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FORTBILDUNG + KONGRESS ACOG Committee on Obstetric Practice COMMITTEE OPINION NR. 348, NOVEMBER 2006 Nabelschnurblut-Gas- und -Säure-Basen-Bestimmung Laboruntersuchungen weisen auf einen komplexen Zusammenhang zwischen fetaler (ante- und intrapartaler) Asphyxie, Neugeborenenasphyxie und möglicher daraus folgender Hirnschädigung hin. Ausmaß, Dauer und Art des asphyktischen Schadens hängen auch von der kardiovaskulären Reaktion ab. Eine Task Force der World Federation of Neurology Group hat die Asphyxie als einen Zustand definiert, bei dem ein eingeschränkter Gasaustausch, wenn er andauert, zu einer fortschreitenden Hypoxämie und Hyperkapnie führt (1). Das ist eine präzise Definition einer Asphyxie, die den Fetus und das Neugeborene beeinflusst. Die Task Force des American College of Obstetricians and Gynecologists on Neonatal Encephalopathy and Cerebral Palsy hat die Asphyxie definiert als „… eine klinische Situation einer schädigenden Azidämie, Hypoxie und metabolischen Azidose. Diese traditionelle Definition sagt jedoch nichts über die Ursache aus. Eine bessere Definition der geburtshilflichen Asphyxie erfordert den Einschluss eines Zwischenfalles, der in der Lage ist, die Sauerstoffzufuhr des Feten oder Neugeborenen zu unterbrechen. Diese Definition berücksichtigt zwar klinisch weniger leicht erkennbare Zustände wie z.B. eine okkulte vorzeitige Lö- 244 Committee Opinion FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 3 sung nicht, ist aber vermutlich in der Mehrzahl der Fälle richtig.“ (2) Die Asphyxie kann vorübergehend sein und ist dann zwar physiologisch von Interesse, hinterlässt aber keine pathologischen Folgen. Eine eindeutige Asphyxie führt zu einem Sauerstoffdefizit im Gewebe, einer Akkumulation von fixierten Säuren und einer metabolischen Azidose. Deshalb wird für die intrapartale fetale Asphyxie der folgende Zusatz zur genannten Definition vorgeschlagen: „Die fetale Asphyxie ist der Zustand eines verminderten Blutgasaustausches, der zu einer progressiven Hypoxie und Hyperkapnie mit einer signifikanten metabolischen Azidose führt. Die Diagnose einer intrapartalen fetalen Asphyxie erfordert eine Blutgasund Säure-Basen-Bestimmung. Die bedeutsame Frage für den Kliniker ist die nach dem Grenzwert einer metabolischen Azidose, ab dem Morbidität bzw. Mortalität erhöht sind.“ Low und Mitabeiter haben ein Scoringsystem vorgeschlagen, um die Wahrscheinlichkeit einer neonatalen Enzephalopathie abzuschätzen (3). Sie definierten ein arterielles Nabelschnur-Basen-Defizit von 4–8 mmol/l bei der Geburt als leicht, ein solches Zusammenfassung Die Messung von Nabelschnur-Gasund Säure-Basen-Werten ist die beste Methode zur Bestimmung des metabolischen Zustands des Feten zum Zeitpunkt der Geburt. Mittelschwere oder schwere Enzephalopathien, respiratorische Komplikationen und Komplikations-Scores nehmen ab einem Basendefizit im Nabelarterienblut von 12–16 mmol/l zu. Moderate oder schwere Komplikationen treten bei 10% der Neugeborenen mit einer Azidämie dieser Größenordnung auf, der Anteil steigt auf 40% bei Neugeborenen, die ein Nabelarterien-Basendefizit von mehr als 16 mmol/l bei der Geburt aufweisen. Unmittelbar nach der Geburt sollte ein Segment der Nabelschnur abgeklemmt und auf den Geburtstisch gelegt werden. Beim Kaiserschnitt von deprimierten Feten, bei niedrigen Fünf-Minuten-Apgar-Scores, schweren Wachstumsretardierungen, abnormalen fetalen CTGs, mütterlichen Schilddrüsenerkrankungen, intrapartalem Fieber und Mehrlingsschwangerschaften sollten die Geburtshelfer versuchen, venöse und arterielle Blutproben zu gewinnen. von 8–12 mmol/l als mittelschwer und von mehr 12 mmol/l als schwer und dokumentierten während der ersten fünf Lebenstage Komplikationen des ZNS, des Respirationstrakts, des Herz-Kreislauf-Systems und der Nieren beim Neugeborenen. Kardiovaskuläre Symptome wurden als leicht klassifiziert, wenn eine Bradykardie (≤100 Schläge/min) oder eine Tachykardie (≥170 Schläge/min) bestand, als mittelschwer, wenn sie mit einer Hypo- oder Hypertension (definiert anhand der 95%-Konfidenzgrenzen für Blutdrucke bei am Termin Geborenen) verbunden war und als schwer bei abnormen elektrokardiographischen und echokardiographischen Befunden. Respiratorische Komplikationen wurden als leicht klassifiziert, wenn zusätzlicher Sauerstoff erforderlich wurde, als mittelgradig, wenn eine CPAPBehandlung oder eine Beatmung für weniger als 24 Stunden notwendig wurden, und als schwer, wenn eine mechanische Beatmung für mehr als 24 Stunden durchgeführt werden musste. Nierenfunktionsstörungen wurden bei Vorliegen einer geringfügigen Hämaturie als leicht klassifiziert, als mittelschwer bei einer Erhöhung des Serum-Kreatininspiegels über 100 mmol/l. (In den USA wird der Kreatininspiegel in mg/dl angegeben. Um Kreatinin von mmol/l umzurechnen, wird der Wert durch 88,4 dividiert. 100 mmol/l entsprechen demnach 1,14 mg/dl.). Eine schwerwiegende Störung liegt vor, wenn eine Anurie und Oligourie besteht (Harnausscheidung unter 1 ml/kg/h). Mit einem Scoringsystem wird die Schwere der Komplikation beim Neugeborenen ausgedrückt. Bei jeder Komplikation wird 1 für leicht, 2 für mittelschwer und 4 für schwer angesetzt; der höchste mögliche Wert ist 16. Eine moderate oder schwere Neugeborenenenzephalopathie, res- piratorische Komplikationen und zusammengesetzte Komplikationsscores waren häufiger, wenn das Basendefizit im Nabelarterienblut 12– 16 mmol/l erreichte. Mittelschwere oder schwere Komplikationen traten bei 10% der Neugeborenen mit einer Azidämie dieser Größenordnung auf, die Häufigkeit stieg auf 40% bei Neugeborenen, die mehr als 16 mmol/l bei der Geburt aufwiesen. Low und Mitarbeiter schlossen daraus, dass der Grenzwert für eine fetale metabolische Azidose bei der Geburt, die mit moderaten oder schweren Komplikationen verbunden ist, bei einem Basendefizit im Nabelarterienblut von 12 mmol/l liegt und dass eine zunehmende metabolische Azidose mit zunehmender Schwere der Komplikationen verbunden ist (3). Bei leichtem Basendefizit besteht kein Zusammenhang mit ungünstigen Ergebnissen für das Neugeborene. Ein ähnlicher Grenzwert für neonatale neurologische Komplikationen wurde von anderen Untersuchern berichtet (4, 5). Wichtig ist, dass im Gegensatz zu am Termin geborenen Kindern mit mittelschwerer und schwerer Azidämie Neugeborene mit leichter Azidämie kein höheres Risiko für geringfügige motorische oder kognitive Defekte im Alter von 4–8 Jahren aufwiesen als Neugeborene ohne Asphyxie (6). Am Termin Geborene Die Häufigkeit einer fetalen Asphyxie aller Schweregrade beträgt bei Geburten am Termin 25 pro 1.000 Lebendgeburten; davon sind 15% der Fälle mittelschwer oder schwer (3,75 pro 1.000) (7). Selbst bei diesen Azidämie-Werten ist davon auszugehen, dass die meisten Feten keinen Schaden erleiden, woraus sich eine Gesamthäufigkeit einer auf intrapartale Hypoxämie bei Fehlen aller anderen antepartalen Abnormalitäten zurückgehenden neonatalen Enzephalopathie von ungefähr 1,6 pro 10.000 ergibt (8, 9). Ähnliche Beobachtungen wurden in Japan gemacht, wo Kinderneurologen in einer Serie von 10.030 Kindern im Alter von einem Jahr oder mehr neun Fälle von Zerebralparese diagnostizierten. Die Analyse ergab, dass in sechs dieser Fälle bereits vor Beginn der Fetalüberwachung eine Asphyxie bestand. Bei zwei weiteren war eine Zytomegalievirusinfektion nachweisbar, und in einem Fall hatte eine mütterliche Fruchtwasserembolie vorgelegen (10). Die Untersucher folgerten, dass bei Schwangerschaften mit niedrigem Risiko eine durch eine intrapartale Asphyxie verursachte Zerebralparese nur bei unvermeidbaren intrapartalen Zwischenfällen auftrat. Frühgeborene Low und Mitarbeiter berichteten über eine Asphyxieprävalenz von 73 pro 1.000 Lebendgeburten bei Frühgeborenen (7). Bei der Hälfte dieser Kinder bestand eine mittelschwere bis schwere Asphyxie. Die Autoren weisen darauf hin, dass untersucht werden muss, wie oft die bei der Geburt diagnostizierte Asphyxie bereits vor Wehenbeginn vorhanden war. Dieser Punkt ist bei Frühgeborenen besonders bedeutungsvoll, weil medizinische und/oder geburtshilfliche Komplikationen oft eine vorzeitige Entbindung notwendig machen. Beispiele sind schwere Wachstumsretardierungen, eine vorzeitige Plazentalösung, Chorioamnionitis mit Nabelschnurentzündung und schwere Präeklampsie, von denen alle ein signifikanter und unabhängiger Risikofaktor für eine mittelschwere bis schwere neonatale Enzephalopathie sein können (8, 9). FORTBILDUNG + KONGRESS Die Beurteilung des ZNS schloss klinische Hinweise auf eine Neugeborenenenzephalopathie ein. Diese wurde als leicht eingestuft, wenn nur eine Irritabilität oder Unruhe bestand, als mittelgradig bei ausgeprägter Lethargie oder abnormalem Tonus und als schwer bei Koma oder abnormalem Tonus und Anfällen. Azidämie und Zerebralparese Sowohl die International Cerebral Palsy Task Force als auch die Task Force on Neonatal Encephalopathy und Cerebral Palsy des American College of Obstetricians and Gynecologists haben Kriterien veröffentlicht, anhand derer eingeschätzt werden kann, ob ein intrapartales Ereignis als Ursache für eine aufgetretene Zerebralparese in Frage kommt (2, 11). Zu den grundlegenden Kriterien, die von beiden Task Forces festgelegt wurden, gehört eine FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 3 245 FORTBILDUNG + KONGRESS metabolische Azidose im arteriellen Nabelschnurblut bei der Geburt (pH <7, Basendefizit ≥12 mmol/l) (siehe Kasten). Außerdem hat das National Collaborating Center für Women’s and Children’s Health, beauftragt durch das National Institute of Clinical Excellence, vorgeschlagen, dass eine Bestimmung des pH-Wertes im Nabelarterienblut nach allen Kaiserschnitten erfolgen sollte, die wegen des Verdachts auf fetale Komplikationen durchgeführt werden, um so das fetale Wohlbefinden beurteilen zu können und die weitere Behandlung des Kindes entsprechend auszurichten. Technik zur Gewinnung von Nabelschnurblutproben Sofort nach der Geburt des Kindes sollte ein Segment der Nabelschnur doppelt abgeklemmt, abgesetzt und auf dem Entbindungstisch gelagert werden, bis der Fünf-Minuten-Apgar-Score bestimmt ist. Das Nabelarterienblut liefert die genauesten Informationen über den Säure-Basen-Status des Feten bzw. Neugeborenen. In einem solchen Nabelschnursegment ist das Blut für pH- und Säure-Basen-Bestimmung mindestens 60 Minuten stabil, das Gleiche gilt für eine Nabelschnurblutprobe mit Heparinzusatz in der Spritze (13, 14). Wenn der Fünf-MinutenApgar-Score zufriedenstellend ausfällt und das Neugeborene stabil und lebenskräftig ist, kann das Segmentstück verworfen werden. Persistiert dagegen ein während der Geburt aufgetretener abnormer Befund und/oder ein Problem hinsichtlich des Zustandes des Neugeborenen nach den ersten fünf Minuten, kann Blut aus dem Segment entnommen und zur Blutgasanalyse ins Labor gegeben werden. Die gemeinsame Analyse von Arterien- und Venenblut sollte Zweifel ausräumen, welches Blut Verwendung findet. Deshalb empfiehlt das Committee on Obstetrical Practice, in jedem Fall eine Probe von Arterienblut zu untersuchen, wenn möglich aber zusätzlich auch das venöse Blut (Doppelprobe). Wichtig ist, die Pro- 246 FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 3 Wann ist eine akute intrapartale Hypoxie ausreichend, um eine Zerebralparese hervorzurufen? Notwendige Kriterien (alle vier müssen vorhanden sein): n Hinweis auf eine metabolische Azidose in fetalem Nabelarterienblut gewonnen bei der Geburt (pH <7 und Basendefizit ≥12 nmol/l). n Früher Beginn einer mittelschweren oder schweren neonatalen Enzephalopathie bei Kindern, die nach mindestens 34 SSW geboren wurden. n Zerebralparese vom spastischen quadriplegischen oder dyskinetischen Typ*. n Ausschluss anderer nachweisbarer Ätiologien wie z.B. Trauma, Gerinnungsstörungen, Infektionen und genetischen Erkrankungen. * Die spastische Quadriplegie und – seltener – die dyskinetische zerebrale Lähmung sind die einzigen Typen der Zerebralparese, die als Folge von hypoxischen intrapartalen Zwischenfällen auftreten. Die spastische Quadriplegie ist nicht spezifisch für eine intrapartale Hypoxie. Hemiparetische Zerebralparese, hemiplegische Parese, spastische Diplegie und Ataxie sind wahrscheinlich nicht Folge einer akuten intrapartalen Hypoxie (Nelson KB, Grether JK: Potentially asphyxiating conditions and spastic cerebral palsy in infants of normal birth weight. Am J Obstet Gynecol 179, 1988, 507–513. Aus: American Academy of Pediatrics, American College of Obstetricians and Gynecologists: Neonatal encephalopathy and cerebral palsy: defining the pathogenesis and pathophysiology. Elk Grove Village/IL (AAP); Washington DC (ACOG), 2003. Nach: MacLennan A: A template for defining a causal relation between acute intrapartum events and cerebral palsy: international consensus statement. BMJ 319 (1999) 1054–1059. ben korrekt als arteriell oder venös zu beschriften. In Hochrisiko-Situationen, etwa bei schweren Wachstumsretardierungen, abnormalen CTGs, mütterlicher Schilddrüsenerkrankung, Fieber unter der Geburt oder Mehrlingsschwangerschaften ist es ratsam, Blutgas- und Säure-BasenBestimmungen durchzuführen (2). Gelegentlich kann es schwierig sein, eine ausreichende Menge Nabelarterienblut zu gewinnen. In solchen Fällen (z.B. bei einem kleinen Frühgeborenen) liefert eine arterielle Probe von der Chorionoberfläche der Plazenta ausreichende Resultate. nach sich zieht. Außerdem entwickeln sich die meisten Kinder mit einer arteriellen metabolischen Azidämie jenseits der Grenzwerte dennoch normal. In folgenden Situationen sollte der Geburtshelfer sich bemühen, venöse und arterielle Nabelschnurblutproben zu gewinnen: n Kaiserschnitt aus fetaler Indikation; n niedriger Fünf-Minuten-ApgarScore; n schwere Wachstumsretardierung; n abnormales CTG; n Schilddrüsenerkrankung der Mutter; n Fieber unter der Geburt; n Mehrlinge. Zusammenfassung Die Untersuchung von Säure-Basenund Gashaushalt anhand des Nabelarterienbluts bleibt die objektivste Methode zur Beurteilung des metabolischen Zustands zum Zeitpunkt der Geburt. Es wurden Grenzwerte festgelegt, unterhalb derer es unwahrscheinlich ist, dass eine intrapartale Asphyxie neurologische Störungen Erschienen in Obstetrics & Gynecology 108 (2006) 1319–1322. Herausgegeben von n Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz K. Beller n Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Holzgreve Verantwortlich für die Übersetzung n Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz K. Beller Standortbestimmungen sind fast so wichtig wie wissenschaftliche Arbeiten, die einen Standort erst ermöglichen, da jegliche Wissenschaft von Meinungen und auch Irrtümern lebt, ja durchdrungen ist. Die von den amerikanischen Geburtshelfern (ACOG) ins Leben gerufene kritische Bewertung (Committee Opinion) klinisch relevanter Tatbestände verdient daher nicht nur Respekt, sondern große Aufmerksamkeit. Was ist Asphyxie? Der kanadische Pädiater James A. Low hat 1997 eine treffende Definition von Asphyxie gegeben (1, 2), die jetzt von der ACOG aufgegriffen wurde: „Fetal asphyxia is a condition of impaired blood gas exchange leading to progressive hypoxemia and hypercapnia with significant metabolic acidosis“. Diese Definition setzt voraus, dass für die Asphyxie-Diagnostik ein Säure-Basen-Status (SBS) – meist aus dem Nabelschnurblut zum Zeitpunkt der Geburt – durchgeführt wird. Die Bestimmung der Apgar-Zahlen und des pH im arteriellen Blut (NA) reicht nicht aus. Welchen Parameter soll man verwenden? Während in der deutschen Geburtshilfe über Jahrzehnte hinweg der aktuelle pH-Wert im Zentrum stand, haben die Amerikaner den Basenexzess (BE) favorisiert, weil die schädigende Wirkung einer Hyperkapnie im Gewebe, insbesondere im Zentralnervensystem (ZNS) nicht zweifelsfrei erwiesen ist (3, 4). Gleichwohl sind pH und pCO2 beim Feten linear eng miteinander korreliert (r= -0,720, p<<10-4, n=7.852). Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass bei gestörtem Gasaustausch in aller Regel Sauerstoff nicht genügend aufgenommen und CO2 nicht ausreichend abgegeben werden kann. Ist die Azidose selbst schädlich? Zum vollen biologischen Verständnis der Azidose gehört die Kenntnis des Bohr-Haldane-Effekts (5 ): Die Senkung des pH-Wertes im Blut ermöglicht die Mobilisation vorhandener Sauerstoffreserven in den Erythrozyten. Für ein freigesetztes Sauerstoffmolekül werden viele Oxoniumionen (H3O+), also Protonen (H+), vom Hämoglobinmolekül (dem ImidazolRing des Histidins) aufgenommen und gebunden (5). Protonen sind daher die „Sauerstoffliberatoren“ im fetalen Blut schlechthin – neben pCO2 und 2,3-Diphosphoglycerat (DPG). Dies mag erklären, warum in mehreren großen Studien (6, 7) eine bleibende Schädigung fetaler Organsysteme, insbesondere des ZNS, erst bei ganz tiefen pH-Werten (d.h. erschöpften O2-Reserven) in Erscheinung tritt. Man kann berechnen, dass bei einem pH von 7,0 und einem pCO2 von 76,0 mmHg median nur noch 12,3% Sättigung im fetalen Blut (HbF) vorliegt (8). Wann die Schädigung beim Menschen beginnt, ist noch unklar, möglicherweise auch erst bei 0,8 bis 1,5 Vol% O2 bzw., umgerechnet, 7,5% O2-Sättigung (SO2) wie beim Rhesusaffenfeten (3). Dergestalt hilft die Azidose dem Feten, lange schadenfrei zu überleben; erst ein gravierender (<10% SO2) und anhaltender (>20 min) Sauerstoffmangel schädigt den Zellstoffwechsel irreparabel (3). Der Bohr-Haldane-Effekt ist auch dafür verantwortlich, dass der Basenexzess von der Sauerstoffsättigung maßgeblich beeinflusst wird (9–11). Welche Vorteile bietet der Basenexzess? Der Basenexzess ist von allen verfügbaren Messgrößen des SBH vermutlich jene mit der größten Aussage- kraft (12), weil die weniger relevante „respiratorische“ Komponente (pCO2) rechnerisch eliminiert ist (10). Damit wird Hypoxie im intrazellulären Raum indirekt messbar. James A. Low hat in seinen frühen Arbeiten auf den Begriff der Puffer-Base (PB) zurückgegriffen (Norm: 48 mmol/l), die generell eine 100%ige Sauerstoffsättigung voraussetzt. Letztere gibt es aber beim Feten nicht; der Median liegt bei etwa 25% im NA- und 61% im NV-Blut (8). Die von Low angegebenen Grenzwerte sind daher messtechnisch, d.h. objektiv, nicht richtig. Sie müssten um 3–4 mmol/l, also deutlich, tiefer liegen (statt z.B. –12,0 ca. –15,0 mmol/l). Das schwierigste Problem: die Grenzwertfindung Sieht man einmal von dem kaum lösbaren Problem der Grenzwertfindung (bei J.A. Low (1): 10% bzw. 40% akzeptierte neonatale „Azidosemorbidität“) ab, so sind die BE-Grenzen –12,0 bzw. –16.0 mmol/l objektiv zu hoch (d.h. zu gut) und sollten in forensischen Auseinandersetzungen in Deutschland nur mit der allergrößten Vorsicht, wenn überhaupt, zur Anwendung kommen: Ein Neugeborenes mit einem BE <–12,0 mmol/l ist nicht automatisch „geschädigt“ und der Arzt ist nicht zu verurteilen. Eine Umrechnung dieser Zahlen ist nicht möglich, da die aktuellen Blutgase (pO2 und pCO2) in jedem einzelnen Fall nicht bekannt sind. Es bleibt Ermessenssache, wie viel temporäre „Azidosemorbidität“ wir bei einer Entbindung noch akzeptieren wollen. Die Grundidee von E. Saling, sich nicht zu weit vorzuwagen, hat sich bei uns praktisch bewährt: Ein pH,NA von ca. 7,100 bzw. ein BEoxy,NA von ca. –14,0 mmol/l sollten tunlichst nicht unterschritten werden, wenn man bleibende Schäden ganz vermeiden will (Schädigungsgrenze der ACOG derzeit: pH,NA FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 3 FORTBILDUNG + KONGRESS Kommentar von Prof. Dr. med. V.M. Roemer, Internationales Institut für feto-maternale Medizin e.V., Detmold 247 FORTBILDUNG + KONGRESS <7,000 (13), wozu statistisch ein BEoxy von etwa –18,0 gehört, nicht ≥–12,0 mmol/l). Das Multiorganversagen bei schwerer Azidose Sehr früh schon haben amerikanische Kollegen (14) erkannt, dass bei zunehmender Hypoxämie und Azidose (meist mit fetaler Hypotonie) die verschiedenen Organsysteme (Lunge, Niere, ZNS, Herz/Kreislauf, Intestinum u.a.) beeinträchtigt werden. „Respiratorische Anpassungsstörungen“ treten früh und daher auch häufiger auf als eine hypoxiebedingte Oligo- bis Anurie (1). Durch einfache, klinische Quantifizierung dieser Funktionsstörungen konnte so indirekt der Faktor Zeit mit bewertet werden: Wenn z.B. ein Neugeborenes auch nach fünf Minuten – bei adäquater Reanimation – noch einen Apgar-Index von ≤3 aufweist, wenn dazu ein Multiorganversagen (1. Lebenstag) unübersehbar ist und persistiert, war die hypoxische Phase in aller Regel deutlich länger und daher auch eher geeignet, Läsionen im ZNS zu verursachen. So gelang es (1), grobe Kriterien herauszuarbeiten, die die hypoxische Genese eines subpartal erworbenen frühkindlichen Hirnschadens wahrscheinlich, wenn auch nicht absolut sicher machten. An diesem Konzept sollte festgehalten werden – auch zum Schutz des Geburtshelfers. F.K. Beller (15) war wohl der erste, der diese Zusammenhänge erkannt und – ebenso fair wie konsequent – sogar ein eigenes Gerichtsgutachten zurückgezogen hat. Neben der Reife des Kindes spielt die Zeitdauer der Hypoxie (und die Kompensationsmechanismen), die wir sub partu bisher schwer erfassen und quantifizieren können, eine entscheidende Rolle. Dieser Tatbestand täuscht im Einzelfall immer wieder ein „Alles-oder-Nichts-Gesetz“ vor, das es realiter vermutlich nicht gibt (2–4). Einzelfall: Ein ganz kurzfristi- 248 FRAUENARZT n 48 (2007) n Nr. 3 ges Auftreten eines pH-Wertes von 6,697 im NA- und 6,803 im NV-Blut kann auch von einem Frühgeborenen (33. SSW) offenbar folgenlos toleriert werden (16). Klinisches Management Die Empfehlung unserer amerikanischen Kollegen, Nabelschnurblut zu asservieren, erst wenn der klinische Verdacht auf eine durchgemachte Hypoxie und Azidose im Raum steht (z.B. bei Schnittentbindung wegen drohender Asphyxie), ist zweifellos ein guter Kompromissvorschlag: Von 100 Messungen sind bei uns ex post gesehen derzeit rund 95 „umsonst“; doch etwa 14% aller CTGs werden als pathologisch eingestuft. Da die Verhältnisse so schwer durchschaubar sind, hat sich in der deutschen Geburtshilfe schon seit vielen Jahren (Beginn der Bayrischen Perinatalerhebung: 1982) die Erfassung (nur pH-Wert) aller Neugeborenen bewährt, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens für das klinische Management (z.B. Verlegung/Nichtverlegung etc.) und zweitens für die Entlastung des Geburtshelfers in forensischen Auseinandersetzungen. An diesem Management sollten wir daher festhalten, solange es bezahlbar ist. Das NV-Blut muss – aus vielen Gründen – immer mit untersucht werden. Zusammenfassung Zur Asphyxie-Diagnostik gehört, neben den Apgar-Zahlen, ein Säure-Basen-Status im NA- und NV-Blut. Der BE,NA ist aussagekräftiger als der aktuelle pH-Wert. Es ist zweckmäßig, den BE auf die reale Sauerstoffsättigung zu korrigieren. Die BE-Grenze(n) für die Azidose-Morbidität bleibt Ermessenssache: Die Schädigungsgrenze von J.A. Low mit BE ≤–12,0 (bzw. <–16,0 mmol/l) erscheint zu hoch. Eine Kausalbeziehung zwischen frühkindlichem Hirnschaden (spez. cerebral palsy) und subpartaler Hypoxie bleibt in jedem Fall an die vier ACOG-Kriterien (s.o.) gebunden. Die blutgasanalytische Erfassung aller Neugeborenen hat Vorteile, ist aber kostenintensiv. Literatur 1. Low JA, Lindsay BG, Derrick EJ: Threshold of metabolic acidosis associated with newborn complications. Am J Obstet Gynecol 177 (1997) 1391– 1394. 2. Low JA: Determining the contribution of asphyxia to brain damage in the neonate. J Obstet Gynaecol Res 30 (2004) 276–286. 3. 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