„Straßenleben“ – die 47. Schätzle

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„Straßenleben“ – die 47. Schätzle
„Straßenleben“ – die 47. Schätzle-Story
Das hatte er sich einfacher vorgestellt. Geschickt wollte Schätzle den Vormittagstermin in Düsseldorf mit
einem Kundenlunch in Bonn und einem Nachmittagstreffen in Wuppertal verbinden. In der Frühe mit dem
ersten Flieger ankommen, Auto abholen und an einem Tag gleich drei wichtige Meetings. Abends im
vorletzten Flieger zurück. Denn am nächsten Tag musste er wieder frisch sein. So sahen für ihn effiziente
Business Trips aus. Der Hinflug war auf die Minute genau, der Mietwagenabholprozess deutlich kürzer als das
lange Wort. Aber dann der erste Stau. Für 9:30 war das Treffen Nummer Eins anberaumt. Um 9:40 fuhr er auf
den Besucherparkplatz. Sein erstes „Sorry“! an diesem Tag. Selbst ein noch früheres Aufstehen hätte nichts
gebracht. Und die absehbaren Staus auf dem Kölner Ring bedrohten bereits jetzt seine Folgetermine. Wurden
die dort eigentlich niemals fertig?
Immerhin galt noch die Gleichung Autofahren = Musikhören. Oder besser Multimedia, wie die ehemaligen
Kassettenrecorder inzwischen hießen. Auf seinen Fahrten mit der Familie musste er sich stets die Musik von
Annaeva und Tobi anhören. Justin Bieber und solche nach seinen Geschmack unsäglichen Acts. Für diesen
Tag hatte Schätzle extra einige seiner alten CDs in die Aktentasche gesteckt. Gerade liefen die Klangwolken
von Neil Young´s „Like a Hurricane“ mit seiner Lieblingsstelle „I am just a dreamer, but you are just a dream.
You could have been anyone to me“. Das anschließende Gitarren-Solo war schon super. Gab es den Song,
mit einer weniger kratzigen Stimme, nicht sogar von Brian Ferry? Da unterbrach die freundliche Stimme aus
dem freundlichen Sender mit dem freundlichen Staubericht: „Alles über 4 Kilometer“. Kürzeres galt offenbar in
NRW als lässliche Kleinigkeit. Die Aufzählung dauerte lange genug. Auf welcher Autobahn fuhr er eigentlich
gerade? Endlich wieder Neil Young: „ … and I'm gettin' blown away …“. Da meldete sich die Moderatorin
wieder. Steffi?
Eigentlich heißen alle Radiomoderatorinnen so. Aber die kannte Schätzle persönlich. Ganz sicher. Vor drei
Jahren im Urlaub auf Malle war sie mitsamt Familie in der Finca nebenan. Ihre Kinder hatten oft mit seinen
beiden gespielt. Man traf sich gelegentlich abends auf einen vino tinto oder tagsüber an der plaja. Nun war er
froh WDR2 und nicht diesen Jugendsender EinsLive eingestellt zu haben. Plötzlich war ihm alles vertraut. Und
sogar die Staus klangen weniger bedrohlich. Steffi mit ihrer Radiostimme, wie sie von sich selbst sagte. „ …
and I'm gettin' blown away …“. Auch wenn ihm „die besten Hits aus den Siebzigern und Achtzigern“ – so die
Musiklinie des Senders – unmissverständlich sein Älterwerden deutlich machten. Er stand dazu. Denn immer
weniger und zunehmend graue Haare bedeuten überdies mehr Erfahrung, mehr Wirklichkeitssinn, mehr
Ambiguitätstoleranz. Mehr Reife eben. Das was am Ende zählt.
Zumindest potenziell. Da wurden sogar zehn Kilometer zähflüssiger Verkehr auf der A3 bei Köln-Mülheim
erträglich. Kurz vor Bonn, auf der Rheinbrücke, das Ziel schon in Sicht. Steffi moderierte gerade einen Beitrag
über Entspannung im Beruf an. Ein Professor gab seine Meinung von sich. Zumindest das, was er für die
Realität im Alltag hielt. Schätzle war bereits über eine halbe Stunde hinter seinem Termin. Der Kunde saß
längst im Restaurant und wartete, ließ ihm dessen Sekretärin ausrichten. Und hätte eigentlich keine Zeit zur
Verlängerung. „ … and I'm gettin' blown away …“. Schätzle fuhr an der nächsten Ausfahrt raus und gleich
wieder auf die Autobahn. Zurück zum Flughafen. Kein Kundenlunch in Bonn und kein Nachmittagstreffen in
Wuppertal. Lieber die Lounge am Flughafen. Sicher könnte er auf einen früheren Rückflug umbuchen. Denn
am nächsten Tag musste er wieder frisch sein.