenarchitektur, Tischlereifachschule Reineking“ bezeichnet.
Als einziger Leiter einer privaten Berufsfachschule im Land Braunschweig durfte
Reineking in dieser Zeit den amtlichen Titel
„Direktor“ führen.
Die Studierenden konnten hier u.a. die
Abschlüsse als Werkmeister, Zeichner oder
Möbelgestalter und Innenarchitekt erwerben. Auch zukünftige Bildhauer und Lithographen besuchten wegen des zeichnerischen Schwerpunktes in der Ausbildung
die Anstalt. Die Aus- und Fortbildungslehrgänge dauerten sechs, zwölf oder vierundzwanzig Monate, je nach Ausbildungsziel.
1935 äußerte das niedersächsische Tischlerhandwerk den Wunsch der Verlegung der
Einrichtung nach Hildesheim. Diesem wurde
entsprochen. So erfolgte am 1.4.1936 die
Übernahme der Fachschule durch den Reichsinnungsverband und die Stadt Hildesheim.
Der Gründer und langjährige Direktor der
Fachschule verstarb 1946 in Blankenburg.
Im Jahre 1929 hatte die Fachschule etwa
250 Schüler. 1934 erhielt sie den amtlichen
Lehrauftrag als Reichsfachschule des deutschen Tischlergewerbes.
Tischlereifachschule
in Blankenburg (Postkarte)
Foto: Heimatsammlung der Stadt
Blankenburg
Durch die solide Ausbildung und Veröffentlichungen, die in der Fachwelt beachtet wurden, erlangte die Bildungseinrichtung einen
guten internationalen Ruf als zentrale Fachschule des Tischlerhandwerks für Deutschland und die Schweiz. Ihre Studenten kamen
aber auch aus Schweden, Dänemark, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn,
Finnland, Frankreich, Brasilien und weiteren
Ländern.
Zur Pflege der Kameradschaft unter den
Schülern gründete man sogenannte „technische Verbindungen“ wie zuerst die „Harzianer“, die „T.V.T. Cimbria“(1925) und die
Vereinigung „Borussia“ (1927).
42 43
Da das alte Schulgebäude von 1864 in
Eschershausen nicht mehr den Anforderungen genügte, wurde ein Neubau geplant. Bedingt durch Geldmangel und Weltwirtschaftskrise erfolgte erst 1930/31 dieser
Bau eines neuen Schulgebäudes in Backstein. Die Besonderheit dieses Gebäudes
ist der Pavillonbau, verbunden mit einem
repräsentativen multifunktionalen Hauptgebäude. Im östlichen Pavillonbereich waren
die Klassenzimmer der Mittelschule und im
westlichen diejenigen der Volksschule. Gemeinsame Nutzung war im Hauptgebäude
bei der kombinierten Aula mit Turnhalle
und den Fachräumen.
Nach dem Vorbild der Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen wird auch in Delligsen
ein Schulgebäude geplant und 1933 eingeweiht.
Klassenraum
Foto: Stadtarchiv Eschershausen
Luftaufnahme der Gesamtanlage
Foto: Stadtarchiv Eschershausen
Nach dem Baubeginn im August 1930 erfolgt am 20. September 1931 in Eschershausen die Einweihung der neuen städtischen
Bürgerschule. Der Kostenvoranschlag von
368000 RM wird an keiner Stelle überschritten. Der Erbauer der Schule ist der Braunschweiger Architekt Dipl.-Ing. J. M. Kerlé.
Wegen der hohen Kosten erfolgt der Schulbau nicht als „Schulhochbau“ sondern als
„Schulblockbau“, d.h. die Klassenzimmer
sind ebenerdig. Es gibt keine Treppenhäuser
und Schulkorridore bei den Klassenzimmerblocks.
Pausenhof
Foto: Stadtarchiv Eschershausen
„Der Hauptbau soll auch Stätte der sozialen
Fürsorge, der turnerischen und sportlichen
Betätigung der Erwachsenen, sowie Sitz der
allgemeinen Volksbildung sein.“
Wilhelm-Raabe-Schule in Eschershausen
Der Vierklassenblockbau erlaubt eine leichte
Fundamentierung ohne Keller. Die Größe
eines Klassenzimmers beträgt 6 x 9 Meter
und davor ist ein Ankleideraum mit 6 x 3
Metern. Vor jeder Klasse ist eine Veranda,
diese grenzt an den Innenhof. „Der große
Gedanke der naturverbundenen Körper- und
Geistesschule kann sich verwirklichen.“ –
„Alle Räume atmen Sonne und Farbenfreude …“
Am 8. September 1931 wird vor der neu
erbauten Schule ein Denkmal für Wilhelm
Raabe eingeweiht, nach dem die Schule
ihren Namen erhält. Im zentralen Gebäude der Schule befindet sich die Turnhalle
(zugleich Aula), die Zentralheizungsanlage,
die Kochküche, die Hausmeisterwohnung,
Räume für die Lehrer, den Arzt und Rektor
sowie Fachräume für Zeichnen, Gesang,
Nadelarbeit und einen öffentlichen Baderaum.
Einweihung Raabedenkmal 8. Sept. 1931
Foto: Stadtarchiv Eschershausen
Der Grundriss zeigt das Hauptgebäude
mit den beiden Klassenblöcken mit je
vier Klassen, dem großen Innenhof mit
sich anschließendem Schulgarten.
Der Bauplatz kostete 70000 RM.
Foto: Stadtarchiv Eschershausen
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Eisenbahnplanungen
Nach dem Bau der Bahnstrecke BraunschweigHelmstedt wurde 1871 der sog. Ostbahnhof
als Güterbahnhof eingerichtet. Der hier bereits
1870 vorgesehene Personen- und Durchgangsbahnhof wurde erst am 1.10.1960 eingeweiht. 1924 war mit dem Bau eines neuen
Reichsbahnausbesserungswerkes am Lämmchenteich begonnen worden. Das Werk
wurde am 10. Mai 1927 eingeweiht.
Bebelhof, Luftaufnahme von 1929
Foto: Städtischer Bilderdienst
Siedlung Lämmchenteich
In den Jahren 1926 bis 1928 wurden 274
Wohnungen östlich der Borsigstraße errichtet.
In der Eisenbahner-Siedlung Lämmchenteich
bestand ein angebotener Wohnungstyp aus
drei Wohnräumen, Küche, Speisekammer,
Toilette, Bodenkammer und Keller. Der Mietpreis für die etwa 70 Quadratmeter Wohnfläche betrug 25 Reichsmark im Monat ohne
Nebenabgaben.
Luftaufnahme von 1932: Lämmerteich Ausbesserungswerk und Teile des Bebelhofs
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Neue Bauwerke und Siedlungen in Braunschweig-Bebelhof
Bebelhof, Luftaufnahme von 1978
Foto: Städtischer Bilderdienst
Der August-Bebel-Hof
Ebenfalls südlich der Bahnanlagen entstand
an der Salzdahlumer Straße zwischen 1929
und 1930 der August-Bebel-Hof. Nach der
Landtagswahl 1927 stellte die Landesregierung unter Heinrich Jasper Geld für eines
der größten Wohnungsbauvorhaben zur
Verfügung. Die geplanten 658 Wohnungen
(48 und 66 m2 Wohnfläche, Mietpreis 60 –
82 Reichsmark) sollten Bad und Toilette in
der Wohnung, fließend Warmwasser und
Zentralheizung erhalten.
Der Architekt Friedrich R. Ostermeyer aus
Hamburg plante den Bebelhof mit Flachdächern und großzügigen Freiflächen, um eine
optimale Sonnenbescheinung und Durchlüftung zu gewährleisten.
Seine an den Bauhausstil angelehnte Architektur sah auch eine Hebung des Wohnstandards vor. Das zentrale Waschhaus war mit
modernen Wasch- und Trockenmaschinen,
mit Heißmangel und Bügelapparaten sowie
einem Kinderraum ausgestattet. Eine Ladenzeile mit Einzelhandelsgeschäften versorgte
die Mieter mit dem täglichen Bedarf, ein
Kindertagesheim eröffnete 1930. Aus Kostengründen wurden schließlich nur 450
Wohnungen gebaut.
Entwicklung von 1930 bis heute
Die Siedlung Bebelhof stand von Beginn
an in der Kritik der rechtsgerichteten Politiker. Zeitungen berichteten ausführlich über
bautechnische und ökonomische Schwierigkeiten. Die eigentlich avisierte Zielgruppe
der in katastrophalen Wohnverhältnissen
der Innenstadt hausenden Arbeiterfamilien konnte sich die modernen, aber teuren
Wohnungen nicht leisten. Daher zogen vorwiegend besser verdienende Handwerker,
Angestellte und Beamte ein. Im August
1930 standen 260 Wohnungen leer, 1932
waren es noch 30 bis 80. Die hohen Mietausfälle und hohe Baukosten führten dazu,
dass der Bauträger Ende 1931 zahlungsunfähig war. Der braunschweigische Staat
übernahm die Wohnsiedlung.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach
1933 war der Bebelhof, der 1935 in Limbeker Hof umbenannt wurde, ein begehrtes
Mietobjekt geworden. Während des II. Weltkrieges litten die in unmittelbarer Nähe
der Bahnanlagen befindlichen Wohnsiedlungen unter den häufigen Luftangriffen.
Am Ende des Krieges waren mehr als 200
Wohnungen zerstört. Der Wiederaufbau
ging nur langsam voran. Noch 1952 beklagten die Mieter den trostlosen Zustand des
Bebelhofes.
1954 kaufte die städtische Nibelungen
Wohnbaugesellschaft den Komplex, 1956
begannen umfangreiche Sanierungsarbeiten.
Die Häuser erhielten ein 4. Stockwerk und
Satteldächer. Die Bezeichnung Bebelhof gilt
inzwischen ebenso für die ehemalige Eisenbahner-Siedlung Lämmchenteich.
46 47
Mit dem Wohnungsbau kann noch nicht in
der ersten Hälfte der 1920er Jahre begonnen werden, es müssen erst die politischen
und finanziellen turbulenten Jahre überwunden werden. 1926 gründen die Stadt Braunschweig und der Freistaat Braunschweig die
Nibelungen-Wohnbaugesellschaft (Niwobau)
mit dem Ziel, mehrgeschossige Häuser für
Wohnungen zu günstigen Mietpreisen zu
bauen. Das Siegfriedviertel entsteht auf dem
Ärkeröder Feld. Es werden zwei- bis viergeschossige Wohnblöcke gebaut, die überwiegend mit einem Satteldach versehen sind.
Übersichtsplan 1927
Quelle: Braunschweig
– Dari Verlag 1935
Das Gestaltungskonzept basiert auf den
Entwürfen für die Braunschweiger „Gartenstadt“ von 1919 durch den Prof. Hermann
Flesche, der sich überwiegend an dem Stadterweiterungskonzept Theodor Goeckes von
1917 orientiert. Diese gehen auf die Gedanken des englischen Gartenstadtplaners Raymond Unwin zurück.
Der erste Teil des Siegfriedviertels um den
Burgundenplatz wird völlig symmetrisch in
Luftbild aus den 30er Jahren
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
Neue Bauwerke und Siedlungen
in Braunschweig-Siegfriedviertel
den Jahren 1926 bis 1931 angelegt. Halbkreisförmig umschließt der Walkürenring
den größten Teil der Siedlung. Sie ist so konzipiert, dass sie in alle Himmelsrichtungen
erweitert werden kann, was später auch
geschieht.
Siegmundstraße und Sieglindstraße führen
radial auf den Burgundenplatz zu. Ein Denkmal mit der Figur des Siegfried weiht man
1930 im südlichen Teil des Platzes ein. Das
Denkmal wird 1942/43 abgebaut und eingeschmolzen, 1988 nachgegossen und wieder
aufgestellt.
Der zweite Teil des Siegfriedviertels entsteht
durch Erweiterung nach Norden, Süden und
Westen in den Jahren 1933 bis 1941. Überall befinden sich Grünanlagen zwischen den
Häusern und den Straßen, ebenfalls auf der
Rückseite der Gebäude. Die Siegfriedstraße
ist mit den breitesten Freiflächen ausgestattet. Die Anbindung an die Innenstadt erfolgt
über die Hamburger Straße bzw. über den
Mittelweg und den Bienroder Weg. Von Anfang an ist die Siedlung über eine Straßenbahnlinie gut zu erreichen, später kommt
eine Buslinie auf dem Bienroder Weg hinzu.
Die Geschäfte sind ursprünglich überwiegend an der Siegfriedstraße, dem Burgundenplatz und später am Nibelungenplatz
angesiedelt. Die Kirche St. Georg entsteht
erst im zweiten Bauabschnitt des Siegfriedviertels in der Mitte der Donnerburgsiedlung
während der NS-Zeit 1935.
1938 erfolgt die Eröffnung einer Volksschule
am nördlichen Rande des Siegfriedviertels.
Erst 1957 entsteht eine weitere Volksschule
in der Isoldestraße am südwestlichen Rande.
Blick in die Siegfriedstraße mit Pferdefuhrwerk, 30er Jahre
Foto: Stadtarchiv
Braunschweig
Blick in die
Siegfriedstraße mit
Straßenbahn
Foto: Braunschweig –
Dari Verlag 1935
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Architekt Anton van
Norden (1879 – 1955)
Foto: Stadtarchiv
Peine
Anton van Norden trat 1909 eine Stellung
am städtischen Hochbauamt in Peine an.
Zuvor hatte er nach einer Lehrzeit als Zimmermann und Maurer ein Studium an der
Königlichen Baugewerkeschule in Köln absolviert und erste Erfahrungen als Architekt
und Bauleiter gesammelt.
1910 übernahm er kommissarisch das Amt
des Stadtbaurats, doch bereits ein Jahr später beschloss er, sich „in hiesiger Stadt als
Privat-Architekt niederzulassen.“ Sein Büro
entwickelte sich rasant, sodass die Zeit bis
zum Zweiten Weltkrieg als die erfolgreichste
Phase der beruflichen Tätigkeit van Nordens
bezeichnet werden kann. Viele der zu dieser
Zeit errichteten Bauten bilden auch heute
noch markante Fixpunkte im Stadtbild.
Wohn- und Geschäftshaus Fels, 1913
(Seitenansicht)
Foto: Manfred Zimmermann,
Euromediahouse Hannover
Der Peiner Architekt Anton van Norden
In der ersten Schaffensphase errichtete er
überwiegend reich ornamentierte Putzbauten, so 1913 für den jüdischen Kaufmann
Louis Fels ein Wohn- und Geschäftshaus in
direkter Nachbarschaft der Jakobikirche an
der Breiten Straße. Es folgten in den 20er
Jahren Siedlungsbauprojekte, der Neubau
der Festsäle sowie eine Reihe von Wohnund Geschäftshäusern in Peine und Umgebung mit den für ihn charakteristischen,
grünverfugten, roten Backsteinfassaden.
Das größte Projekt aber stellen die von 1927
bis 1935 errichteten Gebäude der HärkeBrauerei dar, deren Hausarchitekt van Norden war. Nach der Umgestaltung zu einer
architektonischen Einheit bildet die Anlage
mit ihren roten Klinkerfassade bis heute eine
städtebauliche Dominante.
Trotz seiner unbestrittenen Verdienste um
die Baukultur in Peine darf nicht vergessen
werden, dass van Norden öffentlich eine politisch stark nationale Überzeugung vertrat.
So lieferte er als Mitglied des antidemokratischen und antisemitischen Jungdeutschen
Ordens 1925 den architektonischen Entwurf
für den Feldstein-Obelisken des SchlageterDenkmals auf dem Luhberg.
Anton van Norden, bis heute Peines bedeutendster Architekt, starb am 16. Juli 1955
im Alter von 78 Jahren. Seine Grabstätte
liegt auf dem evangelischen Friedhof an
der Gunzelinstraße.
Härke-Brauerei, Toreinfahrt (1930).
Die Bedeutung der Portalanlage als Visitenkarte des Unternehmens wird betont durch
die aufwändige Wandgestaltung mit großformatigen Keramikplatten und figürlicher
Bauplastik aus der Werkstatt der Kieler
Kunstkeramik AG. Links Frauengestalt mit
Ähren, rechts: Küfer.
Foto: Ralf Holländer
Haus Runge, sogenanntes „Elefantenhaus“
(1927). Der Name dieses markant gebogenen
Eckgebäudes mit Staffelgiebel, Balkonen und
Arkaden leitet sich von den blauen KeramikElefanten ab, die die Schlusssteine der Bögen
im Erdgeschoss zieren.
Foto: Ralf Holländer
Zwei Beispiele für Bauplastiken
an Gebäuden von Anton van Norden
Foto: Ralf Holländer
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Wasserturm mit Holzgerüst eingerüstet, 1928
Foto: Archiv Peter Stübig
Verlegung der Hauptwasserleitung an der
Straßenecke Deiweg und Am Spring 1928
Foto: Archiv Peter Stübig
Das Wasserwerk in Lobmachtersen
Die Quellen des Springbaches mitten im
Ort und dessen gute Trinkwasserqualität
waren Voraussetzung für die Errichtung
eines Wasserwerkes im 655 Einwohner zählenden Lobmachtersen. Laut Bauplan sollte
der Wasserturm neben der Springquelle
mit Brunnen und einem Ringleitungsnetz
im Ort errichtet werden. Im Frühjahr 1928
begannen die Bauarbeiten. Die Staatsbank
gewährte der Gemeinde einen Kredit über
35000 RM, später einen zusätzlichen Kredit
über 15000 RM. Vom Kreis Wolfenbüttel
und dem Freistaat Braunschweig kamen jeweils 8000 RM und vom Landesarbeitsamt
3700 RM für die Beschäftigung von Arbeitslosen hinzu.
Zum Generalunternehmer für den Bau des
Wasserwerks wurde die Brunnenbaufirma
Warnecke aus Salder ausgewählt. Die Arbeiten am gemauerten Wasserturm führte
die Baufirma Heuer aus Gebhardshagen aus.
Nach Abschluss der Bauarbeiten Ende 1928
betrugen die Gesamtkosten für das Wasserwerk 68423,17 RM.
Die Höhe des Wasserturmes beträgt von der
Kellerbodenoberkante bis zur Oberkante des
Wasserbehälters 24,50 m, mit Dach insgesamt 29,50 m. Der Außendurchmesser des
Turmes beträgt im Erdgeschoss 6,50 m und
im Obergeschoss 5,80 m. Im Kellergeschoss
wurden zwei Saug-Druck-Pumpen mit einer
max. Leistung von 24 cbm Wasser/Stunde
aufgestellt, die wöchentlich abwechselnd
liefen. Sie waren angetrieben von einem
Elektromotor, der über einen Schwimmer im
Wasserbehälter geschaltet wurde. Zur Absicherung bei einem Stromausfall wurde ein
Notstromaggregat mit Benzinmotor aufgestellt. Der tägliche Wasserverbrauch wurde
1928 auf 76 cbm Wasser taxiert.
(WEVG) zuständig. Für die steigenden Einwohnerzahl und den Anstieg der Abnahmestellen in Lobmachtersen nach 1945 waren
das Leitungsnetz und der Wasserdruck nicht
mehr ausgelegt. Daher reiften schon in den
1950er Jahren Überlegungen für einen Anschluss an das Fernwassernetz der Salzgitter
AG, der am 4.8.1982 gleichzeitig mit der
Stilllegung des Wasserturms erfolgte.
Der stählerne Wasserbehälter besaß ein
Füllvermögen von 100 cbm, der Leitungsdruck im Ort betrug ca. 2,6 bar. Die Hauptwasserleitung mit 125 mm Rohrdurchmesser
ging vom Wasserturm in Richtung Westen
durch den Deiweg bis zur Landwehrstraße
und verzweigte sich dort zu einer Ringleitung mit 93 Hausanschlüssen und 24
Überflurhydranten. Nach Problemen mit der
geschätzten Verbrauchserfassung wurden
1932 Wasserzähleruhren eingebaut. In den
1930er Jahren wurden außerdem moderne
Kreiselpumpen eingebaut. Nach 1945 wurde eine Trinkwasserchlorung installiert.
Für das Wasserwerk war seit 1928 die Gemeinde Lobmachtersen, nach der Stadtgründung 1942 die Stadt mit der eigenen
Wasser- und Energieversorgungsgesellschaft
Wasserturm Lobmachtersen
Foto: Medienzentrum Stadt Salzgitter
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Viele Restaurants und Cafés sind über die
Grenzen von Bad Harzburg bekannt, dazu
gehört das Café Winuwuk am westlichen
Rande der Stadt. Die Gebäude, das sind
das Café Winuwuk und der etwas separat
liegende Sonnenhof mit Ausstellungs- und
Verkaufsräumen für Kunst und Kunstgewerbe, entstanden 1922 und 1923.
Das Künstlerehepaar Walter und Dore
Degener ließen sich nach dem Ende des
Ersten Weltkrieges in Bad Harzburg nieder
und widmeten sich der Kunst. Es entstand
der Wunsch, ein Gebäude für Kunstausstellungen zu schaffen. Sie kauften ein Gelände
am Waldrand oberhalb von Bad HarzburgBündheim. Von hier hat man einen weiten
Café Winuwuk, Bad Harzburg
Den Namen „WINUWUK“ leitete Hoetger
aus den Anfangsbuchstaben des Satzes ab:
Weg im Norden und Wunder und Kunst.
Das Künstlerehepaar Degener deutet den
Namen anders:
Wille ist neu und der Weg unserer Kunst.
Fotos: Angela Potthast
Blick nach Norden in die Landschaft in Richtung Vienenburg-Harly. Da in der Umgebung keine Restaurants vorhanden waren,
plante man für die Gäste der Kunstausstellungen ein Café.
Als Architekten wählten sie Bernhard Hoetger, der zur Künstlerkolonie in Worpswede gehörte. Hoetger war in Deutschland
bekannt als Künstler der Böttcherstraße in
Bremen, er stammte aus Darmstadt. Hoetger entwarf Winuwuk und den Sonnenhof
nach plastischen Modellen. Für die tragenden Hölzer suchte er möglichst krumme
Stäbe aus, die von Bildhauern aus Worpswede ihrem natürlichen Wuchs entsprechend
gestaltet wurden. Diese Bildhauer fertigten
neben Türen und Geländern auch alle Einrichtungsgegenstände an. Sie beschnitzen
und bemalten sie.
Hoetger selbst schuf mehrere Reliefs. Er
pflegte „nordisches“ Gedankengut, wollte
den Urformen der germanischen Vorfahren
nacheifern. Als Mittelpunkt schuf er im Café
einen offenen Kamin, im Sonnenhof einen
Brunnen.
dienten die Gebäude der englischen Besatzungsmacht als Offizierskasino. Ab 1953
konnte Familie Degener die Bewirtschaftung
wieder aufnehmen. Vieles wurde wieder in
den alten Zustand versetzt. Ab 1978 führt
Familie Kühn das Gesamtkunstwerk des Expressionismus.
Zur Zeit des Nationalsozialismus geriet das
„Café Winuwuk“ den Machthabern ins Visier. Nach einem Ortstermin im Jahre 1939
wurden etliche Einrichtungsgegenstände als
„entartet“ eingestuft und übermalt oder
abgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg
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Denkmal
in Abbesbüttel
Foto: Rolf Ahlers
Schemazeichnung
der Eisenbahnbrücke bei Thune
Foto: Wasser- und Schiffahrtsamt
Die Bundeswasserstraße Mittellandkanal
verbindet die schiffbaren Flüsse Rhein,
Weser, Leine und Elbe, dadurch ist die hohe
Bedeutung für den Güterverkehr zwischen
West- und Osteuropa gegeben. Der Kanal,
Baubeginn am Dortmund-Ems-Kanal, wurde abschnittsweise in Betrieb genommen,
1916 war Hannover erreicht. Auch als eine
Art von Notstandsarbeiten für heimgekehrte
Weltkriegssoldaten – als „Kanalmonarchen“
bezeichnet – begann der Weiterbau. Es wurde viel geschaufelt, der Aushub mit Lorenbahnen befördert und vielfach„auf Kippe“
gelegt. 1928 wurde die Schleuse Anderten
eingeweiht, 1929 ging der Hafen Peine in
Betrieb.
Sogleich empfing dort die Ilseder Hütte
benötigte Rohstoffe (Kohle usw.) und versandte das Peiner Walzwerk viele Produkte
(Stahlträger usw.). Die östlich anschließende Kanalstrecke war bereits im Bau und
so konnte bei Thune vorgefundener Ton
als Dichtungsmasse für Schwemmsandabschnitte bei Wendeburg verwendet werden.
Nach streckenweiser Flutung fuhren Frachtschiffe mit Baumaterialien bis Sophiental
(29.3.1931) und Watenbüttel (18.4.1932).
Die technische Inbetriebnahme des Braunschweiger Hafens geschah am 18.10.1933.
Das erste ankommende Schiff beförderte
Ruhrkohle, das am nächsten Tag erste abgehende Schiff hatte Mehl der Rüninger
Der Mittellandkanal – Bauzeit 1906 – 1938
Brückenbau bei Sophiental
Foto: Archiv Wilhelm Bruer
Löffelbagger bei Sophiental
Foto: Archiv Wilhelm Bruer
und der Lehndorfer Mühle als Ladung. Die
Einweihung des Braunschweiger Hafens
erfolgte am 13.5.1934. Dann, 1938, mit
Fertigstellung der Schleuse Sülfeld und der
anschließenden Strecke bis Magdeburg,
Hebewerk Rothensee, war die Elbe erreicht.
Erst seit dem 10.10.2003, mit der Einweihung der Trogbrücke über die Elbe und der
Schleuse Hohenwarthe, ist der Mittellandkanal (325 km) vollendet. Größere Düker
führen die Wassermengen der Fuhse, der
Aue, der Oker (damals der größte Düker
Europas) und der Schunter unter dem Kanal
hindurch.
Mit Brücken unterschiedlicher Bauart blieben bestehende Verkehrsverbindungen
(Straßen und Eisenbahnlinien) erhalten. Eine
beeindruckend große Stahlfachwerkbrücke
führt seit dem 24.1.1932 die Eisenbahnlinie
Braunschweig-Gifhorn über den Kanal.
Eisenbahnbrücke bei Thune
Foto: Wasser- und Schiffahrtsamt
Die Wasserfläche des Kanals, 65 m über
NN, erstreckt sich von Anderten bis Sülfeld
(62,7 km), hinzu kommen die Strecken nach
Bolzum (0,6 km, Stichkanal Hildesheim),
Wedtlenstedt (4,6 km, Stichkanal Salzgitter, 1940) und im Elbeseitenkanal bis Uelzen
(60,6 km, 1976). Der heutige Ausbauquerschnitt des Kanals ist unterschiedlich, Mindestmaße sind: 42 m Breite, 4 m Tiefe und
5,25 m Durchfahrhöhe unter Brücken.
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Fast 10 Millionen Todesopfer und 20 Millionen Verwundete unter den Soldaten hat
der Erste Weltkrieg gefordert. Rund 7 Millionen zivile Opfer kamen hinzu. Auch im
Braunschweigischen hatte jede Gemeinde
Tote zu beklagen. In (Salzgitter-)Barum hatte
der Standesbeamte schon wenige Wochen
nach Kriegsbeginn die traurige Pflicht, den
in Barum geborenen Walther Koch in das
dortige Sterberegister einzutragen, der am
1. September 1914 in Frankreich gefallen
war („Den Heldentod fürs Vaterland“). Viele
Einträge sollten folgen, doch diese Formulierung wählte der Standesbeamte nur dieses
eine Mal.
Den Toten des Ersten Weltkrieges, deren
Zahl die der vorangegangenen Kriege bei
Weitem übertraf, wurde nach Kriegsende
vielfältiges Gedenken zuteil. Die häufigste
Form, vor allem in den Dörfern, wurde das
„Ehrenmal“, auf dem die Namen der Toten
in Stein gemeißelt wurden. In der Regel waren Gemeinden und Kirche die Initiatoren,
die Denkmale wurden meist in unmittelbarer
Nähe zur Kirche errichtet. In Barum wurde
ein Ehrenmal für die Gefallenen am 3. August 1924 im Anschluss an einen Gottesdienst feierlich eingeweiht, im Beisein der
ganzen Gemeinde. Vorausgegangen war
eine nur kurze Planungs- und Bauzeit.
Die künstlerische Gestaltung des Sandsteindenkmals, auch den Gedenktext, hatte die
Gemeinde dem Architekten Rudolf Curdt
aus Braunschweig überlassen, dem Direktor
der städtischen Handwerker- und Kunstgewerbeschule. Er hatte folgende Inschrift
vorgeschlagen:
Gefallenenehrung in Barum
Den Kampf und Tod bereiten
Zur Ehr‘ für ewge Zeiten.
Nicht zu erobern, sondern zu schützen
nicht zu zerstören, sondern zu nützen
zog diese Schar von einunddreißig aus,
verließ die Heimatflur, Kind, Weib und
Vaterhaus.
Als heilig Opfer in den Tod gegeben,
dass wir in ihrem Geiste weiterleben.
Als das da wisse Kind und Kindeskind,
dass nimmer sie umsonst gestorben sind.
Ausgeführt wurde die Arbeit von Steinmetzmeister Albert Fricke aus Königslutter, einem
Spezialisten für „Architekturen, Grabdenkmäler und Kriegerehrungen“. Die Kosten
waren hoch, insgesamt 2277 Mark mussten aufgebracht werden. Ein großer Teil der
Summe kam in einer Sammlung in der Gemeinde zusammen, ein Zuschuss war nur in
Höhe von 729 Mark nötig. Die Gemeindemitglieder trugen nach ihren Möglichkeiten
bei, einige gaben sehr hohe Beträge.
Doch waren die Gefallenen Helden oder
Opfer? Der Erste Weltkrieg endete nicht mit
einem nationalen Sieg, es fiel schwer, dem
millionenfachen Tod einen Sinn zu geben.
So stand das Totengedenken im Mittelpunkt
der meisten frühen Denkmale. Mit einem
gewissen zeitlichen Abstand trat die Trauersymbolik zurück. Die Ehrenmäler begannen
ab Mitte der 1920er Jahre zum Spiegel ideologischer und politischer Strömungen der
Weimarer Republik zu werden.
Fotos: Stadtarchiv Salzgitter
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Die Mitglieder des Stahlhelms anlässlich der
Fahnenweihe in Salzdahlum im Jahr 1923
Fotonachweis: privat
Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten in Wolfenbüttel
Die Wolfenbütteler Ortsgruppe Stahlhelm,
Bund der Frontsoldaten, gründete sich am
31. August 1921 im Restaurant „Bayrischer
Hof“ (Stadtmarkt 17). Der Stahlhelm war
eine Vereinigung der Kriegsteilnehmer des
Ersten Weltkrieges (1914 – 1918) und verkörperte einen restaurativ-monarchistischen
Nationalismus mit einem sichtbaren Bekenntnis zu den Farben des untergegangenen Kaiserreiches Schwarz-Weiß-Rot. Die
Mitglieder des zeitweise größten Wehrverbandes der Weimarer Republik standen den
politischen Zielen der Deutschnationalen
Volkspartei (DNVP) nahe.
Die Stahlhelm-Führungspersönlichkeiten
der ersten Stunde waren Offiziere des
Kaiserreiches. 190 Mitglieder, darunter
Wolfenbütteler Bauunternehmer, Hotelbesitzer, Fabrikanten, Handwerker, Kaufleute, Arbeiter, Angestellte, Landwirte und
Künstler – mithin das gesamte Spektrum der
Weltkriegsteilnehmer – zählte die Ortsgruppe Wolfenbüttel ein Dreivierteljahr nach der
Gründung. Bis 1923 hatte sich ihre Zahl auf
300 erhöht. In den Folgejahren konstituierten sich im Kreisgebiet weitere Ortsgruppen,
u.a. in Neindorf, Dorstadt, Groß Stöckheim
und Timmern. Der Stahlhelm veranstaltete
„Frontsoldaten-Tage“ und stellte bei diesen
Aufmärschen die monarchistisch-militaristische Einstellung zur Schau.
Die Stahlhelmer pflegten bei ihren Zusammenkünften die Kameradschaft, indem sie
ihre traumatischen Fronterlebnisse in Gestalt
von heroischen Geschichten schilderten. Besonders während des Inflationsjahres 1923
verteilte der Stahlhelm Lebensmittel an die
Familien seiner Mitglieder. Organisiert wurden diese Kampagnen über ländliche Orts-
gruppen. Außer der radikalen Ablehnung
der Vertreter der „Weimarer Republik“, des
„Parlamentarismus“ und besonders des
„Vertrages von Versailles“ hielt der Antisemitismus auch Einzug in die Wolfenbütteler Ortsgruppe. So wurde Ende März 1924
auf der Stahlhelm-Generalversammlung im
Wolfenbütteler Kaffeehaus per Satzungsänderung der „Ausschluss und die Nichtaufnahme von Juden“ mit der Begründung
beschlossen, dass jüdische Mitglieder dem
Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF)
beitreten könnten.
Der Wolfenbütteler Werner Schrader wurde
1925 zum Ortsgruppenführer des Stahlhelms gewählt. Ein Jahr später löste der
Oberlehrer Wilhelm Uhlenhaut Schrader als
Landesführer des Freistaates Braunschweig
ab. Bekanntheit erlangte Schrader durch
Beteiligung am Attentat auf Adolf Hitler. Er
bewahrte einen von mehreren Sprengstoffvorräten auf.
Doch ihren Zenit hatte die Wolfenbütteler
Stahlhelm-Organisation schon bald überschritten. Nur 21 Mitglieder kamen im Juni
1930 zur Versammlung. Kurz nach dem
Jahreswechsel 1933 agierten Stahlhelmer
und Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) sowie deren Organisationen vielfach noch gemeinsam gegen die
Linksparteien. Doch kam es bereits in der
ersten Hälfte des Jahres 1933 im Zuge der
NS-Herrschaftseroberung in Kreis und Stadt
zu brutalen Übergriffen auf die Stahlhelmer
durch SA und SS. Wie im gesamten Reichsgebiet wurde der Wolfenbütteler Stahlhelm
1935 durch die NS-Machthaber endgültig
aufgelöst.
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Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung e.V. (früher Umgegend) wurde am
17. Juli im „Deutschen Haus“ in Vorsfelde
gegründet, am 30. September 1921 eine
Satzung beschlossen und diese am 31. August 1928 unter der Nr. 7 in das Vereinsregister des Amtsgerichtes Vorsfelde, Freistaat
Braunschweig, eingetragen.
Anlässlich der Gründungsversammlung
traten spontan 33 Personen, Bauern, Bürger,
Handwerker und Geschäftsleute aus VorsStandarte
Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde
Siegerurkunde von 1928
Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde
Vorn auf dem Foto Wilhelm Bammel, 1922
Foto: Archiv Familie Bammel
felde und 8 Dörfern dem Verein bei. Ebenso
Günther von der Schulenburg und sein Generaldirektor Steinhoff vom benachbarten
Rittergut Wolfsburg. In seiner Ansprache
zum zehnjährigen Stiftungsfest und Jubiläumsturnier erwähnte der Vorsitzende die
Anzahl von 130 Vereinsmitgliedern.
Das erste Reit- und Fahrturnier fand schon
ein Jahr nach der Gründung des Vereins am
16. Juli 1922 auf dem Bürgerplatz in Vorsfelde statt. Diese Turniere etablierten sich
Der Reit- und Fahrverein Vorsfelde und Umgebung e.V.
zu Top-Veranstaltungen in der weiten Umgegend und fanden bis 1933 fast jährlich
statt.
Diese erfolgreiche Ära des Vereins ging zunächst im Jahre 1933 mit dem Eintritt der
Reiter in den SA Reitersturm zu Ende.
Durch die Verpflichtung namhafter Ausbilder, vornehmlich Gestütswärter vom braunschweigischen Landesgestüt, erreichten
die hiesigen Reiter mit ihren noch auf den
Höfen im Einsatz befindlichen Pferden einen
sehr hohen Leistungsstand und konnten
sowohl einzeln als auch in der Abteilung als
Mannschaft erhebliche Erfolge aufweisen.
Sie wurden zu Teilnahmen an Turnieren auf
Gau- und Reichsebene, u.a. nach Braunschweig, Hannover, Berlin und Dortmund
eingeladen.
Heute hat der Verein 320 Mitglieder und
zählt zu den tragenden Säulen des Vereinslebens im Stadtteil von Vorsfelde. Er hat eine
eigene große Sportanlage, führt ein reges
Vereinleben und erfreut sich großer Beliebtheit.
Hindenburg zu Besuch bei Graf Schulenburg,
Wolfsburg 1926
Foto: Archiv Reit- und Fahrverein Vorsfelde
Der Vorsfelder Reiterverein gehörte nach
kurzer Zeit zu den gesellschaftlich tragenden
Vereinen der Stadt. Was Rang und Namen
hatte, nahm an den jährlichen Reiterbällen
im Winter und den Bällen anlässlich einer
Turnierveranstaltung teil. Durch Reitjagden
im Herbst, sowie Ausritte und Sternfahrten
mit Kutschen im Sommer, Beteiligung an
Umzügen der Vereine, wurden die Mitglieder und Bürger ständig an den Verein
gebunden.
Wilhelm Bammel
aus Brackstedt, 1924
Foto: Archiv Familie
Bammel
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links:
Kinderbekleidung in „Deutsche
Frauenkleidung und Frauenkultur“, 1927
Foto: Landesmuseum Braunschweig
rechts:
Familie Froböse aus Calbecht, 1928
aus: „Ortschaft West“ in alten Ansichten,
Salzgitter 2003, S. 78
Postbote und Einwohner
von Engelnstedt, 1928
aus: „Ortschaft Nord“ in alten Ansichten,
Salzgitter 1994, S. 87
Die Mode in den Goldenen 1920er Jahren
im Freistaat Braunschweig
In der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts
veränderte sich auch die Mode als Folge
der gesellschaftlichen Umbrüche während
und nach dem Ersten Weltkrieg radikal.
Kniekurze Röcke, tief sitzende Taillen und
Topfhüte lösten die opulente Vorkriegsmode
ab. Es etablierte sich eine schlanke, gerade
abfallende Linie, die ohne Figurbetonung
auskam. Die Hochburg der „neuen Frau“,
die Bubikopf und manchmal sogar Hosen
trug, war in den 1920er Jahren die Hauptstadt Berlin. Doch dank Illustrierter und
Zeitschriften wie „Elegante Welt“ und „Die
Dame“ hatten auch die Frauen im Freistaat
Braunschweig die Möglichkeit, sich über die
aktuellsten Trends zu informieren und diese
mithilfe der teilweise beiliegenden Schnittmuster anzufertigen.
Auch die Kinderkleidung orientierte sich an
den Vorbildern der Großen. Hängekleidchen
mit tiefen Gürtellinien bzw. in gürtelloser
Form waren en vogue.
Während die neue Mode zumindest in der
Stadt Braunschweig ihre Anhängerinnen
fand, prägten in den ländlichen Gegenden
langes Haar und im Alltag weiterhin praktische Arbeitskleidung das Bild. Die festliche
Kleidung für Sonn- und Feiertage auf dem
Lande zeichnete sich durch eine gemäßigte
Interpretation der neuesten Mode aus, bei
der die Taille leicht betont war.
Titelblatt der „Illustrierten Wäscheund Handarbeitszeitung“ 1927
Foto: Landesmuseum Braunschweig
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Heinrichshafen in den 30er Jahren
Foto: Archiv Klaus Hoffmann
Heinrichshafen Mitte der 20er Jahre
Foto: Archiv Klaus Hoffmann
Ausflugslokal Heinrichshafen
Beim Müller Oehlmann konnten die Spaziergänger in dem an der Oker gelegenen kleinen schattigen Mühlengarten in Eisenbüttel
Getränke und Kaffee trinken. Müller Oehlmann gab seinen Wirtschaftsbetrieb im Jahr
1870 auf. Dieses nutzte Heinrich Gerecke,
ließ die Mühleneinrichtung ausbauen und
richtete das Gebäude als Gastwirtschaft ein;
Gerecke hatte keine Kosten gescheut, das
Haus so bequem als möglich einzurichten,
um bald darauf ein groß angelegtes Restaurant zu eröffnen. Ein großes Ereignis für die
damalige Zeit war es, als ein von Gerecke
aus Hamburg bezogenes Dampfboot zum
ersten Mal die Wellen der Oker durchschnitt
und den Verkehr vom Bahnhof zum Heinrichshafen aufnahm. Am 16. Mai des Jahres
1873 eröffnete Gerecke mit dem Rufnamen
„Heinrich“ sein neues Ausflugslokal an der
Oker. In der Braunschweigischen Tageszeitung vom 16. Mai 1873 stand zu lesen:
„Heinrichshafen zu Eisenbüttel
Mit hoher Genehmigung habe ich unter
obiger Firma eine Restauration nebst
Kaffeegarten, verbunden mit Oker Dampfschifffahrt, eröffnet, und erlaube mir, einem
Hochgeehrten Publikum obiges Etablissement ganz ergebenes zu empfehlen”.
Es verkehrte noch lange Jahre nach dem
Ersten Weltkrieg das Motorboot „Brunonia“
festlich geschmückt mit bunten Wimpeln
zum beliebten Ausflugziel nach Heinrichshafen. Heinrichshafen war, rechnet man die
Mühlenschänke mit, eine der ältesten Gaststätten Braunschweigs. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude durch Bomben
beschädigt und nicht wieder in seinem alten
Zustand errichtet. Letzte Erwähnung fand
das Lokal im Adressbuch 1970 als (Provisorium) Bootskaffee Heinrichshafen. Heute
befindet sich dort auf dem Grundstück ein
Schuppen der Schleuse Eisenbüttel.
Vergnügungslokale in Braunschweig
Ausflugslokal Weißes Ross
Schon im Jahre 1330 tauchte der Name
Weißes Ross in Chroniken auf. Allerdings
stand dieses alte Gasthaus im Mittelalter
noch am Rennelberg, etwa dort, wo sich
heute die Untersuchungshaftanstalt befindet. Früher wurden dort die Pferdemärkte
abgehalten, daher der Name. In den Jahren
1717 bis 1719 wurde die Stadt neu befestigt. Im Zusammenhang damit bestimmte
der Herzog Anton Ulrich, dass das Wirtshaus in diesem Gebiet abgerissen werden
musste. Der damalige Wirt errichtete im Jahr
1717/18 auf dem Gelände vor der Stadt das
an der Celler Heerstraße liegende neue Weiße Ross. Es war, so hieß es, eine der ältesten Gaststätten Norddeutschlands. Oberkellner Louis Ahrenholz aus Bettmar übernahm
als 30-Jähriger 1851 die Gaststätte zweiter
Klasse „Weißes Ross“ vor dem Petritor und
musste das gesamte Wirtschafts-Inventar
von seinem Vorgänger übernehmen.
Am 15. Oktober 1944 wurde das „Weiße
Ross“ durch Bombenangriff vollkommen
zerstört. Nach der Währungsreform 1948
wurde es in mehreren Bauabschnitten wieder aufgebaut.1968 wurde das Gebäude
abgerissen, und auf dem Gelände errichtete
die Norddeutsche Landesbank eine Bankfiliale. Wo seit 1719 die Wirte hinter der Theke
standen, standen nun Bankkaufleute hinter
dem Tresen. Anfang des Jahres 2008 wurde
die kleine Gastwirtschaft Weißes Ross (am
Ring) die noch an die traditionsreiche Gaststätte erinnerte, abgerissen, um unter anderem einem Einkaufsmarkt Platz zu machen.
Bei den Ausschachtungsarbeiten fand man
noch viele alte Geschirrreste in einer Grube.
Es waren die letzten Relikte, die an die einstmals beliebte Gaststätte an der Celler Straße
erinnerten.
Eine alte
Porzellanscherbe
Foto: Archiv
Klaus Hoffmann
Weißes Ross um 1933
Foto: Archiv Klaus Hoffmann
Weißes Ross nach dem 2. Weltkrieg (links)
und großer Saal in den 30er Jahren
Fotos: Archiv Klaus Hoffmann
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Filmvorführungen in der Stummfilmzeit
wurden durchaus nicht ohne Ton angeboten. Filmerklärer erläuterten den Fortgang
der Handlung, wenn der Sprung von Szene
zu Szene nicht anders zu vermitteln war.
Am Klavier, dem Akkordeon oder gar einer
speziellen Kinoorgel wurden die Abläufe auf
der Leinwand dramatisch oder einfach begleitend untermalt. In Großstädten wirkten
ganze Orchester bei der Interpretation der
Filme mit.
Seit 1918 arbeiteten drei deutsche Techniker an der Entwicklung eines Verfahrens zur
Verbindung von Bild und Ton, in Kurzfilmen
erprobte man unterschiedliche Verfahren.
Der erste Spielfilm mit Ton wurde am 6. Oktober 1927 in New York aufgeführt, es wurde viel gesungen, die Schauspieler mussten
erst lernen weniger zu gestikulieren – und
nicht jeder oder jede hatten angemessene
Stimmen. Erst 1929 wurde The Jazz Singer
in Berlin aufgeführt.
Von einem Siegeszug des Tonfilms konnte
man keineswegs sprechen, der Stummfilm
war erfolgreich, und die Tonbild-Projektoren
waren teuer. Außerdem benötigte man
Fachleute, die die riesigen Apparate bedienen konnten.
Plakat
„The Jazz Singer“
Foto: Stadtarchiv
Helmstedt
Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm
hatte künstlerische und wirtschaftliche Konsequenzen. Filmschauspieler, die in Stummfilmzeiten Karriere gemacht hatten, erwiesen sich für die neuen Anforderungen des
Tonfilms als nicht geeignet. Gefordert wurden jetzt „Temperament, schillernde Vielseitigkeit der Persönlichkeiten und vor allem
Stimmen, die einen Ausdruck für alle Ge-
Tonfilm in Helmstedt
Kinopalast/Theater
Foto: Stadtarchiv Helmstedt
mütslagen bereithalten“. Der erste Ufa-Tonspielfilm „Melody des Herzens“ kam 1929
in die Filmtheater. Er erzählt die Geschichte
des Bauernmädchens Julia Balog (Dita Parlo), das in Budapest eine Stellung als Dienstmagd gefunden hat. Sie verliebt sich in den
Honved-Husaren János Garas (Willy Fritsch),
der auf ein Pferd spart, um damit später ein
Transportgeschäft zu gründen. Als Julia ihre
Stellung verliert, gerät sie in die Fänge der
Zimmervermittlerin Czibulka, die Julia eine
„Stellung“ in einem Bordell verschafft. Als
János, angestachelt von seinen Kameraden,
das Freudenhaus besucht und Julia erblickt,
nimmt die Tragödie ihren Lauf. Von ihrem
gesamten Geld kauft Julia ein Pferd und
Filmprojektor
Foto: Stadtarchiv Helmstedt
ertränkt sich im Fluss. Furore machte Willy
Fritsch mit „Die Drei von der Tankstelle“,
1930 in den Filmtheatern, und der neue Star
am Filmhimmel, Marlene Dietrich mit „Der
blaue Engel“, ebenfalls 1930 zu sehen.
Am Sonnabend, dem 13. November 1909,
hatte in Helmstedt das „Filmzeitalter“ begonnen. Auf der Kornstraße, im Zentrum
der Stadt, entstand das erste Kino, das
Tonbild-Theater. Der Name täuscht, denn
natürlich waren es Stummfilme, die dort gezeigt wurden. Ein Pianist schuf allerdings die
passenden Töne zu den Geschehnissen auf
der Leinwand. Der war eigentlich Tabakwaren-Händler, konnte aber als Hobby-Musiker
zur Unterhaltung der Helmstedter einiges
beitragen. Seine Nebenbeschäftigung – oder
die seines Nachfolgers – wurde einige Zeit
benötigt, denn immerhin dauerte es über
zwanzig Jahre, bis die Helmstedter echte
Tonfilme zu sehen bekamen. Deren Siegeszug führte dazu, dass in der kleinen Stadt
nach und nach vier Kinos entstanden, das
letzte per Umgestaltung der großen Halle
einer Autowerkstatt. Im Tonbild-Theater,
dem ersten Haus am Platze, ließen sich betuchte Liebhaber des Tonfilms sogar Dauerplätze reservieren. Der Tonfilm war ein
gesellschaftliches Ereignis geworden. Nicht
nur in Helmstedt.
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Der Deutsche Hermann, mit bürgerlichem Namen Julius Skasa, wurde am 21.
April 1852 in Koblenz geboren und verstarb
am 16. Februar 1927 in Braunschweig. Er
war eines von mehreren Stadtoriginalen im
Braunschweig des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sein „Markenzeichen“ war ein mit Orden, Ehrenzeichen
und Bändern übervoll behängter Uniformrock, den er in der Öffentlichkeit trug. Nachdem er 1875 nach Braunschweig gekommen war, ließ er sich in der Stadt nieder und
heiratete eine Polin. Den Lebensunterhalt
der Familie bestritt er als Scherenschleifer
und Schirmmacher.
In späteren Jahren begann der als „höflich“
und „liebenswert“ beschriebene Zivilist Skasa, offenbar weil er den ruhmlosen Abschied
aus der Armee nicht verkraftet hatte, seinen
Rock mit zahlreichen Orden und Medaillen
zu schmücken; dazu trug er langschäftige
Militärstiefel.
v. l. n. r.:
Harfen-Agnes,
Der Deutsche Hermann,
Rechen-August
Fotos: Stadtarchiv Braunschweig
Braunschweiger Originale
Als Rechen-August war bis 1928 August
Louis Martin Ernst Tischer (*8. 8.1882
†13. 6.1928) unter den Braunschweiger
Originalen stadtbekannt. Schon in der Schule Sophienstraße fiel Tischer dadurch auf,
dass er acht- bis zehnstellige Zahlen mühelos und äußerst schnell im Kopf dividieren
und multiplizieren konnte und war deshalb
in Braunschweig bald als „Wunderkind“
bekannt.
Aufgrund seines phänomenalen Zahlengedächtnisses und seiner Rechenkünste trat er
ab 1910 als „Rechen-August“ in Varietés in
ganz Deutschland auf. Seine Markenzeichen
waren schwarzer Gehrock, weißer Binder,
verbeulter Zylinder und eine weiße Chrysantheme im Knopfloch.
In Braunschweig zog er von Lokal zu Lokal
und für Geld löste er von den Gästen gestellte Rechenaufgaben.
Mit Ausbruch und Fortdauer des 1. Weltkrieges verschlechterte sich nicht nur Tischers Lebenssituation, sondern auch sein
Gesundheitszustand. Schließlich starb er am
13. Juni 1928 im Städtischen Krankenhaus
an „Lungenschwindsucht“ und wurde auf
dem Braunschweiger Hauptfriedhof beigesetzt.
Harfen-Agnes wurde am 24. Januar 1866
als Agnes Adolphine Agathe Schosnoski, uneheliche Tochter von Henriette Schosnoski,
geboren und in St. Magni getauft. Schon
früh verlor sie ihre Mutter und verbrachte
ihre Kindheit weitgehend in der Kinderpflegeabteilung des Erziehungsheimes in Bevern, die sie jedoch im Alter von 14 Jahren
verlassen musste. In Braunschweig zog sie
durch Straßen und Kneipen, um sich mit
ihren Liedern den Lebensunterhalt zu verdienen. Aufgrund ihrer äußeren Erscheinung,
breitkrempiger, mit Blumen und Bändern
geschmückter Hut, Pelerine, rosa Strümpfe,
war Harfen-Agnes eine auffällige und weithin bekannte Erscheinung im Braunschweiger Stadtbild.
Der Tee-Onkel wurde am 30. März 1872
als Alfred Richard Oscar Friedrich Kühner,
Sohn des Zigarettenfabrikanten Wilhelm
Kühner, am Nickelkulk 12 geboren. Am
1. Juli 1896 eröffnete er, der Drogist gelernt
hatte, eine Drogerie. Aufgrund finanzieller
Schwierigkeiten musste er 1911 Konkurs anmelden. Danach zog er, immer den gleichen
Anzug tragend, von Haustür zu Haustür, um
seine Waren zu verkaufen. Er machte einen
erbärmlichen Eindruck, wenn er mit zierlichen, vorsichtigen Schritten durch die Gassen schlurfte. Er war stets höflich und sein
Benehmen verriet eine gute Kinderstube.
Sein Zimmer in der Reichsstraße glich einem
Warenlager, da er alles sammelte und hortete – ein Messie.
Ihre Lieder waren beim Publikum beliebt. Ihr
bekanntestes Lied wurde das Couplet mit
dem Refrain „Mensch saa hellä, un wenn´s
aoch duster is“. Allerdings musste die Sängerin vielfach Demütigungen ertragen, wurde verhöhnt, verlacht und verunglimpft. Und
plötzlich zu Beginn der 1930er Jahre fehlte
Harfen-Agnes im Straßenbild Braunschweigs
und damit ein lebendiges Stück des alten
Braunschweig. 1935 wurde sie zwangsweise in die Heil- und Pflegeanstalt des Landes
Braunschweig in Königslutter eingeliefert,
wo sie am 2. September 1935 als Opfer einer Euthanasieaktion der Nationalsozialisten
starb.
Tee-Onkel
Foto: Stadtarchiv Braunschweig
70 71
Autoren
Rudolf Zehfuß 6/7
Rolf Siebert 8/9
Rolf Owczarski 10/11, 68/69
Werner Strauss 12/13
Elmar Arnhold 14/15
Reinhard Försterling 16/17
Dr. Matthias Seeliger 18/19
Claudia Böhler 20/21, 64/65
Ursula Wolff 22/23, 58/59
Friedrich Orend 24/25
Markus Gröchtemeier 26/27, 60/61
Peter Steckhan M.A. 28/29
Werner Cleve 30/31
Birgit Hoffmann 32/33
Karl-Heinz Löffelsend 34/35, 46/47
Hartmut Wegner 36/37, 42/43
Dr. Sandra Donner 38/39, 40/41
Dr. Andreas Reuschel 44/45
Manfred Gruner 48/49, 54/55
Dr. Ralf Holländer 50/51
Elke Keese und Peter Stübig (entnommen aus
80 Jahre Wasserturm Lobmachtersen, Salzgitter 2008) 52/53
Rolf Ahlers 56/57
Jürgen Kackstein 62/63
Klaus Hoffmann 66/67
Reinhard Wetterau 70/71
Quellen
Texte Seite 7:
http://www.verfassungen.de/de/nds/braunschweig,
Braunschweigisches Biographisches Lexikon Hannover 1996,
http://de.wikipedia.org/wiki/Freistaat_Braunschweig
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