Adam Smith: Optimistischer Liberalismus
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Adam Smith: Optimistischer Liberalismus
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Adam Smith: Optimistischer Liberalismus I. Definition der Klassik 1. Gemäss der üblichen Definition ist die Klassik - wie die moderne Neoklassik - ein System der ökonomischen Theorie des Liberalismus. Im Vordergrund stehen das tauschende Individuum und die Wirtschaftsfreiheit, die Freiheit irgendein Gut zu produzieren oder zu handeln (Handels- und Gewerbefreiheit). Auch wird im Sinne des römischen Rechts der Begriff des Privateigentums in einem absoluten Sinne gefasst. In diesem System der Wirtschaftsfreiheit wird die Wirtschaft als ein quasi-autonomer Bereich betrachtet, für den der Staat nur die Rahmenbedingungen setzt. Diese Definition der Klassik ist vor allem verbunden mit dem Werk von Adam Smith. Dieses ist eine Reaktion gegen den Merkantilismus, mit seinen Reglementierungen, staatlichen Privilegien und Monopolen, die die Wirtschaft in den Dienst des Staates zwangen. 2. Ein anderer Begriff der 'Klassik' wurde geprägt von Karl Marx, der alle Arbeitswerttheoretiker von William Petty (Mitte des 17. Jh.) bis David Ricardo (Beginn des 19. Jh.) als Klassische Ökonomen bezeichnete. Hier ist der Ausgangspunkt der soziale Produktionsprozess und die Gesellschaft. 3. Dies bedeutet, dass die Klassische Schule der Nationalökonomie nicht homogen ist. Tatsächlich gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassikern. Von besonderer Bedeutung sind die Differenzen, die zwischen Adam Smith und David Ricardo bestehen: Adam Smith geht aus vom Individuum und vom Tausch und ist als solcher der Begründer der Wirtschaftswissenschaften. Hier verwandelt sich Newtons Harmonie der Sphären über die natürliche Ordnung von Adam Smith in die moderne neoklassische Konzeption des Marktgleichgewichts. Die Entwicklungslinie der Wirtschaftswissenschaften geht also aus von Adam Smith, verläuft über Jean-Baptiste Say und verschiedene Vorläufer der Neoklassik und kulminiert in der marginalistischen Revolution von 1870 mit William Stanley Jevons, Léon Walras, Alfred Marshall und Carl Menger. Von diesen vier Autoren geht die ganze moderne liberale (neoklassische) Wirtschaftstheorie in ihren verschiedenen Varianten aus. Im Besonderen baut die ganze Textbuchliteratur auf Marshalls Principles of Economics auf. Der Ausgangspunkt von David Ricardo dagegen ist die Gesellschaft (Verwendung des sozialen Überschusses) und der soziale Produktionsprozess, der eine Arbeitswerttheorie impliziert. 1 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Von Ricardo gehen verschiedene Entwicklungslinien aus: eine führt zur Neoklassik (Marginalprinzip); eine zweite zur ökonomischen Theorie des Sozialismus (Arbeitswerttheorie, Überschussprinzip und Ausbeutungstheorie); eine dritte Entwicklungslinie mündet in die Klassisch-Keynesianische Synthese ein [Klassik (Ricardo): Wert und Verteilung; Keynes: Beschäftigung]. Diese dritte Entwicklungslinie, die Entwicklungslinie der Politischen Ökonomie geht aus von François Quesnay (Natur im Vordergrund) und David Ricardo (Arbeit im Zentrum), verläuft über Karl Marx (Produktion als Interaktion von Mensch und Natur) und Maynard Keynes (Geld und Beschäftigung); auf diesen Autoren baut die post-Keynesianische und die klassischKeynesianische Politische Ökonomie auf. 4. Auf politischer Ebene geht die Klassik einher mit dem politischen Liberalismus, der eine Reaktion gegen den Absolutismus darstellt. Hier dominierte der souveräne Staat über das Individuum, das nur als ein Teil der Gesellschaft betrachtet und vielfach brutal behandelt wurde. Der politische Liberalismus dagegen postuliert Menschenrechte und Demokratie. Das Individuum steht im Prinzip vor dem Staat. II. Vorbemerkungen und geistiger Rahmen 1. Das Hauptwerk von Adam Smith: "Eine Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Reichtums der Nationen" (veröffentlicht 1776). a) Einmal handelt es sich um das erste systematische Werk der Volkswirtschaftslehre. Wieso hat gerade gegen Ende des 18. Jh. systematisches Denken über wirtschaftliche Probleme eingesetzt? In den relativ einfachen traditionellen Wirtschaften bestand kein Bedürfnis, wirtschaftliche Phänomene wie z.B. den Preis systematisch zu erklären (wurden Erklärungen vorgenommen, geschah dies im Rahmen der Ethik; z.B. wurde nach dem gerechten Preis gefragt). Die Industrielle Revolution in England sowie die Politische Revolution in Frankreich erhöhten die Komplexität des wirtschaftlichen Lebens in ungeahntem Ausmass. Es entstanden Arbeitsteilung, Fabriken und ein Geld- und Finanzsektor. Die Erklärung der ökonomischen Phänomene (Preisbildung und Verteilung z.B.) erforderte nun ein systematisches Vorgehen. D.h. es musste eine Wirtschaftstheorie geschaffen werden, die systematisches Denken über wirtschaftliche Phänomene impliziert. Adam Smith hat als erster eine umfassende Wirtschaftstheorie erarbeitet. Damit entsprach er einem Erfordernis seiner Zeit. b) Der "Reichtum der Nationen" beschäftigt sich also systematisch mit ökonomischen Phänomenen, mit Wert, Verteilung, Geld, Wachstum und Entwicklung. 2 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Nur das Beschäftigungsproblem, das bei den Merkantilisten noch die zentrale Rolle spielte, verschwindet völlig aus dem Blickfeld von Adam Smith. Sein Denksystem impliziert, dass die Marktkräfte langfristig eine Tendenz zu Vollbeschäftigung bewirken. Wegen seiner theoretischen Leistung wird Adam Smith von den meisten heutigen Ökonomen als Begründer der Volkswirtschaftslehre betrachtet. Diese Konvention ist allerdings nicht unbestritten. Wenn man nur die theoretische Leistung betrachtet, könnte man auch andere Autoren als Begründer der VWL betrachten, z.B. François Quesnay, Richard Cantillon, A.R.J. Turgot, den Italiener Cesare Beccaria, den Schumpeter (History 1954, pp. 179ff.) den italienischen Adam Smith nennt oder schliesslich der Schotte James Steuart - der letzte Merkantilist -, der als direkter Vorläufer von J.M. Keynes gelten kann. Wieso hat sich aber Adam Smith schliesslich durchgesetzt? - Grossbritannien war schon in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die führende Weltmacht. Andere europäische Länder nahmen GB als Beispiel und versuchten, es nachzuahmen, auch im Bereich der ökonomischen Theorie und in der Wirtschaftspolitik. Somit wurde Adam Smith als bedeutendster britischer Ökonom in Europa allgemein bekannt. - Das Gesamtwerk von Adam Smith ('Der Wohlstand der Nationen' und 'Die Theorie der ethischen Gefühle') stellt eine Weltanschauung dar, diejenige des Liberalismus. Das Individuum und individuelle Ziele stehen im Vordergrund, der Staat hat nur die Voraussetzungen für die Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen zu schaffen, vor allem für die wirtschaftlichen und politischen. Die liberale Weltanschauung entsprach den Ambitionen des bürgerlichen Standes (Kaufleute, Industrielle und aufgeklärte Intellektuelle). Deshalb wurde das Hauptwerk von Adam Smith vom Bürgertum mit Begeisterung aufgenommen. - Der "Wohlstand der Nationen" hat sich auch wegen seiner Qualitäten durchgesetzt: Das Buch ist gut aufgebaut, glänzend und leicht verständlich geschrieben und zeichnet sich durch eine gelungene Verbindung von theoretischem Denken und geschichtlicher Betrachtungsweise dar. Die Theorie beschreibt den anzustrebenden liberalen oder natürlichen Zustand einer Volkswirtschaft, die geschichtlichen Passagen tatsächliche Entwicklungsvorgänge. Zwischen dem Soll- und dem Istzustand besteht allerdings immer ein Spannungsverhältnis. 2. Biographische Notizen 1723: geboren in Kirkaldy, einer kleinen Stadt an der schottischen Ostküste, als Sohn eines hochgestellten Staatsbeamten. Sein Vater starb noch vor seiner Geburt. 3 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 1737-40: Glasgow University (Studium der Philosophie bei Francis Hutchison; auch Mathematikvorlesungen) 1740-46: Balliol College, Oxford (Philosophie; lateinische und griechische Literatur) 1746-51: Vorlesungen in Rhetorik an der Universität Edinburgh 1751: Professor für Logik an der Universität Glasgow 1752-63: Als Nachfolger seines Lehrers Francis Hutchison Professor für Moralphilosophie an der Universität Glasgow. 1759: "The Theory of Moral Sentiments" (Die Theorie der ethischen Gefühle) 1764: Adam Smith gibt seine Professur auf und wird Privatlehrer eines jungen schottischen Herzogs, mit dem Adam Smith ausgedehnte Reisen durch Frankreich unternimmt. Dort traf er mit führenden Denkern der damaligen zusammen, u.a. mit Voltaire, Quesnay und Turgot. Von Quesnay übernahm er das Konzept der natürlichen Ordnung, das er weiterentwickelte (u.a. postulierte er eine wachsende Wirtschaft und nicht, wie Quesnay, eine stationäre; auch ist die Arbeit, nicht die Natur, der grundlegende Produktionsfaktor). Methodisch gesehen wurde Adam Smith von Quesnays Denken in gesamtwirtschaftlichen Grössen beeinflusst. Bereits in Frankreich begann er am "Wohlstand der Nationen" zu schreiben. 1766 kehrte er nach Schottland zurück und veröffentlichte sein Hauptwerk 1776. 1777 liess er sich in Edinburgh nieder und wurde "Commissioner of Customs" (Zollaufseher); 1787 wurde er Rektor der Universität Glasgow. Beide Stellungen hielt er bis zu seinem Tode im Jahre 1790 inne. Einige markante Züge seines Charakters, herausgearbeit von seinem Biographen Dugald Stewart (in H.C. Recktenwald: Geschichte der Politischen Ökonomie, Stuttgart 1971, 70-73): Kennzeichnend für Adam Smiths Charakter war die Schlichtheit seines Wesens. Er war sicher nicht geeignet für die Auseinandersetzung mit den Wechselfällen des Alltags oder des Geschäftslebens. Seit seiner Jugend war er ständig in die Welt seiner Gedanken versponnen und so von der Fülle und Mannigfaltigkeit seiner Ideen gefesselt, dass er für gewöhnlich schon bekannten oder alltäglichen Angelegenheiten keine Beachtung schenkte. Häufig war er zerstreut und geistesabwesend. Überraschenderweise erinnerte er sich noch nach Jahren der geringfügigsten Kleinigkeiten. Wie viele zerstreute Menschen besass er die ungewöhnliche Fähigkeit, Vorgänge, die der Aufmerksamkeit im Augenblick scheinbar entgehen, ins Unterbewusstsein aufzunehmen und sich ihrer zu gegebener Zeit zu erinnern. Es mag teilweise dieser Eigenschaft zuzuschreiben sein, dass er sich einerseits nicht ohne Schwierigkeit einer Unterhaltung anschloss, andererseits aber dazu neigte, die eigenen Ansichten dozierend vorzutragen. Damit verfolgte er allerdings keine Absicht, denn er wollte weder die Unterhaltung an sich reissen, noch seiner Eitelkeit schmeicheln. Die Neigung, den Unterhaltungen seiner 4 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Umgebung als schweigsamer Beobachter zu folgen, veranlasste seine Freunde des Öfteren, ein ganz bestimmtes, ihn interessierendes Thema zu verabreden und ins Gespräch zu bringen, um ihn damit in eine Diskussion ziehen zu können. Die Meinung, die er sich nach kurzer Bekanntschaft über jemanden bildete, war häufig irrig, doch neigte er seiner Natur nach weit mehr zu blinder Parteinahme als zu Voreingenommenheit. Da er gewöhnt war, das menschliche Tun im grossen Zusammenhange zu sehen, nahm er sich weder Zeit noch Mühe, im Einzelnen auf die wenig interessanten Eigenheiten unbedeutender Charaktere zu achten. So konnte es trotz seiner intimen Kenntnis selbst der differenziertesten Regungen des Geistes und der Seele und trotz des Einfühlungsvermögens, mit welchem er in seinen Theorien alle Schattierungen von der schöpferischen Kraft bis zur Leidenschaft beschrieb, vorkommen, dass sein Urteil überraschend weit von der Wahrheit entfernt war. Auch die Ansichten, die er im geselligen Kreis unbekümmert und freimütig über Bücher und theoretische Fragen äusserte, waren nicht alle so, wie man es von einem Manne seiner überragenden Intelligenz und der einmaligen Folgerichtigkeit seiner philosophischen Grundsätze hätte erwarten dürfen. Sie waren nicht selten von irgendwelchen Umständen oder der Stimmung des Augenblicks beeinflusst und liessen, wurden sie von flüchtigen Zuhörern weitergegeben, ein falsches und widerspruchsvolles Bild seiner wirklichen Meinung entstehen. Trotzdem enthielten seine bei diesen und zahlreichen Gelegenheiten geäusserten Ansichten viel Wahrheit und Ursprünglichkeit. Und hätte man den Versuch gemacht, alle diese verschiedenen Bemerkungen in ihrer Gesamtheit zu beurteilen, wäre das Ergebnis mit grosser Wahrscheinlichkeit ein umfassendes und wohlbegründetes Argument gewesen. Aber im Freundeskreis empfand er verständlicherweise weinig Neigung, solche ausgefeilten Urteile zu formulieren, wie wir sie in seinen Schriften bewundern; er gab sich vielmehr im allgemeinen damit zufrieden, von dem jeweiligen Gegenstand ... eine rasche und meisterhafte Skizze zu entwerfen. Dasselbe konnte man beobachten, wenn er in seinem Gedankenflug eine Persönlichkeit schilderte, von der man annehmen konnte, dass er sie durch langen vertrauten Umgang gut kannte. Es entstand dann eine lebendiges und ausdrucksstarkes Bild, das, von einem bestimmten Gesichtswinkel aus betrachtet, eine auffallende und ergötzliche Ähnlichkeit mit dem Original aufwies, ihm aber in den seltensten Fällen in allen Dimensionen und Proportionen gerecht wurde. Mit einem Wort: seine spontanen Urteile waren zu systematisch und zu extrem. ... In seiner äusseren Erscheinung und seinem Auftreten war nichts Ungewöhnliches. Wenn er sich ganz ungezwungen und von einem Gespräch angeregt fühlte, waren seine Gesten lebhaft und nicht ohne Anmut, und seine Züge konnten sich im Zusammensein mit ihm nahe stehenden Menschen mit einem gütigen Lächeln erhellen. In Gegenwart von Fremden war er wahrscheinlich 5 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte als Folge seiner Zerstreutheit und mehr noch aus dem Bewusstsein dieser Schwäche heraus, etwas gehemmt, eine Wirkung, die seine spekulativen Vorstellungen von Schicklichkeit noch beträchtlich verstärkt haben. Sie erklären sich aus seinen einsiedlerischen Gewohnheiten und haben gleichzeitig seine Aufnahmefähigkeit verbessert wie auch seine Erkenntnis verringert." 3. Wirtschaftliche, politische und soziale Rahmenbedingungen (Ende 18. Jh.) a) Die industrielle Revolution setzt ein, aber die Landwirtschaft ist noch mit Abstand der wichtigste Sektor (um die 80% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig). Die im landwirtschaftlichen Sektor freigesetzten Arbeitskräfte (Einhegungen; von Ackerbau zu Schafzucht) bilden einen bedeutenden Teil des Arbeitsangebotes auf das der sich rasch entwickelnde Industrie zurückgreifen kann. b) Der König und der Adel haben in England bereits den Grossteil der Macht eingebüsst. Das Bürgertum schickt sich an, diese vollständig zu übernehmen. Damit verbunden ist die Ausformung der parlamentarischen Demokratie, deren geschichtliche Wurzeln in England sehr weit zurückreichen (Magna Charta von 1215). c) Der politische und wirtschaftliche Liberalismus als Reaktion gegen Absolutismus und Merkantilismus eröffneten Freiheitsperspektiven für die Individuen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. Weil die sozialen Auswirkungen der Industriellen Revolution noch nicht zum Tragen gekommen waren, war Adam Smith ein Optimist. Er fühlte sich vermutlich, als ein Prophet und Visionär, der an der Schwelle eines neuen, besseren Zeitalters stand. 4. Die Sozialphilosophie von Adam Smith: Die Theorie der ethischen Gefühle (The Theory of Moral Sentiments) [Literatur: Andrew Skinner: A System of Social Science - Papers Relating to Adam Smith. Oxford (Clarendon) 1979, vor allem pp. 42-67 und 104-129; Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, dtv-Taschenbuch, Einleitung von H.C. Recktenwald, pp. XXXV ff.] a) Das gute Handeln (propriety) Adam Smiths Sozialphilosophie geht vom Individuum aus, und das Soziale kommt zustande durch eine Interaktion von Individuen (Tausch, Verträge allgemein, Bildung von Gruppen und Vereinen z.B.). (Der Ausgangspunkt ist also nicht die Gesellschaft und ihre Struktur, z.B. Vereine, Unternehmungen, sozialer Produktionsprozess). Seine Sozialethik ist dargelegt in The Theory of Moral Sentiments (1759). Die Grundfrage ist: Wie soll sich der Einzelne seinen 6 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Mitmenschen gegenüber im Rahmen einer sozialen Beziehung (Tausch, Gruppe, Verein) verhalten. In diesem Werk erarbeitet Adam Smith die Prinzipien für das geordnete Zusammenleben der Menschen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Adam Smith geht von den Neigungen und Anlagen aus, die jeder Mensch besitzt. Zwei dieser Neigungen sind für das soziale Handeln besonders wichtig: - das Eigeninteresse (self interest), das sich z.B. beim Tausch ausdrückt und - das Mitgefühl (fellow feeling): das Interesse am Schicksal des Mitmenschen. Beide Neigungen sind offenbar entgegengesetzt: Zunehmendes Eigeninteresse ist verbunden mit einer Abnahme des Mitgefühls, und umgekehrt. fellow feeling self interest >______________________________< Das Eigeninteresse ist vor allem auf wirtschaftlicher Ebene erforderlich, weil dieses den Einzelnen zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage anspornt. Jedoch darf sich das Eigeninteresse nicht ungehindert auswirken. Die Interessen der Mitmenschen dürfen nicht verletzt werden. Diese sozialen Schranken werden durch das Mitgefühl gesetzt. Die sozial richtige oder angemessene Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl nennt Adam Smith propriety (Schicklichkeit, Angemessenheit). Wird 'propriety' realisiert, ergibt sich tugendhaftes (angemessenes, schickliches) Handeln (vor allem Realisierung des Guten und Gerechten in allen Bereichen des Lebens). Würden alle Mitglieder einer Gesellschaft gemäss den Erfordernissen der 'propriety' handeln, ergäbe sich eine ideal funktionierende oder harmonische Gesellschaft. [Wichtig: Für das wirtschaftliche Leben impliziert die 'propriety', dass die Preise nicht nur von egoistischen, auf dem Eigeninteresse basierenden Elementen bestimmt werden (Nutzen- und Profitmaximierung) wie in der gegenwärtigen neoklassischen (liberalen) Wirtschaftstheorie. Bei Adam Smith wirken auch ethische Faktoren auf die Preisbestimmung ein, also Faktoren, die mit dem Mitgefühl verbunden sind. Wenn etwa ein Güterpreis, z.B. der Weizenpreis, oder ein Lohnsatz unter das existenzsichernde Niveau absinkt, müssen nach Adam Smith ausserökonomische ethische Kriterien, basierend auf dem Mitgefühl, herangezogen werden, um sozial angemessene Löhne und Preise zu garantieren. (Auf die heutige Situation bezogen: Hinter den Angebots- und Nachfragekurven stehen nicht nur ökonomische Elemente im Zusammenhang mit der Nutzen- und Profitmaximierung, sondern auch ethische Faktoren. Jedoch: vollkommene Konkurrenz scheint nach Adam Smith 'propriety' zu erzwingen; d.h. der Preis, der sich bei vollkommener Konkurrenz ergibt, ist ein gerechter Preis.)] 7 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Tugendhaftes Handeln ergibt sich nach Adam Smith aufgrund der Entfaltung von natürlichen Anlagen. Im Gegensatz zu Hobbes impliziert dies, erstens, dass die Menschen - im Prinzip, von Natur aus - gut und gerecht sind und, zweitens, dass sie im Zusammenwirken mit anderen (z.B. mittels Diskussionen) eine unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit haben: er kann die Wirkungen seiner Handlungen abschätzen. Dies ist ein weiteres Indiz für den Optimismus von Adam Smith (erst im Alter wurde er zum Pessimisten, was ihn z.B. veranlasste, sämtliche unvollendeten Manuskripte, die er noch bearbeitete, verbrennen zu lassen). [Nach W.A. Jöhr, dem St.Galler Dogmenhistoriker, steht Adam Smiths - psychologische Tugendkonzeption (Entfaltung von natürlichen Anlagen) in schroffem Gegensatz zur christlichen (katholischen) Ethik. Hier ist die menschliche Vernunft ein Mittel zum Erkennen des Guten (z.B. Gerechtigkeit bei der Lohnfestsetzung) und des Schlechten, die beide objektiv vorgegeben sind. Das Gute ist überindividuell und durch die Zweckanlagen der menschlichen Natur(Messner, Utz) objektiv vorgegeben und damit bestimmt: der gute Mensch in der Individualethik, die gute Gesellschaft in der Sozialethik. Der Mensch ist frei, das Gute oder das Schlechte zu wählen (Willensfreiheit). Es geht also in der Sozialethik darum, eine mehr oder weniger gute Situation zu verbessern und näher an die ethisch wünschbare Situation heranzuführen, z. B. Verringerung der Arbeitslosigkeit bei Keynes.] b) Wie kann 'propriety' erkannt und durchgesetzt werden? Um diese Frage zu beantworten, hat Adam Smith das Konzept des "unbeteiligten Zuschauers (Beobachters)" (spectator) entwickelt. Jeder Mensch kann die Rolle eines "spectators" einnehmen um eigene oder die Handlungen anderer zu beurteilen (spectator: Objektivität; Gewissen). Dies verlangt starke Selbstbeherrschung. Immer wieder muss der einzelne sich vom alltäglichen Handeln lösen und die Rolle des 'spectators' einnehmen, um die moralische Qualität seines Handeln kühl und distanziert zu beurteilen. Diese harte Anforderung an den Menschen entspricht ganz Adam Smiths Charakter. Er hatte sich jederzeit vollständig in der Hand und strebte die bestmögliche Erfüllung seiner Pflichten an. Adam Smith hat jedoch eingesehen, dass viele Menschen die nötige Willensstärke, die die Rolle des 'unbeteiligten Zuschauers' erfordert, nicht aufbringen können. Er hat sich deshalb gefragt, ob es Kräfte gebe, die den einzelnen zwingen würden, moralisch einwandfrei zu handeln. Er führt mehrere solcher Kräfte auf. 1) das Anerkennungsstreben: Jeder, der gemäss der 'propriety' (sozial angemessen, moralisch richtig) handelt, erwirbt sich die Anerkennung seiner Mitmenschen. Dies führt zu einem Gefühl der Befriedigung und ist dadurch ein Ansporn moralisch richtig zu handeln. 8 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 2) Das Anerkennungsstreben wird ergänzt durch moralische Regeln, deren Befolgen zu angemessenem Handeln führt. Diese entstehen im Zuge von Erfahrungen, die die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft im Prozess des Zusammenlebens machen. Die moralischen Regeln vermitteln dem 'spectator' auch (objektive) Kenntnisse über die Natur des angemessenen Handelns, das für ihn nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Die Befolgung moralischer Regeln ist jedoch freiwillig: sie sind nicht durchsetzbar. Adam Smith hält deshalb ein Rechtssystem für unabdinglich, damit bestimmte Verhaltensweisen unter Strafandrohung durchgesetzt werden können. Im wirtschaftlichen Bereich betrifft dies vor allem der Schutz des Eigentums. Dazu eine aufschlussreiche Passage aus dem 'Wohlstand der Nationen': "[Bei Eigentumsdelikten] entspricht der Nutzen der Person, die das Unrecht begeht, häufig dem Verlust des Geschädigten. ... Habsucht und Ehrgeiz bei den Reichen, Arbeitsscheu und Neigung zu gelegentlichem Nichtstun und zu Vergnügungen bei den Armen [geben Anlass] zu Übergriffen auf fremdes Eigentum, Triebkräfte, die gleichsam ständig am Werke sind und deren Einfluss weit verbreitet ist. ... Der Reichtum der Besitzenden reizt zur Empörung der Besitzlosen, die häufig durch Not gezwungen und von Neid getrieben, sich deren Eigentum aneignen. Nur unter dem Schutz einer staatlichen Behörde kann der Besitzer eines wertvollen Vermögens, Frucht der Arbeit vieler Jahre oder sogar vieler Generationen, auch nur eine einzige Nacht ruhig schlafen"(RN, 601). Das sozialphilosophische System von Adam Smith deutet an, wie geordnetes Zusammenleben der Menschen in einer liberalen Gesellschaft aussehen sollte. Zentral ist: Der Egoismus (Eigeninteresse) ist notwendig und gut, vor allem auf wirtschaftlichen Gebiet (wirtschaftliche Besserstellung, Fortschritt). Der Egoismus muss aber durch das Mitgefühl in Schranken gehalten werden. Der Einzelne muss sich immer wieder fragen, welche Auswirkungen sein Handeln auf andere hat. Wirtschaftlicher Liberalismus ist also für Adam Smith nicht nur Verfolgen von Eigeninteressen, sondern eine Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl. Die Tatsache, dass Adam Smith zuerst ein ethisches System aufgestellt hat, das menschliches Handeln auch auf wirtschaftlichem Gebiet regelt (The Theory of Moral Sentiments, 1759), und dann erst über wirtschaftliche Probleme geschrieben hat (An Iquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, 1776), ist von zentraler Wichtigkeit: Ohne eine ethische Grundlegung kann man - im Sinne von Adam Smith - nicht über ökonomische Probleme diskutieren. So sieht Adam Smith klar, dass die Probleme der Preisbildung und der Einkommensverteilung wesentlich ethische Probleme sind. Die natürlichen Preise und die 9 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte natürlichen Lohnsätze werden durch die ‘propriety’ bestimmt, die sowohl das ‘Eigeninteresse’ wie auch das ‘Mitgefühl’ enthält. Auf wirtschaftlichem Gebiet treten bei Adam Smith ethische Probleme nur in einer ganz bestimmten Situation in den Hintergrund, nämlich wenn vollkommene Konkurrenz herrscht und demnach zu langfristigen Gleichgewichtspreisen (den Smithschen natürlichen Preisen) getauscht wird. Weil in diesem Fall kein Anbieter oder Nachfrager den Preis beeinflussen kann und die Produktqualität jeweils festgelegt ist, ist auch keine Übervorteilung möglich. Vollkommene Konkurrenz erzwingt deshalb - möglicherweise - 'propriety' auf wirtschaftlichem Gebiet. Adam Smith hat jedoch klar gesehen, dass vollkommene Konkurrenz ein hypothetischer Idealzustand ist, der nicht realisiert werden kann. Konkurrenz ist also in der Realität immer mehr oder weniger unvollkommen. Bei unvollkommener Konkurrenz behalten jedoch die 'propriety' und das darin eingeschlossene 'fellow feeling' ihre volle Bedeutung. Ein Beispiel: Bei der Darlegung seiner Wert- und Verteilungstheorie schimpft Adam Smith immer wieder über die Unternehmer, die durch Absprachen versuchen, die Preise ihrer Produkte über die langfristigen (natürlichen) Gleichgewichtspreise anzuheben oder zu niedrige Löhne zu bezahlen. c) Schlussfolgerung Propriety (sozial angemessenes Handeln der einzelnen Individuen) wird erzwungen durch Anerkennungsstreben, moralische Regeln, rechtliche Vorschriften, Konkurrenz, Gewissensbissen, Angst vor Bestrafung nach dem Tode. Die 'propriety' ist somit das grundlegende Ordnungsprinzip einer liberalen Gesellschaft, dessen Realisierung einen natürliche, harmonischen Zustand in Wirtschaft und Gesellschaft herbeiführen würde. Adam Smith sah den natürlichen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft als das Resultat der Funktionsweise eines riesigen Mechanismus (analog zum Mechanismus - Uhrwerk - der Natur der Naturwissenschafter wie Descartes und Newton). Dieser natürliche Zustand stellt ein umfassendes gesellschaftliches Gleichgewicht dar, das das wirtschaftliche Gleichgewicht einschliesst. Die Handlungen der einzelnen werden vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Mechanismus so koordiniert, dass sich ein übergreifendes soziales Optimum ergibt. (Das heutige, ausschliesslich ökonomische Gleichgewicht der modernen liberalen Ökonomen ist nur ein Abglanz des natürlichen Zustandes von Adam Smith.) Adam Smith kann demnach als ein optimistischer Liberaler bezeichnet werden. Sein Optimismus stützte sich auf seine Vision einer freiheitlichen liberalen Gesellschaft, die auf die absolutistischmerkantilistische folgen sollte. Zudem konnte er die Funktionsweise kapitalistischen Wirtschaftssystems (der Realisierung der liberalen Doktrin), das damals gerade im Entstehen 10 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte war, nicht kennen. Ricardo, Malthus, Marx und Keynes, die alle die liberale Realität, den Kapitalismus, zu verstehen versuchten, sind zu eher pessimistischen Schlussfolgerungen gekommen. Keynes hat eindrücklich gezeigt, dass der Smithsche Optimismus nicht gerechtfertigt ist, weil die Rationalität der Individuen nicht mit der Rationalität des ökonomischen Systems übereintimmt. Beispielsweise ist für Adam Smith Sparen eine Tugend. Mehr Sparen führt zu höheren Investitionen, damit zu einem höheren Sozialprodukt (zunehmendem Reichtum) und mehr Beschäftigung. Keynes dagegen hat gezeigt, dass in einer Geldwirtschaft eine Zunahme des Sparens mit verminderten Konsumausgaben einhergeht. Wenn der Absatz in der Konsumgüterindustrie stockt, wird auch weniger investiert. Sozialprodukt und Beschäftigung gehen zurück. Ein höheres Sparvolumen führt demnach in eine Krise. Jedenfalls hat Adam Smith das Problem von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, auf das die Merkantilisten so grosses Gewicht gelegt hatten, vollständig ignoriert. Wie die heutige Theorie war auch Adam Smiths theoretisches System im wesentlichen eine Beschreibung von Gleichgewichtszuständen, die Vollbeschäftigung implizieren. 5. Das Gesamtsystem von Adam Smith besteht aus drei grossen Komponenten: einer (rudimentären) Geschichtsphilosophie, einer Sozialphilosophie, tatsächlich eine individualistische Sozialethik, und einer ökonomischen Theorie. Die Sozialphilosophie haben wir soeben gesehen und die ökonomische Theorie ist Gegenstand des nächsten Kapitels (III). Hier nur stichwortartig seine 'Geschichtsphilosophie', die eigentlich eine Stufentheorie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung darstellt. Die Jägergesellschaft ist der Ausgangspunkt. Es folgt die Hirtengesellschaft, dieser die Agrikulturgesellschaft und die Handelsgesellschaft als höchste und letzte Entwicklungsstufe. Diese hat Adam Smith vor Augen als er den 'Reichtum der Nationen' schreibt (in der Handelsgesellschaft ist natürlich die Landwirtschaft als zur Industrie gleichwertiger Sektor eingebettet). In seiner Sozialphilosophie (Theorie der ethischen Gefühle) gestaltet das Prinzip der 'propriety' die Handelsgesellschaft. Die im 'Reichtum der Nationen' enthaltene ökonomische Theorie versucht nun die ökonomischen Phänomene - Wert, Verteilung, Wachstum und Entwicklung systematisch zu erklären. 11 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte III. Die ökonomische Theorie: Funktionsweise der Handelsgesellschaft Einleitung: Der Aufbau des 'Reichtums der Nationen' (Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1983, Übersetzung von H.C. Recktenwald) Erstes Buch: Was die produktiven Kräfte der Arbeit verbessert und nach welcher natürlichen Ordnung sich ihr Ertrag auf die einzelnen Schichten der Bevölkerung verteilt 1. Kapitel: Die Arbeitsteilung 2. Kapitel: Das Prinzip, das der Arbeitsteilung zugrunde liegt 3. Kapitel: Die Grösse des Marktes - eine Grenze für die Arbeitsteilung 4. Kapitel: Ursprung und Gebrauch des Geldes 5. Kapitel: Der Real- und Nominalpreis der Güter oder ihr Arbeits- und ihr Geldwert 6. Kapitel: Die Bestandteile der Güterpreise 7. Kapitel: Der natürliche Preis und der Marktpreis der Güter 8. Kapitel: Der Lohn der Arbeit 9. Kapitel: Der Kapitalgewinn 10. Kapitel: Lohn und Gewinn bei verschiedener Verwendung der Arbeit und des Kapitals 1. Teil: Ungleichheiten, die sich aus der Art der Verwendung selbst herleiten 2. Teil: Ungleichheiten, die ihren Grund in der Wirtschaftspolitik in Europa haben. 11. Kapitel: Die Bodenrente 1. Teil: Bodenprodukte, die immer eine Rente abwerfen 2. Teil: Bodenprodukte, die zuweilen eine Rente abwerfen, mitunter nicht 3. Teil: Veränderungen im Wertverhältnis zwischen einem Ertrag, der stets und einem solchen, der nur bisweilen eine Rente abwirft, Veränderungen im Verhältnis zwischen dem Wert des Goldes und dem des Silbers, Unterschiedliche Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts für den Realpreis dreier Arten von Rohprodukten. Der Einfluss des wirtschaftlichen Fortschritts auf den Realpreis gewerblicher Erzeugnisse. Zweites Buch: Natur, Ansammlung und Einsatz des Kapitals Einleitung 1. Kapitel: Die Zusammensetzung des Kapitalbestandes 2. Kapitel: Geld als ein besonderer Bestandteil der Kapitalanlagen eines Landes oder der Aufwand zur Erhaltung des Volksvermögens 12 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 3. Kapitel: Bildung von Kapital oder produktive und unproduktive Arbeit 4. Kapitel: Kapitalverleih gegen Zins 5. Kapitel: Verschiedene Verwendung der Kapitalien Drittes Buch: Die unterschiedliche Zunahme des Wohlstandes in einzelnen Ländern 1. Kapitel: Das natürliche Wachstum des Wohlstandes 2. Kapitel: Die Behinderung der Landwirtschaft im alten Europa nach dem Untergang des römischen Reiches 3. Kapitel: Gründung und Wachstum der Städte nach dem Untergang des römischen Reiches 4. Kapitel: Wie der Handel der Städte zur Entwicklung des Landes beigetragen hat Viertes Buch: Systeme der Politischen Ökonomie 1. Kapitel: Grundsätze des Handels oder Merkantilsystems [Merkantilismus] ....... 9. Kapitel: Agrarsysteme oder solche Systeme der Politischen Ökonomie, die im Bodenertrag die einzige oder die Hauptquelle für Einkommen und Wohlstand eines Landes sehen [Physiokratie] Fünftes Buch: Die Finanzen des Landesherren oder des Staates 1. Kapitel: Die öffentlichen Ausgaben 2. Kapitel: Die Quellen der allgemeinen oder öffentlichen Einnahmen eines Landes 1. Teil: Herkunft oder Quellen der Einkünfte, die ausschliesslich dem Landesherrn oder dem Gemeinwesen gehören können 2. Teil: Steuern ....... 3. Kapitel: Staatsschulden Die Analyse von Adam Smith spielt sich auf zwei Ebenen ab: 1) auf der Ebene des natürlichen (liberalen) Zustandes: 'normative' Theorie 2) auf der Ebene der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit: positive Theorie. Im Folgenden sind alle Smith-Zitate der deutschen Recktenwald-Ausgabe entnommen (als RN = Reichtum der Nationen zitiert). 13 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 1. Arbeitsteilung und Reichtum: die gesamtwirtschaftliche Produktionstheorie (Buch I, Kapitel 1-3) Adam Smith will hier die fundamentalen Ursachen des Reichtums, des Wohlstandes eines Landes herausarbeiten (jährlich zur Verfügung stehende Gütermenge). a) Ausgangspunkt: "Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. Sie bestehen stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit oder aus dem, was damit von anderen Ländern gekauft wird. Ein Volk ist daher umso schlechter oder besser mit allen Gütern, die es braucht, versorgt, je mehr oder weniger Menschen sich in den Ertrag der Arbeit oder in das, was sie im Austausch dafür erhalten, teilen müssen [Pro-Kopf-Sozialprodukt]. Zwei Faktoren bestimmen nun in jedem Land diese Pro-Kopf-Versorgung: Erstens die Produktivität der Arbeit als Ergebnis von Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, und zweitens das Verhältnis der produktiv Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung. Von beiden Umständen muss es jeweils abhängen, ob in einem Land das Warenangebot im Jahr über reichlich oder knapp ausfällt, gleichgültig, wie gross ein Land ist oder welchen Boden und welches Klima es hat" (RN, 3). (Produktive Tätigkeit erbringt einen Gewinn, allgemein: einen Überschuss; produktive Arbeiter sind z.B. Arbeiter und Angestellte von Industriebetrieben und Bauern in der Landwirtschaft. Nichtproduktive Tätigkeit wird aus dem Überschuss bezahlt, z.B. Dienstboten, Beamte, Lehrer und Professoren, Advokaten und Notare). b) Die Arbeitsproduktivität Q/N hängt in erster Linie ab von der Arbeitsteilung: "Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern. Das gleiche gilt wohl für die Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, mit der sie überall eingesetzt oder verrichtet wird" (RN, 9). Adam Smith führt zur Illustration dieses Sachverhaltes das berühmte Stecknadelbeispiel auf: "Ein Arbeiter, der noch niemals Stecknadeln gemacht hat und auch nicht dazu angelernt ist (erst die Arbeitsteilung hat daraus ein selbständiges Gewerbe gemacht) , so dass er auch mit den dazu eingesetzten Maschinen nicht vertraut ist (auch zu deren Erfindung hat die Arbeitsteilung vermutlich Anlass gegeben), könnte, selbst wenn er sehr fleissig ist, täglich höchstens eine, sicherlich aber keine zwanzig Nadeln herstellen. Aber so wie die Herstellung von Stecknadeln heute betrieben wird, ist sie nicht nur als Ganzes ein selbständiges Gewerbe. Sie zerfällt vielmehr 14 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte in eine Reihe getrennter Arbeitsgänge, die zumeist zur fachlichen Spezialisierung geführt haben. Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann. Auch die Herstellung des Kopfes erfordert zwei oder drei getrennte Arbeitsgänge. ... Um eine Stecknadel anzufertigen, sind somit etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig, die in einigen Fabriken jeweils verschiedene Arbeiter besorgen... . Ich habe selbst eine kleine Manufaktur dieser Art gesehen, in der nur nur 10 Leute beschäftigt waren, so dass einige von ihnen zwei oder drei solcher Arbeiten übernehmen mussten. Obwohl sie nun sehr arm und nur recht und schlecht und recht mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet waren, konnten sie zusammen am Tage doch etwa 12 Pfund Stecknadeln anfertigen... . Rechnet man für ein Pfund über 4000 Stecknadeln mittlerer Grösse, so waren die 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4800 Stück. Hätten sie indes alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet, noch dazu ohne weitere Ausbildung, so hätte der einzelne gewiss nicht einmal 20, vielleicht sogar keine einzige Nadel am Tag zustande gebracht" (RN, 9-10). Dieses Beispiel zeigt, dass der industrielle Produktionsprozess wesentlich ein sozialer Vorgang ist (obwohl Adam Smith sein Augenmerk auf den einzelnen Arbeiter richtet, weniger auf den Produktionsprozess als Ganzes - er ist individualistisch orientiert): Ein gemeinsames Ziel wird durch Arbeitsteilung, Kooperation und Koordination erreicht. Im Gegensatz zur Industrie war die landwirtschaftliche Produktion vorwiegend individualistisch. A. Smith deutet an, dass deshalb in der Landwirtschaft weniger Möglichkeiten der Arbeitsteilung bestehen als in der Industrie: "Die Eigenart der Landwirtschaft lässt indes eine so weitgehende Spezialisierung wie in der Industrie nicht zu, auch nicht eine solch scharfe Abgrenzung der einzelnen Tätigkeiten gegeneinander. So ist es einfach unmöglich, die Viehzucht so eindeutig vom Getreidebau zu trennen, wie das zwischen dem Gewerbe eines Zimmermanns und dem eines Schmiedes der Fall ist. Der Spinner und der Weber sind durchweg zwei Personen, dagegen pflügt, eggt, sät und erntet häufig ein und dieselbe Arbeitskraft. Da alle diese Arbeiten zu verschiedenen Jahreszeiten anfallen, könnte eine einzelne Person unmöglich fortwährend nur mit einer davon beschäftigt sein" (RN, 11). Adam Smith führt dann explizit die Faktoren auf, die die Arbeitslosigkeit direkt beeinflussen: "Die enorme Steigerung der Arbeit, die die gleiche Anzahl Menschen nunmehr infolge der Arbeitsteilung zu leisten vermag, hängt von drei verschiedenen Faktoren ab: (1) der grösseren Geschicklichkeit jedes einzelnen Arbeiters, (2) der Ersparnis an Zeit, die gewöhnlich beim Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen verloren geht und (3) der Erfindung einer Reihe von Maschinen, welche die Arbeit erleichtern, die Arbeitszeit verkürzen und den einzelnen in den 15 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Stand setzen, die Arbeit vieler zu leisten" (RN, 12). Dabei wird der Maschineneinsatz ermöglicht durch die Vereinfachung von Arbeitsvorgängen im Zuge der Arbeitsteilung, [die bereits in den Manufakturen stattgefunden hatte] (RN, 13). c) In einem nächsten Schritt argumentiert Adam Smith, dass der Tausch das Prinzip sei, das der Arbeitsteilung zugrunde liege. "Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich bringt, ist in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem erstere zwangsläufig führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise, aus einer natürlichen Neigung des Menschen zu handeln und Dinge gegeneinander [auszutauschen]. ... In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Masse auf die Mitarbeit und Hilfe anderer angewiesen, [...] wobei er jedoch kaum erwarten kann, dass er [diese Hilfe] allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen [fellow feeling] erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, dies für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht. [...] Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen [self interest] wahrnehmen"(RN, 16-17). Nach A.Sm. ist also die Arbeitsteilung aus dem Tausch abgeleitet. Entgegengesetzte Ansicht: Arbeitsteilung entsteht innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses - die Produktion ist dem Tausch vorgeschaltet - und führt zu einer Senkung der Herstellungskosten. Dadurch wird der Produzent im Tausch erfolgreicher: er kann neue Märkte gewinnen. In dieser gesamtwirtschaftlichen gewinnt der Tausch eine neue Bedeutung: es werden nicht Güter gegen Güter, sondern im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Geld- und Güterkreislaufs Güter gegen Geld (und umgekehrt) "getauscht", wobei Geld Wert-Stellvertreter und allgemein anerkanntes Zahlungsmittel ist. d) Schliesslich argumentiert Adam Smith, dass die Grösse des Marktes eine Grenze für die Arbeitsteilung darstelle: "So, wie die Fähigkeit zum Tauschen Anlass zur Arbeitsteilung ist, so muss das Ausmass dieser Fähigkeit und damit die Marktgrösse den Umfang der Arbeitsteilung begrenzen. Ist der Markt sehr klein, kann sich niemand ermutigt fühlen, sich ausschliesslich einer Beschäftigung zu widmen, da er das, was er über seinen eigenen Bedarf hinaus erstellt, also den Überschuss seines 16 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsertrages, nicht gegen die überschüssigen Erzeugnisse anderer, die er benötigt, eintauschen kann. Es gibt nun einige Gewerbe ..., die man nur in einer grossen Stadt ausüben kann. So kann ein Lastträger an keinem anderen Ort Beschäftigung und Auskommen finden. Ein Dorf ist für ihn ein zu kleines Betätigungsfeld... . Auf Einzelhöfen und in kleinen Dörfern, die verstreut in einer so verlassenen Gegend wie dem schottischen Hochland liegen, muss jeder Bauer zugleich sein eigener Metzger, Bäcker und Brauer sein. Man darf kaum erwarten, unter solchen Umständen selbst Schmiede, Zimmerleute und Maurer in einem Umkreis von weniger als zwanzig Meilen antreffen zu können. Die Familien leben weit verstreut, oft 8 bis 10 Meilen vom nächsten Handwerker entfernt, so dass sie lernen müssen, viele kleine Arbeiten selbst zu tun, zu denen sie in dichter besiedelten Landstrichen die Hilfe eines Handwerkers in Anspruch nehmen würden. Der Handwerker auf dem Lande ist fast überall gezwungen, alle Arbeiten anzunehmen" (RN, 19). [Sehr wichtig (von Adam Smith vorausgeahnt): Ein grosser Markt ermöglicht Spezialisierung, eventuell den Einsatz von Maschinen; bei zunehmender Produktionsmenge können die Durchschnittskosten gesenkt werden (Gesetz der Massenproduktion). Später hat Friedrich List (1789-1846) erkannt, dass dieses Gesetz sich kumulativ verstärkende Wohlstandsunterschiede bewirken kann, wenn Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand Freihandelsbeziehungen aufnehmen: Die Industrie des unterwickelten Landes wird an die Wand gedrängt (wegen rückläufiger Produktion und steigenden Durchschnittskosten), die Industrie des hochentwickelten Landes prosperiert, weil die Produktionsmengen ausgeweitet und die Stückkosten gesenkt werden können. List schlug deshalb für (ökonomisch) unterwickelte Länder Schutzzölle vor, um die sich entwickelnde Industrie zu schützen. Diese Ungleichgewichtstheorie von List steht in Gegensatz zur Gleichgewichtstheorie von Adam Smith.] 2. Die Rolle des Geldes (Kap. 4, 22) Geld ermöglicht den Ausbau der Arbeitsteilung, was wiederum die Arbeitsproduktivität und damit den Reichtum (Sozialprodukt Q) steigert. Die zunehmenden Tauschvorgänge können nur abgewickelt werden durch die Einführung von Geld. Dieses erleichtert die Tauschvorgänge: WG-W' ist zeitsparend, W-W' zeitraubend). Nach Adam Smith bildet das Geld (Gold, Silber, Bankensystem) deshalb Teil des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks, der die Arbeitsproduktivität steigert. Dies erfolgt über eine Senkung der Transaktionskosten (Kosten für Käufe und Verkäufe) durch den Übergang von W-W' zu W-G-W'. Es bleibt mehr Zeit für die Produktion übrig, was Q und Q/N steigert. 17 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Adam Smith argumentiert, dass das Geld aus dem Tausch entsteht (Warentheorie des Geldes!): "Hat sich die Arbeitsteilung einmal weitgehend durchgesetzt, kann der einzelne nur noch einen Bruchteil seines Bedarfs durch Produkte der eigenen Arbeit decken. Er lebt weitgehend von Gütern, die andere erzeugen und die er im Tausch gegen die überschüssigen Produkte seiner Arbeit erhält. So lebt eigentlich jeder vom Tausch, oder er wird in gewissem Sinne ein Kaufmann, und das Gemeinwesen entwickelt sich zu einer kommerziellen Gesellschaft. In den Anfangen der Arbeitsteilung muss der Tausch häufig noch sehr schleppend und stockend vor sich gegangen sein. Nehmen wir an, jemand habe von einer Ware mehr als er braucht, ein anderer dagegen zu wenig davon. Dann würde der erste froh sein, wenn er von dem Überschüssigen etwas abgeben, der zweite etwas davon kaufen könnte. Hat dieser aber gerade nichts zur Hand, was der erste braucht, kann kein Tausch unter ihnen zustande kommen. So hat ein Metzger mehr Fleisch in seinem Laden, als er selbst essen kann, und Brauer und Bäcker würden gern etwas davon kaufen. Sie können lediglich ihr Brot oder Bier anbieten. Ist nun der Metzger für seinen unmittelbaren Bedarf damit bereits ausreichend versorgt, so wird es in diesem Fall zu keinem Handel kommen können: Der Metzger kann nicht verkaufen, die beiden anderen als Kunden nicht kaufen. Alle drei können einander wenig nützen. Um solche misslichen Situationen zu vermeiden, musste eigentlich jeder vernünftige Mensch auf jeder Entwicklungsstufe seit dem Aufkommen der Arbeitsteilung bestrebt gewesen sein, es so einzurichten, dass er ständig ausser dem Produkt seiner eigenen Arbeit einen kleinen Vorrat der einen anderen Ware bereit hatte, von der er annehmen könnte, dass andere sie im Tauch gegen eigene Erzeugnisse annahmen werden. Vermutlich wurden im Laufe der Zeit die verschiedensten Waren zu diesem Zwecke ausgesucht und verwandt. In der Frühzeit der Menschheit soll das Vieh das übliche Tauschmittel gewesen sein, obwohl es dafür schlecht geeignet ist. So finden wir in alter Zeit häufig den Wert der Dinge nach Stück Vieh gemessen, das man dafür in Tausch gab [Indiz für die Existenz von Kreditgeld!]. Wie Homer berichtet, kostete die Rüstung Diomeds nur neun Ochsen, die des Glaukus dagegen hundert. In Abessinien soll Salz bevorzugtes Handels- und Tauschmittel gewesen sein, in einigen Küstengebieten Indiens eine Muschelsorte, in Neufundland Stockfisch, in Virginia Tabak, in einigen unserer westindischen Kolonien Zucker und schliesslich in anderen Ländern Häute oder gegerbtes Leder. Und noch heute gibt es in Schottland ein Dorf, wo es, wie man mir sagte, nichts Ungewöhnliches sei, wenn ein Arbeiter beim Bäcker oder im Wirtshaus mit Nägeln statt Geld bezahlt. Am Ende haben dann die Menschen in allen Ländern aus vernünftigen Gründen Metalle als Tauschmittel allen anderen Waren vorgezogen. Metall lässt sich, da es haltbarer als andere Ware 18 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte ist, nicht nur ohne nennenswerten Verlust aufbewahren, es kann auch ohne Schaden beliebig geteilt und leicht wieder eingeschmolzen werden, eine Eigenschaft, die kein gleich dauerhafter Stoff besitzt und die es vor allen anderen auszeichnet, als Zahlungs- oder Umlaufsmittel zu dienen. Auf solche Art ist Geld in allen zivilisierten Völkern zum unentbehrlichen Hilfsmittel im Handel geworden, das Kauf, Verkauf oder Tausch aller Waren vermittelt" (RN, 22-24). Ausgehend von diesen Betrachtungen entwickelt nun Adam Smith seine 3. Wert- oder Preistheorie a) Einleitung: "Ich werde nun im Folgenden untersuchen, welches die natürlichen Regeln sind, die die Menschen beim Tauschen von Ware gegen Geld oder Ware beachten. Nach ihnen richtet sich der sogenennte relative oder Tauschwert der Güter. Dabei stösst Adam Smith vorerst auf das Wertparadoxon, das er nicht lösen konnte, weil er den Unterschied zwischen Gesamtnutzen und Grenznutzen nicht kannte: "Man sollte zunächst bedenken, dass das Wort Wert zwei voneinander abweichende Bedeutungen hat. Es drückt manchmal die Nützlichkeit einer Sache aus, manchmal die Fähigkeit, mit Hilfe eines solchen Gegenstandes andere Güter im Tausch zu erwerben, eine Fähigkeit, die sein Besitz verleiht. Den einen kann man "Gebrauchswert", den anderen "Tauschwert" nennen. Dinge mit dem grössten Gebrauchswert haben vielfach nur einen geringen oder keinen Tauschwert, umgekehrt haben solche mit dem grösstent Tauschwert häufig wenig oder keinerlei Gebrauchswert [Wertparadoxon!]. Nichts ist nützlicher als Wasser, und doch lässt sich damit kaum etwas kaufen oder eintauschen. Dagegen besitzt ein Diamant kaum einen Gebrauchswert, doch kann man oft im Tausch dafür eine [grosse] Menge anderer Güter bekommen"(27). A.Sm. formuliert dann die Wertproblematik: "Um nun zu untersuchen, nach welchen Regeln sich der Tauschwert eines Gutes richtet, werde ich mich zu zeigen bemühen: Erstens, welches das richtige Mass für diesen Tauschwert ist oder worin der reale Preis aller Güter besteht, zweitens, aus welchen einzelnen Teilen sich dieser reale Preis zusammensetzt oder bildet und drittens, unter welchen Umständen zuweilen einzelne oder alle diese Bestandteile des Preises über ihre natürliche oder normale Höhe steigen und zuweilen unter diese Höhe fallen, oder welche Ursachen gelegentlich verhindern, dass der Marktpreis, als der augenblickliche Preis eines Gutes, mit dem, was man seinen natürlichen Preis nennen mag, genau übereinstimmt"(27). Adam Smith weist auf die Schwierigkeiten seines Unterfangens hin: "Ich werden mich bemühen, diese drei Fragen in den nächsten Kapiteln so vollständig und sorgfältig wie möglich zu klären, wofür ich den Leser ernstlich um Geduld und Aufmerksamkeit bitten muss: Um seine Geduld 19 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte dort, wo ich ein Detail prüfe, das da und dort unnötig breit behandelt erscheinen mag, und um seine Aufmerksamkeit, damit er Zusammenhänge versteht, die auch nach ausführlichster Erklärung, die ich zu geben vermag, bis zu einem gewissen Grade noch unklar sein mögen"(27). b) Das Wertproblem: p1 q1 = p2 q2 (Tauschgleichung; pi = absolute Preise) p2/p1 = q1/q2 (relativer Preis; Wert des Gutes 2 ausgedrückt in Einheiten des Gutes 1) Je höher p2/p1, desto reicher sind die Produzenten von Gut 2, weil sie mehr von Gut 1 erhalten, und umgekehrt. c) Das Wertmass (nicht Wertursache!) Beispiel, um das Problem zu illustrieren: Der Wert eines Hauses kann (annähernd) mit Hilfe der Wohnfläche gemessen werden (Wertmass). Die Wertursache dagegen besteht in direkter Arbeit und indirekter Arbeit (Rohmaterialien und Werkzeuge). Für Adam Smith ist das Wertmass wichtig, weil er damit den Reichtum, repräsentiert durch das (nominale) Sozialprodukt (pQ = p1 q1 + p2 q2 + ...), eindeutig messen will. (Nominale Werte sind unzuverlässig, weil der Geldwert schwankt und nur eine vage Vorstellung des tatsächlichen Reichtums eines Landes gibt.) Um den Wert des Sozialprodukts und von Gütern zu messen, schlägt Adam Smith etwas überraschend vor, Arbeit (genauer: Arbeitszeit) als Wertmassstab zu verwenden. Die Arbeit, die man mit dem Sozialprodukt, einem Teil des Soz.prod. oder mit einem Gut kaufen könne, sei der ideale Wertmassstab (A.Smiths Lösung des Indexproblems). A. Smith nennt diese Arbeit verfügbare Arbeit (labour commanded, Nc). Nc ergibt sich, wenn man das nominale Sozialprodukt pQ, einen Teil des nominalen Sozialprodukt, z.B. p1 q1, oder den Preis eines Gutes, z.B. p1, durch den durchschnittlichen Geldlohnsatz w (z.B. Tageslohnsatz) dividiert: pQ/w = Nc(Q) p1 q1/w = Nc(q1) p1/w = Nc(1) . Über diesen letzten Ausdruck sind auch die relativen Preise festgelegt: Aus p1 q1 = p2 q2 folgt: q1/q2 = p2/p1 = (p2/w) / (p1/w) = Nc(2) / Nc(1) . Für A.Sm. ist verfügbare Arbeit Nc der sinnvollste Reichtumsindikator, weil verfügbare Reichtum bedeutet: mit Arbeit kann irgendein Gut produziert oder eine Dienstleistung erbracht werden. 20 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte [Auch heute noch wird das Reichtumsmass von A.Sm. als Wohlstandsindikator gebraucht. Um das Wohlstandniveau in zwei Ländern (I und II) zu vergleichen, kann man fragen: Wie lange muss ein Durchschnittsarbeiter- oder Angestellter (Tageslohnsatz w) arbeiten, um eine Einheit eines Gutes i kaufen zu können? Antwort: pi/w = Nc(i).] Adam Smith stellt abschliessend fest, dass in der Wirklichkeit in der Regel nicht Arbeit als Wertmassstab verwendet wird, sondern Weizen und vor allem Gold (Geld). Arbeit bleibt aber der ideale Wertmassstab. [Text: "Ein Mensch ist arm oder reich, je nachdem in welchem Ausmass er sich die zum Leben notwendigen und annehmlichen Dinge leisten und die Vergnügungen des Daseins geniessen kann. Wenn die Arbeitsteilung einmal weit gediehen ist, kann er indes nur noch wenige Dinge für diesen Bedarf selbst herstellen, die meisten muss er von anderen als deren Arbeitsertrag beziehen, und er ist arm oder reich, je nach der Mange Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich leisten kann. Deshalb ist der Wert einer Ware für seinen Besitzer, der sie nicht selbst nutzen oder konsumieren, sondern gegen andere tauschen möchte, gleich der Menge Arbeit, die ihm ermöglicht, sie zu kaufen oder darüber zu verfügen. Arbeit ist demnach das wahre oder tatsächliche Mass für den Tauschwert aller Güter. Der wirkliche oder reale Preis aller Dinge, also das, was sie einem Menschen, der sie haben möchte, in Wahrheit kosten, sind die Anstrengung und Mühe, die er zu ihrem Erwerb aufwenden muss [Arbeitswerttheorie?]. Was Dinge wirklich für jemanden wert sind, der sie erworben hat und der über sie verfügen oder sie gegen etwas anderes tauschen möchte, sind die Anstrengung und Mühe, die er sich damit ersparen und die er anderen aufbürden kann. Was jemand gegen Geld kauft oder gegen andere Güter eintauscht, erwirbt er mit ebensoviel Arbeit wie etwas, zu dem er durch eigene Mühe gelangt. In der Tat ersparen uns dieses Geld und diese Güter eine solche Anstrengung. beide enthalten den Wert einer bestimmten Menge Arbeit, die wir gegen etwas tauschen, von dem wir annehmen, es enthalte zu dieser Zeit dem wert nach die gleiche Arbeitsmenge. Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben. Und sein Wert ist für die Besitzer, die ihn gegen neue Güter austauschen möchten, genau gleich der Arbeitsmenge, die sie damit kaufen oder über die sie mit seiner Hilfe verfügen können"(RN, 28). Schlussfolgerung von Adam Smith: "Arbeit ist demnach ganz offensichtlich das einzige allgemein gültige und auch das einzige exakte Wertmass oder der alleinige Massstab, nach dem man die Werte der verschiedenen Waren immer und überall miteinander vergleichen kann" (RN, 33). 21 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte d) Die Wertursache (6. Kap.: Die Bestandteile der Güterpreise) Adam Smith geht, davon aus, dass Güter letztlich von drei Produktionsfaktoren produziert wird: Arbeit (N, gemessen in Tagen z.B.), Kapital (K, gemessen in Geld) und Boden (B, gemessen in Flächeneinheiten). Die Entschädigungen für die produktiven Leistungen von N, K und B sind die Löhne wN, die Gewinne rK und die Renten bB (w=Tageslohnsatz, r = P/K = Profitrate (P = Profite, inkl. Zinsen), b = Rente pro Flächeneinheit, z.B. Hektaren). Löhne, Gewinne und Renten sind somit die Wertursachen. Jeder Preis setzt sich demnach letztlich aus drei Komponenten zusammen: Preis = Lohnkosten + Gewinne (inkl. Zinsen) + Renten (auch die Kosten für die Zwischenprodukte können in diese drei Komponenten aufgeteilt werden). Die klassischen Ökonomen arbeiten vielfach mit folgender Preisgleichung, die eine starke Vereinfachung des Produktionsprozesses impliziert: p q = w N + r wN + bB = w N (1 + r) + bB . Dabei stellt N die direkte und indirekte Arbeit dar, die erforderlich ist um ein Gut zu produzieren. Mit der indirekten Arbeit werden Geräte, ev. auch Maschinen hergestellt. Die Lohnsumme wN stellt somit den Kapitaleinsatz dar, der nur aus Umlaufskapital besteht. Die klassische Vorstellung war, dass die Unternehmer das Umlaufskapital - die Lohnsumme wN - zu Beginn des Jahres bereithalten müssen, um während der Produktionsperiode - z.B. ein Jahr - den Lebensunterhalt der direkten und indirekten Arbeit gewährleisten zu können. Diesen Kapitaleinsatz wollen die Unternehmer am Ende des Jahres mit einer Profitrate r (> i) zurückerwirtschaften (i = Zinssatz für Eigen- und Fremdkapital). e) Der natürliche Preis und der Marktpreis der Güter (7. Kap., 48ff.) Die natürlichen Preise sind die langfristigen Gleichgewichtspreise, die Marktpreise die kurzfristigen Gleichgewichtspreise. (Die natürl. Preise werden im Folgenden mit einem Stern bezeichnet - w*, r* , b* und pi* -; die entsprechenden Marktpreise werden ohne nähere Bezeichnung geschrieben.) "In jeder Gesellschaft oder Gemeinde gibt es einen üblichen oder durchschnittlichen Satz für Lohn [w*] und Gewinn, und zwar für jeden Einsatz von Arbeit und Kapital. ... Ebenso gibt es in jeder Gesellschaft oder Gemeinde einen üblichen oder durchschnittlichen Satz für die Grundrente... . Diese üblichen oder Durchschnittssätze kann man für die Zeit und den Ort, für die sie im allgemeinen gelten, die natürlichen Sätze für Lohn, Gewinn und Rente nennen"(RN, 48). 22 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte "Eine Ware wird dann zu dem verkauft, was man als ihren natürlichen Preis bezeichnent, wenn der Preis genau dem Betrag entspricht, der ausreicht, um nach den natürlichen Sätzen die Grundrente, den Arbeitslohn und den Kapitalgewinn zu bezahlen, welche anfallen, wenn das Produkt erzeugt, verarbeitet und zum Markt gebracht wird"(pp. 48/49): pi* = w* ni + r* ki + b* bi . (ni = Ni/qi, ki = Ki/qi, bi = Bi/qi: Faktoreinsätze pro produzierte Gütereinheit). Die natürlichen Faktorpreise w*, r* und b* sowie die natürlichen Güterpreise pi* werden durch langfristige Angebots- und Nachfragefaktoren bestimmt, die sowohl ökonomische Elemente im Zusammenhang mit dem Eigeninteresse (self-interest) wie auch ethische Elemente im Zusammenhang mit dem Mitgefühl (fellow feeling) beinhalten. Wenn beispielsweise ökonomische Faktoren (im Zusammenhang mit dem self-interest) zu einem Lohnsatz führen, der die Existenz nicht sichert, sollten (aus dem fellow feeling abgeleitete) ethische Überlegungen einen langfristig existenzsichernden (natürlichen) Lohnsatz herbeiführen. Dies ist von zentraler Bedeutung: im modernen Liberalismus (heutige Neoklassik) werden nur ökonomische Faktoren im Zusammenhang mit der Preisbestimmung durch Angebot und Nachfrage betrachtet; ethische Elemente werden in die Rahmenbedingungen abgeschoben. Im 7. Kap. des ersten Buches kommt Adam Smith auch auf die Beziehung zwischen dem 'natürlichen Preis' und den 'Marktpreis' der Güter zu sprechen: "Den tatsächlichen Preis, zu dem eine Ware gewöhnlich verkauft wird, nennt man ihren Marktpreis. Er kann entweder höher oder niedriger als der natürliche Preis oder ihm genau gleich sein. ... Ist die am Markt angebotene Menge einer Ware kleiner als die effektive Nachfrage [die Menge, die zum natürlichen Preis nachgefragt wird], so kann nicht jeder, der bereit ist, den vollen [natürlichen] Wert von Rente, Lohn und Gewinn, die ausgegeben werden mussten, zu bezahlen, die Menge erhalten, die er zu haben wünscht. Einige bieten bereitwillig mehr, ehe sie völlig darauf verzichten. Es setzt sofort ein Wettbewerb unter ihnen ein, so dass der Marktpreis mehr oder weniger hoch über den natürlichen Preis steigen wird. Übersteigt indes das Angebot die effektive Nachfrage am Markt, so kann es nicht an jene abgesetzt werden, die bereit sind, den vollen [natürlichen] Wert von Rente, Lohn und Gewinn, die ausgelegt werden müssen, zu bezahlen. Ein Teil muss an die Nachfrager verkauft werden, die weniger bieten, so dass der niedrige Preis, den sie dafür entrichten, zwangsläufig den Preis insgesamt drückt. Der Marktpreis wird umso mehr unter den natürlichen Preis fallen, je mehr die Höhe des Überschusses den Wettbewerb unter den Verkäufern verschärft oder je dringender diese ihre Ware gerade absetzen müssen. So wird ein gleich grosser Angebotsüberhang beim Import 23 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte verderblicher Waren, wie etwa Orangen, zu einer weit stärkeren Konkurrenz führen als im Falle von haltbaren, wie etwa Alteisen. Entspricht das Angebot auf dem Markt gerade der effektiven Nachfrage, so kommt der Marktpreis ganz von selbst dem natürlichen Preis entweder gleich oder doch weitgehend gleich. ... Die am Markt angebotene Menge einer Ware passt sich ganz von selbst der wirksamen Nachfrage an. Denn es liegt im Interesse aller, die Land, Arbeit oder Kapital einsetzen, um ein Gut auf den Markt zu bringen, das Angebot niemals über die effektive Nachfrage steigen zu lassen. Umgekehrt sind alle anderen daran interessiert, dass es niemals darunter liegt. ... Aus diesem Grunde ist der natürliche Preis gleichsam der zentrale, auf den die Preise aller Güter ständig hinstreben. Verschiedene Zufälle mögen sie bisweilen ein gutes Stück über den natürlichen Preis halten und sie gelegentlich zwingen, sogar etwas unter ihm zu bleiben, doch welche Hindernisse sie auch davon abhalten können, dass sie sich einpendeln und in diesem Zentrum zur ruhe kommen, sie werden dennoch dauernd in diese Richtung drängen. Alles Erwerbsstreben, Grundlage des jährlichen Angebots an Waren, passt sich auf solche Weise ganz natürlich der effektiven Nachfrage an. Es zielt ganz zwangsläufig darauf hin, stets nur so viel auf den Markt zu bringen, wie ausreichen wird, diese Nachfrage, und nicht mehr als diese, zu decken"(RN, 49-51). Also: p > p* impliziert q < q*: das Angebot q steigt und p sinkt, und umgekehrt. Die Marktpreise und die entprechenden Mengen streben immer nach ihren natürlichen Grössen p* und q* (Diagramm in Vorlesung). 4. Die Verteilungstheorie von Adam Smith stellt einen Appendix zu seiner Werttheorie dar. Die natürlichen Faktorpreise der durchschnittliche Lohnsatz w*, die Profitrate r* und die durchschnittliche Bodenrente b* werden langfristig durch Angebots- und Nachfragefaktoren bestimmt. Adam Smith scheint die Existenz von Faktormärkten zu postulieren, wobei seine Beschreibung des entsprechenden Mechanismus vage und vielfach widersprüchlich ist (Ricardo hat als erster eine logisch einwandfreie Beschreibung des Verteilungsmechanismus gegeben). Grob gesprochen, beschränkt sich Adam Smith darauf, die Faktoren zu nennen, die die Lage der Angebots- und Nachfragekurven auf den Faktormärkten beeinflussen. a) Die Lohntheorie (Kap. 8, 56ff.) 24 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Dieses Kapitel enthält verschiedene Lohntheorien, von denen sich einige ergänzen, andere aber im Widerspruch zueinander stehen. * Eine erste Lohntheorie ist die Abzugstheorie (deduction theory): "Der Ertrag der Arbeit ist die natürliche Vergütung oder der Lohn der Arbeit. Ursprünglich, vor der Landnahme und der Ansammlung von Kapital, gehört dem Arbeiter der ganze Ertrag der Arbeit. Er muss weder mit einem Grundbesitzer noch mit einem Unternehmer teilen"(RN, 56). Aber dieser ursprüngliche Zustand, in welchem der Arbeiter den ganzen Ertrag seiner Arbeit erhielt, konnte nur so lange andauern, wie der Boden frei und Kapital noch nicht angesammelt war. Sobald der Boden privates Eigentum wird, verlangt der Grundherr einen Teil von fast allen Erträgnissen, die der Arbeiter durch Anbau oder Sammeln darauf erzielen kann. Die Rente des Grundbesitzers schmälert deshalb als erstes den Ertrag der Arbeit, die zur Bestellung des Bodens eingesetzt wird. Es kommt selten vor, dass derjenige, der Land bestellt, alles besitzt, um bis zur Ernte ohne fremde Hilfe auszukommen. Im allgemeinen wird sein Lebensunterhalt aus dem Kapital eines Unternehmers, des Pächters, der ihn beschäftigt, bestritten, welcher natürlich kein Interesse hätte, einen Arbeiter einzustellen, wenn er nicht am Ertrag der Arbeit beteiligt wäre oder das eingesetzte Kapital mit Gewinn zurückerhielte. Dieser Gewinn ist der zweite Abzug vom Ertrag der Landarbeit"(RN, 57). [Marx stützte sich u.a. auf diese Textstelle aus, um die Abschaffung des Privateigentums zu begründen: Boden und Kapital sollte in der Form von Gemeineigentum den Produzenten gehören; damit würde der gesamte Arbeitsertrag der Arbeit zufallen. (Die Gegenposition ist die neoklassische Grenzproduktivitätstheorie.) Die Abzugstheorie birgt offensichtlich revolutionären Sprengstoff in sich.] Formal sieht die Abzugstheorie - bei Vernachlässigung von Boden und Rente - wie folgt aus: p = wG n + r wG n = wG n (1 + r) (wG = Geldlohnsatz, n = N/q = direkte und indirekte Arbeit (Zeit) pro Produkteinheit, wG n = Kapitaleinsatz (Vorschuss zum Unterhalt der Arbeit), r = Profitrate). Der Lohnanteil am Preis (Ertrag) ist demnach: (wG n)/p = 1/(1+r) . r = 0 imliziert demnach einen Lohnanteil von 1: die Arbeiter erhalten den vollen Arbeitsertrag. Sobald die Profitrate positiv wird, sinkt der Lohnanteil unter eins ab. Diese Verteilungsgleichung stellt demnach die direkte Verbindung zwischen Wert- und Verteilungstheorie her. 25 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Die weiteren Lohntheorien von Adam Smith sind eigentlich nichts anderes als Präzisierungen der Abzugstheorie. * Eine zweite Lohntheorie, die Adam Smith präsentiert, ist die Verhandlungstheorie (bargaining theory); hier handelt es sich eindeutig um eine Machttheorie (soziologische Theorie) der Einkommensverteilung: "Was üblicherweise Arbeitslohn ist, hängt überall von dem Vertrag ab, den beide Parteien gewöhnlich miteinander vereinbaren, wobei die Interessen der beiden keineswegs die gleichen sind. Der Arbeiter möchte soviel wie möglich bekommen, der Unternehmer so wenig wie möglich geben. Die Arbeiter neigen dazu, sich zusammenzuschliessen, um einen höheren Lohn durchzusetzen, die Unternehmer um ihn zu drücken. Es lässt sich indes leicht vorhersehen, welche der beiden Parteien unter normalen Umständen einen Vorteil in dem Konflikt haben muss und die andere zur Einwilligung in ihre Bedingungen zwingen wird. Die Unternehmer, der Zahl nach weniger, können sich viel leichter zusammenschliessen. Ausserdem billigt das Gesetz ihre Vereinbarungen, zumindest verbietet es sie nicht wie die der Arbeiter. Wir haben keine Parlamentsbeschlüsse gegen Vereinbarungen, die das Ziel verfolgen, den Lohn zu senken, wohl aber zahlreiche gegen Zusammenschlüsse, die ihn erhöhen wollen. In allen Lohnkonflikten können zudem die Unternehmer viel länger durchhalten. Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Handwerksmeister oder ein Kaufmann, ein jeder von ihnen könnte, selbst wenn er keinen einzigen Arbeiter beschäftigt, ohne weiteres ein oder zwei Jahre vom bereits ersparten Vermögen leben. Dagegen könnten viele Arbeiter ohne Beschäftigung nicht einmal eine Woche, wenige einen Monat und kaum einer ein ganzes Jahr überstehen. ... Nur selten, so wurde behauptet, war von Zusammenschlüssen der Unternehmer, häufig dagegen von solchen der Arbeiter zu hören. Wer daraus den Schluss zieht, Unternehmer würden sich selten untereinander absprechen, kennt weder die Welt, noch versteht er etwas von den Dingen, um die es hier geht. Unter Unternehmern besteht immer und überall eine Art stillschweigendes, aber dauerhaftes und gleich bleibendes Einvernehmen, den Lohn nicht über den jeweils geltenden Satz zu erhöhen. Ein Verstoss gegen dieses Einverständnis ist ein äusserst unfreundlicher Akt, der für den Unternehmer eine Schande in den Augen seiner Nachbarn und Gleichgesinnten ist. Tatsächlich hören wir selten etwas von solchen Absprachen, ganz einfach deshalb, weil sie zu den üblichen, ja sozusagen natürlichen Dingen im Leben gehören, über die niemand spricht. Mitunter finden sich Unternehmer auch zusammen, um die Löhne sogar unter das bestehende Niveau zu senken. Diese Absprache geschieht bis zum Zeitpunkt der Ausführung stets in aller Stille und möglichst heimlich. Nehmen dann die Arbeiter, wie das gelegentlich vorkommt, die 26 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Lohneinbusse ohne Widerstand hin, so hart es sie auch treffen mag, erfährt kein Mensch etwas davon"(RN,58). Auch an diese Textstelle hat Marx angeknüpft als er in seinen Frühschriften, vor all allem in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, zum Verteilungsproblem Stellung nahm. Zwei Implikationen der Verhandlungstheorie sind bedeutsam: Erstens, aus vollkommener Konkurrenz auf den Faktormärkten würden die natürlichen Faktorpreise w*, r* und b* resultieren, die von der propriety bestimmt sind, d.h. der sozial angemessenen Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl. Zweitens, bei unvollkommener Konkurrenz - wenige Unternehmer fragen Arbeit nach und sprechen sich ab - drohen die Eigeninteressen von Arbeitern und Unternehmern zu dominieren. In einer solchen Situation sollte dem fellow feeling, dem sozialen Mitgefühl, eine besondere Bedeutung zukommen. Dies führt nun Adam Smith zu einer weiteren Lohntheorie, * der Subsistenzmitteltheorie: "Wenn auch ... Lohnkämpfe in der Regel zugunsten der Arbeitgeber enden, so gibt es dennoch einen bestimmten Satz, unter den der übliche Lohn selbst für die allereinfachste Tätigkeit für längere Zeit, wie es scheint, nicht gedrückt werden kann. Der Mensch ist davon angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann mit der ersten Generation aussterben. Aus diesem Grunde scheint Cantillon anzunehmen, dass der einfache Arbeiter der untersten Schicht mindestens doppelt soviel verdienen müsse, wie er für den eigenen Lebensunterhalt benötigt, damit Mann und Frau imstande sind, zwei Kinder aufzuziehen. Dabei kann die Frau, so wird unterstellt, nur für ihren eigenen Unterhalt arbeiten, da sie ja auch die Kinder versorgen muss. Nun stirbt aber die Hälfte der Kinder, wie man berechnet hat, ehe sie erwachsen sind, so dass auch der ärmste Arbeiter demnach mindestens vier Kinder in seiner Familie aufziehen muss, damit zwei davon eine Chance haben, das Erwachsenenalter zu erreichen. Der Unterhalt für vier Kinder soll aber, wie angenommen wird, ungefähr soviel kosten wie der für einen Erwachsenen" (RN, 59). Diese Theorie wurde von Ricardo und Malthus im Zusammenhang mit dem Malthusianischen Bevölkerungsgesetz weiterentwickelt. * Die Lohnfondstheorie (RN, 60ff.) Schliesslich trägt Adam Smith noch eine vierte Lohntheorie vor, nämlich die so genannte Lohnfondstheorie. Zwar gebraucht A. Smith diesen Ausdruck nicht, doch entsprechen seine Ausführungen etwa der Verteilungstheorie, die J.St. Mill etwa um 1850 als Lohnfondstheorie 27 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte bezeichnet hat: Die Lohnsumme besteht aus dem Lohnfonds W = wN (W = Lohnfonds, gemessen in Weizen z.B.), N produktive Arbeiter, w = Reallohnsatz), den die Unternehmer zum Unterhalt der Arbeiter bereitstellen. W wird durch das gesamtwirtschaftliche Sparen bestimmt. W repräsentiert die Arbeitsnachfrage der Unternehmer, N das Arbeitsangebot; der Lohnsatz w resultiert aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage: w = W/N. Somit steigt die Beschäftigung N, wenn der der Reallohnsatz w sinkt. Etwas überraschend folgert Adam Smith aus dieser Theorie: "Es ist nicht die absolute Höhe des nationalen Wohlstandes sondern seine kontinuierliche Zunahme, von welcher ein Anstieg der Arbeitslöhne abhängt. Und es sind folglich nicht die wohlhabenden Länder, in denen der Arbeitslohn am höchsten ist [wegen hohem N relativ zu W; dagegen sind Profite und Renten hoch!], sondern jene, die sich am schnellsten entwickeln oder am raschesten reich werden [W ist hoch relativ zu N]" (RN, 61). * Die Lohntheorie von Adam Smith kann als ein Kompendium von Lohntheorien bezeichnet werden, die auf verschiedenen Ebenen relativ vage Aussagen über Angebot und Nachfrage nach Arbeit machen. Einige dieser Lohntheorien ergänzen sich (z.B. Abzugstheorie und die übrigen Theorien), andere sind miteinander vereinbar (Verhandlungs- und Subsistenzmitteltheorie). Dagegen steht die Lohnfondstheorie als objektive (makroökonomische) Theorie steht im Widerspruch zur subjektiven (mikroökonomischen) Verhandlungstheorie. Die aufgrund beider Theorien bestimmten Lohnsätze müssen sich nicht entsprechen. b) Die Profittheorie (76ff.) Über die Bestimmungsfaktoren der Profitrate r (der Verzinsung des eingesetzten fixen und umlaufenden Kapitals) sagt Adam Smith wenig aus. Er hält u.a. fest, dass die Profitrate in der Regel etwas höher als der Geldzinssatz sei. Diese Differenz kann als eine Art von Risikozuschlag betrachtet werden. Die Profitrate entwickelt sich demnach ähnlich wie der Zinssatz, der eine sinkende Tendenz habe (77): "Ein erhöhter Einsatz von Kapital, der zu einem Anstieg der Löhne führt, wirkt gewinnschmälernd. Investieren nämlich viele reiche Kaufleute im gleichen Gewerbe, so verringert natürlich ihr gegenseitiger Wettbewerb ... ihren Gewinn, und fliesst allen Erwerbszweigen einer Volkswirtschaft im gleichen Masse mehr Kapital zu, so muss dieselbe Konkurrenz überall dieselbe Wirkung haben" (76). Dieses Argument kann anhand der obigen Verteilungsgleichung (wG n)/p = 1/(1+r) 28 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte verdeutlicht werden: Ein vermehrter Kapitaleinsatz führt aufgrund der Lohnfondtheorie zu steigenden Geld- und Reallöhnen. Bei gegebener Produktionstechnik (konstante n = N/q = 1/A; A = q/N) muss die Profitrate r sinken. c) Die Bodenrente Adam Smith gibt zu diesem Thema lange theoretische und historische Ausführungen. Hier nur zwei wichtige Textstellen: "Die Rente, der Preis für die Nutzung von Grund und Boden, ist naturgemäss die höchste, die ein Pächter bei gegebener Beschaffenheit des Bodens zahlen kann. Der Grundbesitzer ist bestrebt, die Bedingungen für die Pacht so anzupassen, dass dem Pächter nicht mehr vom Ertrag bleibt, als ausreicht, um sein Kapital zu erhalten, mit dessen Hilfe er Saatgut beschafft, Arbeiter bezahlt und Vieh und landwirtschaftliche Geräte kauft und ersetzt, und um den in der Nachbarschaft üblichen Gewinn einer Agrarinvestition zu erzielen"(125). "Man sollte ... beachten, dass die Rente auf andere Weise als Lohn und Gewinn an der Zusammensetzung der Güterpreise beteiligt ist. Hoher und niedriger Lohn und Gewinn sind die Ursache für einen hohen und niedrigen Preis, während eine hohe und niedrige Rente die Folge von ihm ist"(127). In dieser letzteren Textstelle sagt Adam Smith, die Rente sei eine Folge hoher Preise landwirtschaftlicher Güter. Dagegen impliziert seine Theorie des natürlichen Preises, dass die Rente eine Preisursache sei. Diesen Widerspruch hat Ricardo bereinigt: Nach ihm ist die Rente eindeutig eine Folge hoher Weizenpreise. 5. Die Wachstumstheorie von Adam Smith (Buch II) a) Problematik Die Wachstumstheorie stellt zusammen mit der Entwicklungstheorie (Buch III) das Kernstück des Smithschen Werkes dar. Es geht hier um die Frage: Welche Faktoren bewirken die Zunahme des Realkapitalstocks (fixes und umlaufendes Kapital) und damit der Produktionskapazitäten sowie des Reichtums (Sozialprodukt). b) Definitionen Im Folgenden sind alle Einkommens- und Produktionsgrössen in realen Einheiten ausgedrückt, gemessen in Weizen. Die produktiven Arbeiter (N) sind in denjenigen güterproduzierenden Sektoren tätig, die einen Überschuss (Profit und Rente) erbringen, d.h. Landwirtschaft, Manufaktur und Handwerk. Die 29 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte unproduktiven Arbeiter - im weitesten Sinn - sind vorwiegend im Dienstleistungssektor tätig und werden aus dem Überschuss bezahlt (z.B. Beamte, Professoren, Politiker, Schauspieler, Dienstboten). Das Kapital besteht aus Umlaufs- und Fixkapital. 1) Umlaufskapital: a) Löhne der produktiven Arbeiter: W = wN (W = Lohnfonds; w = Lohnsatz), b) Rohmaterialverbrauch: mN (m = Rohmaterialverbrauch pro Arbeiter). 2) Fixkapital: kN (k = Fixkapitalausstattung eines produktiven Arbeiters); das Fixkapital besteht aus Maschinen, Werkzeugen, Gebäuden (Handwerksstätten, Manufakturen, Fabriken); Adam Smith scheint auch die Ausbildungskosten (human capital!) und das Geld zum Fixkapital zu zählen. Demnach ist das Gesamtkapital K = (w + m + k) N . Einkommensbegriffe: Bruttoeinkommen QB = Sozialprodukt plus Zwischenprodukte = Q + Z. Die Löhne der produktiven Arbeiter und die Zwischenprodukte sowie ein Teil des Fixkapitals dK = dkN (d = Abschreibungssatz) werden im Produktionsprozess aufgebraucht. Das Nettoprodukt QN im Sinne von Adam Smith und der Klassiker allgemein ist deshalb: QN = QB - (w + m + dk) N = QB - c N (c = Wert der Güter, die ein produktiver Arbeiter im Produktionsprozess verbraucht). Demnach ist das Nettoprodukt: QN = P + R (Profite P und Renten R - Boden -und Lohnrenten). Das Nettoprodukt entspricht demnach dem sozialen Überschuss. Dieser kann auf dreifache Art und Weise verwendet werden: 1) Erhöhung des Kapitalstocks (Netto-Investitionen); 2) Finanzierung (über Besteuerung) des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens (institutioneller Überbau); 3) Luxuskonsum. c) Das Wachstumsmodell: QB = A(k) N (A = Arbeitsproduktivität, abhängig von der Kapitalausstattung pro Arbeiter, k) QN = QB - c N = [A(k) - c] N Aus dem Nettoprodukt wird ein Bruchteil s gespart und investiert: I = ∆K = s [A(k) - c] N Der nicht gesparte Teil des Nettoeinkommens - (1-s) [A(k) - c] N - dient dem Luxuskonsum und dem Aufbau eines institutionellen Überbaus. 30 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte ividiert durch den Kapitalstock K = (w + m + k) N ergibt die Wachstumsrate des Kapitalstocks, damit auch die Wachstumsrate des Sozialprodukts, d.h. des Reichtums einer Nation: I/K = ∆K/K = gK = s [A(k) - c] N / (k + w + m) N = = s [A(k) - c] / (k + w + m) . Diese Gleichung bringt die wesentlichen Elemente der Wachstumstheorie von Adam Smith zum Ausdruck: - Am wichtigsten ist der Zusammenhang zwischen Wachstum und Einkommensverteilung: Ein niedrigerer Lohnsatz w führt zu einem höheren Nettoprodukt pro Arbeiter: A(k) - c steigt; gleichzeitig gehen die Ausgaben für Löhne - der Lohnfonds - zurück: w im Nenner der Wachstumsgleichung sinkt. Beides erhöht die Wachstumsrate gK . - Eine hohe Wachstumsrate gK impliziert umfangreiche Investitionen, die einen Anstieg der Kapitalausstattung pro Arbeiter (k) bewirken. Ein steigendes k wiederum erhöht die Arbeitsproduktivität A, was seinerseits die Wachstumsrate gK erhöht. Ein kumulativer Wachstumsprozess setzt ein. - Schliesslich ist die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft ist umso höher, je grösser der gesparte Teil s des Nettoeinkommens ist. Für Adam Smith ist Sparen eine Tugend, dies im Gegensatz zu den Merkantilisten und Keynes. Daher seine Abneigung gegen Luxuskonsum und überhöhte Staatsausgaben. 6. Die Theorie der ökonomischen Entwicklung (Buch III) a) Problematik: Die Entwicklungstheorie ist eigentlich eine vertiefte Wachstumstheorie. Es sollen die institutionellen (sozialen, politischen, rechtlichen) Vorbedingungen für das Zustandekommen von Wachstum aufgezeigt werden. Das Wachstum des Reichtums eines Landes drückt sich aus in einer Zunahme der Arbeitsproduktivität A (siehe obige Wachstumsgleichung). Adam Smith beschreibt zwei verschiedene Entwicklungsprozesse: - den natürlichen Entwicklungsprozess, gewissermassen ein idealer Entw. proz., wie er sich in einer Wettbewerbswirtschaft abspielen würde. - den tatsächlichen Entwicklungsprozess, wie er in Westeuropa zur Zeit des Merkantilismus (etwa von 1500 bis 1750) vor sich gegangen ist. Hier deuten wir nur den natürl. Entw. pr. an, der tatsächliche ist Gegenstand der Vorlesung über Merkantilismus. 31 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte b) Der natürliche Entwicklungsprozess beruht auf einer Interaktion zwischen Industrie und Landwirtschaft. Dabei ist wichtig, dass in der Industrie steigende Skalenerträge vorherrschen (die Durchschnittskosten sinken bei zunehmender Produktionsmenge), in der Landwirtschaft sinkende (die Durchschnittskosten steigen, wenn die Produktion ausgeweitet wird). Die sinkenden Durchschnittskosten in der Industrie führen zu einem kumulativen angebotsorientierten Wachstumsprozess bei Vollbeschäftigung, was kennzeichnend ist für den natürlichen Entwicklungsprozess. Dies drückt vielleicht am stärksten den Optimismus von Adam Smith aus. Der natürliche Entwicklungsprozess von Adam Smith kann anhand eines einfachen Modells skizziert werden. [Alle Grössen sind dabei in Einheiten des landwirtschaftlichen Produktes(Weizen) gemessen, wobei die Industriegüter-Einheit so gewählt ist, dass der relative Preis p = pI / pL = 1 ist (pI = Preis einer Industriegüter-Einheit, pL = Preis eines Zentners Weizen (landwirtschaftliches Gut): Keynes's Treatise on Money technique!] (Wert der) Produktion in der Landwirtschaft: QL = AL NL = wNL + UL (Wert der) Produktion in der Industrie: QI = AI NI = wNI + PI (UL = landwirtschaftlicher Überschuss, PI = Profite in der Industrie) Dies kann graphisch wie folgt dargestellt werden: 1 1 = = PI yL PI/PL yI = p yL w Vereinfachend UI = PL + R Geld sei Güter w WI = w NI nun postuliert, dass die Löhne WL= w NL für landwirtschaftliche Güter (Grundkonsumgüter) ausgegeben werden, die Industrieprofite und der lw Überschuss für industrielle Konsum- und Investitionsgüter. Angebot und Nachfrage in beiden Sektoren können nun gegenübergestellt werden: 32 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Angebot Nachfrage Landwirtschaft wNL + UL = wNL + wNI Industrie wNI + PI = UL + PI Für beide Sektoren ergibt sich demnach dieselbe Gleichgewichtsbedingung: wNI = UL . Der ökonomisch-gesellschaftliche Gehalt dieser Bedingung ist von zentraler Bedeutung: - Ohne landwirtschaftlichen Überschuss UL kann es keinen Industriesektor geben. Durch UL werden die Arbeiter in der Industrie ernährt, d.h. mit den lebensnotwendigen Gütern versorgt. - Diese Gleichgewichtsbedingung widerspiegelt den produktiven Kreislauf von Gütern und Geld (der produktive Kreislauf geht im Rahmen des sozialen Produktionsprozesses vor sich und trägt zum guten Funktionieren dieses Prozesses bei): Die Arbeiter im Industriesektor geben ihre Geldlöhne aus, um Nahrungsmittel (lebensnotwendige Konsumgüter) vom landwirtschaftlichen Sektor zu kaufen. Die entsprechende Geldsumme stellt die Gewinne und Renten der Pächter und Grundbesitzer dar (der Überschuss in Geld ausgedrückt). Diese werden ausgegeben, um Konsumund Kapitalgüter vom Industriesektor zu kaufen. Der Tausch von Gütern gegen Geld steht hier ganz im Dienste der Produktion. - Der soeben beschriebene Prozess läuft bei Vollbeschäftigung ab: Der Reallohnsatz w sinkt solange, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Im landwirtschaftlichen Sektor führt ein sinkendes w zu einem höheren NL und UL. Aufgrund der Gleichgewichtsbedingung wNI = UL nimmt NI zu, wenn UL steigt und w sinkt. - Dieser Prozess ist auch kumulativ selbstverstärkend: Sparen und Investieren erhöhen UL. Über wNI = UL steigt die Industriebeschäftigung NI und die industrielle Arbeitsproduktivität AI. Industrieprodukte werden vorübergehend im Verhältnis zu landwirtschaftlichen Produkten billiger. Der landwirtschaftliche Industriesektor kaufen. Dies Sektor kann deshalb vermehrt Investititionsgüter vom steigert wiederum UL, weil die landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität AL zunimmt. Letzteres hat wieder positive Rückwirkungen auf die Industrie: Lebensmittel werden vorübergehend billiger und die Industrieprofite steigen. (Hier wiederum der Smithsche Optimismus!) - Die obige Gleichgewichtsformel kann erweitert werden: wNI + G = c UL + s UL + t UL 33 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte (G = Staatsausgaben, verbunden mit der Beschäftigung unproduktiver Arbeiter; G = t UL mit t als Steuersatz auf dem Überschuss, c = konsumierter Teil des Überschusses, s = gesparter und investierter Teil von UL). Wenn G und t steigen, werden mehr unproduktive Arbeiter im Staatsdienst beschäftigt (z.B. Soldaten und Beamte) und NI (produktive Arbeiter) in der Industrie geht zurück. Oder eine steigende Konsumquote c geht einher mit einer sinkenden Spart- und Investitionsquote s. Beides führt zu einer Verminderung der Wachstumsrate und damit zu einer langsameren Zunahme des Reichtums (siehe obige Wachstumsgleichung). c) Natürlicher und tatsächlicher Entwicklungsprozess Der natürliche Entwicklungsprozess ist angebotsorientiert (liberal, neoklassisch), der tätsächliche nachfrageorientiert (merkantilistisch, Keynesianissch). Dies ist von zentraler Bedeutung. Wenn der Entwicklungsprozess angebotsorientiert wäre, würden mit der Zeit alle Länder der Welt in den oben skizzierten kumulativen Wachstums- und Entwicklungsprozess einmünden. Arbeit N und deren Ausbildungsstand, Kapital K und Boden B (landw. Produkte, Rohstoffe und Energieträger) würden jeweils die Skala und die Zunahme der wirtschaftlichen Aktivität bestimmen. Diese These wurde vom amerikanischen Ökonomen Walt Rostow in den 1960er Jahren aufgestellt. Wenn aber die effektive Nachfrage die wirtschaftliche Aktivität bestimmt, kann sich für bestimmte Länder ein kumulativer Prozess entwickeln, der vom VollbeschäftigungsGleichgewicht immer weiter wegführt; dabei führen eine ungleicher werdende Verteilung und stagnierende oder sinkende Staatsausgaben zu eventuell steigender Massenarbeitslosigkeit. Dies ist vor allem der Fall für ökonomisch unterentwickelte Länder, die Rohstoffe, landwirtschaftliche Produkte und eventuell Standard-Industrieprodukte produzieren. Für erfolgreiche Industrieländer jedoch, vor allem für die erfolgreichen Exporteure von Industrieprodukten, kann der nachfragebestimmte kumulative Prozess gerade in die Gegenrichtung führen, nämlich in Richtung hohes Beschäftigungsvolumen oder sogar Vollbeschäftigung. Weltweit kann somit der nachfragebestimmte kumulative Entwicklungsprozess zu sich vergrössernden Wohlstandsunterschieden führen. Das Nord-Süd-Problem und nun eventuell der Ost-West-Graben sind Indizien dafür, ebenso die zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung und des regionalen Wohlstandes. Diese eher pessimistische Sicht des Entwicklungsprozesses wurde vor allem vom englischen Ökonomen Nicholas Kaldor (1908-86) vertreten. 34 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte IV. Begründung und Rolle des Staates bei Adam Smith Im "Reichtum der Nationen" finden sich zwei Begründungen des Staates: 1) Staatszweck ist die Realisierung des Gesamtwohls (Gemeinwohls); es handelt sich hier um das natürliche Staatsziel, in einem gewissen Sinne ein Idealbild des Staates. 2) In der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität [mit vielfach sehr ungleicher Einkommensverteilung und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit] schützt der Staat das Eigentum [Marx spricht später von einer entfremdeten Wirklichkeit und einem entfremdeten Staat]. 1. Staat und Gesamtwohl "[Der Staat hat] die Aufgabe, die Voraussetzungen für eine prosperierende Marktwirtschaft [commercial society] bei minimaler Restriktion der Freiheit der Individuen zu schaffen und zu erhalten"(Pichler, in Kurz 1990, p. 263). Dies impliziert die Realisierung des "einfachen Systems der natürlichen Freiheit", in dem die menschlichen Beziehungen durch die propriety (fellow feeling & self-interest) geregelt sind. Ausser bei Marktversagen, z.B. im Falle von Monopolbildungen, hat der Staat nicht in die Wirtschaft einzugreifen, weil diese sich normalerweise selbst reguliert. Um das Gesamtwohl zu realisieren muss der Staat drei Aufgaben erfüllen: 1) die äussere und innere Sicherheit gewährleisten (Landesverteidigung & Polizei), 2) Justizsystem (vor allem Gerichte) und Staatsverwaltung aufbauen, 3) bestimmte öffentliche Aufgaben wahrnehmen (Erziehung, Infrastruktur) Das Wahrnehmen dieser Aufgaben erfordert aber finanzielle Mittel. Dies führt Adam Smith im 5. Buch seines "Reichtums der Nationen" zu den Problemen des Staatshaushaltes, woraus sich später eine neue wissenschaftliche Disziplin entwickelte, die Finanzwissenschaft. 5. Buch: Die Finanzen des Landesherren oder des Staates (585ff.) 1. Kapitel: Die öffentlichen Ausgaben (587ff.) 2. Kapitel: Die Quellen der allgemeinen oder öffentlichen Einnahmen eines Landes (695ff.) 3. Kapitel: Staatsschulden (781ff.) Im Allgemeinen soll der Staat in seiner Tätigkeit zurückhaltend sein und sich nach Möglichkeit nicht verschulden. 2. Realistische Staatstheorie 35 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte In der historischen Wirklichkeit ist nach Adam Smith der Staat in erster Linie erforderlich, um das Eigentum zu schützen. Der Staat entstehe auf Betreiben einer bestimmten Interessengruppe, nämlich der Eigentümer. Allerdings ist hier mit Staat vor allem der Rechtsstaat im Zusammenhang mit den Ausgaben für das Justizwesen gemeint. Auf Seite 601 des "Reichtums der Nationen" macht Adam Smith einige überraschende Bemerkungen: "Bei Jägervölkern findet man ganz selten einen Berufsrichter oder eine regelmässige Rechtspflege, denn es gibt kaum Privateigentum, zumindest übersteigt es nicht den wert einer Arbeit von 2 oder 3 Tagen. Menschen, die kein Eigentum besitzen, können gegenseitig nur ihrer Person oder ihrem Ruf schaden. Wenn aber jemand einen anderen tötet, verwendet, schlägt oder diffamiert, so leidet zwar derjenige, dem der Schaden zugeführt wird, der Täter zieht jedoch keinerlei Vorteil daraus. Anders ist es bei Eigentumsdelikten. Hier entspricht der Nutzen der Person, die das Unrecht begeht, häufig dem Verlust des Geschädigten. Neid, Bosheit oder Rachsucht sind allein die Triebkräfte, die Menschen dazu bringen können, dass sie Person oder Ruf des anderen schädigen. Dergleichen kommt indes nicht häufig, ja selbst bei den übelsten Charakteren nur gelegentlich vor. Empfinden solche Leute dabei vielleicht auch grosse Befriedigung, einen echten oder dauerhaften Vorteil haben sie dadurch nicht. Deshalb halten für gewöhnlich vernünftige Überlegungen die meisten Menschen davon ab. Sie könnten also mit einem zumutbaren Grad an Sicherheit in einer Gemeinschaft zusammenleben, selbst wenn es keine Zivilbehörde gäbe, die sie gegen das Unrecht jener Untugenden schützt. Dagegen sind es Habsucht und Ehrgeiz bei den Reichen, Arbeitsscheu und Neigung zu gelegentlichem Nichtstun und zu Vergnügungen bei den Armen, welche zu Übergriffen auf fremdes Eigentum Anlass geben, Triebkräfte, die gleichsam ständig am Werke sind und deren Einfluss weit verbreitet ist [Adam Smith hatte kein Verständnis für das Phänomen der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit]. Überall, wo es grosse Vermögen gibt, ist auch die Ungleichheit gross. Auf einen sehr Reichen kommen dann wenigstens 500 Arme, denn der Überfluss weniger setzt Armut bei vielen voraus. Ein solcher Reichtum der Besitzlosen, die häufig durch Not gezwungen sind und von Neid getrieben, sich deren Eigentum aneignen. Nur unter dem Schutz einer staatlichen Behörde kann der Besitzer eines wertvollen Vermögens, Frucht der Arbeit vieler Jahre oder sogar vieler Generationen, auch nur eine einzige Nacht ruhig und sicher schlafen. Er ist ständig von unbekannten Feinden umgeben, die er nie besänftigen kann, obgleich er sie niemals gereizt hat, und vor deren Unrecht ihn nur der mächtige Arm einer Zivilbehörde schützt, die stets zu einer Bestrafung bereit ist. Für den Erwerb wertvoller und grosser Vermögen ist es daher unbedingt erforderlich, dass eine solche Verwaltung eingerichtet ist. Wo es jedoch kein Privateigentum gibt oder wenigstens keines, das den Erlös aus einer Arbeit von wenigen Tagen übersteigt, ist eine 36 Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte zivile Behörde nicht so nötig"(RN, 601). Marx hat u.a. an diese Textstelle angeknüpft, als er von Entfremdung (Kluft von natürlichem und tatsächlichem Zustand) sprach und die Abschaffung des Privateigentums als grundlegende Vorbedingung für den Sozialismus postulierte. Auch seine Klassenkampftheorie der Einkommensverteilung findet bei Adam Smith Anknüpfungspunkte. V. Würdigung 1. Adam Smith hat das erste systematische Werk der Wirtschaftswissenschaften geschaffen. Dieses ist glänzend und leicht lesbar geschrieben. Theorie und Geschichte sind problemlos zu einer Einheit verbunden. Der Kontrast zwischen natürlichen Zuständen und historischer Wirklichkeit tritt scharf hervor. 2. Adam Smith ist aus zwei Gründen ein optimistischer Liberaler: - einmal glaubt er, dass der Mensch von Natur aus gut sei; die propriety (sozial angemessenes Handeln) werde sich langfristig durchsetzen und zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Harmonie führen. - Wenn Konkurrenzbedingungen vorherrschen, ist die Wirtschaft nach Adam Smith ein selbstregulierender Mechanismus, dies in Analogie zu Newton, der das ganze Universum als einen Mechanismus betrachtete (auch heute noch ist der Ausdruck Marktmechanismus geläufig). [Unserer Ansicht nach ist dies eine naive und gefährliche Vorstellung: Weil über das Prinzip der effektiven Nachfrage eine ungleichere Einkommensverteilung und stagnierende oder sinkende Staatsausgaben zu zunehmender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen, bewirken kumulative Prozesse, dass eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft sich immer weiter vom Gleichgewicht entfernt und sogar zusammenbrechen kann wie die schwere Krise der 1930er Jahre gezeigt hat. Gerade in diesen Jahren wurden vor allem von Maynard Keynes diese merkantilistischen Argumente wieder in den Vordergrund gestellt und weiterentwickelt. Adam Smith jedoch hatte kein Verständnis für die Argumente seiner merkantilistischen Vorgänger, die ganz klar gesehen hatten, dass Arbeitsplätze vor allem über die Stimulierung der Aussennachfrage erkämpft werden müssen.] 37