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René Girard und die Wahrheit des Romans. Der mimetische Konflikt als Handlungsschema in den Romanen von Bret Easton Ellis, American Psycho (1991), Michel Houellebecq, Elementarteilchen (1996) und Vladimir Sorokin, Der himmelblaue Speck (1999) Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. vorgelegt von Kuon, Ludwig aus Rottweil WS 2005 / 2006 1 Erstgutachter: Prof. Dr. Frank-Rutger Hausmann Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Raible Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und VerhaltensWissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Heinrich Anz Datum der Disputation: 8. Juni 2006 2 I Einführung II Abstrakte Handlungsstrukturen in narrativen Texten 1 Aristoteles: Die ‚Mythus’-Formel………………………………………… 6 2 Vladimir Propp: Die Morphologie……………………………………….. 12 3 Walter Burkert: Das soziobiologische Programm…………………….. 26 4 Claude Lévi-Strauss: Die mythische Sinnarchitektur…………………. 36 5 Victor Turner: Das soziale Drama………………………………………. 39 6 Niklas Luhmann: Die Differenzierung ‚schön/hässlich’……………….. 43 7 Hans Blumenberg: Die Chaosbewältigung…………………………….. 50 8 Zusammenfassung……………………………………………………….. 66 III IV 5 René Girard: Mythos und Anti-Mythos 1 Einführung und Werkübersicht……………………………………………. 70 2 Die methodische Position von René Girard……………………………... 74 3 Alles beginnt mit der Nachahmung..…………………………………….. 83 4 Das mimetische Begehren als literaturtheoretisches Prinzip………… 97 5 Das mimetische Begehren und die kulturelle Genese……………. 6 Die Girardsche Sequenz und der Hominisationsprozess……………… 141 7 Das Opfern und das Erzählen……………………………………………. 158 8 Die Vorder- und die Rückseite des Mythos…………………………….. 172 9 Die biblische Dynamik der Entsakralisierung…………………………… 187 10 Zusammenfassung………………………………………………………… 211 133 Romanlektüre mit Girard: Die Girardsche Sequenz als Deutungsmuster für American Psycho, Elementarteilchen und Der himmelblaue Speck……………………………………………………………….. 216 3 1 American Psycho: Der Handlungsrahmen ………………………………217 a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 219 b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 233 c Konversion………………………………………………………………….. 242 2 Elementarteilchen: Der Handlungsrahmen……………………………… 253 a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 254 b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 268 c Konversion………………………………………………………………….. 277 3 Der himmelblaue Speck: Der Handlungsrahmen………………………. 284 a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 286 b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 280 c Konversion………………………………………………………………….. 311 V Schlussbetrachtung……………………………………………………… 318 VI Bibliographie 1 Die zitierten Werke…………………………………………………………. 329 2 Die weiterführenden Werke……………………………………………….. 338 4 I. Einführung Die 1999 mit einem Bibelzitat (Lk 10,18) als Titel erschienene, 2002 ins Deutsche 1 übersetzte und mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk versehene Studie Je vois Satan tomber comme l´éclair lässt nicht zwingend darauf schließen, dass der 1923 in Avignon geborene, an der Stanford University (Kalifornien) lehrende René Girard, dessen Werk überwiegend im theologischen und religionssoziologischen Kontext 2 rezipiert wird, seine Reputation als Schwellengröße 3 der europäischen Moderne durch Aufsehen erregende Entdeckungen auf dem Feld der Literaturwissenschaft begründet hat.4 Folgert man aus dem Titel seiner Hauptwerke, La violence et le sacré und Des choses cachées depuis la fondation du monde (wiederum ein Bibelzitat: Mt 13,35) dass René Girards Interesse dem Aufdecken und Eindämmen der Gewalt in der Gemeinschaft gilt, was wiederum einen weiteren kultur- und geschichtstheoretischen Zusammenhang eröffnet, wird deutlich: Die für ihn in Frage kommenden literaturwissenschaftlichen Befunde werden eher nicht formalästhetischer Natur sein, er wird keine Theorie des Dichtens und Erzählens entfalten, keine Darstellungsaspekte diskutieren. Nicht das Wie des Erzählens, sondern das Was des Erzählten wird ihn beschäftigen; aristotelisch gesprochen geht es ihm nicht um Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik, vielmehr einzig und allein um den Mythus als der Nachahmung von Handlung und vor allem die Sequenzialisierung, die Zusammensetzung der Geschehnisse. 5 Im Anschluss an die Lektüre von Sophokles und Shakespeare und vor allem beim Studium der Romane von Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust und Dostojewski gewinnt Girard die für ihn zwingende Erkenntnis, gerade den Roman als eine literarische Gattung mit anthropologischer Konstante zu lesen, das heißt als eine Erzählung, deren Text von quasi naturgegebenen, vor- und außerliterarischen Handlungs- und Tiefenstrukturen programmiert ist, wobei die erklärende und erschließende Kraft dieser anthropologischen, an der humanen Basis festgemachten Invariablen gleichwohl den literarischen Rahmen übersteigt und voll und ganz ausreicht, wie zu zeigen sein wird, eine zwar kohärente aber auch nicht unstrittige Sozial- und Kulturtheorie zu errichten. 1 René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums (Übers.), München/Wien 2002 2 s. Universität Innsbruck unter http://theol.uibk.ac/rgkw , Stand: 04.09.2005, mit 600, überwiegend theologischen beziehungsweise opfertheoretischen Titeln 3 Peter Sloterdijk, Nicht gerettet, Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M 2001, S. 82: „Ähnlich hat eine Reihe von Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts als Schwellengrößen fungiert, die den Späteren die Pflicht auferlegten, von dem durch sie markierten Niveau auszugehen: Marx, Darwin, Saussure, Heidegger, Lévi-Strauss, Adorno, Chomsky, Foucault, Girard und andere“. 4 dazu Odo Marquard: „Ich hatte Girards Theologie soziologisch genannt, um sie vom Theologischen abzugrenzen. Das Literaturwissenschaftliche habe ich nicht betont, weil mir das Spezifische an Girard zu sein scheint: Er kommt aus der Literaturwissenschaft und hat so viele von diesen Fragen begriffen. Wenn man bedenkt, was ein normaler Literaturwissenschaftler daraus gemacht hätte: Sehr viel weniger“. in: Willi Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München 1994, S. 34 - 35 5 Aristoteles, Poetik (Übers. Manfred Fuhrmann), München 1976, S. 51. Dazu die Anmerkung von Manfred Fuhrmann: „Während práxis die Handlung bezeichnet, deutet prágmata (der Plural des stammverwandten Wortes prágma) auf das Geflecht, das aus Handlungen mehrerer resultiert, auf die – aus der Distanz eines Unbeteiligten betrachtet – ‚Geschehnisse’. Unter mýthos wiederum versteht Aristoteles ein bestimmtes Arrangement solcher Geschehnisse, die Handlungsstruktur, die Fabel, den Plot“. 5 Im Folgenden wird daher zunächst unter Heranziehung von konkurrierenden Entwürfen – und ohne den Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung - die Typologie von anthropologisch orientiertem Erzählgut exemplifiziert, wobei auch nichtverbales ‚Erzählgut’ in den Blick genommen wird. In einer weiteren Untersuchung wird die Girardsche Roman-Lektüre nachgezeichnet und die Entfaltung der dort gewonnenen anthropologischen Konstante in ihrer Bewegung von einer Literatur- zu einer Kulturtheorie dargestellt, bevor schließlich das BasisTheorem der konfliktiven Imitation an drei zeitgenössischen, zwischen 1991 und 2000 erschienenen Romanen 6 erprobt werden und die Frage der allgemeinen Anwendbarkeit einer neuartigen und eigenständigen lecture girardienne erörtert wird. II. Abstrakte Handlungsstrukturen in narrativen Texten 1. Aristoteles: Die ‚Mythus’-Formel der Erzählung Dass die Handlungsstruktur narrativer Texte nicht dem ‚freien Fabulieren’ überlassen ist, vielmehr durch allgemeine Schemata geprägt wird, wird bereits beim ersten systematischen Nachdenken über das dichterische Schaffen, in der Poetik 7 des Aristoteles im 4. vorchristlichen Jahrhundert formuliert. Im Unterschied zu dem öffentlichen Redner, der seinen Stoff – eine politische Situation, eine Prozesslage, einen festlichen Anlass – in den Grundzügen fertig vorfindet, muss zwar der Dichter sowohl der Tragödie als auch des Epos seinen Stoff erfinden und kann ihn nicht aus einem Repertoire vorhandener Sujets auswählen. Das Verhältnis jedoch zwischen der Wirklichkeit des Lebens und der fiktiven Wirklichkeit des poetischen Kunstwerks ist nicht frei von gegenseitigen Bindungen; es wird durch ein mehrfaches Nachahmen (mímesthai) bestimmt, auf der Seite des Künstlers durch das Nachahmen der Wirklichkeit als, wie Aristoteles meint, naturgegebene Ursache der Dichtkunst (poietiké) und auf der Seite des Publikums durch den Erkenntnistrieb und die Freude (chaírein), die der Zuschauer/Leser an Nachahmungen hat. Aus diesem Nachahmungsbegriff als der Grundkonzeption der aristotelischen Poetik und ihrem leitenden Kriterium lassen sich die weiteren aristotelischen poetologischen Vorgaben ableiten, die der romantischen Vorstellung von der Genie- und Erlebnispoetik des dichterischen weltschöpferischen Genies widersprechen, welches in der Dichtung nicht die Kunst der Nachahmung, vielmehr die einer welthaften Hervorbringung sieht. Zu den Vorgaben gehören insbesondere die Anforderungen, die an die Handlung (mýthus) gestellt werden. Die Handlung – sie ist zunächst ohne Verbindung zu dem mythologischen Mythosbegriff zu denken - muss die Norm der Wahrscheinlichkeit (eikós) erfüllen; die Zusammenfügung der Geschehnisse (sýnthesis ton pragmáton) kann nicht nach der Art einer absichtslosen Assoziation oder einer spontanen Montage erfolgen, sie muss so erfolgen, dass deren Folgecharakter, also Kausalund Konsekutivnexus erkannt wird. Die Handlung soll gefallen, das heißt dem Schönen (kalón) entsprechen, was auch bedeutet, dass sie so übersichtlich ist, dass sie sich dem Gedächtnis des Rezipienten leicht einprägt und von ihm verstanden 6 Die Romane werden aus Gründen der Äquidistanz zum Original in der deutschen Übersetzung untersucht. Die Reihenfolge der Autoren – Ellis, Houellebecq, Sorokin – ist alphabetisch. 7 Aristoteles, Poetik, Kap 4 – 8, S. 44 - 58 6 wird. Von großer Bedeutung ist der scheinbar banale Grundsatz, dass die Nachahmung eine gerichtete démarche darstellt und einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung gilt, dass also diese Handlung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, einen Anfang, welchem nichts vorauszugehen braucht, eine Lösung (lýsis), das heißt ein Ende, welchem nichts zu folgen braucht, eine Mitte, welche sowohl etwas davor wie danach benötigt und durch die Abfolge von Komplikationen (désis) und Wendepunkten oder Umschlag (metabolé) strukturiert ist. Wenn demzufolge gut zusammengefügte Handlungen (mýthoi) weder an beliebigen Stellen einsetzen noch an beliebiger Stelle enden sollen und die einzelnen Geschehnisse nur dann ein Ganzes bilden können, wenn keines seiner Elemente abgetrennt, verändert oder ein anderes hinzugefügt werden kann, zeigt sich die Diskrepanz zwischen der Fülle und Unabgeschlossenheit des in der Realität Gegebenen und dem Handlungsganzen des literarischen Kunstwerks. Wenn der Künstler unter dem Gebot des Handlungsbegriffs, der in gleicher Weise für die epischen wie für die dramatischen Formen anzuwenden ist, für die Zusammenfügung eines Mythus eine bestimmte Auswahl unter den möglichen Geschehnissen der diffusen Lebenswirklichkeit treffen muss, ist dies eine künstlerische Entscheidung, die nur dann als Nachahmung bezeichnet werden kann, wenn damit das bezeichnet oder zumindest suggeriert wird, was nachgeahmt werden soll. Wenn demnach etwa zum Zweck des Anfangs Geschehnisse per Nachahmung in den Bauplan des Dichters aufgenommen werden sollen, müssen dies solche Geschehnisse sein, die einen erkennbaren inkohativen Charakter haben und sich daher in besonderer Weise für die Markierung eines Anfangs eignen. Auftakt-Geschehnisse in diesem Sinn, die in der Lebenswirklichkeit zum Vorschein kommen und daher auf dem Weg der Nachahmung künstlerisch bearbeitet werden können, ereignen sich in der Lebenswirklichkeit dort und dann, wo in einem individuellen oder kollektiven Traumaerlebnis eine bestehende Ordnung gestört wird, wo außermenschliche, natürliche oder göttliche Gewalten in das Leben der Menschen eingreifen oder einzugreifen beziehungsweise auszubleiben drohen und wo die Betroffenen, wenn sie auf die ihnen gegenüberstehenden Gewalten nicht mit dem animalisch angezeigten Reflex der Flucht, Angriff oder Unterwerfung reagieren können, genötigt sind, sich mit dem auf sie Zukommenden in ein Verhältnis zu setzen, sich mit ihm zu arrangieren, wobei das Arrangement ebenso magischer wir rationaler Art sein kann. Deutlicher als in der deskriptiven Annäherung an das zu erstellende Kunstwerk kommt die Mythus-Formel in den Zuschauerreaktionen zum Ausdruck, die durch des Dichters Kunst hervorgerufen werden sollen. Der Zustand, in den sowohl die Tragödie wie auch das Epos 8 das Publikum versetzen soll, wird in der Poetik in der richtigen Abfolge der Handlung (dráma) mit den Begriffen Jammer (éleos), Schaudern (phóbos) und Reinigung (kátharsis) bezeichnet. Eleos als Stimmung der Ausgangslage eines dramatischen Geschehens ist nicht das allmähliche Erwachen eines Gefühls; es ist das Erschrecken über das plötzliche Aufkommen einer Gefahr, die unkontrollierte Reaktion über das Auftauchen von etwas Unerhörtem. 9 Phóbos, 8 Aristoteles favorisiert die Tragödie, s. Kap. 26, S. 114: „Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen Dingen auszeichnet und über dies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung (érgon) – Epos und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte -, dann ist klar, dass sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung (télos) besser erreicht als jenes“. 9 Vgl. Manfred Fuhrmann, Erläuterung zu Aristoteles, Poetik, S. 22: „Das Wort éleos lässt sich am besten durch ‚Jammern’ oder ‚Rührung’ wiedergeben: es bezeichnete stets einen heftigen, physisch sich äußernden Affekt und wurde oft mit den Ausdrücken für Klagen, Zetern und Wehgeschrei verbunden. Die aristotelische Rhetorik verlieh dem Begriff eine ethische Komponente: éleos sei der 7 was sowohl ‚Flucht’ bedeuten kann, also eine durch Erschrecken provozierte Ortsveränderung, als auch ‚Schaudern’, was als inneres Empfinden dem äußerlichen Fluchtreflex entsprechen kann, ist in jedem Fall ein Erregungszustand, in dem der Held des Mythus außer sich gerät, seine gewöhnliche Bahn – auch in räumlicher Hinsicht – verlässt und bewirkt, dass der Zuschauer oder Zuhörer das Schicksal des Helden miterleidet. Komplexer als Jammer und Schaudern ist der Begriff der Reinigung, mit dem sich die kultische Funktion der Purifikation von einer Befleckung ebenso verbindet wie die medizinische der Ausscheidung schädlicher Substanzen. Lässt sich der religiöse kátharsis-Begriff wie auch der medizinische als eine Übertragung von der materiellen Reinigung auf immaterielle Reinigungsprozesse verstehen, so lässt sich der Moment der kathartischen Lösung auch mit dem Mythus verknüpfen und zwar an der Stelle, wo die im Jammer und Schaudern aufgebauten psycho-physischen Affekte sich entladen und ähnlich wie bei der orgiastischen, Entspannung verschaffenden Musik das Publikum durch diese Entladung eine mit Lust verbundene Entkrampfung empfindet, welche insofern eine Läuterung darstellt, als sie zugleich eine ethische, das heißt bildende Funktion besitzt. Die von Aristoteles aus den Werken griechischer Dramatiker abstrahierte dramatische Form, deren Gültigkeit er auch auf das Epos überträgt, hält sich bis heute als Grundstruktur der klassischen oder wohlgeformten Erzählung. Sie findet sich wieder in dem in Analogie zu dem Pyramiden-Schema von Gustav Freytag 10 entworfenen Fünf-Phasen-Modell von William Labov und Joshua Waletzky: 11 Phase I: Vorspiel / Exposition / Orientierung Phase II: Auftauchen von Krisenfaktoren / Komplizierung Phase III: Krise / Höhepunkt Phase IV: Krisenabwicklung / Schlichtung / Auflösung Phase V: Endzustand / Konklusion Die Universalität und diagnostische Leistungsfähigkeit dieses Modells zeigt sich auch darin, dass es sich sogar in erzählenden Gedichten, zum Beispiel in Goethes kleinem Gedicht Gefunden,12 abbilden lässt: Orientierung: Ich ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn. Komplizierung: Im Schatten sah ich Ein Blümchen stehn, Wie Sterne leuchtend, Wie Äuglein schön. Krise: Ich wollt’ es brechen, Da sagt’ es fein: Verdruss über ein großes Übel, das jemanden treffe, der es nicht verdient habe; wer éleos empfinde, nehme an, dass das Übel auch ihn selbst oder eine ihm nahe stehende Person treffen könne“. 10 Gustav Freytag, Die Technik des Dramas (1863), 12. Aufl. Leipzig 1912, S. 102 f. 11 William Labov und Joshua Waletzky, „Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung“ (1967) in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 2, Frankfurt/M 1973, S. 78 - 126 12 Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800 – 1832, Hg. Karl Eibl, Frankfurt/M 1988, S. 20 8 Soll ich zum Welken Gebrochen sein? Krisenabwicklung: Ich grubs mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich’s Am hübschen Haus, Endzustand: Und pflanzt es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort. In Vereinfachung dieses Modells wird in der Erzähltextanalyse, bei der es nicht um die Analyse der Geschichte sondern um die Strukturerfassung des Erzähltextes geht, das aristotelische Anfang-Mitte-Ende-Schema als Abfolge von Orientierung, Komplikation, Auflösung 13 oder Exposition, Komplikation, Lösung / Resultat 14 beziehungweise Exposition, Ereignis, Schluss 15 formuliert und von Harald Weirich als Elementarregel des narrativen Dreischritts bezeichnet. Dementsprechend unterliegen Geschehnisse einem Verknüpfungszwang, welcher kontingente Ereignisse auf eine Reihe bringt, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich macht und das Unzusammenhängende erzählerisch verdichtet. Da die Dichtung als Darstellung von Handlungen bestimmte Wirkungen erzielen soll – der Zusammenhang der Tragödienaufführungen mit den zeitgleichen Dionysien und den Satyrspielen zur Zeit des Aristoteles kann nicht nur chronologischer Natur sein - , favorisiert die Poetik den Modellcharakter eines Mythus, bei dem es zuallererst auf die innere Stimmigkeit des Handlungsgefüges ankommt, vor dem jeweiligen Handlungsmoment. Entscheidend für die Stimmigkeit des Handlungsgefüges ist der Spannungsbogen, der sich vom Jammern bis hin zur Reinigung erstreckt, ein Spannungsborgen, der die Form einer Erregungsschleife hat, in der es um kollektive Erregung und deren Abbau geht, ein Spannungsbogen, wie er – ritualtechnisch betrachtet – beispielsweise in der christlichen Eucharistiefeier anklingt, wo er mit dem Kyrie Eleison beginnt, im Agnus Dei seinen Höhepunkt hat und im Ite missa est endet. Da der Nachahmungsbegriff a priori entschieden hat, was Gegenstand künstlerischer Bearbeitung ist und was nicht - was im Übrigen auch dazu führt, dass die vielfältigen Formen der Lyrik und der Spruchdichtung, da sie kein objektives Geschehen imitieren, keine Beachtung finden - und die erwünschten Wirkungen auch unter Rücksichtnahme auf die Rezeptionskapazitäten des Publikums über die Handlungsstruktur und die erzählte Ereignisfolge erzielt werden sollen, kann das Kunstwerk keinerlei Anspruch erheben auf Autonomie und Selbstreferenz; die subjektive Brechung, die Reflexion, die Phantastik und der pure 13 Elisabeth Gülich, „Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse“ in: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung Bd. I, Göttingen 1976, S. 251 14 Wolf-Dieter Stempel, „Zur Frage der narrativen Identität konversationeller Erzählungen“ in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung, Stuttgart 1982, S. 12 15 Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim 1993, S. 219: „Die Abfolge von Prädikationen mit dem Präteritum drückt in einer Geschichte den Fortgang der Handlung aus, von der ‚Exposition’ der Ausgangslage über das ‚Ereignis’ (um dessentwillen die Geschichte erzählt wird) bis zum ‚Schluss’, der die neue, durch die erzählte Handlung veränderte Situation charakterisiert. Nicht in jedem Fall erzählt man sich jedoch förmliche, nach der Elementarregel dieses ‚narrativen Dreischritts’ organisierte Geschichten“. 9 Reiz der Form werden – für den Produzenten wie für den Rezipienten - als störend empfunden. Von Platon, dessen Schüler Aristoteles war, ist bekannt, dass er die Sänger/Dichter nicht nur für störend, sondern für gefährlich hielt. Wenn Aristoteles seinem Lehrer in Vielem nicht folgen mochte, so hält er doch daran fest, dass Dichtkunst ein Verfahren der Nachahmung ist, ein Verfahren, in dem die ästhetische Dimension untrennbar mit der religiösen verbunden ist, ein Verfahren, welches den Mythus nachahmt und in welchem das Publikum zur Nachahmung disponiert wird, zu Anpassung und Einbindung, wobei er nicht mehr wie Platon glaubte, dass die Dichtung durch die Erregung der Leidenschaften die vernünftige Ordnung zersetze, dass sie vielmehr dadurch eine reinigende Funktion erfülle, dass die Dramatik von Erregung und Reinigung nicht ansteckt, sondern impft.16 Daher auch die von Platon übernommene Prämisse, dass die Dichtkunst in die Gemeinschaft integriert und für alle Glieder der Gemeinschaft verbindlich, kurz, dass sie eine politisch-religiösmoralische Funktion hat. Obwohl in der Poetik die Behandlung der Komödie fehlt Aristoteles verweist in seiner Rhetorik auf eine Untersuchung des Lächerlichen, die man in der Poetik finden könne ; diese Schrift ist aber verloren gegangen -, lässt sich aus einigen Andeutungen erschließen, dass Aristoteles mit der Dramatisierung des Lächerlichen (geloíon) die formale Grundordnung von Epos und Tragödie auf die Komödie überträgt, 17 wo das befreiende und mitwissende Lachen über den noch einmal davongekommenen, überlebenden Helden die kathartische Funktion zu erfüllen hätte. Poeten sind nicht Schöpfer und Erfinder. Poetik ist nicht póiesis. Die Nachahmung dient nicht primär der Weitergabe von Traditionsgut; nachgeahmt werden PersonenTypen: Heroen im Epos, tugendhafte Menschen in der Tragödie, mit Mängeln behaftete in der Komödie. Dabei kann auch der Spannungscharakter der die kulturelle Darstellung tragenden Sozialstruktur ans Licht gebracht werden, und es können Bewältigungsmechanismen in Form von Opfer, Selbstopfer, Trennung oder Reintegration zur Diskussion gestellt und erprobt werden. Das aristotelische Prinzip der Nachahmung ist jedoch nur eine Teilantwort auf die Frage nach abstrakten Handlungsstrukturen in erzählenden Texten. Diese Mimesis ist eine Mimesis der Repräsentation, der Wiedererkennung, der Re-Identifikation. Sie ist sowohl ethisch als auch emotional positiv besetzt und meint nicht eine Nachahmung, welche auch konfliktives Potenzial enthalten und die Nachahmenden, sollten sie einander in ihrem Wunsch nach ein und demselben Objekt imitieren, gegeneinander in Front bringen könnte. Die andere und weiter reichende Teilantwort der Poetik auf diese Frage ist sicher in der geforderten Anfang-Mitte-Ende-Struktur sowie der kathartischen Konklusion zu finden. Ohne zu einzelnen, zum Teil auch widersprüchlichen Positionen der Aristotelesforschung Stellung zu nehmen, lässt sich die Feststellung aufrechterhalten, dass die Dreiphasigkeit und der Katharsisaspekt 18 16 Manfred Fuhrmann, Erläuterungen zu Aristoteles, Poetik, S. 21 Aristoteles, Poetik, Kap 2, S. 41: „…die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“ Sowie Kap 5, S. 48: „Die Komödie ist, wie gesagt, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat“. 18 Vgl. Jacob Bernays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas (1857), Berlin 1880, S. 13: „Fasst man dagegen Katharsis in der allein noch übrigen, medicinischen Bedeutung, so schickt sich Alles aufs Beste. Dann ist kátharsis nur eine besondere Art der allgemeinen und deshalb an erster Stelle genannten iatreía; die Verzückten kommen durch orgiastische Lieder zur Ruhe wie Kranke durch ärztliche Behandlung, und zwar nicht durch jede beliebige, sondern durch eine solche Behandlung, welche kathartische, den Krankheitsstoff ausstoßende Gemüthserscheinungen in der 17 10 sich zusammendenken lassen und dass in diesem Ensemble der rituelle, sowohl individual- als auch sozialtherapeutische Ursprung erkennbar wird. Weil nicht alle Menschen mehr den Kult verstehen oder ihre Weltlage über die Philososphie klären können, wird dem Theater als der Erbin des Kults die Mission der Welt- und Gemeinschaftsvergewisserung übertragen. Dagegen weist Aristoteles der Tragödie die gewiss nicht niedrige Aufgabe zu, dem Menschen sein Verhältnis zum All so darzustellen, dass die von dorther auf ihn drückende Empfindung, unter deren Wucht die Menge dumpf dahinwandelt, während die edleren Gemüther sich gegen dieselbe eben an der Religion und Philosophie aufzurichten streben, für Augenblicke in lustvolles Schaudern ausbreche.19 Wenn Katharsis also die Behandlung ist, die darin besteht, dass ein Krankheitsstoff ausgestoßen wird, und das Auszustoßende in seiner stofflichen Form als das Katharma bezeichnet wird, welches wiederum mit der Funktion des Pharmakos 20 in Verbindung gebracht wird, kann die rituelle Spur sichtbar gemacht werden, die vom religiösen Kult, verstanden als Opferkult, zum Theater führt. In der von Plutarch verwendeten Formulierung kathartikon pharmakon 21 wird das kathartische Verfahren als ein Heilverfahren, als eine die genaue Abfolge der Anwendungsschritte beachtende Prozedur angesprochen, deren heilende Wirkung auf der Ausscheidung einer Droge beruht, die als schädlich für den physischen oder sozialen Organimus betrachtet wird. Voraussetzung aber für die Aussscheidung der giftigen Substanz ist die Impfung des Organismus mit einer kontrollierten Dose des Gifts. Da die erreichte Immunisierung aber immer vorläufig ist, sind Wiederholungsimpfungen erforderlich, kultisch formuliert: Riten und Aufführungen mit vergleichbarer kathartischer Wirkung. Wenn also die Poetik des Aristoteles den Katharsisbegriff auf die Tragödie bezieht, scheint es nicht unzulässig, diesen Begriff als den End- und Höhepunkt eines Verfahrens zu markieren, das seine Analogie im Opferritual hat und in dem die typologische Verwandtschaft zwischen dem tragischen Helden und dem Pharmakos nicht übersehen werden kann. Indem Aristoteles den tragischen Effekt als Katharsis bezeichnet, bestätigt er, dass die Tragödie zumindest teilweise Funktionen übernimmt, die dem Kult vorbehalten sind und deren Resonanz ebenso in medizinischen Heilungsprozess wie in den juristischen Rechtsgang hinein reicht. Gleichzeitig jedoch signalisiert er, dass dieser Kult, in dessen Zentrum immer das den Göttern dargebrachte Opfer steht, in die Krise geraten ist und dabei ist, seine That verdeutlicht, denn sie wird versinnlicht durch den Vergleich mit pathologischen körperlichen Erscheinungen“. 19 Jacob Bernays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas, S. 78 20 Zur Deutung des Ödipus als Pharmakos vgl. Marie Delcourt, Légendes et cultes de héros en Grèce, Paris 1942, sowie Jean-Pierre Vernant et Pierre Vidal-Naquet, Œdipe et ses mythes, Bruxelles 1988. Dazu auch Terry Eagleton, Sweet violence. The idea of tragic, Blackwell 1988, rezensiert von Christiane Zschirnt in taz Nr. 6883 vom 21.10.2002, S. 14: “…Es ist der Begriff des Pharmakos, der Eagletons Vorstellung vom ‚Opfer’ Kontur gibt. Die Figur des Pharmakos entstammt der griechischen Antike und bezeichnet den Sündenbock, auf den die Fehlhandlungen der Gesellschaft projiziert wurden und der als Opfertier geschlachtet wurde. Er symbolisiert Schmutz, Deformiertheit, Wahnsinn und Verbrechen – mithin die soziale Ordnung in ihrem Versagen. Vor die Tore der Stadt gejagt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen, bemitleidet und gehasst, verachtet und geächtet, markiert der Pharmakos einen herausgehobenen Punkt in der gegebenen Ordnung, der – und das ist für Eagleton der entscheidende Punkt – die Notwendigkeit symbolisiert, das Schlechte zu zerbrechen, um etwas Besseres beginnen zu können. Das ist es, was Eagleton mit dem Begriff des rituellen Opfers meint und was ihn daran so fasziniert: der Pharmakos als Abstraktion des gewaltsamen Übergangs von einem Zustand in einen anderen, besseren…“ 21 René Girard, La violence et le sacré, Paris 1973, S. 399 « Plutarque emploie l´expression kathartikon pharmakon en une redondance significative ». 11 sozialhygienische und purgierende Funktion einzubüßen. Lässt bereits der dreiphasige Aufbau der Tragödie die verborgene Präsenz eines Opfergeschehens vermuten, das mit dem Aus-den-Fugen-Geraten einer Ordnung beginnt, in die Designation eines geeigneten Opfers und die Vorbereitungen der Opferhandlung einmündet und mit der Exekution durch den Opferpriester endet, enthält schließlich die Katharsis einen nicht zu übersehenden Hinweis auf die mythische und rituelle Provenienz der Tragödie. Ödipus als der tragische Held par excellence kann als das Katharma und das Pharmakon der antiken Welt betrachtet werden. Anstatt einen Altar zu errichten, auf dem man, um die Polis von einem Übel zu befreien, einen Pharmakos tatsächlich umbringt, hat man jetzt ein Theater und eine Bühne, auf der symbolisch, das heißt in Abstraktion von einer realen Opferhandlung das Schicksal jenes Katharma, das von einem Schauspieler gespielt wird, die Zuschauer von ihrer Selbstsucht, ihren Passionen und Illusionen purgiert und so bei jeder Aufführung, auch wenn sie eine Als-ob-Handlung ist, gleichwohl eine neuerliche individuelle und kollektive Katharsis bewirkt. Das reale oder schon rituell stilisierte KatharsisVerfahren hat seinen Weg vom Tempel auf die Theaterbühne gefunden, in der tragischen Prosodie jedoch bleibt das ursprüngliche Verfahren aufgehoben und, jedenfalls auf dem Weg der interpretierenden Rekonstruktion, entzifferbar. 2. Vladimir Propp: Die Morphologie In der Sammlung von Märchen, Balladen, Sagen und Mythen im 18. und 19. Jahrhundert vor allem durch Charles Perrault (1628 – 1703), Thomas Percy (1729 – 1811), Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), Jacob Grimm (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) zeigte sich ein gesteigertes Interesse an nationalen Kulturen und an der Sprach- und Dichtungsgeschichte der Völker. Gleichzeitig entstand eine Erzählforschung, welche feststellte, dass die zusammengetragenen Erzählungen einander so ähnlich waren, dass man sie als Fassungen und Versionen derselben Stoffe ansehen und unvermeidlich die Frage nach gemeinsamen Strukturen und Ursprüngen stellen musste. So enthielt bereits die Sammlung und thematische Anordnung der Kinder- und Hausmärchen (1. Ausg. 1812/1825) der Brüder Grimm Ansätze zu einer an Motiven und Stoffen orientierten Variantenbeziehungsweise Konstantenforschung, die von Literaturwissenschaftlern wie Johannes Bolte und Georg Polívka (Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 1913-1918), Antti Aarne (Verzeichnis der Märchentypen, 1910) und Stith Thompson (Motif-Index of Folk-Literature, 1932 – 1936) zu einer stark beachteten literaturwissenschaftlichen Disziplin entfaltet wurden. Der Nachweis großer struktureller Ähnlichkeit der, was ihre Herkunft betrifft, zeitlich und räumlich oft weit auseinander liegenden Märchen, Sagen und Mythen führte zu der Annahme: Offenbar gibt es eine historisch und kulturell relativ stabile narrative Kompetenz, die darüber bestimmt, wann eine Erzählung wohlgeformt und erzählenswert ist. 22 Verfuhr die volkskundliche Variantenforschung zunächst eher thematisch und untersuchte etwa den Typ: Die gefährliche Brautwerbung oder verfolgte in 22 Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl. München 2003, S. 138 12 textgenetischer Betrachtung etwa die Migration von Themen über kulturelle Grenzen hinaus, legte 1927 der russische Literaturwissenschaftler Vladimir Propp (1895 – 23 1970) mit seinem Hauptwerk Morphologie des Märchens eine Aufsehen erregende Studie vor, in der – im Kontext des sowjetischen Formalismus – in streng deduktivem Vorgehen der Nachweis geführt wurde, dass sich die Handlungsstrukturen folkloristischer Texte, untersucht an einem Korpus von hundert russischen Zaubermärchen, systematisch erfassen und in mathematischen Formeln abbilden lassen. Es sind zwei Entdeckungen, von denen er – im Abstand von annähernd 20 Jahren – berichtet: 1. Alle Märchen 24 sind nach einem einheitlichen Bauplan komponiert und weisen eine einheitliche Morphologie auf. 2. Der Bauplan ist nicht poetischen Ursprungs; er ist die Kopie einer historischen Vorlage. Die Grammatik der Märchen ist identisch mit der Grammatik der Mythen. Sie wurzelt im Mythos. Hundert Jahre vor Propp hatte Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) in seinen naturwissenschaftlichen Studien die Morphologie als seine Entdeckung und seine Leidenschaft 25 bezeichnet. Im Gegensatz zur allgemein praktizierten Methode des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707 – 1778), der eine umfassende Pflanzenbeschreibung erstellte und durch seine binäre Nomenklatur und Klassifizierung die Grundlagen der botanischen Fachsprache, das botanische ‚Alphabet’, schuf - auch Jean Jacques Rousseau zählte sich zu den nach der Art von Linné herborisierenden Intellektuellen -, beobachtete Goethe, wie sich Pflanzen unter verschiedenen Bedingungen entwickeln und bilden. Er versuchte, den Prozess der Metamorphose zu verstehen, denn: Das Wechselhaften der Pflanzengestalten, dem ich längst auf seinem eigentümlichen Gange gefolgt war, erweckte nun bei mir immermehr die Vorstellung: die uns umgebenden Pflanzenformen seien nicht ursprünglich determiniert und festgestellt, ihnen sei vielmehr, bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit, eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen, um in so vielen Bedingungen, die über dem Erdkreis auf sie einwirken, sich so zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können. 26 Goethe beschränkt den Geltungsbereich seiner Morphologie nicht auf die Pflanzenwelt; er ist sich nicht nur sicher, daß lebendige einander höchst ähnliche Geschöpfe aus einerlei Bildungs-principio hervorgebracht sein müssen, 27 sondern verleiht diesem Morphologie- und Metamorphosebegriff eine universelle, den Gegensatz von Natur und Kultur überwindende Dimension. So bekennt er: 23 Vladimir Propp, Morfologija skazki, Moskva 1928, dt. Morphologie des Märchens, München 1972 Die Unterscheidung von ‚Märchen’ und ‚Zaubermärchen’ wird von Vladimir Propp nicht streng beachtet. In beiden Fällen ist maßgebend, dass in die erzählte Handlung von einer übersteigenden Instanz ‚wie durch ein Wunder’ eingegriffen wird. 25 Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Weimar 1964, S. 334:„ Wer an sich erfuhr was ein reichhaltiger Gedanke, sei er nun aus uns selbst entsprungen, sei er von andern mitgeteilt oder eingeimpft, zu sagen hat, muß gestehen, welch eine leidenschaftliche Bewegung in unserem Geist hervorgebracht werde, wie wir uns begeistert fühlen, indem wir alles dasjenige in Gesamtheit vorausahnen, was in der Folge sich mehr und mehr entwickeln, wozu das Entwickelte weiter führen solle. Und so wird man mir zugeben, daß ich von einem solchen Gewahrwerden, wie von einer Leidenschaft, eingenommen und getrieben, mich, wo nicht ausschließlich durch alles übrige Leben hindurch, damit beschäftigen musste“. (Rechtschreibung und Interpunktion unverändert, d. Verf.) 26 Goethe, Schriften, S. 333 27 Goethe, Schriften, S. 81 24 13 Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse. Von den ersten physischen und chemischen Elementen an, bis zur geistigsten Äußerung des Menschen lassen wir diesen Grundsatz gelten. Wir wenden uns gleich zu dem was Gestalt hat. Das unorganische, das vegetative, das animale das menschliche deute sich alles selbst an, es erscheint als das was es ist unserm äußern und inneren Sinn. Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur. 28 Wie Goethe als Naturwissenschaftler entgegen dem sezierend-deskriptiven System von Linné die These vertrat, es gebe eine Urpflanze 29 mit einem ein für alle Male gültigen Bauplan, einem Bildungs-principium, dessen Struktur für alle anderen Pflanzen bestimmend sei und sich in ihnen nachweisen lasse, gelangte der russische Literaturwissenschaftler Vladimir Propp - die programmatischen Kapitel seiner Morphologie beginnen jeweils mit einem treffenden Goethe-Zitat bei der Untersuchung von einem Corpus von hundert russischen Märchen zu der Einsicht, dass sich auch in den Märchen ein genetisches Prinzip nachweisen lässt und dass sich somit alle diese Erzählungen auf eine gemeinsame abstrakte Handlungsstruktur zurückführen lassen. Vergleicht man dieses genetische Prinzip mit Goethes übersinnlicher Urpflanze, lässt sich folgern, dass damit nicht ein Ur-Märchen gemein ist, von dem nach einer literarischen Genealogie alle nachgeborenen Märchen abstammen; es geht in diesem genetischen Prinzip vielmehr um die MärchenUrsache, um den Grund, aus dem ein Märchen hervorgeht und um den Prozess, der sein Hervorbringen steuert, um das Bauprinzip, das aus ineinander gefügten Handlungen ein Märchen werden lässt. Vladimir Propp hält sich nicht lange damit auf, die Analogie des biologischen Fachhorizonts und der Literaturwissenschaft zu begründen; er ist überzeugt: Das Wort Morphologie bedeutet Formenlehre. In der Botanik versteht man unter diesem Begriff die Lehre von den Bestandteilen der Pflanze, deren Verhältnis zueinander und zum Ganzen, mit anderen Worten die Lehre vom Bau der Pflanzen. An die Möglichkeit, von einer Morphologie des Märchens zu sprechen, hat noch niemand gedacht. Indessen ist auf dem Gebiet des Volksmärchens eine Formanalyse sowie die Ableitung von Strukturgesetzen ebenso gut möglich wie bei Organismen. 30 Und er fährt programmatisch fort: Die Märchenforschung kann man in vieler Hinsicht mit der Erforschung organischer Formen in der Natur vergleichen. Sowohl der Naturforscher als auch der Folklorist beschäftigt sich mit dem Prinzip gleichartiger Erscheinungen von Grundformen und ihren Abarten. Die von Darwin gestellte Frage nach dem ‚Ursprung der Arten’ ist auf unserem Gebiet ebenso berechtigt. 31 Gleichartige Erscheinungen von Grundformen, das sind für Propp zum einen die wesentlichen Übereinstimmungen, beispielsweise die Ähnlichkeit zwischen den Varianten des Märchens von der Froschkönigin in Russland, Deutschland, Frankreich, Indien, bei der indianischen Bevölkerung Amerikas und selbst in 28 Goethe, Schriften, S. 128 Goethe, Schriften, S. 334: „Wie sie sich nun unter einen Begriff sammeln lassen, so wurde mir nach und nach klar und klärer, dass die Anschauung noch auf eine höhere Weise belebt werden könnte: eine Forderung, die mir damals unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze vorschwebte. Ich ging allen Gestalten, wie sie mir vorkamen, in ihren Veränderungen nach, und so leuchtete mir am letzten Ziel meiner Reise, in Sizilien, die ursprüngliche Identität aller Pflanzenteile vollkommen ein, und ich suchte diese nunmehr überall zu verfolgen und wieder gewahr zu werden“. 30 Vladimir Propp, Morphologie, S. 9 31 Vladimir Propp, Morphologie, S. 155 29 14 Neuseeland 32, also auch in entlegenen und isolierten Kulturkreisen. Vor allem aber sind es innerhalb der einzelnen Märchen die Passagen, welche invariante Elemente aufweisen, die sich auf eine gemeinsame abstrakte Handlungsstruktur reduzieren lassen. Mit dem Anspruch, sowohl das Bauprinzip der Märchengattung zu erforschen als auch bis zu deren Quellen vorzustoßen, setzt sich Propp – Goethes Frontstellung gegenüber v. Linné duplizierend - entschieden von der Ethnologie ab, zu deren Gegenstand neben den Sitten und Gebräuchen der schriftlosen Kulturen auch die Erzählungen gehören. So sehr er deren berühmtesten Vertreter, den Engländer Sir James George Frazer (1954 – 1941) bewundert ob der Materialsammlung, die er in dem fünfzehnbändigen Werk The golden bow 33 ausbreitet, wirft er ihm gleichwohl vor, dass er oberflächliche Ergebnisse bietet und seine Befunde keiner ernsthaften Deutung unterzieht.34 Dass Vladimir Propp in seinen Gelehrtenstreit mit James Georg Frazer nebenbei betont klassenkämpferisch argumentiert, darf wohl mehr dem historischen Moment - Leningrad im Jahr 1946 - als der sachlich begründeten Differenz zugerechnet werden.35 Dass diese gegeben ist, liegt daran, dass die ethnologische beziehungsweise ethnographische Beobachtung dem Prinzip der Kartierung folgt, welche ihr Objekt zur Ansicht frei gibt, aber keine Erklärung für sein Erscheinen liefert, dass sie also eher positivistisch als genetisch, eher strukturell als analytisch und eher deskriptiv als hermeneutisch verfährt, was zwar den Vorteil bringt, dass die Ergebnisse einer objektiven Prüfung standhalten, den Nachteil allerdings, dass die auf den Sinnzusammenhang abzielende Frage nach dem Wozu und dem Warum nur vage und auf spekulative Art beantwortet wird.36 Vladimir Propp verfolgt nicht die erzählten Begebenheiten der von ihm untersuchten russischen Zaubermärchen; er analysiert die gattungstypischen Einheiten der Handlung und die Regeln ihrer Zusammenstellung und stellt dabei fest, dass man auf der Handlungsebene, der Ebene der histoire und des plot eine Tiefenstruktur erkennen kann, deren Elemente in jedem Zaubermärchen in einer bestimmten Reihenfolge wieder vorkommen. Diese Tiefenstruktur teilt sich jedem Märchen-Leser beziehungsweise Märchenhörer auf intuitive Weise mit, so dass dieser, ohne dass er sich dessen bewusst ist, das Märchen auf Anhieb als solches erkennt und von anderen Textgattungen wie der Fabel oder der Kurzgeschichte unterscheidet. In Analogie zur Erforschung der Sprache und ihrer zugrunde liegenden grammatischen 32 Vladimir Propp, Morphologie, S. 24 James George Frazer, The Golden Bow (1890 – 1907), dt.(gek. Ausg.) Der goldene Zweig, Leipzig 1928 34 Vladimir Propp, Istoričeske korni volšebnoj, Leningrad 1946, dt. Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München 1987, S. 25: „Die Ethnologen berufen sich oft auf das Märchen, aber nicht immer kennen sie es. Das gilt insbesondere für Frazer. Das grandiose Gebäude seines Goldenen Zweiges ruht auf Voraussetzungen, die er aus dem Märchen geschöpft hat, das er obendrein falsch verstanden und ungenügend studiert hat. Eine genaue Untersuchung des Märchens erlaubt es, an dieser Arbeit eine Reihe von Korrekturen anzubringen und sogar ihre Grundlagen ins Wanken geraten zu lassen“. 35 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 424: „Doch Frazer ist ein bürgerlicher Gelehrter, und selbst dort, wo er den richtigen Weg spürt, kommt er doch über den Rahmen des Denkens und der Überzeugung seiner Klasse nicht hinaus“. 36 James George Frazer, Der goldene Zweig, S. 204 : „Solche magischen Schauspiele (Scheinvermählungen, d. Verf.) haben bei europäischen Volksfesten immer eine bedeutende Rolle gespielt, und da sie auf einer sehr rohen Auffassung von Naturgesetzen beruhen, ist es klar, dass es sich hier um Überlieferung aus grauer Vorzeit handeln muss. Wir dürfen daher kaum fehlgehen in der Annahme, dass sie aus einer Zeit stammen, da die Vorfahren der zivilisierten Nationen Europas noch Barbaren waren, ihr Vieh hüteten und auf den Lichtungen der ausgedehnten Wälder, die damals den größten Teil des Kontinents vom Mittelmeer bis zum Nördlichen Eismeer bedeckten, Getreide anbauten“. 33 15 Struktur dringt er zu der Handlungsstruktur vor, die sich hinter oder unter der Handlungsebene verbirgt und entwirft aus ihr eine ’Grammatik’ des Märchens. Dabei zerlegt er beispielsweise das Motiv Der Drachen entführt die Tochter des Zaren 37 in eine Kette kleinster Einheiten, die von Märchen zu Märchen austauschbar sind: Der Drache könnte die Tochter des Zaren auch quälen, sie fordern, der Drache könnte auch ein Teufel sein, eine Hexe, ein Bär, der Zar selbst, ein Gutsherr. Die Tochter könnte jedes andere geliebte Wesen sein, der Zar ein anderer Vater und die Entführung eine andere Form des Verschwindens. Der Leser wird sich von den innerhalb dieser Minimal-Sequenz möglichen Transformationen und Substitutionen nicht beirren lassen. Er ‚weiß’, was ihn im weiteren Verlauf der Handlung – unabhängig von der konkreten personellen Besetzung und der attributiven Ausstattung – erwartet. Als grundlegende narrative Einheit der Handlungsstruktur bestimmt Vladimir Propp die Funktion, unter der die Aktion einer handelnden Person verstanden (wird, d. Verf.), die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird.38 Wie ein lebender Organismus im Zusammenwirken seiner Teile sich als Wesensganzes zeigt oder wie ein Molekül sich auf die atomaren Komponenten reduzieren lässt und diese wiederum auf seine Elementarteilchen, so beschreibt Propp eine Erzählung als eine aus Funktionen bestehende Sequenz. Diese Funktionen – Propp isoliert bei der Analyse von hundert Märchen 31 solcher Handlungskerne, die nicht weiter zerlegbar sind lassen sich zu einer Handlungsstruktur synthetisieren, wobei die Reihenfolge der Funktionen zwar leicht variierbar ist - Wiederholungen sind ebenso möglich wie Auslassungen - , aber nicht umkehrbar. Eine geschlossene Handlungsstruktur liegt also vor, wenn eine Geschichte begonnen und zu Ende erzählt wird, das heißt wenn die Abfolge zwischen dem Beginnen und dem Beenden bis zu 31 invariable Funktionen umfasst, wobei es bei der Definition der Funktion allein auf die Aktion der handelnden Personen ankommt, nicht auf die sonstigen Attribute, Namen und Gestalten der Akteure. Die Invarianz zum Beispiel der Funktionen ‚Versetzung des Helden in die Fremde durch die Gabe eines Helfers’ mit den im Prinzip austauschbaren Handlungsträgern Zar/Bursche, Großvater/Sučenko, Zauberer/Ivan, Zarentochter/Ivan wird an vier Beispielen 39 von Märchen anschaulich gemacht. 1. Der Zar gibt dem Burschen einen Adler. Dieser bringt den Burschen in ein anderes Reich. (171) 40 2. Der Großvater gibt Sučenko ein Pferd. Das Pferd bringt Sučenko in ein anderes Reich. (132) 3. Der Zauberer gibt Ivan ein kleines Boot. Das Boot bringt Ivan in ein anderes Reich. (138) 4. Die Zarentochter gibt Ivan einen Ring. Die Burschen, die in dem Ring stecken, bringen Ivan in das fremde Zarenreich. (156) usw. 37 Vladimir Propp, Morphologie, S. 173 f. Vladimir Propp, Morphologie, S. 27 39 Vladimir Propp, Morphologie, S. 25 40 Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Antti Aarne, Verzeichnis der Märchentypen, Folklore Fellows Communications (FFC) Nr. 3, Helsinki 1991 38 16 Diese Funktionen als Aktionen von handelnden Personen, die für den Gang der Handlung bedeutungsvoll sind wie zum Beispiel ‚Kampf gegen das Böse’, ‚Rettung des Helden’, ‚Erfüllung einer schwierigen Aufgabe’, sind ebenso austauschbar wie die so genannten Aktanten. Der Held, der Gegenspieler, das Opfer, der falsche Held, Helfer, der Aussender des Helden sind in den Märchen im gattungstypischen grammatischen Rahmen kombinierbar. Eine bestimmte Handlung kann verschiedene Funktionen annehmen, und verschiedene Handlungen können funktional identisch sein. Der funktionale Wert eines konkreten Handlungselements oder auch der eines Aktanten für den gesamten Handlungsablauf lässt sich demnach nicht an diesem selbst ablesen, sondern ergibt sich aus der Position, die dieses Element in der Struktur des ganzen Märchens durch die anderen Elemente zugewiesen bekommt. Der Held kann also ein Schloss bauen, um sich gegen einen Widersacher zu schützen; er kann aber ebenso den Widersacher direkt bekämpfen oder sich zum Schutz vor ihm mit einer Gegenmacht verbünden. Die wichtigsten, aus der Analyse der einzelnen Märchen gewonnenen 31 Funktionen lassen sich wie folgt zusammenfassen und gemäß der ‚Grammatik’ des Märchens auf eine Reihe bringen: Auslöser der Handlung ist eine Schädigung, eine Verbotsverletzung oder eine Mangelsituation. Der Held wird mit der Beseitigung des Übels beauftragt. Er verlässt das Haus. Er wird auf die Probe gestellt und gewinnt ein Zaubermittel oder einen übernatürlichen Helfer. Der Held gelangt zum Aufenthaltsort des gesuchten Gegenstandes. Der Held und sein Gegner treten in einen Zweikampf. Der Gegner wird besiegt. Die anfängliche Schädigung, Verbotsverletzung oder Mangelsituation wird behoben. Der Held reist zurück, wird dabei verfolgt und vor seinen Verfolgern gerettet. Der Held gelangt unerkannt nach Hause zurück. Ein falscher Held macht seine unrechtmäßigen Ansprüche geltend. Dem Helden wird eine schwere Aufgabe gestellt. Der Held löst die Aufgabe und wird erkannt. Der falsche Held wird entlarvt und bestraft. Der Held vermählt sich und besteigt den Thron. 41 In einem weiteren Abstraktionsschritt lassen sich diese Funktionen logisch zu bestimmten Wirkungskreisen zusammenfassen, die sich wiederum völlig mit den einzelnen Handlungsträgern decken 42, wobei als Ausgangspunkte der insgesamt sieben Handlungskreise neben dem Gegenspieler, dem Schenker, dem Helfer, der Zarentochter als der gesuchten Gestalt, dem Aussender, dem falschen Helden vor allem der Held von Interesse ist, weil seine Trajektorie, angefangen von der Funktion des Auszugs über die Komplikationen bei der Suche bis hin zum Ankommen ans Ziel der tragende Spannungsbogen der Erzählung ist und dem Zuhörer das plausiblelste Identifikationsangebot macht. Bildet eine Funktionskette eine Sequenz als Minimalform des Märchens, welches von der Schädigung über Zwischenfunktionen zur Hochzeit beziehungsweise anderen konfliktlösenden Funktionen führt, kann ein kompliziert gebautes Märchen mehrere Sequenzen aufweisen, so dass es bei der Analyse vor allem darauf ankommt, die Zahl der Sequenzen zu bestimmen, um dann gegebenenfalls zu sehen, wie diese miteinander verflochten sind, an welcher Stelle eine laufende Sequenz unterbrochen wird und wo eine neue eingebunden wird. 41 42 Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung, S. 139 Vladimir Propp, Morphologie, S. 79 17 Wie konsequent Vladimir Propp sein morphologisches Programm durchführt, um den Nachweis zu erbringen, dass sich literarische Texte in derselben Weise analysieren, klassifizieren, mathematisieren und bestimmen lassen wie Organismen, zeigt sich in der differenzierten Nomenklatur, mit der er die Strukturformeln der Märchen notiert. Er verwendet nicht weniger als 196 Symbole, mit denen er die Märchen gewissermaßen in Partituren verwandelt und die den Funktionsvergleich ermöglichen sollen. So kennt er zum Beispiel allein 25 Chiffren 43 (von A1 bis A19 über AVIII, AXVI, A*..) für die Funktion der Schädigung, 7 Chiffren (bestehend aus griechischen Buchstaben) für die Typisierung von Mangelsituationen und 12 verschiedene Zeichen für die Reaktion des Helden, so dass beispielsweise das Märchen mit der Nummer 114 44 sich wie folgt ‘liest’: < AXVI ↑ Sch1 H1 Z2 ↓ V R4 H* >, wobei unter H und seinen sechs Varianten die Handlungselemente Hochzeit und Thronbesteigung, Hochzeit, Thronbesteigung, Eheversprechen, erneuerte Ehe und geldliche Belohnung - statt Vermählung mit der Zarentochter und anderer Formen der Belohnung bei der Lösung des Konflikts - zusammengefasst sind. Ein anderes Märchen, es hat die Nr. 53, ist nach folgender Strukturformel gebaut: < b1 a1 A1 B4 C ↑ S4 L5 ↓ >. Es ist das Märchen vom Wolf und den Geißlein und seine Elemente sind: Verbot (b1), zeitweilige Entfernung älterer Personen (a1), Entführung einer Person (A1), Information über das Unglück in verschiedenen Formen (B4), einsetzende Gegenhandlung (C), Abreise (↑), Überlegenheit beim Gewichtsvergleich (S4), sofortige Behebung des Unglücks durch Anwendung eines Zaubermittels (L5) und Rückkehr (↓). Ohne weiteres lässt sich belegen - das jeweilige ‚happy end’ wird als bekannt vorausgesetzt -, dass auch Märchen außerhalb des von Propp untersuchten Corpus eine solche Funktionsanalyse bestätigen. In den von den Brüdern Grimm um die Mitte des 19. Jahrhunderts gesammelten Märchen lässt sich sowohl die Funktion A (Schädigung) als auch die Reihenfolge von A nach H (Reaktion des Helden) identifizieren. Unter der Voraussetzung, dass das glückliche Ende der Märchen mehr oder weniger bekannt ist, kann das Moment der Schädigung als invariable Funktion, welche das weitere Geschehen in Gang setzt, mit variablen Personen und Attributen an vier Beispielen aufgezeigt werden: Sneewitchen Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Edelholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee…45 Dornröschen Vor Zeiten waren ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag „ach, wenn wir doch nur ein Kind hätten!“ und kriegten immer keines. Da trug es sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach…46 43 Verzeichnis der Abkürzungen in: Vladimir Propp, Morphologie, S. 146 f. Vladimir Propp, Morphologie, S. 136 (mit weiteren Strukturformeln) 45 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen mit Federzeichnungen von Max Slevogt, Tübingen 1976, S. 104 46 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 88 44 18 Die sechs Schwäne Es jagte einmal ein König in einem großen Wald und jagte einem Wild so eifrig nach, dass ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend herankam, hielt es still und blickte sich um, da sah er, dass er sich verirrt hatte…47 Das Eselein Es lebten einmal ein König und eine Königin, die waren reich und hatten alles, was sie sich wünschten, nur keine Kinder. Darüber klagte sie Tag und Nacht und sprach: „Ich bin wie ein Acker, auf dem nichts wächst“. Endlich erfüllte Gott ihre Wünsche, als das Kind aber zur Welt kam, sah’ s nicht aus wie ein Menschenkind, sondern war ein junges Eselein…48 Für den Forschungsansatz von Vladimir Propp, der jedenfalls bezüglich des analytischen Aspekts seiner Literaturtheorie der in den 20er Jahren stark beachteten Schule des russischen Formalismus zugerechnet wird 49 - im evolutionären Teil seiner Theorie wird er sich dogmatisch an die marxistische Basis-Überbau-Lehrer halten -, ist es von großem Vorteil, dass das Märchen keinen identifizierbaren Autor besitzt, über dessen biographische Daten, psychische Verfassung oder gesellschaftliche Position, ethische oder ästhetische Grundüberzeugung sich in irgendeiner Weise in den handelnden Personen abbilden könnte. Für eine Literaturkritik, die das Werk primär als Ausdruck einer Dichterpersönlichkeit würdigt, ist das anonym überlieferte Märchen ebenso wenig ein adäquater Untersuchungsgegenstand wir für eine Literaturkritik, die in erster Linie an den gesellschaftlichen Problemen der eigenen Gegenwart interessiert ist. Unter Absehung des Autors beziehungsweise im Falle der Märchen einer wahren ‚Internationale’ von Autoren kann er die Gattung studieren. Da auch die Entstehungszeit und der Herkunftsort beziehungsweise die weltweit gestreuten Herkunftsorte der Märchen fast völlig im Dunkeln liegen – vorstaatliche, ja vorfeudale, schriftlose, primitive Gesellschaften werden als Herkunft angenommen -,50 scheiden auch die in der Erzählforschung gelegentlich bemühten soziologischen und historischen und raumbezogenen Erklärungsmodelle aus. Mit der Formulierung der Funktionen erklärt Vladimir Propp das Entstehen der literarischen Formen nicht durch eine künstlerische Gesetzmäßigkeit oder eine geniale Erfindung; für ihn sind es außerliterarische Motive, die sowohl ein Handlungsals auch ein Erzählschema bilden, wobei letzteres als Handlungskreis in 47 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S.79 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 223 49 Juri Striedter, “Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution“ in: Russischer Formalismus, Hg. Juri Striedter (1969), München 1971, S. XIV. : „Denn wie die Formalisten gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit mit Nachdruck und vollem Recht betont haben, ist nicht jede Beschäftigung mit Literatur, auch nicht jede wissenschaftliche, auch schon Literaturwissenschaft. Als Ausdruck der Individualität eines Verfassers, als gesellschaftliches Phänomen und als historisches Dokument können Werke der Literatur sehr wohl unter psychologischen, soziologischen, historischen und anderen Aspekten mit wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen analysiert werden. Nur handelt es sich dabei noch nicht um die Wissenschaft von der Literatur als solcher. Deren Gegenstand ist, nach Auffassung der Formalisten in Jakobsons viel zitierter Formulierung, nicht die Literatur in der Vielfalt ihrer Aspekte, sondern das Literarische an ihr, ihre ‚Literaturnost’ (Roman Jakobson, Novejša russkaja po÷zija, Praga 1921)“. 50 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 17: „Das richtige Zaubermärchen aber mit geflügelten Pferden, mit feurigen Drachen, phantastischen Zaren und Zarentöchtern usw. ist offensichtlich nicht durch den Kapitalismus bedingt, es ist älter als diese Ordnung. Ohne Umschweife wollen wir sagen, dass das Zaubermärchen auch älter ist als der Feudalismus“. 48 19 abschließender Reduktion auf einen zyklischen Verlauf hindeutet: Auszug aus dem Haus, Erfüllung einer Aufgabe in der Fremde, Rückkehr. Dieses allgemeine Schema der abenteuerlichen Suche (the quest, la quête) scheint das Erzählgut vieler Kulturen zu bestimmen und lässt Vladimir Propp auf Grund einer morphologischen Analyse…zu der These gelangen, dass das Zaubermärchen in seinen morphologischen Grundelementen einen Mythos darstellt, 51 und von archaischen Religionen her kommt. 52 Der Hinweis auf die Religion darf jedoch nicht als ein genetischer Zusammenhang verstanden werden. Dies wäre ein Widerspruch zu der auf die Funktionen gegründeten Morphologie, die bestimmte Handlungsmuster, die nicht wiederum religiös bedingt sein können, dem Erzählschema zugrunde legt. Allerdings vermutet Propp, dass diese Handlungsmuster auch von den Religionen rezipiert werden und von dort aus Eingang in das Erzählgut finden, so dass der Anschein der Abhängigkeit des Märchens von der Religion erweckt wird. Wie durchlässig die Grenzen zwischen Religion und Märchen sein können, ohne dass man von einem direkten Wirkungszusammenhang sprechen könnte, wird von Vladimir Propp am Beispiel der im 13. Jahrhundert durch Rom erfolgten Kanonisierung des Heiligen Georgs, des Drachentöters ausgeführt, der für seine wundersame Tat gefeiert wird, obwohl dieser Drachenkampf in vielen früheren, inzwischen ausgestorbenen Religionen nachgewiesen werden kann, von wo er als epische Volkstradition, also gewissermaßen konserviert durch die Märchenform, schließlich den Weg in das Archiv der christlichen Legenden gefunden hat. Die Drachenkampfgeschichte ist morphologisch betrachtet ein Märchen, das sich aus einer Schädigung (A) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit (H*) oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt. An dieser erfolgreichen ‚Karriere’ der Drachenkampferzählung lässt sich im Übrigen ablesen, dass gerade das Märchengenre, nicht zuletzt dank seiner mündlich-anonymen Überlieferung über klar ausgeschliffene, prägnant zur Geltung kommende Prinzipien des Stils und der Komposition verfügt und dass in ihm Geschehnisse und Figuren ganz den Bedürfnissen der linear geführten Handlung unterworfen werden, während auf psychologische Motivierung verzichtet wird. Obwohl Vladimir Propp sich mit seiner Entdeckung, dass bestimmte und exakt bestimmbare Funktionen der handelnden Personen die konstanten, sich wiederholenden Elemente der Märchen sind, sich nur auf diese Gattung bezieht, deutet er an, dass sich diese funktionalen Sequenzen auch jenseits der Gattungsgrenzen nachweisen lassen. In einer prophetischen Schlussbemerkung lässt er per Zitat 53 den St. Petersburger Literaturwissenschaftlers Aleksandr Nikolaevic Vesalovskij (1848 – 1918) zu Wort kommen, der 14 Jahre vor Propps Morphologie in seiner Poetik der Sujets 54 voraussagte, dass künftige Generationen, wenn sie dereinst zur heutigen (des Jahres 1913, d. Verf.) Erzähldichtung mit ihrer komplizierten Stoffstruktur und photographisch getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit die gleiche Distanz hätten, aus der man ‚heute’ die alte Dichtung überschaue, dann ebenso in der Lage wären, die Feinheit der Erscheinungen zu durchdringen und zu 51 Vladimir Propp, Morphologie S. 90 Vladimir Propp, Morphologie S. 161 53 zitiert nach Vladimir Propp, Morphologie, S.116 54 Aleksandr Nikolaevic Vesalovskij, „Poetik der Sujets“ in: Gesammelte Werke. Serie 1, Bd. 2, Sankt Petersburg 1913, S. 2 52 20 erkennen: das Phänomen der Formelhaftigkeit und der ständigen Wiederkehr wird sich überall zeigen. In seinem Nachwort zur Morphologie eröffnet auch der Herausgeber die Möglichkeit, die bei der Gattungsanalyse des Märchens gewonnenen Einsichten bezüglich eines festen Repertoires formalisierbarer invariabler Elemente als Analyseprinzip zu verallgemeinern, und er bescheinigt Vladimir Propp, er könne mit Recht für sich in Anspruch nehmen, eine Arbeit von literaturwissenschaftlich allgemeiner und in ihren Konsequenzen weitreichender Bedeutung vorgelegt zu haben. 55 In Vladimir Propps Morphologie, die erst 1958, also 30 Jahre nach ihrem Erscheinen im Westen bekannt und als Novum begrüßt wurde – sie diente als Vorbild von Strukturanalysen, vor allem als Vorbild für die Mythenanalyse von Claude LéviStrauss 56 - wird gelegentlich und am Rande der morphologischen Problematik und der Gattungsanalyse die Frage nach dem Ursprung des Märchens mitbedacht. Fast 20 Jahre nach seiner Morphologie legte er mit Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens (dt. 1987) ein weitere umfangreiche Studie vor, die die Funktionentheorie durch Motiv-Vergleiche aus einer gesteigerten Anzahl von Märchen illustriert und, was für die Annahme von extra-textuellen Programmen für das literarische Schaffen in höchstem Maße bedeutsam ist, die Frage nach der historischen Basis des Zaubermärchens beantwortet. Hatte er in der Morphologie die Formenanalyse der Märchen so weit vorangetrieben, dass er die Spielregeln der handelnden Personen herausarbeiten und die Märchenstruktur aufdecken konnte, zeigen Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, dass der morphologische Befund für Propp keinen Selbstzweck darstellt und dass es für ihn nicht darum geht, das poetische Verfahren an sich auf den Begriff zu bringen. Wie sich Goethe beim Studium der Morphologie der Pflanzen und anderer Lebewesen besonders für deren Metamorphosen interessiert, verfolgt Propps Märchenforschung das Ziel, die Ebene der künstlerischen Formen zu durchbrechen und durch die Analyse der GenreSpezifik des Zaubermärchens im Sinne einer literarischen Evolutionstheorie eine historische Erklärung für dessen strukturelle Einheit zu finden.57 Die Funktionen müssen also als etwas gedacht werden, das auf einem anderen Boden gewachsen ist als dem der Erzählungen, als etwas, das gewissermaßen als ‚ready-made’ vorgefunden und sich im Lauf eines historischen Prozesses zu einem narrativen Element entwickelt. Die Funktionen sind also keine dichterischen Schöpfungen. Das Poetische am Zustandekommen des Märchens besteht in der Integration und der durch eine spezifische Grammatik geregelten Kombination der bereits fertigen Funktionen. Da nach der marxistischen Geschichts- und Kulturtheorie die Materie das Bewusstsein bestimmt, muss es für alle gesellschaftlichen Erscheinungen, also für Philosophie, Religion, Literatur und Kunst eine reale Basis geben.58 Auf der Suche nach der Produktionsweise, die das Märchen ins Leben ruft, gelangt Vladimir Propp in einen weiten Raum, dessen chronologische und geographische Definition nur annähernd geleistet werden kann. Obwohl dies, wie bereits in der Morphologie 55 “Nachwort des Herausgebers“ (Karl Eimermacher) in: Vladimir Propp, Morphologie, S. 216 Eleasar Meletinskij, „Strukturno-tipologičeskoe izučenie skaski“, dt. „Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens“ in: Vladimir Propp, Morphologie, S.186 f. 57 Eleasar Meletinskij, Volksmärchen, S. 181 58 „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.“ Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: MEW Bd. 13 Berlin 1969, S. 7 56 21 vermutet, der Raum der Riten als religiöser Erscheinungsform und der Mythen als besonderer tradierter Erzählungen ist, besteht Propp darauf, dass dieser Raum von historischer Realität ist. Konstitutiv für diesen Raum, von dem man nur sicher angeben kann, dass man es in ihm sowohl mit primitiven Völkern im Vorklassenzustand…als auch aus den Kulturstaaten des Altertums 59 zu tun hat, ist die soziale Institution der Initiation, der Komplex der Todesvorstellungen in Verbindung mit dem Ahnenkult und die mythische Erzählung. Will man einen Datierungsrahmen bilden und herausfinden, wie lange vor dem ‚Zeitalter des Märchens’ in der Menschheitsgeschichte das Kulturgut der Humangemeinschaften allein von Riten und Mythen bewahrt und weitergegeben wurde, ist die Annahme plausibel, dass dieser Zeitraum sich zwischen dem ersten Auftreten des Menschen und dem Beginn seiner Sesshaftigkeit im Rahmen der neolithischen Wende erstreckt. Verlängert man diesen Zeitraum noch bis zum Aufkommen der Schrift als dem neuen und revolutionären Speichermedium errechnet sich mit dem Altphilologen Walter Burkert 60 ein überragendes zeitliches und für die biologische Evolution des Menschen erdrückendes Übergewicht der rituellen gegenüber der textuellen 61 Überlieferung. Diesen Zeitraum – für Propp wie für Burkert ist es nach der vorherrschenden, jedoch nicht unumstrittenen Meinung die Jägerzeit – , welcher in seiner Tiefe mit den Methoden der Paläologie und Archäologie kaum zu erhellen ist, betrachtet Vladimir Propp dennoch und mit Recht als reale Vergangenheit. Und in dieser zwar nicht dokumentierbaren aber dennoch historischen Wirklichkeit verortet er die kompositionelle Einheit des Märchens. Auf dieser Zeitreise, auf der ihm die Versatzstücke der Märchen den Weg zu den Riten und Mythen weisen, zeigt sich ihm die erzählerische ‚Urpflanze’, 62 und er sieht, ihr Boden ist nicht irgendeine Besonderheit der menschlichen Psyche, keine anthropologische Gegebenheit, kein Hang zum künstlerischen Schaffen. Er ist überzeugt: Das, was jetzt erzählt wird, tat man einst und stellte es dar, und das, was man nicht tat, stellte man sich vor. 63 Prototypisch für das Märchen ist das, was im Ritus der Initiation dem Jüngling beim Übergang in den Erwachsenenstatus und der damit verbundenen Aufnahme in die Gemeinschaft ‚erzählt’, weisgemacht und in aller Verbindlichkeit offenbar gemacht wird. In der Initiations-Szene, die aus einem rituellen Geschehen besteht, aber auch die älteste Stufe des Erzählens 64 darstellt, wird für Vladimir Propp der genetische Zusammenhang von Kult und Erzählung sichtbar. Die Übereinstimmung von Mythen 59 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 30 Walter Burkert, Homo Necans, Interpretationen altgriechischer Opferrituale und Mythen (1971), 2., um ein Nachwort erweiterte Aufl. Berlin 1997, S. 25: „Die Jägerzeit, das Altpaläolithikum umfasst den größten Teil der Menschheitsgeschichte. Mögen die Schätzungen zwischen 95% und 99% schwanken, die biologische Evolution des Menschen hat sich jedenfalls in diesem Zeitraum vollzogen; die höchstens 10000 Jahre seit Erfindung des Ackerbaus fallen demgegenüber kaum ins Gewicht“. 61 Begriffsverwendung in Anlehnung an „rituelle und textuelle Kohärenz“ bei Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992 S. 87 62 Johann Wolfgang Goethe, Italiänische Reise, in: W. A., Bd. 31, S. 240: „Die Urpflanze wird das wunderreichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen“. Zitat bei Vladimir Propp, Morphologie, S. 91 63 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 453 64 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 455 60 22 und Märchen mit der Abfolge der Ereignisse, die bei der Initiation stattfanden, lässt vermuten, dass dasselbe erzählt wurde, was mit dem Jüngling geschah, aber man erzählte das nicht von ihm, sondern von einem Ahn, einem Gründer der Sippe und Stifter der Bräuche, welcher auf wunderbare Weise geboren, ins Reich der Bären und Wölfe u. a. kam und von dort das Feuer, magische Tänze (dieselben, die die Jünglinge lernen) usw. mitbrachte. Diese Ereignisse wurden anfangs nicht so sehr erzählt als vielmehr in stilisierter Form dramatisch aufgeführt. 65 In dieser Erzählsituation, in der der Jüngling in der vorgeschriebenen Abfolge der Handlungen nicht nur in die für ihn und die Gemeinschaft existenzielle Kulturtechnik, der des Jagens und Tötens eingeweiht wird, sondern auch Kontakt mit dem Jenseits aufnimmt, sieht Vladimir Propp die Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Märchens und zugleich, da für einen Beweis die Befunde fehlen oder die Rückschlüsse von den Märchen auf das tatsächliche Geschehen zu spekulativ sind, den Nachweis für die außerliterarische Quelle und Bauform der Erzählung. Durch den performativ-interaktiven Charakter, den Propp dieser Erzählsituation verleiht, gelingt es ihm, der Erzählung einen Ursprung zu verleihen, der wie auch seine Theorie von den funktionalen Sequenzen ohne evolutionäre Absicherung auskommt. Wir sehen jetzt die direkte Entsprechung zwischen Basis und Überbau 66 lautet das Fazit des Literaturwissenschaftlers. Am Anfang ist der Mythos, der neben den Tänzen, den Ornamenten, den rituellen Handlungen als Teil des Kultes dem Initianden erzählt wird. In ihm enthüllt sich der Sinn der Handlungen, die an ihm vollzogen werden. Der Initiand und alle Umstehenden wissen: Was erzählt wird, ist nicht erfundenes Geschehen; es ist die zyklische Aufbereitung einer wahren Überlieferung, die von andauernder sozialer Relevanz ist und geglaubt wird, wobei in einer Gemeinschaft, die erste Gliederungen aufweist, der Erzähler-Priester als Garant und Verwalter der Ursprungsgeschichte und der kollektiven Erinnerung 67 fungiert, ansonsten die Kultgemeinde im Sinn einer wohlverstandenen Zukunftssicherung darüber wacht, dass nichts am rituellen ‚Erzählgut’, den Tänzen, den Vorbereitungen, den Ornamenten und sonstigen Zeichenträgern verfälscht und vernachlässigt wird, die wie ein Speicher fungieren, wenn auch ohne neuronale Basis und ohne Schrift. Ist hiermit das Märchen genetisch als Relikt des Mythos gekennzeichnet, muss für seine historische Entwicklung vom Medium einer dramatischen und kultischen Interaktion hin zu einer als fiktional verstandenen Erzählung – in materialistischer Konsequenz – eine Veränderung der Produktionsweise und damit der Lebensweise in Anspruch genommen werden. Das Verschwinden des Ritus hängt mit dem Verschwinden der Jagd als einziger oder überwiegender Quelle der Existenz zusammen, 68 lautet die umstandslose Erklärung von Vladimir Propp. Da nun nach dem Übergang des nomadisierenden Jagens 69 zum ortsfesten Ackerbau kein Initiand mehr der Einweihung als Abrichtung zum Jagen und Töten bedarf, ist das Sujet und der Akt des Erzählens nicht mehr an ein Ritual gebunden, und mit dieser Loslösung vom Ritus wird aus dem Mythos, in dem 65 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 454 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 458 67 Vgl. Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950, dt. Stuttgart 1967 68 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 453 69 Die Frage der Dominanz der Jagd im Paläolithikum wird unterschiedlich beantwortet. Von ihrer Antwort kann die ‚Erfindung’ der Tötungsgewalt entweder als Jäger- oder als Opfergewalt abhängen. Dazu Georg Baudler, Erlösung vom Stiergott, München / Stuttgart 1989, S. 103: „Man nimmt auch allgemein an, dass der Nahrungsbedarf des Frühmenschen nur zu einem geringen Prozentsatz durch Großwildjagd abgedeckt wurde. Noch bei heutigen Jäger- und Sammlervölkern, wie etwa den Pygmäen, bildet das erjagte Großwild nur etwa 20% der notwendigen Nahrung. Für den Fleischbedarf hätten auch Aas und Kleintiere genügt“. 66 23 das Ritual fortexistiert, eine profane Erzählung ohne Überlebensfunktion, deren pädagogischer Duktus zwar noch von ferne an den mythologischen Auftrag erinnert, die aber sich mit Motiven aus außerkultischen Erfahrungen anreichert und für künstlerischen Gebrauch freigesetzt wird. Aus dem Mythos wird ein Märchen, weil die Ordnung, die den Mythos hervorbrachte und zu ihrer Aufrechterhaltung auch benötigte, verschwunden ist. Die Riten der ortsfesten Ackerbauergemeinschaften spiegeln eine andere Interessenlage; sie produzieren andere Erzählungen und weisen mit den Märchen, insbesondere dem Zaubermärchen und seiner Grundstruktur des Aufbruchs, der gefahrvollen Reise und der glücklichen Heimkehr nicht mehr diesen direkten genetischen Zusammenhang auf. Rückt mit dem Verschwinden der Jagd der Initiationskomplex als kompositionelle Voraussetzung für die Erzählung in den Hintergrund, bleibt der Komplex der Todesvorstellungen mit seinen Riten der Bestattung und anderen kultischen Handlungen eine Quelle von – heiligen – Erzählungen und hinterlässt Spuren in den Mythen und Märchen. Die Ahnen mit ihren Tugendlehren und Rezepten für das Jagdglück werden abgelöst und ersetzt durch die Autoritäten, die Fruchtbarkeit und Sicherheit gewährleisten und die man um Sonnenschein, Regen und Schutz vor benachbarten Stämmen bitten kann. Dazu werden Götter und Herrscher benötigt und zur Kontaktaufnahme mit ihnen Religion und politische Organisation. Der Verkehr mit diesen diesseitigen oder jenseitigen Autoritäten und Gewalten wird im Vergleich zur Initiation der Jäger umformatiert, das zur Jägerzeit in den Riten aufbewahrte Wissen wird uminterpretiert, und Die Tatsache der Uminterpretation beweist, dass im Leben eines Volkes gewisse Veränderungen vor sich gegangen sind, und diese Veränderungen ziehen auch eine Motivänderung nach sich.70 Was Ritus war, wird umgewertet, wird schriftförmig, in Büchern und Archiven gespeichert, von Exegese-Priestern gelesen und verkündet. In marxistischer Diktion ist also festzuhalten, dass das Märchen derjenigen Form der Produktion und Lebensweise, unter deren Herrschaft es weit verbreitet ist, nicht entspricht. Wenn man so will, ist das Märchen Ausdrucksform einer Gesellschaft, die nicht mehr existiert und nur noch hypothetisch rekonstruierbar ist. Gleichwohl tradieren nicht nur die Märchenmotive und ihre Sujets ein fernes reales Geschehen; das Märchen als Gattung, als dramatische Grammatik, ist zugleich das Regiebuch für die Synthese der frühmenschlichen Gemeinschaften. Und damit ein weiterer Beleg für die Annahme einer extratextuellen und autorunabhängigen Instanz des literarischen Schaffens. Dass mit der Jagd die Märchen nicht gleichzeitig verschwinden – und mit dem vorindustriellen Ackerbau nicht die Fruchtbarkeitsreligionen –, führt zu den von Karl Marx konstatierten Nichtensprechungen, zu den Übergangszonen, die für den Wissenschaftler so interessant sind, weil in ihnen die Spuren der jeweils vorausgegangenen Entwicklungsstufe noch gut lesbar sind. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. 71 Dies ist die Erklärung für die Phasenverschiebung zwischen der Veränderung der Produktionsverhältnisse und der herrschenden Ideologie. Die herrschende Ideologie ist – jedenfalls so lange, als der Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht endgültig überwunden ist – strategisch immer im Nachteil. Sie folgt dem Wandel der Ökonomie stets mit Verzögerung; das Märchen sagt ‘es war 70 71 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 22 Karl Marx, Polit. Ökonomie, S. 17 24 einmal’ und hat die Funktion des immer wieder von neuem zu beschwörenden Gründungsakts vergessen. Als Märchen ohne Autorenschaft, welches einst ein Mythos war, ist es noch lange nach ‚seiner’ Zeit erbaulich, unterhaltsam und belehrend. In den rituellen Kontext zurückversetzt, was trotz der Nichtentsprechung möglich ist und von Vladimir Propp konsequent durchgeführt wird, wird es zum Schlüssel für das Verständnis des Überbaus seiner Zeit, in dessen Dienst es steht und den es zu perpetuieren hat. Es ist ein Erzähltext, dessen strukturelle Entscheidungen der Erzähler nicht selber trifft, die er vielmehr ausführt, wie auch die Riten befolgt und ausgeführt werden, die den Bestand der Gemeinschaft sichern und Geltung beanspruchen, und dies aus der Sicht der Betroffenen seit Anbeginn der Zeit und für alle Zeiten. Wenn Vladimir Propp feststellt, dass ich Riten, Mythen, Formen primitiven Denkens und gewisse gesellschaftliche Institutionen als Gebilde betrachte, die dem Märchen vorausgehen, und es für möglich halte, das Märchen durch sie zu erklären, 72 besteht für ihn kein Zweifel: Ritus und Mythos sind Erscheinungsformen der Religion, der Mythos ist eine mögliche Quelle der Märchen, und die Erzählung hat in zweifacher Hinsicht einen sakralen Charakter, es handelt sich um ein besonderes Erzählgut (recitatum), welches durch Tabus vor kultfreiem Gebrauch geschützt ist, und der Vorgang des Erzählens (recitatio) geschieht in der Dramatik eines religiösen Kults. Wenn man sich all das vorstellt, was mit dem Initianden geschieht, und es der Reihe nach erzählt, so gelangt man zu der Komposition, auf der das Zaubermärchen aufbaut. Wenn man all das der Reihe nach erzählt, was, wie man glaubt, mit dem Verstorbenen geschieht, so erhält man wiederum denselben Kern [...] Diese beiden Zyklen ergeben schon fast alle wesentlichen Konstruktionselemente des Märchens. 73 Diese drei Sätze können als die Synthese der Proppschen Morphologie mit seinem Begriff der literarischen Evolution gelten: Es gibt sowohl fertige Bauteile für die Märchenkonstruktion als auch einen fertigen Bauplan, welcher die Montage, also Reihenfolge des Zusammenfügens bestimmt. Beides, die Bauteile wie auch die Montageanweisung entstammen der kultischen Sphäre, der Religion, welche die Identität und reale Selbsterhaltung der primitiven vorstaatlichen Gesellschaft garantiert. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Märchen und Zaubermärchen, beide haben dieselbe immunisierende und Kohärenz stiftende Funktion für die Erzähl- und zugleich Kultgemeinschaft. Hinzugefügt werden kann, dass durch Uminterpretationen und Umwertung, die durch Veränderungen ‚im Leben der Völker’ fällig werden, auf der gegebenen Kompositionsgrundlage undenkbar viele Variationen denkbar sind, ja dass auch die dem Märchen genetisch und historisch nachfolgenden Formen von diesem Konstruktionsprinzip bestimmt sind. Bisher herrschte die Meinung, das Märchen habe gewisse Elemente des primitiven gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in sich aufgenommen. Wir werden sehen, dass es aus ihnen besteht.74 Ließe sich diese kühne Formulierung verschärfen, würde sie lauten: Das Märchen bildet nicht eine bestehende Ordnung ab, es ist diese Ordnung. 72 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 35 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 452 74 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 35 73 25 Propp schließt auch nicht aus, dass die von ihm entdeckte erzählerische Ur-Form über die Märchengattung hinaus in anderen Gattungen nachgewiesen werden kann: Doch die Folklore erschöpft sich nicht im Märchen. Es gibt auch noch das in Sujets und Motiven mit ihm verwandte Heldenepos, es gibt den weiteren Bereich von Sagen und Legenden aller Art usw. Es gibt das Mahabharata, die Ilias und die Odyssee, die Edda, die Bylinen, das Nibelungenlied usw. Alle diese Gebilde bleiben hier in der Regel unberücksichtigt. Sie lassen sich selbst durch das Märchen erklären und gehen oft darauf zurück. 75 Vladimir Propps Morphologie (1928) entstand in einer revolutionären Epoche. In einer Zeit, in der Wissenschaftlichkeit weitgehend mit den Methoden der Natur- oder Erfahrungswissenschaft gleichgesetzt oder zumindest an ihnen gemessen wurde, konnte, ja musste als besonders unbefriedigend empfunden werden, dass im Bereich der Literaturgeschichte und Literaturkritik unkontrollierbare Spekulationen und Impressionen oder das bloße Sammeln literarisch wenig relevanter biographischer, historischer und soziologischer Fakten das Feld beherrschten. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Kunstgeschichte, insbesondere die Literaturgeschichte, keine Wissenschaft, sondern causerie. Sie folgte allen Gesetzen der causerie, 76 äußerte sich Roman Jakobson (1896 – 1982), der als Mitglied des russischen Formalismus den Prager Strukturalismus mitbegründet und nach seiner Auswanderung in die USA die moderne strukturale Linguistik angeregt hatte. So ist Vladimir Propp in diesem Kontext auch zu verstehen und zu würdigen als ein Wissenschaftler, der sowohl mit der Formelhaftigkeit seiner Morphologie als auch mit der Erforschung der Beziehung der poetischen Struktur zur außerliterarischen Realität der Riten den Anschluss der Literaturwissenschaft an herrschende Wissenschaftsparadigmen geschafft hat. 3. Walter Burkert: Das soziobiologische Programm Während Vladimir Propp als Folklorist neben den russischen und europäischen Märchen auch amerikanisches, ozeanisches, afrikanisches und asiatisches Material studiert und somit, wie er sagt, es mit direkten Quellen 77 zu tun hat, verfügt der klassische Philologe Walter Burkert (geb. 1931) insofern nur über indirekte Quellen, als die Mythen der griechisch-römischen Antike, Babylons, Ägyptens - wie zum Teil auch Indiens und Chinas - auf dem Umweg über literarische Überlieferung durch die homerischen Epen, durch Sophokles’ Tragödien, durch Vergil, Ovid und andere Autoren überliefert sind. Burkert selbst freilich sieht darin keinen Nachteil. Als Philologe, der von altgriechischen Texten aus biologisch-psychologischsoziologische Erklärungen religiöser Phänomene versucht, 78 wird der Mangel an menschheitsgeschichtlicher Ursprünglichkeit mehr als aufgewogen durch die Luzidität des Griechischen 79, das heißt seine Zugänglichkeit und Verständlichkeit, die es erlauben, wesentliche Stationen im Hauptstrom der menschlichen Entwicklung zu erhellen 80 und die anthropologischen, also zu allen Zeiten und überall gültigen Aspekte so zur Sprache zu bringen, dass die weit hinter uns liegenden 75 ebenda Roman Jakobson „Über den Realismus in der Kunst“ (1921) in: Juri Striedter, Formalismus, S. 374 77 Vladimir Propp, Wurzeln, S. 30 78 Walter Burkert, Homo Necans, S. 1 79 Walter Burkert, Homo Necans, S. 5 80 ebenda 76 26 Grundordnungen des Lebens in fast schon klassischer Deutlichkeit sichtbar werden. 81 In ähnlicher Weise wie bei Goethe und Propp folgt auch bei Burkert auf einen morphologisch-analytischen Durchgang ein zweiter Schritt mit einer metamorphosisch-genetischen Fragestellung, wobei die genetische Konklusion, also die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Erzählens sich bei der Darstellung der Riten und Mythen verschiedentlich andeutet, jedoch erst – auch dies eine Parallele zur Arbeit von Vladimir Propp - in der 27 Jahre später erschienenen Studie Kulte des Altertums 82 geleistet wird, welches ausdrücklich die Thesen des russischen Forschers aufgreift und weiterentwickelt. Da Walter Burkert im Zentrum der Riten und Mythen den Komplex des Jagd-OpferToten-Rituals sieht, liegt es nahe, unverzüglich seine Theorie von der Entstehung der Gewalt und der Kultur als Gegengewalt mit der Gewalt- und Kulturtheorie von René Girard zu vergleichen. Aus Gründen der typologischen Annäherung an die Romantheorie von René Girard scheint es jedoch angezeigt, den literaturtheoretischen Aspekt, der aus den Arbeiten von Walter Burkert gewonnen werden kann, so weit dies möglich ist, losgelöst von der Gewaltproblematik zu erläutern und zunächst seinen spezifischen Beitrag zu der Auffassung von extratextuellen und autorunabhängigen Regulierungsinstanzen des Erzählens darzustellen. Wenn in der Proppschen Erzählsituation, die den Charakter einer synästhetischen und dramatisch stilisierten Performance hat, der Mythos in einen direkten Bezug zum Märchen gesetzt wird, wird er indes begrifflich nicht präzise gefasst. Auch Walter Burkert, in dessen Forschungsbereich der Mythos eine zentrale Stellung einnimmt – mehr noch, als es bei Psychologen oder Soziologen, zum Beispiel bei Sigmund Freud und Emile Durkheim, vorauszusetzen ist -, verzichtet, da eine allgemeine Definition des Begriffs ‚Mythos’ fast ausgeschlossen ist auf eine Gattungsbestimmung und schlägt vor, den Mythos als Wissen in Geschichten oder angewandte Erzählung 83 zu behandeln. Wenn er erklärt: Die Erzählung ist eine Sinnstruktur, 84 verweist er auf mehrere Möglichkeiten, den Mythos zu verstehen: auf die strukturalistische Mythenanalyse, die zu einer Sinngebung führt aufgrund der in den Mythen enthaltenen Modelle der Realität und Verhaltensorientierung ebenso wie auf den kognitionspsychologischen Zugang, der eine Sinngebung konstruiert aufgrund der Affektstrukturen des Adressaten, die bei ihm die Verarbeitung des Erzählten steuern. Da es Walter Burkert also um die Erzählung schlechthin geht, muss auch das, was im Erzählen vergegenwärtigt wird, ein Geschehen sein, welches eine der Erzählstruktur entsprechende Handlungsstruktur aufweist. Und diese Entsprechung von Handlungs- und Erzählstruktur ergibt sich für ihn in der gemeinschaftlichen UrHandlung der Opfertötung zugunsten der olympischen Götter und ihrer Darstellung durch Homer und die antike Tragödie. War es bei Vladimir Propp das Drama des 81 ebenda Walter Burkert, Kulte des Altertums, Biologische Grundlagen der Religion, München 1998 Die amerikanische Ausgabe war 1996 erschienen unter dem Titel „Creation of the Sacred, Tracks of Biology in Earl Religions“, Cambrigde, Massachusetts 83 Walter Burkert, Kulte, S. 75 und Anmerkung Nr. 7, S. 230 84 Walter Burkert, Kulte, S. 76 82 27 Initiationsrituals, welches zugleich den Prototyp der ersten Gesellschaftsverabredung und folglich der im Märchen aufbewahrten Primärerzählung darstellte, postuliert Walter Burkert das Handlungsschema des religiösen Opfers als das Ereignis, in dem die der menschlichen Gemeinschaft innewohnende, sie bedrohende aber auch stabilisierende Gewalt institutionalisiert, geheiligt, domestiziert und gebändigt wird. Dieses Ereignis setzt er gleich mit dem Handeln schlechthin in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Tat 85 und parallelisiert die Struktur dieses ersten, prinzipiellen gemeinschaftlichen Handelns mit der Sinn-Struktur des Erzählens. Und wie Propp die in der Erzählstruktur des Märchens analysierte Spur eines realen Geschehens über die Mythen und Riten genetisch zurückverfolgt bis zur Letztbegründung durch die Initiationsriten der frühmenschlichen Jägerzeit, nimmt Burkert das Zeremoniell der Götteropfer in der bereits weit entwickelten und politisch verfassten griechischen Antike zum Ausgangspunkt für eine Spurenlese, die ihn vom Opferaltar aus zurückführt zu den ursprünglichen und urmenschlichen Jagdopfern und – darüber hinaus – zur biologischen Programmierung des ersten sozialen Handelns im interaktiven Verbund mit ‚seiner’ Erzählung. Dass die Verben ‚tun’ und ‚opfern’ 86 im Hebräischen und Hethitischen gleichgesetzt werden und dass sich das Wort ‚Opfer’ als Lehnwort vom lateinischen Verb ‚operari’ 87 ableitet und somit eine umweglose Verbindung zu dem Verb ‚handeln’ signalisiert, dient in Burkerts Argumentation als erhellender sprachgeschichtlicher Hinweis. Wie das in Geschichten eingelassene Wissen gehoben werden kann, das heißt wie aus einer anschaulichen Schilderung eines mit Hilfe von diversen Quellen rekonstruierten normalen griechischen Opfers 88 die strukturgebenden narrativen Einheiten abstrahiert werden können, wird von Burkert mehr suggeriert als ausgeführt. So lässt sich etwa die Reihenfolge der choreographischen Elemente als erzählerische Komposition vorstellen, in der eine im gemeinsamen Rhythmus verlaufende Prozession sich auf einem verwickelten Weg zum Opferstein als Ziel bewegt, wo die Versammelten einen Kreis markieren, in welchem der tödliche Schlag gegen das Opfertier erfolgt und wo nach dessen ritueller Schlachtung der engste Kreis der unmittelbar Beteiligten sich im gemeinsamen Genuss des Opfermahls zusammenschließt. Zerlegt man das Geschehen – in Anlehnung sowohl an die Funktionenanalyse von Vladimir Propp als auch an die aristotelische ‚Mythus’Anforderung von Anfang, Mitte und Ende – in Handlungssequenzen, lässt sich eine unumkehrbare Folge von drei Ritengruppen erkennen: Vorbereitungsriten, die eine labyrinthisch verzögerte Entfernung vom Alltäglichen einleiten und Abschlussriten, die zu einem befriedenden Abschluss führen, der den Schauder ins Behagen wandelt, umrahmen ein Zentrum, dessen emotionaler Höhepunkt das Erlebnis der Tötung durch menschliche Gewalt ist. Das Unumkehrbare des Geschehens bildet sich in der rituellen Notwendigkeit des Ablaufs ab, auch wenn zahlreiche Einzelbestimmungen wie Kleider, Baden, Schmuck, Bekränzung, sexuelle Abstinenz sowie Musik, Räuchergefäß, Gebetsruf, Opferschrei und der alltägliche Gebrauch 89 das Opferritual zu einer leeren Formalität zu machen scheinen. Doch gerade in den antiken Stadtkulturen, in der die jägerzeitliche Funktion des Tieropfers entbehrlich zu 85 Walter Burkert, Homo Necans, S. 9 „ Der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewusst als homo necans. Dies ist ja ‚Handeln’ schlechthin…“ 86 Walter Burkert, Homo Necans, S. 10, Anm. 4 87 Walter Burkert, Homo Necans, S. 9 - 10 88 Walter Burkert, Homo Necans, S. 10 - 14 89 Walter Burkert, Homo necans, S. 19, Anm. 46 „Eine Opferliste aus Uruk verzeichnet 50 Widder, 2 Stiere, 1 Ochsen, 8 Lämmer u. a. m. pro Tag als Opfer… Für ein Fest auf Delos wurden 154 Rinder gekauft…König Seleukos stiftete für ein Opfer in Didyma 1000 Schafe und 12 Rinder…“ 28 werden beginnt, gewinnt dieses im Ritus konservierte primäre ‚Handeln’ eher noch an Bedeutung und beweist seine politisch-religiöse Bindekraft. Nicht nur der religiöse Kult, sondern die Ordnung der Gesellschaft überhaupt gestaltet sich im Opfer 90, welches durch Ritualisierung sich aus dem Jägerverhalten der frühen Menschen herausbildete und, da es sich über alle Kulturstufen hin übertragen ließ, sich als besonders leistungsfähig erwies und wegen der von ihm ausgehenden Bindekraft unverzichtbar wurde. Am Anfang der Hominisation, wo Vladimir Propp, indem er die Märchenfunktionen bis zu ihren ‚Wurzeln’ zurückverfolgt, die frühe Kultgemeinschaft insbesondere aus Anlass der Initiation verortet, setzt Walter Burkert die nicht weniger hypothetische und aus den von ihm analysierten Riten und Mythen deduzierte Gemeinschaft von Männern, die sich zu dem vermeintlich überlebensnotwendigen Töten auf der Jagd zu einer Gesellschaft zusammenschließen und diese aggressive Kreisbildung und Solidarisierung in der Choreographie des Opferrituals perpetuieren und zur Grundlage einer unverbrüchlichen Ordnung machen. Da das gemeinschaftliche Töten nicht als angeborene Fähigkeit betrachtet werden kann und sich auch nicht durch die psychische Mechanik von Nachahmung oder durch Tradierung von Sitten und Bräuchen weitergeben oder erlernen lässt, muss dieses Kulturwissen als arterhaltende Leistung, da andere Speichermedien nicht zur Verfügung stehen, durch Ritualisierung verfestigt und gewissermaßen unter Auslesedruck durch ständige Wiederholung aktualisiert werden. In konsequent darwinistischer Sehweise verbindet Burkert die Durchsetzungs- und Überlebensfähigkeit der Gemeinschaften mit der Konservierung der Tötungsmacht durch das Ritual. Entscheidend für den Fortbestand einer Gruppe ist, wie auch die von Konrad Lorenz 91 inspirierte und popularisierte Verhaltensforschung gezeigt hat, das aus gemeinsamer Aggression entstehende soziale Band, obwohl auch andere Verhaltensweisen als die der aggressiven Bindung Gemeinschaft stiften können, jedoch ohne dass diese – bei historischer Betrachtung – ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen konnten. Burkert nimmt zwar Notiz von der sich auf Eibl-Eibesfeldt 92 berufenden Verhaltensforschung, welche etwa die arterhaltende Bedeutung der mütterlichen Zuwendung, der geöffneten Hand und des entwaffnenden Lächelns betont, in seinem Fazit ist er aber eindeutig: Gemeinschaft entsteht, wie die Verhaltensforschung gezeigt hat, aus gemeinsamer Aggression. Gewiss schafft auch ein Lächeln Kontakt, ein kindliches Weinen greift ans Herz; doch alle menschliche Gesellschaft hat es so eingerichtet, dass der Ernst höher steht als Freundlichkeit und Rührung. Im ‚heiligen Schauer’ der Begeisterung – dem Relikt aggressiven Haaresträubens – findet sich die verschworene Gemeinschaft zusammen, im Gefühl der Kraft und der Bereitschaft. In 90 Walter Burkert, Homo Necans, S. 98 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Zur Naturgeschichte der Aggression (1963) 7.-11. Aufl. Wien 1965, S. 194 „ …die aus neu- oder umorientierten Angriffsbewegungen entstandenen Befriedungsoder Begrüßungsriten…unterscheiden sich von allen bisher besprochenen Befriedungszeremonien dadurch, dass sie die Aggression nicht unter Hemmung setzen, sondern von bestimmten Artgenossen ableiten und in der Richtung auf andere kanalisieren. Ich habe schon gesagt, dass diese NeuOrientierung aggressiven Verhaltens eine der genialsten Erfindungen des Artenwandels ist – sie ist aber mehr als das.“ Sowie S. 114 „Traditionsmäßige Ritenbildung stand ganz sicher am ersten Anfang menschlicher Kultur, so wie auf einer sehr viel niedrigeren Ebene phylogenetische Ritenbildung am Urbeginn sozialen Zusammenlebens höherer Tiere gestanden hat.“ 92 Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München 1970 91 29 einer ‚Tat’ muss sich dies entladen: die Gelegenheit zum Töten und Blutvergießen weist das Opferritual. 93 Ohne sich in der Frage des Ursprungs des Mythos als einer sachhaltigen Erzählung festzulegen, die etwas Neues gegenüber den biologisch fassbaren Riten ist, datiert Burkert gleichwohl den Mythos entwicklungsgeschichtlich nach den Riten. Dass der Mythos in der Phantasie eines Dichters entstehe, wird von ihm ebenso abgelehnt wie die Annahme, er sei einfach der gesprochene Teil eines Ritus. Betont wird indes, dass der Mythos sich vor allem durch seine Eignung zum Erzählen und Weitererzählen charakterisiert. 94 Diese Erzählbarkeit des Mythos, der ja kein Erlebnisbericht oder Kommentar des Erzählers ist, wäre nicht gegeben, wenn sein ‚Text’ nicht auch leicht merkbar und wiederholbar und damit einleuchtend wäre. Da sein Inhalt auch nicht von den Hörern auf seine Richtigkeit hin überprüft werden kann, muss er ein hohes Maß an Plausibilität besitzen, was wiederum bedeutet, dass seine Themen und Motive rasch erkennbar sind und in vielen Geschichten häufig wiederkehren. Die Erklärung, dass die Wiedererkennbarkeit und Erzählbarkeit des Mythos auf angeborenen archetypischen Dispositionen beruhe, ist wenig befriedigend, weil sie keine Auskunft darüber gibt, wie – von einem konsequent evolutionistischen Standpunkt aus – aus den Lebensformen der paläolithischen Menschen derartige mythische ‚patterns’ entstanden sein könnten. Jenseits aller Spekulation lässt sich indes festhalten: Ritus und Mythos sind Formen kultureller Tradition, die sich gegenseitig erklären und festigen, die beide eine Lebensordnung vermitteln, indem sie diese durch dramatisierende Erzählung verdeutlichen und im Vorgang der dramatisierenden beziehungsweise erzählenden Mitteilung zu hoch wirksamen Formkräften der Gemeinschaft werden. In Riten und Mythen handelt es sich nicht um Einzelerfahrungen lebender Individuen, sondern um gemeinsamen Besitz einer Gruppe, eines Clans oder Stammes, deren Identität weitgehend auf ihnen beruht. In der Art der Gemeinschaftsbildung konkurrieren diese Formkräfte, ohne dass entschieden werden könnte, welche der beiden in Führung gegangen ist. An begrifflicher Klarheit und Reaktionsgeschwindigkeit ist die Wortsprache dem gleichsam in feste Formen gepresste Ritus weit überlegen. Mit einem Wort, einem Kommando wird mehr ausgerichtet als mit einem sorgfältig und aufwändig vorbereiteten und ausgeführten Jagd- oder Kriegstanz. Andererseits besteht in der Sprache das Risiko der Unverbindlichkeit, der Täuschung und der bewussten Verfälschung. Eine Gemeinschaft mit einer rein einkanaligen Verständigung, entweder der verbalen oder der non-verbalen und rituellen, ist nicht vorstellbar. Die Frage, warum Geschichten auch ohne Inanspruchnahme von Hilfstechniken wie Auswendiglernen oder Reimbildung viel leichter erzählt und im Gedächtnis behalten werden als beispielsweise sinnlose Zahlen- oder Silbenkombinationen, ist nach Burkert dadurch zu beantworten, dass es in den Geschichten nicht um einen fixen Text geht, sondern um die Abfolge von Ereignissen und Aktionen, die zusammen einen Sinn geben, 95 also um das Zusammenfügen von erzählerischen Elementen, die wie die Proppschen Funktionen keinen narrativen Eigenwert besitzen und nur durch ihren Beitrag zum Handlungsganzen zu legitimieren und verifizieren sind. Deutlicher als durch das aristotelische Gebot der Wahrscheinlichkeit werden Geschichten dadurch ‚merkwürdig’, ‚natürlich’ und ‚ergreifend’, dass sie bei aller Freiheit des Ausdrucks, der Variation, der Erweiterungen und Kürzungen von etwas 93 Walter Burkert, Homo Necans, S. 45 Walter Burkert, Homo Necans, S. 41 95 Walter Burkert, Kulte, S. 75 94 30 handeln, was dem Rezipienten vertraut ist, was ihren Wiedererkennungswert ausmacht und ihn mitreißt, kurz: dass sie eine universelle Sinnstruktur aufweisen, die den einzelnen Text formatiert und lesbar macht. Wie durch den Bezug auf tierische und menschliche Verhaltensforschung angedeutet, verfolgt Burkert das Ziel, nicht nur diese Sinnstruktur als eine biologisch gegebene zu markieren, sondern auch den evolutionären Übergang von der Biologie zur Sprachwelt nachvollziehbar zu machen. Dazu benötigt er zunächst die ProppSequenz, die er als besonders erfolgreichen und einflussreichen Ansatz 96 würdigt und der er bestätigt, dass sie sich in einem viel weiteren Umkreis von Mythen bewährt, an die weder Propp noch Afanasév (russischer Märchenforscher, d. Verf.), geschweige denn sein russischer Bauer (Märchenerzähler, d. Verf.) gedacht haben können. 97 Die von Propp gefundene Formel der abenteuerlichen Suche, in der Minimalform die Abfolge von ‚Auszug aus den Haus’ über ‚Erfüllung einer Aufgabe in der Fremde’ bis zu ‚Rückkehr’, wird von Burkert auf die Erzählungen der griechischen Mythologie angewandt, wo er zur eigenen Überraschung feststellt, dass nicht nur die großen Mythen wie die Perseus-Geschichte, die ‚Arbeiten des Herakles’, der Argonautenmythos und Teile aus den Erzählungen des Odysseus sich der Proppschen Struktur fügen, dass vielmehr die Funktionen von Vladimir Propp auch den Aufbau der sumerischen Erzählungen von Gilgamesh und Ishtars Höllenfahrt bestimmen. Diese erfolgreiche Erprobung der narrativen Grammatik 98 an den antiken Mythen ermutigt Burkert zu weitergehenden Deutungen. Die aristotelische ‚Seele’ aus dem Zitat Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos 99 wird etwas kühn uminterpretiert von einer Seele als gestaltendem Naturprinzip zu einem gestaltenden Prinzip seit den ältesten Erzählungen, die aufgezeichnet wurden, und weit über die klassische Mythologie hinweg bis in die Moderne hinein. 100 Damit ist für Burkert unstrittig: Es gibt ein allgemeines Programm, Erlebnisse zu organisieren; 101 was in allen Geschichten, in Romanen und Filmen, erzählt wird, lässt sich reduzieren auf das Abenteuer von Suchen und Finden, Verfolgung und Rettung, Verlust und Gewinn in schwankender Balance, wie es sich sukzessive und Schritt für Schritt entfaltet. 102 Ist somit die Entsprechung von Handlungsprogramm und Erzählstruktur benannt, bleibt noch die idealtypische Erzählsituation auszumachen, die Frage also, aus welchem Anlass, warum und wozu und unter welchen Umständen man sich vorstellen kann, dass aus einem Handeln ein Erzählen wird. Wie Vladimir Propp in der von den Märchen aus deduktiv rekonstruierten Initiationsszene die Nahtstelle von Ritus und Mythos, von Praxis und Erzählung sieht, entfaltet auch Walter Burkert seine ‚bio- mytho-poetische’ Theorie aus einer imaginierten und erzählten Ur-Szene, welche teils argumentierend, teils suggerierend versucht, die Verknüpfung von 96 Walter Burkert, Kulte, S. 76 Walter Burkert, Kulte, S. 77 98 Vgl. Algirdas Julien Greimas, « Eléments d´une grammaire narrative », in : Du Sens, Paris 1970, S. 157 – 183, wo das Funktionenschema von Propp als Modell für « le récit » verwendet wird, zitiert nach Walter Burkert, Kulte, S. 230 (Anm. 11) 99 Aristoteles, Poetik, S. 53 100 Walter Burkert Kulte, S. 81 101 ebenda 102 ebenda 97 31 Handlungsprogramm und Erzählstruktur 103, wie das entsprechende Kapitel lautet, zu untersuchen und zu begründen, eventuell auch die Mehrdeutigkeit der Kopula einzugrenzen. Sollte der Nachweis gelingen, dass die Erzählstruktur eine handlungsprogrammatische Grundlage hat, wäre erkennbar, dass beide Seiten einander in ‚Text’ und ‚Syntax’ entsprechen, dass sowohl die kulturelle Ur-Handlung des gemeinschaftlichen Tötens als auch die erste Erzählung nach dem gleichen deep play 104 ablaufen. Um zuvor die biologische Basis zu sichern, von der aus die Entsprechung von Handeln und Erzählen in den Blick genommen werden kann, erweitert Burkert den Bereich des humanen und kulturell ausgeformten operari um die an der primären Vitalfunktion festgemachten universellen Handlungsebene der Futtersuche, aus der eine elementare Sinnstruktur abgeleitet werden kann, und übersetzt die Proppschen Funktionen von Aufbruch, Abenteuer und Rückkehr in das Aktionsprogramm zur Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses. Jede Ratte durchläuft bei der Futtersuche immer wieder diese ‚Funktionen’, 105 lautet die biologistische Interpretation der Funktionentheorie und Burkert ist sich sicher: Praktisch die ganze Propp-Sequenz ist in dieser Abfolge praktisch-biologischer Notwendigkeiten der Nahrungssuche vorgezeichnet, 106 wo die unumkehrbare Abfolge der von Propp übernommenen einzelnen narrativen Module wie ‚Mangel beziehungsweise Schädigung’, ‚Aufbruch’, ‚Entdeckung des rechten Orts’, ‚Begegnung mit Konkurrenten’ und ‚Rückkehr’ ein Sinnganzes ergibt, welches vom Prinzip der Selbsterhaltung geprägt ist. Auch zur Sicherung der biologischen Basis der gerichteten Handlungsabfolge und der erzählerischen Entsprechung geht Burkert entwicklungsgeschichtlich weit hinter das frühmenschliche Opferritual zurück. Er referiert Untersuchungen an Schimpansen, denen die Taubstummensprache beigebracht wurde, mit deren Hilfe sie in der Lage waren, eine ‚sprachliche’ Sequenz zu formulieren, um zur erwünschten Nahrung zu gelangen.107 Auch berichtet er von einem geistig zurückgebliebenen Kind, das zwar keine normale Sprachkompetenz erwerben konnte, aber dennoch in einer Art Proto-Sprache nicht nur ein Bedürfnis ausdrücken, sondern das für die Bedürfnisbefriedigung erforderliche ‚savoir faire’ – mit einem Verbum als Imperativ – äußern konnte.108 Ergänzt wird diese Beobachtung durch einen sprachwissenschaftlichen Beleg für den Übergang vom Imperativ zur Erzählung in der indogermanischen ‚Ursprache’, wie sie vielleicht im 4. Jahrtausend lebendig war.109 Trotz ihrer großen Entfernung von den Anfängen menschlicher 103 Walter Burkert, Kulte, S. 74 – 101 Dazu z. B. Christian Bromberger, „Fußball als ‚deep play’“ in:. Andréa Belliger / David Krieger (Hg.), Ritualtheorien (1998), 2. Aufl. Wiesbaden 2003, S. 287 „Ein meta-sozialer Kommentar, als philosophisch-dramatische Erzählung…Er ist wie ein karikierendes Melodram, das die grundlegenden sozialen Achsen dieser Welt offen legt. Seine tiefe Struktur (die Gesetze des Genres eher als die Regeln des Spiels) stellt das ungewisse Schicksal des Menschen in der Welt von heute dar.“ Sowie S. 289 „…verkörpert eine Kultur des Prometheus-Erfolgs ebenso wie eine Sisyphos-Philosophie des Misserfolgs.“ 105 Walter Burkert, Kulte, S. 82 106 ebenda 107 Walter Burkert, Kulte, S. 83: „George (Verhaltensforscher, d. Verf.): Was willst du? Washoe (Schimpansin, d. Verf.): Orange, Orange, Orange. George: Keine Orangen mehr da. Washoe: Orange. George (ärgerlich werdend): Keine Orangen mehr da. Was willst du? Washoe: Du Auto gehen. Gib mir Orangen. Schnell.“ 108 Walter Burkert, Kulte, S. 84: „Die differenzierteste Äußerung, die dieses Kind zustande brachte, war ‚Apfelsaft – Kaufen – Laden.’“ 109 Walter Burkert, Kulte, S. 86 104 32 Sprache glaubt Burkert dort den Übergang vom Imperativ zur Erzählung nachweisen zu können, wo auf einer wenig differenzierten Stufe der Verbalkonjugation der so genannte Injunktiv beziehungsweise Primitiv eine Aktionsform darstellte, welche einerseits als Imperativ und andererseits als erwähnende Erzählung verwendet wurde. 110 Er weist ferner darauf hin, dass diese Verbalformen noch im indischen Veda – bis 1250 v. Chr. – anzutreffen sind und sich Restformen davon im Griechischen erhalten haben und die Funktion einer erwähnenden Beschreibung haben, in der im Grund Bekanntes zur Sprache kommt (und, d. Verf.) es nicht um neue Informationen geht. 111 In einer seine Beobachtungen und Hypothesen verknüpfenden Theorie von der ‚Geburt der Erzählung aus dem Geist der Nahrungssuche’ bekennt sich Walter Burkert nachdrücklich zu der von Vladimir Propp vorgezeichneten Auffassung, dass es anthropologische, soziobiologische und – in der Folge – ritualisierte Programme sind, welche beim Erzählen Regie führen. Und so wie Propp die Entstehung der Erzählung mit dem performativen Initiationsritual verbindet, inszeniert Burkert das auf die Jagd folgende Zusammensein der Jäger als den Ort, an dem die Dramatik der Handlung übergeht in das dramatische Memorieren und sich für eine entwicklungsgeschichtlich lange Zeit eine enge Wechselwirkung der beiden dramatischen Funktionen etabliert, eine Wechselwirkung, die wohl erst mit dem Aufkommen der Schrift als dem neuen Kommunikations- und Speichermedium ihren unmittelbaren Charakter einbüßt. Unter der anthropologischen Prämisse, dass Menschen nach der Definition des Aristoteles gemeinschaftlich lebende und sprechende Wesen sind, also nicht anders können, als innerhalb der Gruppe miteinander interaktiv zu sein und ins Gespräch zu kommen, ergibt sich auch ohne äußeren Anlass eine anschlussreiche Wechselwirkung von Mitteilungszwang und Mitteilunsdrang. Den Übergang von realitätsbezogenen Imperativen zur eigentlichen, von der Aktualität abgekoppelten Erzählung kann man sich unschwer vorstellen, auch wenn dies außerhalb des Bereichs des Bezeugten fällt. Offensichtlich gebrauchen Menschen ihre Sprache sehr gern auch ohne drängende Notwendigkeit direkter Information. Menschen sind gesprächig und empfinden es als nahezu unerträglich, schweigend zusammen zu sein. Wir vermögen uns vorzustellen, wie unsere fernen Ahnen abends am Feuer saßen, wie sie dabei die Serie von Imperativen, die bei den wichtigen Tätigkeiten des Tages aufgetreten waren, in der Erinnerung und wie im Traum wiederholten. Durch die Trennung vom aktuellen Geschehen änderten die Imperative ihre Funktion – und wurden zur Erzählung, die immer noch die ‚Funktionen’ in ihrer Reihenfolge bewahrt. So wird sie von allen verstanden, so ergibt sie Sinn. In der Evolution des Menschen war, Hunderttausende von Jahren lang, die Jagd wohl die bedeutendste, die abenteuerlichste ‚Suche’. Die ersten Erzählungen könnten Jagdgeschichten gewesen sein, im vorgegebenen Programm der Suche; Kampferzählungen werden ihnen gewiss bald den Rang abgelaufen haben. Indem Erzählungen traditionell wurden, ergaben sich neue, dauernde Leistungen des kulturellen Brauchs: Wenn man die Organisationen der geistigen Welt Schritt für Schritt, doch gleichsam im Leerlauf erproben kann, wird die sprachlich gestaltete geistige Welt einer Gemeinschaft aktualisiert, intensiviert und weitergegeben .112 110 ebenda ebenda 112 ebenda 111 33 Mit dem Verbum als Imperativ wird von Walter Burkert die Brücke geschlagen von der Seite der Sinnstruktur im Aktionsprogramm auf die Seite der Sinnstruktur in der Erzählung. Ausgehend von dem Befund, dass die Verbalwurzel, das heißt die Nullform der Erzählstruktur in vielen Sprachen, darunter im Englischen, Französischen, Lateinischen, Semitischen und Türkischen sowie im Deutschen als Imperativ auftritt, dass folglich die Kommunikation in der imperativischen Nullform des Verbums primitiver, grundlegender als die Kommunikation durch Feststellungen, durch Normalsätze 113 ist, stellt sich die tiefste Tiefenstruktur einer Erzählung 114 als eine eindeutige Sequenz von Imperativen dar, deren Handlungs- und Erzählschritte auf der Linie von ’Such’, das heißt: ‚Geh’, ‚sieh dich um’, ‚finde’, ‚kämpfe’, ‚pack’ s an’, und ‚lauf zurück’ 115 in unumkehrbarer Weise aufgereiht sind. Ist in der aus den Funktionen zusammengefügten Propp-Sequenz ein komplexes Ritual abgebildet, reduziert Burkert in einem weiter gehenden Abstraktionsschritt den Sinn des Abenteuers in letzter Instanz auf die vitale Notwendigkeit der Nahrungssuche. Das ‚aktuelle Geschehen’, das sich innerhalb der Gruppe in der idyllisch anmutenden Szene aus dem mittleren Paläolithikum,116 ‚abends am Feuer’ abspielt, stellt in seinem Kern die Tötung eines Tieres dar, wobei es sich ebenso um die Tötung bei einer Jagd wie um eine zeremonielle Tötung handeln kann, wobei letztere als rituelle Opferhandlung und als eine evolutionäre Folge der ersten betrachtet werden muss. Die beiden Fällen zugrunde liegende ‚Morphologie’ ist die Nahrungssuche, die imperativisch-erzählerisch durchgespielt und in der Folge rituell-sozial verinnerlicht, gespeichert, gelernt und weitergegeben wird einschließlich der Rückkoppelungseffekte, die unweigerlich auftreten und den Her- und Fortgang absichern. Ist die Freiheit des Fabulierens in der aristotelischen Poetik eingeschränkt durch das von Platon übernommene Gebot der darstellerischen Nachahmung und den zu beachtenden Wirklichkeitsbezug der Wahrscheinlichkeit, und ist diese Einschränkung auch insofern plausibel, als die gelungene Dichtung sich daran messen lassen muss, dass sie immer wieder den Spannungsbogen von Jammer, Schaudern und Reinigung erzeugt und die Anwesenden – unter Verzicht auf ästhetische Distanz - in die Gemeinschaft einbindet und dadurch diese Gemeinschaft stabilisiert, ist auf den ersten Blick einleuchtend, dass das injunktive Erzählen in dem von Burkert ausgemalten Gestus des kollektiven Nachbetens / Vorausträumens im Kreis der Jäger und der Umstehenden keine Abweichung vom Handlungsablauf des Ernstfalls dulden kann. Das erzählende Vergegenwärtigen der Befehlskette, welches zugleich den Einzug der Zeitdimension in die Hominidengruppe bedeutet, ist eine Frage des Überlebens der Gruppe. Treffliches Erzählen in treffenden Zeichen ist in Beziehung zu setzen mit der Treffsicherheit der Jäger beziehungweise der Opferer; hier wird demonstriert, was frappierend, schlagend, schneidend, überwältigend – in Wort und Tat - ist. Erzählen unter den von Burkert angenommenen Bedingungen wird zur Überlebenstechnik, beschworen wird nicht nur das gekonnte Miteinander während der gefahrvollen Jagd, die ja unter Einsatz des Körpers und ohne weit reichende Waffen geführt wird, auch das kollektive Gedächtnis wird bei jeder Erzählrunde von 113 Walter Burkert, Kulte, S. 83 ebenda 115 ebenda 116 Die Erdzeit zwischen dem Ende des Altpaläolithikums 100000 v. u. Z. und dem Neolithikum 10 000 v. u. Z. 114 34 neuem ‚hochgefahren’ und als Speichermedium konstituiert. Aus einer Befehlskette, bestehend aus Anleitungen zu folgerichtigem Handeln, wird eine Erzählkette, deren Glieder zu einem stimmigen Sinnzusammenhang verknüpft werden, wobei auf der Seite der Handlung auch situativ bedingte Variable denkbar sind, die, wenn sie sich als zielführend erwiesen haben, gleichsam valorisiert und in den Erzähltext übernommen werden können. Auf die Akteure übertragen hieße dies, dass aus einem funktionierenden, kohärenten und erfolgreichen Täterkollektiv von Geschehensteilnehmern eine aufmerksam und wissentlich folgende, zustimmende und gehorsame Erzähl- und Hörgemeinschaft von Geschehensvermittlern wird, welche das Erzählgut, indem sie es rezipiert, notiert und tradiert, gewissermaßen als erinnertes Handlungswissen konserviert und in der Form eines feedback einer zukünftigen Sucher- und Tätergruppe zur Verfügung stellt. Das in der Praxis bewährte und im Erzählen memorierte Handlungswissen, welches als ein evolutionärer Faktor ersten Ranges dem Fortbestand der Gruppe dient, droht im Wechsel der Generationen, der Standorte und gegebenenfalls der klimatischen oder sonstigen natürlichen Bedingungen vergessen zu werden. Deshalb hängt die Existenz der Menschengruppe auch davon ab, dass dieses Handlungswissen über die gegebene Situation der am ‚abendlichen Feuer’ Versammelten hinaus erhalten wird, auch davon, dass es nicht nur im unsicheren Hörensagen konserviert wird. Schließlich dauert es lange - nach Burkerts Zeitrechnung können es bei ungünstigsten Annahmen 40000 Jahre sein -, bis die Schrift dafür zur Verfügung steht. Wenn sich auch nicht rekonstruieren lässt, wie vom injunktiven Erzählen aus die Riten entstanden sind – auch die umgekehrte Folge ist vorstellbar – und wie es von da aus zur Bildung der Mythen kam, ist festzuhalten, dass auch für Burkert die Erzählstruktur eine extratextuelle Herkunft hat, dass sie einem Handlungsprogramm entspricht, welches biologisch begründet ist. In der zunächst medientheoretischen Frage nach den Formen des Bewahrens und Fixierens trifft er mit der Figur des Schamanen eine für die Herausbildung einer gesellschaftlichen Hierarchie, die schließlich zu einer transzendenten Divination führt, folgenreiche Entscheidung. In der Figur des Schamanen – die klassischen Berichte über Schamanen stammen aus Sibirien und von den Eskimos – tritt aus der Versammlung ‚am abendlichen Feuer’ ein Sprecher 117 hervor, der eine herausgehobene Position einnimmt, vergleichbar mit jener des einen Jägers, welcher im Ernstfall die Befehlskette in Gang setzt und Gehorsam beansprucht. Für die transsituative Speicherung des Handlungswissens ist es jedenfalls von Bedeutung, dass die Überlieferungsleistung zugleich ritualisiert und personalisiert wird, dass es Schamanen, Priester, Richter, Barden, Griots, Druiden gibt, die als Experten den Ritualen als Sprechhandlungen vorstehen. Dank dieser ‚Fixierungstechniken’ wird es möglich, die Bindung des sprachlichen Handelns an die unmittelbare Sprechsituation zu lockern, die Identität von Bedeutungs- und Gestalteinheit aufzubrechen und in diachronischer wie diatopischer Perspektive die ästhetische Autonomie der nunmehr mit größerem Recht als ‚Text’ bezeichneten Erzählung zu steigern. Walter Burkert, der – in Weiterentwicklung der Morphologie von Vladimir Propp seine Entdeckung des biologischen Fundaments der Erzählung an Erzählformen 117 Dietrich Weber, Erzählliteratur, Göttingen 1988, S. 39: „Dabei haben die Sprecher (in der erzählenden Rede, d. Verf.) noch miteinander gemeinsam, dass sie betrachtende Geschehensvermittler sind, nicht tathandelnde Geschehensteilnehmer. Sie stehen außerhalb des (nichtaktuellen oder aktuellen) Geschehens, das sie vermitteln; sie vollziehen es in ihrer Rede nur nach oder mit, sie vollziehen es nicht selbst“. 35 jenseits der diversen Mythen und Märchen aus verschiedenen Kulturen nicht erprobt und nur andeutet, dass diese Formen in der Struktur von Comics und Abenteuerfilmen wieder zu erkennen sind, stellt resignierend fest: Seit Jahrzehnten zeigt sich die maßgebende Literatur von der Tendenz beherrscht, von der Erzählung loszukommen; auch die raffiniertere Art des Filmemachens hat sich dem angeschlossen…’Stop making sense’ ist bereits zum Schlagwort geworden – dies wäre dann wohl ein passender Nachruf auf das Ende der Erzählung. 118 Sollte der von Burkert zum ‚gestaltenden Prinzip’ der Erzählung promovierte aristotelische Mythus mit dem Auseinandertreten von Handlung und Erzählung abhanden gekommen sein? Sollte er die Phase der unmittelbaren Aktualisierung sowohl auf der elementaren Sinnebene des alltäglichen Handelns als auch auf der anderen Ebene festlich herausgehobener Kommunikation nicht überleben? Sollte Sinn nur dort entstehen, wo es in einem gleichsam homöostatischen Prozess zu einer Verschränkung oder Harmonisierung von Handeln und Erzählen kommt, wo also nur aktualisiert und tradiert wird, was von der Gemeinschaft approbiert wird, wo die Überlieferung den jeweiligen Erfordernissen anzupassen ist und Diskrepanzen und Inkonsistenzen in ständiger Neuformulierung durch eine kollektiv gelenkte Präventiv-Zensur zu neutralisieren sind? 4. Claude Lévi-Strauss : Die mythische Sinnarchitektur Während Walter Burkert, obwohl er konsequent darwinistisch denkt,119 die diachronische Spur des Sinns im Erzähltext nicht weiter verfolgt - was auch nicht das Ziel seiner Untersuchung ist, die dem Aufdecken der ‚biologischen Grundlagen der Religion’ gewidmet ist -, findet sich bei Claude Lévi-Strauss (geb. 1908), dessen Forschungsarbeit hauptsächlich der strukturellen Aspekte der Mythen – nicht der aristotelischen Mythus-Struktur - gilt, eine auf einfühlsame Beobachtungen gestützte und von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert reichende Historie der mythischen Sinn-Architektur.120 Folgt man diesem kurzen historischen Aufriss, verlässt im europäischen Kulturkreis das mythische Denken in der Renaissance und im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Erzählungen, deren Aufbau bis dahin noch immer dem Modell der Mythologie gefolgt war. Dieser Auszug der Mythologie aus den Erzählungen fällt zeitlich zusammen mit dem Erscheinen der ersten Romane, zum Beispiel des Don Quixote von Cervantes, der zwischen 1605 und 1615 erschien, und dem Aufstieg der großen musikalischen Stile, die das 17., besonders aber das 18. und 19. Jahrhundert beherrschen. Es scheint, als hätte die Musik ihre traditionelle Gestalt vollkommen verändert, um die intellektuelle wie auch gefühlsmäßige Rolle zu übernehmen, die das mythische Denken ungefähr im gleichen Zeitraum aufgab,121 lautet die literarhistorische Verlustmeldung. Zur näheren Bestimmung des Musikstils der westlichen Zivilisation, 118 Walter Burkert, Kulte, S. 100 - 101 Walter Burkert, Homo Necans, S. 1 : „…und wie die Biologie mit dem Evolutionsgedanken sich eine historische Dimension zugeignet hat, sollte nach der Psychologie auch die Soziologie dem Gedanken zugänglich gemacht werden, dass die menschliche Gesellschaft von der Vergangenheit geprägt ist und nur im Blick auf ihre Entwicklung in langen Zeiträumen verständlich wird“. 120 Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Vorträge (Übers.), Frankfurt/M 1980 121 Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 59 119 36 der die traditionelle Funktion der Mythologie übernimmt, erwähnt Claude Lévi-Strauss für das frühe 17. Jahrhundert Frescobaldi, für das frühe 18. Jahrhundert Bach sowie Mozart, Beethoven und Wagner als weitere glanzvolle Vertreter einer musikalischen Form, die im 18. und 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Beim intensiven und kreativen Lesen 122 der Mythen sowie dem wachen und empathischen Musikhören werden für Lévi-Strauss die Grenzen der künstlerischen Gattungen durchlässig, und er findet in der Musik gleichsam das Echo auf jenen soziodramatischen Konflikt und dessen Ritualform, wie er in den dargestellten ‚erzählerischen Dreischritten’ zum Ausdruck gekommen war. Es ist zum Beispiel auffallend, dass die Fuge, die zu Bachs Zeiten ihre feste Form erhielt, den Verlauf bestimmter Mythen getreu wiederholt, in denen zwei Personen oder zwei Personengruppen vorkommen. Wir wollen einmal vereinfachend annehmen, dass die eine gut, die andere böse sei. Die Erzählung, wie sie der Mythos darstellt, ist die der einen Gruppe, die vor der anderen Gruppe zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen sucht; eine Gruppe wird also von einer anderen Gruppe gejagt, wobei einmal die Gruppe A die Gruppe B einholen, ein anderes Mal die Gruppe B entfliehen kann – ganz wie in der Fuge. Wir nennen das auf französisch ‘le sujet et la réponse’. Die Antithese oder Antiphone zieht sich durch die ganze Erzählung hindurch, bis beide Gruppen vollständig vermischt und durcheinander gebracht sind – das entspricht der Stretta in der Fuge. Dann erfolgt eine abschließende Lösung oder ein abschließender Höhepunkt dieses Konflikts durch die Vereinigung jener beiden Prinzipien, die den ganzen Mythos hindurch einander gegenüber standen. Es konnte sich dabei um einen Konflikt zwischen den oberen und den unteres Mächten, zwischen Himmel und Erde, zwischen der Sonne und den unterirdischen Mächten oder ähnliches mehr gehandelt haben. Die mythische Lösung der Vereinigung ist struktural den Akkorden sehr ähnlich, die ein Musikstück abschließen und beenden, denn auch sie stellen eine Vereinigung von Extremen dar, die diesmal zusammengeführt werden. Es lässt sich überdies aufzeigen, dass es Mythen oder Gruppen von Mythen gibt, deren Aufbau dem einer Sonate oder einer Symphonie, einer Tokkata oder einer anderen jener vielen Satzformen gleicht, die von der Musik nicht eigentlich entdeckt wurden, sondern die die Musik unbewusst der Struktur des Mythos entlehnt hat.123 Nachdem die große musikalische Form, die um 1600 entsteht und im 19. Jahrhundert ausklingt, die mythische Funktion auf den Roman überträgt, konstatiert Lévi-Strauss, dass dieser im 20. Jahrhundert diese Funktion in der westlichen Welt tendenziell verliert. Skeptisch beurteilt Lévi-Strauss indes die Aussichten, dass der Mythos, vom Roman abgestoßen, wieder zur Musik zurückkehren könnte. Nach seiner Diagnose verhält sich die moderne serielle Musik so, als ob die Musik die mythischen Funktionen, die der Roman allmählich verliert, nicht mehr übernehmen wollte oder könnte.124 Da jedoch mit dem vermeintlichen Unsichtbarwerden des Mythos die Konflikte nicht gelöst sind, von denen er kündet, darf angenommen werden, dass er sich neuen Trägern zuwendet und sich in neuen Medien und ‚Sendeformaten’ verkörpern. Betrachtet man allerdings die ungebrochene Beliebtheit 122 Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 170: „Vor allem erfordert die eigentliche Analyse des Mythos Lesen, Wiederlesen, Nachdenken, bis nach und nach die wesentlichen Konturen hervortreten, die einen Leitfaden liefern. Es handelt sich nicht um ein Resümee, sondern um die Aufdeckung einer verborgenen Architektur“. 123 Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 62 - 63 124 Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 269 37 der großen Musikformen und die sich über die Generationen hinweg erneuernde Anhängerschaft eines Johann Sebastian Bach, drängt sich der Schluss auf, dass der Mythos einen gesicherten Ort in der zeitgenössischen Kultur hat und nichts weniger als ein Nischendasein führt. Sollte gleichwohl Lévi-Strauss mit seiner Vermutung recht behalten, dass sowohl die serielle Komposition als auch die den klassischen Roman ablösenden Erzählformen ihre Funktion als Vektoren des Mythos nicht mehr erfüllen, und würde man sich fragen, welche alternativen Verbindungen der Mythos eingehen könnte, stößt man auf eine von zahlreichen Neuerungen des Zeitalters – Massendemokratie, elektronische Medien, Globalisierung - getragene Bewegung, die unter der etwas überangestrengten Parole der Rückkehr des Religiösen den Mythos als Realitätsmodell, Orientierungsmarke und Komplexitätsreduktion reaktualisiert. Ohne kulturpessimistischen Unterton kann diese Bewegung beschrieben werden als Balance-Verschiebung von der textuellen zur rituellen Kohäsion, in der das Wort und die mit ihm verknüpfte hierarchische Logik, die im syntaktischen Bereich die Rede und im sozialen Bereich den Staat organisiert, im Begriff ist, seinen zweieinhalb Jahrtausende alten Stammplatz im Zentrum der westlichen Kultur zu verlieren. An die Stelle von Buchstaben und Büchern als Verkörperung von Linearität und Kausalität treten als universellere Codes Bild und Ton. Die durch Schreiben und Lesen dem Individuum eingeräumte Zone, die geschützte Hülle seiner Privatsphäre als Leser oder Schreiber, bricht auf und wird durch die elektronischen Medien zum Schau- und Hörplatz kollektiver Erlebnisformen, die – im Unterschied zu den rituell auf Ruf- und Sichtweite gerundeten Räumen, wie sie Propp und Burkert beschrieben – grenzenlos sind. Der akustische Raum, ursprünglich der des oralen Menschen vor der Erfindung der Schrift, ist ein Raum ohne feste Orientierungspunkte, der erst durch die Visualisierung in Form der Ordnungsprinzipien der alphanumerischen Codierung, durch die Abstraktionsleistung des Auges den Abstand zwischen Mensch und Welt vergrößert. Die durch die medialen Apparate erweiterte Abstraktion führt dazu, dass sich Körperfunktionen in den Apparaten verselbständigen, was sowohl die philosophisch reflektierte Angst erzeugt, diese Apparate – Heidegger nennt sie Gestelle – würden dem Menschen die Welt vollends verstellen, als auch zu der ebenso begründbaren Annahme führt, diese prothetischen Apparate könnten das Mängelwesen Mensch – wie es Arnold Gehlen diagnostiziert - entlasten. Wie immer man das Verblassen der McLuhanschen Gutenberg Galaxie und der typographischen Methode im weitesten Sinn bewertet, die mediengestützte mehrkanalige Kommunikation erzeugt eine über die Möglichkeiten der Schrift weit hinausgehende Identifikation und erreicht nahezu die Intensität oraler, ritueller, ja aurealer Partizipation. Sollte sich also für Claude Lévi-Strauss die Spur des Mythos in den niedergeschriebenen Erzählungen verlieren, wäre noch lange nicht dessen Verlust zu beklagen. Vieles und nicht zuletzt seine Entstehung spricht dafür, dass der Mythos außerhalb der durch Typographen, Zeilen und Seitenzahlen verfassten Ordnung bessere Aufnahmebedingungen und günstigere Entfaltungschancen vorfindet. Unter der Voraussetzung, dass soziale Konflikte in Form von Not, Schädigung, Aggression, Gesetzesübertretung sowie von Intervention höherer Gewalt unabhängig von einer gegebenen oder – wie bei Propp oder Burkert – rekonstruierten historischen Epoche immer entstehen und dass diese Konflikte im Sinn der Selbsterhaltung und Verständigung der Gruppe einer kurativen oder präventiven Bewältigung bedürfen, wobei der von Burkert wiederholt nahe gelegte darwinistische Umkehrschluss mitbedacht werden muss, dass nur solche Gruppen durch- und 38 davonkommen, deren Riten und Mythen sich als leistungsfähig das heißt auch erzählbar erweisen, unter der Voraussetzung also, dass humane Gemeinschaften wesentlich fragile und prekäre Gebilde sind, drängt sich die Frage auf, ob nicht auch eine soziologische oder ethnologische Betrachtung zu einer Bestimmung der Erzählung führen kann. Diese Betrachtung hätte, anstatt die Wechselbeziehung einer definierten Kulturstufe zur entsprechenden Ritualisierung beziehungsweise. Erzählung zu formulieren, den Nachweis zu führen, dass und wie der soziale Prozess sich in kulturellen Darstellungen spiegelt und gegebenenfalls die narrative Technik steuert. 5. Victor Turner : Das soziale Drama Wie Claude Lévi-Strauss geht Victor Turner (1920 – 1983) als Ethnologe und Vertreter der symbolischen Anthropologie auch bei seinen Feldforschungen in primitiven Kulturen konsequent ahistorisch vor und beschränkt seinen Zeitrahmen auf den Verlauf sozialer Prozesse, die innerhalb der vorgegebenen Zeit nicht in beliebiger Weise generiert werden, sondern eine dramatische Struktur erkennen lassen. Ähnlich wie bei Propp und Burkert setzt auch hier die zu bewältigende Krise ein, wenn eine Gruppe von Menschen ihre Situation als unbefriedigend empfindet, die sie unter den Bedingungen der Liminalität, Marginalität und strukturellen Inferiorität 125 als beschädigt empfinden muss. Unter diesen belastenden Bedingungen entstehen oft Mythen, Symbole, Rituale, philosophische Systeme und Kunstwerke, welche den Menschen eine Reihe von Schablonen, Modellen, Paradigmen und Theorien zu Verfügung stellen, die es ihnen erlauben, ihre Beziehungen zur Gesellschaft, zur Natur und zur Kultur immer wieder neu zu klassifizieren und zu justieren. Diese Modelle sind jedoch weder leere Vertröstungen im Sinn der marxistischen Religionstheorie noch bloße Klassifizierungen; sie liefern Impulse zum Nachdenken und vor allem Motive zum Handeln. Der Prozess der Reaktion auf die Liminalität ist für Turner das soziale Drama, welches sich auf allen Ebenen der Sozialorganisation, von der Familie bis zum Staat abspielt und welches in der Abfolge von vier Phasen verläuft, beginnend mit dem Bruch, auf den die Krise folgt und deren Bewältigung, die entweder zur Reintegration führt oder zur Anerkennung der Spaltung. Wie es zur Gesellschaftsbildung kommt, interessiert Turner nicht. Das soziale Drama, welches eine bestehende Gesellschaft voraussetzt, hat an seinem Anfang meist eine öffentliche Verletzung der geltenden sozialen Regeln, ein Vergehen gegen den Verhaltenscode, im äußersten Fall einen Mord oder auch eine bewusste Tat, die die bestehende Machtstruktur in Frage stellt, möglicherweise auch einen unglücklichen Zufall, der als Regelbruch wahrgenommen wird. Ist jedoch der Gegensatz zwischen der üblichen Norm und dem Unerhörten aufgebrochen, kommt es zwangsläufig zur Parteinahme einer Gruppe, die, wenn es nicht alsbald zur Versöhnung der streitenden Parteien kommt, einen Bruch provoziert, der das Gemeinwesen in eine bedrohliche Krise stürzt. In dieser Situation versuchen die Kräfte, die an der Wiederherstellung des Friedens beziehungsweise des status quo ante interessiert sind, das heißt die Ältesten, Gesetzgeber, Verwalter, Richter, Priester, einen Bewältigungsmechanismus in Gang zu setzen, mit dem die gestörten sozialen Beziehungen geheilt werden sollen. Als Bewältigungsverfahren 125 Victor Turner, From Ritual to Theatre (1989) dt. Vom Ritual zum Theater, Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M 1995, S. 81 39 stehen neben den rechtlichen Mitteln eines Gerichts oder sonstigen Rechtsinstituts die rituellen Mittel zur Verfügung, die von religiösen Institutionen aufgeboten werden. Diese rituellen Mittel reichen von der Divination und dem Namhaftmachen verborgener oder vermeintlich transzendenter Ursachen über das vorbeugende apotropäische 126Opfer und das Heilungsritual bis hin zur prophetischen Beschwörung und zur geordneten Zelebration, in der sich die Gemeinschaft von neuem verbindet. Das soziale Drama endet entweder mit der Versöhnung der rivalisierenden Parteien oder mit der Feststellung unüberwindbarer Gegensätze, was dann dazu führen kann, dass sich eine anders denkende Partei nicht mehr integrieren lässt und als Lösung den Exodus aus der Ursprungsgemeinschaft praktiziert. Für Turner steht fest: Das soziale Drama stellt die ursprüngliche, alle Zeiten überdauernde Form der Auseinandersetzung dar.127 Und wenn nach Turner das Theater als die stärkste, wenn man will, aktive, kulturelle Darstellungsgattung 128 seinen Ursprung der dritten Phase des sozialen Dramas verdankt, also tatsächlich eine Dramatisierung, eine Übersteigerung juristischer und ritueller Prozesse (ist, d. Verf.); nicht bloß eine einfache Reproduktion der gesamten ‚natürlichen’ Verlaufsform des sozialen Dramas ,129 gilt ganz allgemein, dass es in allen Gesellschaften eine wechselseitige, vielleicht dialektische Beziehung zwischen sozialen Dramen und kulturellen Darstellungsformen 130 gibt, ja alle Gattungen gleichsam um die Erde des sozialen Dramas kreisen. 131 Zur Veranschaulichung des Übergangs vom Ritual zur Erzählung benötigt Turner, im Unterschied zu Propps Initiationseinflüsterung und Burkerts nachholender Befehlskette, keine anschauliche ’Spielhandlung’. Er argumentiert, dass das soziale Drama als ein nach dem Muster einer immer wiederkehrenden Situation entworfenes antagonistisches Modell im Zuge seiner Bewältigung das performative und synästhetische Ritual 132 entstehen lässt und dass aus diesem wiederum nach dem ‚Vergessen’ der performativen Funktion die in der Folge als ästhetisch bezeichneten kulturellen Darstellungsformen hervorgehen. Performativ ist für Turner das Ritual, weil er in ihm vor allem eine kunstvolle Darbietung oder Darstellung und nicht hauptsächlich ein liturgisch fixiertes Regelwerk sieht; die Notwendigkeit der Regeln vergleicht er mit den Ufern eines Handlungs- und Interaktionsflusses, zwischen denen dieser sich nicht nur frei entfalten, sondern sogar neue Symbole und Bedeutungen aufnehmen kann, die in spätere Darstellungen eingehen können. Damit weicht er ab von dem gängigen ethnologischen Ritualverständnis, wonach Rituale sich am besten als eine Reihe von Mechanismen zur Stabilisierung der Gruppensolidarität verstehen ließen und dass rituelle Symbole bloße Spiegelungen einer gegebenen Sozialstruktur seien. Indem er die Fähigkeit des Rituals zur kreativen Modifizierung 133 hervorhebt, weist er ihm neben der Aufgabe, die 126 abgeleitet von gr. apotrépein = abwenden Victor Turner, Ritual/Theater, S. 14 128 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 164 129 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 15 130 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 114 131 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 125 132 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 130: „Alle Sinne der Teilnehmer und Ausführenden können beteiligt sein; sie hören Musik und Gebete, sehen visuelle Symbole, schmecken geweihte Speisen, riechen Weihrauch und berühren heilige Personen und Gegenstände. Zur harmonischen Einstimmung aufeinander stehen ihnen auch die kinästhetischen Formen des Tanzes und der Geste zur Verfügung…Beim Singen verschmelzen (und divergieren) die Teilnehmer auf andere, geordnete und symbolische Weisen“. 133 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 131 127 40 überkommene Ordnung tief im Bewusstsein, im Herzen und im Willen der Teilnehmer (zu, d. Verf.) verankern,134 die Funktion zu, das immer wieder durchgespielte Handlungswissen zu reflektieren und in modellhafter Weise Veränderungen vorwegzunehmen. Durch diese Flexibilisierung des Ritualbegriffs gelingt es Turner auch, das Narrative als eines der kulturellen Enkelkinder oder Urenkelkinder des ‚Stammes’-Rituals oder –Gerichtsverfahrens 135 aus der mythologischen Engführung zu befreien und es offen zu halten für tendenziell unendlich viele transkulturelle und transtemporale Ausdrucksformen, welche das soziale Drama annehmen kann. Wie die Bewältigungsphase des sozialen Dramas den - flussuferähnlichen - Rahmen bildet für das rituelle Verfahren, eine in die Krise geratene soziale Gruppe wieder zusammenzufügen, versucht die Erzählung, aus auseinander driftenden Motiven Vladimir Propp würde sagen: Funktionen – eine bedeutungsvolle und vor allem in der Abfolge sinnvolle, zum einem Ziel strebende Sequenz zu machen. In diesem Machen geht Turner über die Formulierung der bloßen Interdependenz von sozialen Dramen und Erzählungen hinaus und weist dem Narrativen insofern eine PoiesisFunktion zu, als in der Sequenzbildung, wie sie im Interesse der ästhetischen Befriedigung erforderlich ist, zugleich eine Sinnstiftung erfolgt, die wegen der in der modernen Welt gegebenen Undurchführbarkeit der rituellen Verfahren deren Potenzial zur Bewältigung von sozialen Dramen enthält und, jedenfalls soweit ein sozialer Geltungsbereich definierbar ist und das Dramatische keine globalen Ausmaße annehmen, bereit stellt. ‚Drama’, vom griechischen Verb dran, tun handeln, abgeleitet und ‚Narrativ’, über das lateinischen narrare, erzählen mit gnarus, bekannt und auf cognoscere, kennen, erkennen zurückgehend, stehen einander in enger Verbindung gegenüber, in der das Narrative eine Kenntnis, eine Gnosis ist, die aus dem Handeln schöpft, Erfahrungswissen einer Gesellschaft ist und kein genialer dichterischer Einfall. In komplexen, großen Gesellschaften erfolgt die Entsprechung der beiden Sphären des Bewältigungshandelns und Erzählens in einem anderen Schema als in tribalen oder gar vortribalen Gruppen, zumal auf beiden Seiten nach dem Prinzip der Arbeitsteilung verfahren wird. Auf der narrativen Seite – Turner spricht verallgemeinernd von kulturellen Darstellungsformen – ist eine große Bandbreite von Gattungen anzutreffen, welche von Werken der bildenden Kunst und der Unterhaltung bis hin zu amateurhaften, professionellen, leichten oder ernsten Formen reicht. Ohne dass alle den reflexiven Charakter vieler griechischer Theaterstücke 136 hätten, gibt es nach Turner einen Ausleseprozess, als dessen Ergebnis einige Werke allgemeine Anerkennung auch über zeitliche und räumliche Kulturgrenzen hinweg erzielen. Während er zur Absicherung seiner Argumentation in der vorliegenden Untersuchung kaum ethnologisches Material beibringt und sich nicht eindeutig zu dem DramaAnsatz bekennt, versucht Turner seine These in einer hermeneutisch dichten Szenerie zu veranschaulichen. In seiner Versuchsanordnung platziert er das Gegenüber von performativen und narrativen Gattungen in einen Spiegelsaal oder besser einen Saal mit Zauberspiegeln, 137 in dem zwischen den Fronten ein ständiger Austausch von Impulsen und Reflexen herrscht. Anstatt nur im Analogverfahren endlos hin und her projiziert zu werden, werden die Bilder in dem 134 ebenda Victor Turner, Ritual/Theater, S. 138 136 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 165 137 ebenda 135 41 zwischen den reflektierenden Oberflächen ablaufenden ‚Dialog’ durch mit der Zeit auftretende Verzerrungen transformiert, neu eingelesen und neu bewertet, mit anderen Resultaten verglichen, verschoben und schließlich zur Passung gebracht, was dann auf der narrativen Seite so viel bedeutet, dass sie bewusster Bewältigung zugänglich gemacht worden sind 138 und über die dem Fluss der Ereignisse abgewonnene Textanalogie in eine kulturelle Darstellungsform eingehen. Ob dieses radiologische Experiment eine für das Problem der Vermittlung von Handeln und Erzählen befriedigendere Lösung anbietet als die erzählerischen Urszenen, wie sie Propp und Burkert rekonstruieren, scheint eher zweifelhaft. Sein Grundmuster des Instantanen oder der Simultaneität bricht mit der Logik von Kausalität zugunsten von medialen Effekten, von Resonanzen. In Resonanzverhältnissen korrespondieren verschiedenste Pole auf verschiedenste Art und Weise miteinander, mit nicht immer vorhersehbaren Ergebnissen. Der erzähltheoretische Beitrag indes von Victor Turner verdient Beachtung, nicht nur weil er zwischen den sozialen Dramen und den kulturellen Darbietungen ein dynamisches System der Interdependenz installiert, welches für Veränderung und Innovation offen ist, sondern weil er das soziale Drama mitsamt seinen Bewältigungsmechanismen und narrativen Entsprechungen aus jeglicher historischen oder evolutionären Ereignishaftigkeit herauslöst und es dadurch zu einem universell einsetzbaren hermeneutischen Instrument macht. Wenn Turner zur Erprobung seiner These von der Einheit des sozialen Dramas unter beiderlei Gestalten, der ritueller und textuellen, dazu anregt, ethnographische Texte in Theaterstücke umzuschreiben, und wenn er das soziale Drama mit einem Regelverstoß, also einer sozialen Schädigung im weitesten Sinn, beginnen lässt, und den Sequenzcharakter dieses Dramas in eine genetische Beziehung setzt zur erzählerischen Verlaufsform, zum Beispiel dem ‚narrativen Dreischritt’ oder der aristotelischen Fassung von ‚Anfang-Mitte-Schluss’, bleibt er auch die Erklärung nicht schuldig, warum es zu Regelverstößen, Schädigungen und Perversionen kommt. Zwar schließt er externe Faktoren für das Ingangsetzen des sozialen Dramas nicht aus; Naturereignisse oder Übergriffe einer benachbarten Gruppe können wohl den Bewältigungsmechanismus auslösen und als Konklusion eine Divination oder ein apotropäisches Bittopfer haben, aber die Deutungskraft seiner These beruht gerade darauf, dass sie immer und überall und vor allem als gruppeninterner Prozess verstanden werden kann und will, das heißt, dass die Bedingungen der ‚Liminalität, Marginalität und strukturellen Inferiorität’ durch Vorgänge innerhalb der Gruppe entstehen. Der Schwellenzustand der Liminalität ist kein Epiphänomen eines irgendwie gearteten Herdentriebs, vielmehr das Resultat des Zusammenlebens der Menschen, und selbst in den einfachsten Gesellschaften gibt es den Unterschied zwischen Struktur und Communitas [...] und in jeder Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten gewinnt entweder der eine oder der andere dieser ‚ewigen Widersacher’ (um einen Freudschen Begriff zu verwenden […] die Oberhand.139 Es ist die Oszillation zwischen dem normengeleiteten, institutionalisierten und abstrakten Wesen der Sozialstruktur und der Spontaneität, Unmittelbarkeit und Konkretheit des Kummunitären, die immer wieder den auf der jeweiligen Seite erreichten Zustand in Frage stellt, in eine Schwellen- und Übergangsphase einmündet und so immer von neuem das soziale Drama antreibt. Die Turnersche Communitas als Befreiung von kulturellen Zwängen stellt sich dort ein, wo Strukturen sich als lückenhaft oder unerträglich herausstellen; werden indes in der Communitas die materiellen und 138 ebenda Victor Turner, The Ritual Process, Structure and Anti-Structure (1969), 9. Aufl. 1982, dt. Das Ritual, Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M 1989, Studienausgabe 2000, S. 127 139 42 organisatorischen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr adäquat befriedigt, kehren sie zur Struktur zurück. Eine zum Höchstmaß gesteigerte Communitas provoziert eine zum Höchstmaß gesteigerte Struktur, die wiederum revolutionäre Bestrebungen nach erneuter Communitas entstehen lässt. 140 In der Übergangsphase der Liminalität werden Bewältigungsstrategien eingesetzt, deren Schablonen die Riten und Mythen sind. Was dem sozialen Drama vorausgeht, ist also nicht historisch zu verorten und verweist nicht in die Untiefen des Paläolithikums. Was als Auslöser der Turnerschen Sequenz von Bruch, Krise und Bewältigung per Reintegration oder Exodus identifiziert werden kann, ist von soziogenetischer Natur. Da die Erzählung als Resonanz zum sozialen Drama zu verstehen ist, speist sich auch deren Sequenz, wenn sie Plausibilität beanspruchen und sich mit den an die Erzählung gestellten Erwartungen verschränken will, aus dem gesellschaftlichen Erfahrungswissen um das ‚dialektische Ritual von Struktur und Anti-Struktur’ im sozialen Drama. Dem Literaturkritiker Frank Kermode wird die Aussage zugeschrieben, der Roman habe zwei Bestandteile: Skandal und Mythos, 141 womit der Mythos ebenso als invariable und fraglose Gegebenheit in Anspruch genommen wird wie in einem BBCInterview aus dem Jahr 1964, in dem Kermode den Denker des Medienzeitalters Herbert Marshall McLuhan zu dem Übergang vom ‚Zeitalter des Rades’ zum ‚Zeitalter des Stromkreises’ befragt und von diesem die Auskunft erhält, dass der Mythos angesichts der kognitiv nicht mehr beherrschbaren Informationsflut als ein die Komplexität reduzierender Sinnstifter unerlässlich ist.142 Wenn also sowohl in der Literaturanalyse als auch in der Informationsverarbeitung der Mythos als erzählerischer Treibstoff sowie als Agent der Bewältigung und Garant der Lesbarkeit benötigt wird und wenn in ihm als Tiefenstruktur elementare gruppeninterne Abläufe wie kollektives Fitnesstraining durch Initiation, gemeinsame und riskante Nahrungssuche oder Aufarbeitung der Marginalität wirksam sind, sollen die Prämissen, die für die von Propp, Burkert und Turner vorgeschlagenen Sequenzen mit ihren erzählerischen Ermöglichungsbedingungen bemüht werden, erweitert und von der soziologischen und ethnologischen, wenn möglich, auf die anthropologische Betrachtungsweise ausgedehnt werden. 6. Niklas Luhmann : Die Differenzierung ‘schön/hässlich’ Befragt man die systemtheoretisch orientierte Literaturbetrachtung nach der Herkunft der Erzählung, ist die Antwort eindeutig. Nach Niklas Luhmann, dem Begründer der Systemtheorie, differenziert die moderne, im Europa des ausgehenden 18. 140 Victor Turner, Ritual/Struktur, S. 126 Victor Turner, Ritual/Theater, S. 107 142 Quelle: http://home.debitel.net/user/RMittelstaedt/McL/Kermode.htm, Stand :15.01.2006: „McLuhan: Eine der Wirkungen des Umschaltens zum Stromkreis von mechanisch bewegten Teilen und Rädern ist ein enormes Ansteigen in der Menge der Information, die bewegt wird. Mit diesen gewaltigen Informationsmengen wird man nicht mehr fertig, wenn man sie nach dem alten fragmentarischen, klassifizierten Muster verarbeitet. Man tendiert dazu nach mythischen und strukturellen Formen zu suchen, um mit diesen komplexen Daten umzugehen, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit bewegen. Daher sprechen die Elektronik-Ingenieure oft von Muster-Erkennung als normaler Notwendigkeit für Leute, die mit elektrischen Daten und Computern usw. umgehen…Es ist ein Erfordernis, das Dichter ein Jahrhundert vorher voraussahen, als sie sich zu mythischen Formen zurückgetrieben fühlten, ihre Erfahrungen zu organisieren“. 141 43 Jahrhunderts entstehende Gesellschaft Kommunikationssysteme aus, die eine spezifische Funktion, zum Beispiel die Politik, die Wirtschaft, das Recht, die Erziehung und Kunst betreuen und Personen nur in dem Maße in Anspruch nehmen, als sie - mehr oder weniger zeitweise - in solche Funktionssysteme verwickelt sind. In archaischen Kulturen lassen sich derartige Funktionssysteme, Kommunikationssysteme und Interaktionssysteme kaum unterscheiden. Die einzelnen Stämme sind Segmente, die alle gleich organisiert sind und die gleichen Funktionen abdecken. Die Existenz des einen Stammes ist auf die des anderen in keiner Weise angewiesen, jedes Segment ist für sich lebensfähig. Dies verändert sich im Wesentlichen im Zusammenhang mit der Entstehung der Schrift und der Stadtkultur mit ihren wirtschaftlichen, politischen und religiösen Hierarchien. Die Gesellschaft ist nun primär stratifikatorisch strukturiert, die einzelnen Sozialsysteme stehen nicht mehr nebeneinander, sondern in Schichten übereinander. Jeder Gesellschaftsstruktur, der segmentären, der stratifikatorischen und der modernen, das heißt in funktionale Systeme ausdifferenzierten, entspricht eine spezifische Kommunikationsstruktur und damit eine Semantik, welche die Anschlussfähigkeit der Kommunikation sicherstellt. Unter den Bedingungen oraler und segmentärer Gesellschaften ist Religion am besten zu begreifen, wenn man sie als Semantik und Praktik versteht, die es mit der Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem zu tun hat. 143 Luhmann ordnet die Riten dem Funktionssystem Religion zu, dessen Codierung 144 in der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz und dessen Programm in der Transformation des Unbestimmbaren ins Bestimmbare besteht. Die Kommunikationsform der Riten ist eine auf Wahrnehmung bezogene Inszenierung 145 , und da diese Kommunikation selbstreferenziell ist, bedarf sie keines sinngebenden Kommentars, ist nicht Ausdruck eines Konsenses und nicht Ergebnis einer Vereinbarung, auch nicht die Exekution von Regeln. Das Zelebrieren des Rituals erfordert die körperliche Anwesenheit, man sieht und wird gesehen, und man sieht, dass man gesehen wird, 146 es gibt kein Interpretationsproblem; wichtig für den sozialen Zusammenhalt und die Regulierung des Ablaufs ist der korrekte, das heißt alternativenlose Vollzug; jede Abweichung würde als Unfall gedeutet und drohende Gefahr signalisieren. Da aber die Teilnehmer des Rituals sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Anlass versammeln, ergibt sich eine Fremdreferenz in Richtung auf die vom System ausgegrenzte Umwelt und damit nach dem biologischen Muster der Zellteilung ein Exklusionsbereich, in dem es in autopoietischer Weise und per Inklusion zu einer neuen Systembildung kommt. So entsteht, durch die Ritualisierung stimuliert, 147 mit den Mythen eine semantische Parallelkonstruktion 148 des Rituals, wobei in den Mythen, was in den Riten konsequent vermieden wird, weitere Unterscheidungen möglich sind, die zu Erzählungen verwendet werden können, in denen begrenzte Freiheiten 149 143 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M 1998, S. 232 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 246 : „Unter Code möchte ich, in Abweichung vom linguistischen und eher in Anlehnung an den biogenetischen Sprachgebrauch, eine Duplikationsregel verstehen, die für Vorkommnisse oder Zustände, die an sich nur einmal vorhanden sind, zwei mögliche Ausprägungen bereitstellt. […] Die Kommunikation erreicht höhere Spezifikation, ich würde gern auch sagen: Technizität. Sie hebt sich mit Hilfe des eigenen binären Schematismus ab von undifferenzierten Normalerwartungen alltäglicher Interaktion, von den Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens“. 145 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 190 146 ebenda 147 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 191 148 ebenda 149 ebenda 144 44 zugelassen sind. Da sie die – religiöse - Funktion haben, die Komplexität der Wirklichkeit zu reduzieren, 150 erzählen Mythen als rituelle Parallelkonstruktionen, was man schon immer gewusst hat, aber sie eröffnen als Erzähltext eine neue Zeitdimension. Die analoge Zeit des rituellen Ablaufs wird in der Erzählung aufgebrochen und gewissermaßen digitalisiert, bearbeitbar und auf ritualferne Situationen übertragbar, ein Vorgang, dessen Dynamik durch die Erfindung der Schrift und später des Buchdrucks revolutionäre Formen annimmt. Da aber ihr Reprodukt Solidarität, nicht Information 151 ist, behandeln Mythen Ereignisse aus der Vergangenheit, deren Wiedererkennungswert sie in den Dienst der Gegenwartsdeutung stellen und dort normative Erwartungen erzeugen. Da der Mythos mündlich erzählt wird, wird er miterlebend nachvollzogen, also geglaubt. 152 Solange der strukturelle Umbau der Gesellschaft in Richtung funktionale Differenzierung nicht fortschreitet und selbstreferenzielle religiöse Kommunikation nicht sinnbedürftig wird, solange also die Mythenkultur nicht hinterfragt wird, bleibt der Mythenerzähler bei seiner Mission, das Unvertraute im Vertrauten zu reproduzieren 153 und sich an die wiedererkennbare Struktur seiner Erzählung zu halten. Dies bedeutet dann auch, dass bei fortschreitender funktionaler Differenzierung und Ausdifferenzierung entsprechender Rollen neue Systeme als Parallelkonstruktionen entstehen, die sich jeweils nach eigener Selbstreferenzialität organisieren. Obwohl Luhmann die Entstehung der Erzählung aus der Kombination von Ritus und Mythos deutet, liegt es ihm fern, die nach eigenem Programm operierende Kommunikation des Systems der Literatur von externen Referenzen wie dem ‚sozialen Drama’ oder anderen Vorgaben bestimmen zu lassen. Für Luhman ist Literatur ein autonomes System neben anderen autonomen Systemen, die jeweils eine bestimmte Funktion haben, für die sie exklusiv zuständig sind. Während das Rechtssystem Rechtsnormen zu formulieren und zu sichern hat und das Wirtschaftssystem knappe Güter zu verteilen hat, hat das Literatursystem die Funktion, Weltkontingenz zu erzeugen, also der Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit gegenüberzustellen und Alternativen vorzuführen. Als soziales Phänomen prozessiert Literatur im Kontext des gesellschaftlichen Wandels, welcher oftmals durch die Sinnproduktion literarischer Texte stimuliert wird. Wenn dabei literarische Themen, Motive und Genres analysiert und verarbeitet werden, erfolgt dies im Geltungsbereich des Systems; es gibt unter den Bedingungen der in Funktionssysteme ausdifferenzierten Gesellschaft dafür keine systemexterne Instanz, die über die Systemgrenze hinweg das literarische Schaffen codieren könnte. In den vormodernen Gesellschaften, den segmentären oder stratifikatorischen, herrscht kein Bedarf an literarischer Codierung 150 Gerhard Plumpe / Niels Werber, „Literatur ist codierbar“ in: Siegfried J. Schmidt, Literaturwissenschaft und Systemtheorie, Opladen 1993, S. 14 – 15: „Es gibt kein Vertrauen ohne Misstrauen. In tribadischen Gesellschaften wird der Umwelt misstraut, weil sie unvertraut ist. Die Differenz von vertraut und unvertraut codiert ihre Kommunikation. In der Sprache kann die unvertraute Umwelt dennoch behandelt werden und so zumindest kommunikativ vertraut werden. Die Form, die sich dafür ausdifferenziert, ist der Mythos. Er stellt gleichsam einen Vertrauensvorschuss her und ermöglicht, dass man in den Wäldern jagen oder sammeln geht, auch wenn diese völlig fremd sind. Man erwartet dann das Unvertraute und ist gewappnet. In dieser Funktion ist der Mythos für den ‚Fortbestand der Gemeinschaft’ unverzichtbar“. 151 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 192 152 ebenda 153 ebenda 45 Während die systemtheoretische Literaturbetrachtung trotz ihrer ahistorischen Sehweise in der Lage ist, die Erzählung in einen genetischen Zusammenhang von Ritual und Mythos zu stellen, deutet im Hinblick auf den Autopoiesis-Charakter der Systeme wenig darauf hin, dass das geschlossene soziale Subsystem der Literatur anschlussfähig sein könnte für überkommene und universelle Gültigkeit beanspruchende erzählerische Tiefenstrukturen. Da ein System sich nur mit dem ihm eigenen Code beobachten und nur die aus dieser Beobachtung folgende Leistung seiner sozialen Umwelt zur Verfügung stellen kann, muss dem System Literatur ein Code zugewiesen werden, der es von anderen Systemen unterscheidbar macht. Bei einer Orientierung der Literaturproduktion und –rezeption am Wert der Schönheit würde eine programmatische Definition von Schönheit benötigt, die zum einen nicht zu leisten wäre, zum andern nur eine Zeitlang stilbildend wäre und bald durch eine neue Programmatik abgelöst werden müsste. Zu leisten wäre die verbindliche Definition von Schönheit nur in einer geschlossenen Gesellschaft, deren Schließung bei segmentären Gruppen in einem rituell-mythischen Horizont besteht, bei stratifikatorisch organisierten in einer religions- und machtgestützten Hierarchie, in denen das Schöne, Gute und Wahre stets ungetrennt wahrgenommen werden und ihre Einheit etwa durch die rituelle Übereinstimmung, die antike Kosmosvorstellung oder den mittelalterlichen schöpfungstheologischen Ordo-Gedanken dargestellt wird. Zu bemerken ist allerdings, dass der Begriff der Definition in diesem Zusammenhang missverständlich ist, denn in diesen Gesellschaften ist es gerade nicht möglich, die künstlerische Kommunikation abzugrenzen von der politischen oder religiösen. Unter den Bedingungen der in Funktionen ausdifferenzierten Gesellschaft ist jedoch für die künstlerischen Operationen ein Code erforderlich, der sich von den binären Schematismen anderer Systeme absetzt, beispielsweise von dem Code ‚wahr/falsch’ der Wissenschaft, dem Code ‚gut/böse’ für die Moral, ‚nützlich/unnütz’ für die Technik, ‚haben/nicht haben’ für die Wirtschaft, ‚Recht/Unrecht’ für die Justiz, ‚Mehrheit/Opposition’ für die Politik. Als Spezialcode für Kunstkommunikationen wird von Luhmann die Unterscheidung ‚schön/hässlich’ vorgeschlagen, welche sicherstellen soll, dass dieses System Stabilität behält und nicht von außen programmiert wird.154 In der systemtheoretischen Diskussion werden auch Alternativen zu diesem binären Schematismus formuliert, von denen die Differenzierung ‚langweilig/interessant’ insofern eine bessere Praktikabilität beweist, als das Risiko der Fehl- oder Übercodierung von ‚schön<>wahr’ und ‚hässlich<>unwahr<> böse’ vermieden und der programmatischen Entscheidung von ‚interessant/langweilig’ ein weit geöffneter Raum angeboten wird. Diese Unterscheidung scheint für die Selbstbeobachtung des Systems der Literatur auch deswegen besonders treffend zu sein, weil sie erklärt, dass interessante Beiträge ebenso wie langweilige das Unterscheidungsvermögen schärfen und dadurch Zustimmung wie Ablehnung steigern, was wiederum Druck zur Produktion wie Rezeption interessanter Werke ausübt, also unaufhörlich Anschlusskommunikationen provoziert und das System am Laufen hält. Gleichsam zur literaturgeschichtlichen Beglaubigung dieser Umformulierung lässt sich nachweisen: Die Kategorie des Interessanten hat als Konkurrent des Schönen schon etwa seit 1730 Konjunktur,155 wo in der französischen Kunsttheorie eines Jean François de Marmontel oder Denis Diderot das Interessante in der Hierarchie der 154 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247: „Nicht der reine Wert der Schönheit, sondern die Disjunktion schön/hässlich vermittelt diejenige praktische Orientierung des Kunstschaffens und des (kritischen) Kunsterlebens, von der Folgen abhängen“. 155 Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 30-32 46 ästhetischen Werte an Bedeutung gewinnt, weil es im Sinne der Aufklärung den Rahmen der Vorerwartungen sprengt und das Kunstgeschehen temporalisiert. Das Interessante ist das Interessante von heute, möglicherweise ist es morgen schon langweilig. Auch wenn die deutsche Klassik sich am griechischen Ideal eines unvergänglich Schönen orientiert und gegen das Charakteristische, Individuelle und Interessante polemisiert als dem Piquanten, Frappanten, Choquanten und Modernen, lässt sich nicht leugnen, dass sich mit der Differenz von interessant vs. langweilig ein Code etabliert hat, der mit Erfolg literarische Kommunikationen prozessiert. Gib ihm Interesse, und ein Mährchen von der Mutter Gans gefället mir mehr, als eine langweilige Heriode, schreibt Herder und setzt hinzu dagegen jedes Uninteressante mich leer lässt, und wenn ich’s geschehen lasse, vor langer Weile mich tödtet. 156 Wenn die Kategorien des ‚Schönen’ und ‚Hässlichen’ nach wie vor für die literarische wie auch die sonstige künstlerische Kommunikation verwendet werden, deutet dies darauf hin, und nichts spricht dagegen, dass die Kunst auch mit dieser Differenzierung beobachtet werden kann, selbst wenn diese Code-Werte eher aus der Umwelt der Kunst, in diesem Fall der Moral, stammen. Wie in der Literatur selbst das ‚Schöne’ umcodiert werden kann, wird von Baudelaire als Dandy und Dichter anschaulich gemacht, der mit dem Begriff des Bizarren den Code-Wert ‚interessant’ als Synonym für ‚irritierend’ sowie ‚sonderbar’ und ‚befremdend’ für die literarische Kommunikation akzeptabel macht. In seiner Hymne an die Schönheit,157 das analog zu den sieben Bitten des christlichen Vaterunser 158 aus sieben Strophen besteht, richtet Baudelaire sein Bittgebet – die beiden letzten Strophen entsprechen dem jesuanischen Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen - an die Schönheit: Que tu viennes du ciel ou de l´enfer, qu´importe, O Beauté! monstre énorme, effrayant, ingénu! Si ton œil, ton souris, ton pied, m´ouvrent la porte D´un Infini que j´aime et n´ai jamais connu? De Satan ou de Dieu, qu´importe? Ange ou Sirène, Qu´importe, si tu rends, - fée aux yeux de velours, Rhytme, parfum, lueur, ô mon unique reine! – L´univers moins hideux et les instants mojns lourds? In einer Tagebuchnotiz von Baudelaire findet sich ein weiterer Beleg für die Umcodierung von ‚schön’ zu ‚interessant’ und ‚unterhaltsam’ J´ai trouvé la définition du Beau – de mon Beau. C´est quelque chose d´ardent et de triste, quelque chose d´un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l´on veut, appliquer mes idées à un objet sensible, à l´objet, par exemple, le plus intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c´est une tête qui fait rêver à la fois, - mais d´une manière confuse, - de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, - soit une idée contraire, c´est à dire une ardeur, un 156 Johann Gottfried Herder, Kalligone, Vom Angenehmen und Schönen, Leipzig 1800, zitiert nach Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 32 157 Charles Baudelaire, Les fleurs du mal (1857), Paris 1959, S. 28 158 Mt 6, 9 - 13 47 désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau. 159 Wenn der Dichter die Schönheit bittet, den Augenblick unter Aktivierung aller Sinne erträglicher zu machen und sich in dem zu vergegenwärtigen, was gerade am interessantesten ist und Aufsehen erregt, wird aus systemtheoretischer Sicht die spezifische Funktion der Literatur, Kontingenzbewusstsein und Empfänglichkeit für alternative Wirklichkeiten zu erzeugen, ergänzt um die Unterhaltungsfunktion und um den Auftrag, Freizeit zur Zeit der Unterhaltung und Ablenkung zu machen. In seinem Essay Vorschläge zur Prüfung eines Romans bekennt sich Uwe Johnson 160 zu dem literarischen Code ‚unterhaltsam/langweilig’: Wozu taugt ein Roman? – Er ist ein Angebot. Sie bekommen eine Version der Wirklichkeit. – Es ist nicht eine Gesellschaft in Miniatur, und es ist kein maßstäbliches Modell. Es ist auch nicht der Spiegel der Welt und weiterhin nicht ihre Widerspiegelung, es ist eine Welt gegen die Welt zu halten. – Sie sind eingeladen, diese Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die Sie unterhalten und pflegen. Vielleicht passt der andere, der unterschiedliche Blick in die Ihre hinein. – Verteidigen Sie ihre Unabhängigkeit bis zur letzten Seite des Buches. Wird Ihnen ausdrücklich gesagt, was der Roman zu sagen versuchte, ist dies der letzte Augenblick zur Entfernung des Buches. Sie haben sich das Recht erworben auf eine Geschichte. Die Lieferung einer Quintessenz oder einer Lehre ist Bruch des Vertrages. Mit dem Roman ist die Geschichte versprochen. – Was dazu gesagt wird, sagen Sie. Der Roman muss Sie unterhalten. […] Während Sie anders beschäftigt sind, beschafft der Romanschreiber Ihnen Unterhaltung und Information. Damit hat er seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, sofern sie einseitig bestehen kann, erfüllt. Was nach Baudelaire bewirkt, dass die Welt weniger ordinär und ekelerregend und der Augenblick weniger langweilig ist, was er l´objet le plus intéressant dans la société nennt und was bei Uwe Johnson die unterhaltsame Geschichte ist, was bei Herder gefället, anstatt todlangweilig zu sein, muss sich dann fragen lassen, wie es denn als Objekt oder als Geschichte beschaffen sein muss, um das Interesse sowohl des Autors als auch der Abnehmer zu finden. Es ist dies die Frage nach dem Material, welches im System der Literatur verarbeitet wird. Da für jedes System alles, was sich nicht nach seinem Code beobachten lässt, Umwelt ist, unterhält es neben der Systemreferenz auch eine Umweltreferenz. Daher kann Literatur, wenn sie Neues produziert, entweder sich selbst beobachten und aus ihrem Fundus das schöpfen, was sie neu kombiniert und als neu präsentiert, oder aber sie beobachtet ihre Umwelt und importiert aus ihr das zu bearbeitende Material. In beiden Fällen selektiert die Literatur nach ihren eigenen Präferenzen, indem sie entweder aus ihrer Systemvergangenheit Stile und Werke zitiert, parodiert, variiert, ironisiert, formalisiert und neu koppelt oder aber Elemente aus der Umwelt beziehungsweise deren eigenem systemischen Kontext herauslöst und für ihren Zweck umcodiert. Ist somit die systemtheoretische Literaturbetrachtung in der Lage, die Herkunft des ‚interessanten Objekts’ zu klären, bleibt zu prüfen, was denn das Interessante interessant, das Unterhaltsame unterhaltsam, das Spannende spannend macht. 159 Charles Baudelaire, Les fleurs du mal, S. 301 Uwe Johnson, „Vorschläge zur Prüfung eines Romans“, in: Absichten und Einsichten, Texte zum Selbstverständnis zeitgenössischer Autoren, Hg. V. Markus Krause u. Stephan Speicher, Stuttgart 1990, S. 236, zitiert nach Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 40 160 48 Wird bei dieser ‚Materialprüfung’ darauf verwiesen, dass das Neue gegenüber dem Alten den Interesse-Bonus erhalten und das Unerhörte gegenüber dem Gewohnten prämiert werden soll, ist für die Erkenntnis ebenso wenig gewonnen, wie wenn in einer creatio ex nihilo der große Coup des genialen Schöpfer-Künstlers als Garant für Sensation und Impuls für erfolgreiche Anschlusskommunikation dienen soll. Wie der Interessantheitseffekt keine hinreichende Auskunft über seine Ursache gibt, lüftet das systemkonforme Funktionieren der literarischen Kommunikation nicht das Geheimnis ihres Erfolgs. Sollte es gar in Opposition zum Interessanten und Reizenden das Plausible sein, welches, indem es das ‚placet’ und den Applaus erhält, gewissermaßen als verborgener Code-Wert im Fließen der Kommunikationen die Weiche auf Halt oder Durchfahrt stellt, wobei sich hinter der Weichenmetapher ein Erkenntnisproblem bemerkbar macht, welches philosophisch und neurobiologisch reflektiert werden kann? Sollte gar in Präzisierung des Plausiblen der Wiedererkennungswert einer Erzählung gegenüber ihrem Neuigkeitswert in Führung gehen? Sollte man gar an etwas deswegen Gefallen finden, weil es einem jenseits des Sensationellen vertraut vorkommt? Mit anderen Worten: Sollte auch das soziale Subsystem der Literatur anschlussfähig sein für erzählerische Tiefenstrukturen, für morphologische Urformen und Sequenzregeln bis hin zur aristotelischen Abstraktion der Dreiteiligkeit einer erzählten Handlung, zu narrativen Vorgaben also, die es kraft seiner binären Codierung nicht selbst erzeugen kann? Wie immer, wenn Luhmann die Emergenz eines Funktionssystems begreiflich macht, geht er auch hier, bei der Produktion oder Rezeption von Literatur, von den vormodernen Kommunikationsbedingungen einer geschlossenen Welt aus, wo es symbolische Medien gibt, die das Unvertraute ins Vertraute, das Unwahrscheinliche ins Wahrscheinliche wenden. Für den mittelalterlichen Zusammenhalt der Differenz von Unwahrscheinlich/Wahrscheinlich appelliert er an Thomas von Aquin, nach dessen Ontologie jedem Seienden von Gott seine Stellung und sein Ziel in der Seinsordnung zugewiesen ist. Aufgrund der Analogie von Schöpfung und artificium kommt den res artificiales Wahrheit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit zu, und nach der thomistischen Lehre der adaequatio rei et intellectus etabliert sich eine Mentalisierung der Wahrheit mit der Folge: Auch die ‚res artificiales’ konnten wahr sein in Bezug auf den Formenschatz des Intellekts: dicitur enim domus vera, quae assequitur similitudinem formae quae est in mente artificis; et dicitur oratio vera, inquantum est signum intellectus veri (Thomas von Aquino, Summa Theologiae I q, 16.a.I). 161 Nach dem durch die Dynamik der Kulturevolution bedingten Wegfall der Analogie von Schöpfung und artificium verliert das Kunstwerk seine metaphysische Einbettung, ist symbolisch auf sich selbst und seine eigenen Selektionen angewiesen und wird zum Zeugnis der Kontingenz. Um aber trotz zunehmenden Kontigenzbewusstseins auf beiden Seiten die Erkennbarkeit des Kunstwerks sicherzustellen, konzediert Luhmann eine behutsam erweiterte Codierung, indem er die Unterscheidung ‚schön/hässlich’ beziehungsweise ‚unterhaltsam/langweilig’ auch mit einer gewissen Dosis Reflexivität versieht.162 Überraschend für einen prominenten Vertreter des Autopoiesis-Gedankens ist, dass Luhmann es bei dieser kognitiven Zutat nicht bewenden lässt und an das Kunstwerk geradezu poetologische Anforderungen stellt, die angefangen vom stimmigen Aufbau bis hin zum Anspruch, 161 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, ebenda: „Die Differenzierung von Kunst gegen das Medium der Wahrheit kann nicht begriffen werden als Verzicht auf kognitive Prozesse bei der Produktion und Rezeption von Kunstwerken, etwa auf der Basis von Intuition und Genuss“. 162 49 das Erleben zu steuern, den aristotelischen Auflagen kaum nachstehen.163 Da Luhmann hier in aller Deutlichkeit Strukturbedingungen formuliert, die das Kunstwerk zu erfüllen hat, wäre durchaus vorstellbar, dass dazu auch die erzählerische Stimmigkeit etwa auf der Grundlage eines sozialen Dramas zu zählen ist. Wenn Erzählungen gefallen sollen, muss die Symbolik eines Codes für Kunst so arrangiert sein, dass es Selektionen gibt, die als Selektionen zur Annahme motivieren. 164 Dass auch der Sequenz-Gedanke Luhmann nicht fern liegt, zeigt sich darin, dass er die Kunstwerke unterscheidet in solche, bei denen die Reihenfolge des stimulierten Erlebens beliebig ist, also Bilder, Skulpturen, Architekturen, und solche, bei denen die Reihenfolge des Erlebens nicht beliebig ist, das heißt Texte, Filme oder Musikstücke. Letzteren schreibt er zu, dass sie mit dem Anspruch auftreten, Erleben zu führen und in eine vorgezeichnete Selektivität zu zwingen,165 wozu auch Mechanismen der Überzeugung 166 hilfreich sein können. Vom Soziologen ist nicht zu erwarten und zu fordern, dass er diese Mechanismen der Überzeugung in eine narrative Grammatik übersetzt, in das Rezept zur Herstellung einer richtigen Geschichte im Sinn von Uwe Johnson. Er stellt den Code zu Verfügung, mit dem das System seine Selektionen durchführt. Es ist sicher kein Fehlschluss, in den oben dargestellten Sequenzen Programme mit Software-Charakter zu sehen, an denen die an der literarischen Kommunikation Beteiligten mit Hilfe des Codes und unter dem Druck, Neues hervorzubringen, das heißt zu unterhalten und unterhalten zu sein, ihre Weichenfunktion versehen. 7. Hans Blumenberg: Die Chaosbewältigung Der Zustand der Liminalität, dessen Analogien sich in den bisher angestellten Überlegungen zu Aristoteles’ Dreischritt, Propps Initiation, Burkerts Nahrungssuche, Lévi-Strauss’ Fluchtanlass für die ‚Fuge’, Turners sozialem Drama und Luhmanns Ende der Stratifikation als status naturalis des Erzählens nachweisen lassen, wird schließlich auch von zwei prominenten Theoretikern des Mythos beschrieben; von Ernst Cassirer, der bei der Suche nach dem Ursprung der Erzählung das Verhältnis des Menschen zu der ihm überlegenen Macht religionsphilosophisch reflektiert, und von Hans Blumenberg, der für den phänomenologischen Zugang optiert und daher die Rekonstruktion einer ‚mythogenen’ Urszene erwarten lässt. In Anlehnung an Hegels Religionsphilosophie und Comtes Dreistadienlehre sieht Cassirer den Frühmenschen – streng genommen: den Frühmenschen in seiner prähominiden Phase - in totaler Abhängigkeit von den ihn übersteigenden Mächten, den Naturgewalten, dem Tod, der ihn überfordernden Umwelt, einer Abhängigkeit, in welcher er durch magische Praktiken auf diese Mächte reagiert. Die Magie als Werkzeug der Wunscherfüllung verleiht dem Menschen sowohl die Herrschaft über die Natur als auch die Macht über die in allem obwaltenden Götter und Dämonen. Die Reichweite des Zaubers, im Spruch und in der Geste, mag sie empirisch163 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung S. 247 – 248: „An die Stelle der ‚adaequatio’ tritt so etwas wie die immanente Stimmigkeit des Kunstwerks: Dessen Elemente müssen einander fordern in einer Verdichtung, die Lücken erkennbar und Überflüssiges ausscheidbar macht. Darauf beruht die Aufhebung der (gleichwohl entstehungsnotwendigen) Kontingenz des Handelns und zugleich die Führung des Erlebens, darauf beruht die Motivation zur Übernahme kontingenter Selektionen“. 164 ebenda 165 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247 166 ebenda 50 tatsächlich eher begrenzt sein, kennt indes keine prinzipielle Grenze. In dieser magischen Weltsicht, in diesem Modus des Denkens und Fühlens sowie des Wollens und Tuns ist dem Ich a priori alles möglich, und die äußere Form der schrankenlosen Ermöglichung ist der Kult, der sich in einem religiösen Prozess aus den magischen Formen herausbildet, in denen der Mensch auf das absolute Gegenüber einwirkt, welches sich zwar beschwören und bezaubern, sich aber jeder Interaktion in Form einer Relation von Leistung und Gegenleistung verschließt. Denn der Kult ist das aktive Verhältnis, das der Mensch sich zu seinen Göttern gibt. In ihm wird das Göttliche nicht nur mittelbar vorgestellt und dargestellt, sondern es wird unmittelbar auf dasselbe eingewirkt. 167 Nach der Hegelschen Auffassung von der Bewegtheit der Erscheinungen durch den absoluten Geist drängt der Kult über die magische Praxis hinaus und verfolgt das Ziel, die Trennung des Menschen vom absoluten Gegenüber zu überwinden und auf beiden Seiten der durchlässiger werdenden Trennungslinie die Kontrahenten in ein neues Licht zu setzen, das heißt sowohl das Ich des Menschen, wie die Persönlichkeit Gottes – jedenfalls gilt dies für die ethischmonotheistischen Religionen, nicht aber für den Buddhismus 168 – in gesteigerter Prägnanz und Schärfe herauszubilden. Das kultische Geschehen ist daher nicht nur als äußerliche Handlung zu verstehen; es ist ein Tun, welches den äußeren Vorgang mit dem innerlichen verbindet. Diese Einheit, Versöhnung, Wiederherstellung des Subjekts und seines Selbstbewusstseins, das positive Gefühl des Teilhabens, der Teilnahme an jenem Absoluten und die Einheit mit demselben sich auch wirklich zu geben, diese Aufhebung der Entzweiung macht die Sphäre des Kults aus. 169 Im dialektischen Prozess in Richtung auf fortschreitende Verinnerlichung des Teilhabens am Göttlichen erscheinen die beiden Pole, der Gott und das religiöse Subjekt, jeweils auf ihrer Seite, aber der Sinn des Prozesses ist die Aufhebung ihrer Trennung mit dem Ziel, dass das Ich in Gott und Gott im Ich gewusst wird, was als ersten Schritt voraussetzt, dass das Ich die Position des bloß magisch agierenden Gegenübers aufgibt. Diese evolutionistische Sicht erblickt in der Magie ein unwirksam gewordenes, weil auf falschen Assoziationen gestütztes System von Versuchen, die Natur zu den erwünschten Leistungen zu zwingen; die mythologisch organisierte Religion legitimiert sich durch die Annahme, dass die Regelmäßigkeiten der Welt unter der Herrschaft von Kräften stehen, die den Menschen übergeordnet sind und die, da sie den Beschwörungen und Befehlen kein Gehör schenken, mit Bitten, Gaben und Schmeicheleien günstig und gnädig gestimmt werden müssen. Im Fortgang der Evolution würde dann dem wissenschaftlichen Denken und der Technik die Aufgabe zufallen, die Zusammenhänge in der Natur zu durchschauen und die gewünschten Lebensbedingungen ohne die Intervention übersinnlicher Wesen herzustellen. Die Form des menschlichen Entgegenkommens auf der nach-magischen Entwicklungsstufe ist das Opfer. Es füllt die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Menschen aus und macht gleichzeitig die scheinbare Entäußerung explizit, an der sich in den materiellen Formen des Kults die Tendenz zu fortschreitender 167 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1923), 2. Aufl. Darmstadt 1953, S. 262 168 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 269 : „Der Buddhismus lässt die Götter bestehen – aber für die eine wesentliche Grundfrage, die er stellt, für die Frage der Erlösung bedeuten und leisten sie nichts mehr. Und damit sind sie aus dem eigentlich entscheidenden religiösen Prozess überhaupt herausgedrängt. Nur die reine Versenkung, die das Ich nicht sowohl zur Gottheit erweitert als sie es vielmehr im Nichts erlöschen lässt, bringt die wahrhafte Erlösung“. 169 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, S. W. XI, S. 67, zitiert nach Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 263 51 Verinnerlichung zeigt. Das Opfer ist Grundmotiv und Mittelpunkt jeder kultischen Handlung. Es kann zwar verschiedenen Intentionen entsprechen, der Sühne dienen oder der Reinigung von Schuld, eine Bitte ausdrücken, einen Dank abstatten oder als festliche Gabe dargebracht werden, immer bildet es in all diesen Erscheinungsformen einen festen Kern, um den sich die kultische Handlung gruppiert. 170 Als allgemeine und typische Urform religiösen Verhaltens stellt Cassirer das kultische Opfer an den Anfang eines kulturellen Prozesses, in dessen Verlauf sich der spezifische Sinn des Göttlichen wie der des Menschlichen erst bestimmen soll. Während das Ich auf der Stufe der magischen Weltansicht an die Allmacht der menschlichen Wünsche glaubt, alles auf sich zu bannen und zu beziehen beansprucht und sich durch Anwendung der rechten magischen Mittel dienstbar zu machen vorgibt, äußert sich auf dem Niveau des Opfers eine andere Richtung des menschlichen Wollens und Handelns. Die dem Opfer zugesprochene Kraft gründet sich in einem negativen Moment, in einem Verzicht, den das Ich sich auferlegt, in einer Einschränkung des unmittelbaren Begehrens. Indem das Opfer sowohl im Selbstopfer der Askese beziehungsweise der beim Initiationsritual erduldeten Schmerzen als auch im Gabenopfer sich an einen bestimmten Adressaten wendet, anerkennt das Ich eine Macht, die ihm überlegen ist und die, da sie mit magischen Mitteln nicht bezwungen werden kann, durch Gebet und Opfer versöhnt und – im günstigsten Fall – für eine dauerhafte und umfassende Kooperation gewonnen werden kann. Beide, die Götter und der Mensch können von dieser per Opfer und Gebet etablierten Distanz nur profitieren: Die Götter gewinnen an Selbständigkeit und Identität, der Mensch an freiem Selbstgefühl, an Entscheidungsspielraum und Selbstbewusstsein. Selbst die Dingwelt erscheint in neuem Licht; die physischen Gegenstände sind nicht mehr nur Objekte der Wahrnehmung oder des Gebrauchs, es kommt ihnen als potenzielle Gabenopfer ein Bedeutungswert 171 zu. Da der Opfernde vom Adressaten des Opfers eine Gegenleistung erwartet, wird aus dem ursprünglichen magisch-sinnlichen Zwang den Göttern gegenüber ein Tausch 172 , ein Akt des Gebens und Nehmens, der beide Seiten aneinander kettet. Da der Gott zur Sicherung seiner Identität und Anerkennung seiner Macht auf die Spende des Opfernden angewiesen ist, wird er genau so von diesem abhängig wie dieser von ihm. Er sichert sich sozusagen durch seine Zuwendung den Bittenden gegenüber das Anbetungsmonopol, welches seine Position als höhere Macht festigt. Das Sakrale als eine im Inneren der Dinge verborgene Kraft, als ein Mana, wird von Marcel Mauss in seinem berühmten Essay über die Gabe 173 als ein gesellschaftlicher Zwang beschrieben, Geschenke zu geben, anzunehmen und zu erwidern. In der so begründeten symbolischen Ökonomie werden mit den Dingwerten 170 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 2 Die Herkunft von lat. pecunia (Geld) von pecus (Vieh) belegt die mit dem Opferkult verbundene Umwertung der Dinge, die Tempelwirtschaft als ökonomische Vorform sowie die enge Bezogenheit von Schuld und Schulden. 172 Entsprechend der Dogmatik des Kirchenvaters Irenäus von Lyon (130 - 202) wird in der Präfation der Gemeindemesse am Weihnachtsfest die Menschwerdung Gottes und seine Anbetung durch die Menschen als Tauschvorgang gedeutet: „Denn einen wunderbaren Tausch (admirabile commercium) hast du vollzogen: dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in Christus dein göttliches Leben. Darum preisen wir dich mit allen Chören der Engel und singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit“. In: Der Große Sonntags-Schott, Originaltexte der deutschsprachigen Altarausgabe des Messbuchs und des Lektionars, Freiburg u. a. 1975, S. 703 173 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, (1923/1924), (Übers.), Frankfurt/M 1990 171 52 auch symbolische Werte wie Freundschaft, Liebe, Ehre, Sicherheit gehandelt, so dass zugleich mit den Dingen das Innere des Gebenden und des Empfangenden an der Transaktion teilnimmt. Wie Cassirer, sieht auch Mauss als ersten Gabenaustausch den Austausch mit Göttern, Geistern und Verstorbenen. Wenn den Göttern oder den Ahnen, denen man etwas schuldig geblieben ist, ein Opfer gebracht wird, so mag dieses Opfer wie eine reine Vernichtung von Gütern aussehen, aber eigentlich sollen dadurch die Götter oder Geister zu einer Gegengabe verpflichtet werden. Es soll ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit begründet, die pure Abhängigkeit von der übersteigenden Macht durchbrochen und in der teilweisen Umwertung der Positionen aus dem Gläubigen ein mit Ansprüchen ausgestatteter Gläubiger 174 werden. Die symbolische Ökonomie begrenzt sich somit keineswegs auf die Menschen; es werden Götter, Geister, Ahnen wie auch Nochnicht-Geborene in den Gabentausch mit einbezogen, und es ist sogar die wichtigste Dimension dieser Ökonomie, dass sie im Unterschied zur Marktökonomie nicht nur die Lebenden umfasst, sondern ebenso wirksam alle Geister aller Zeiten. Im gleichen Maß, wie Cassirer dem Opfernden ein freieres Lebensgefühl bescheinigt, kann für Mauss erst im Kontext der symbolischen Ökonomie überhaupt so etwas wie lebendige Persönlichkeit mit individuellem Profil entstehen – kann der Mensch ein Gesicht bekommen, das sein Inneres ausdrückt. In einer mehr topologischen Deutung der symbolischen Ökonomie von Marcel Mauss unterscheidet Boris Groys 175 die mediale Oberfläche der Dingwelt von dem submedialen Raum des Symbolischen, in dem die Zeichen nicht ruhig gestellt sind, vielmehr unberechenbar und demzufolge unter Verdacht stehen und ihren agonalen Charakter offen legen. Was in der symbolischen Ökonomie auf dem Spiel steht, wenn das Gesamt von Leistung und Gegenleistung nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren zum Ausgleich tendieren soll, zeigt sich daran, dass der Beschenkte, wenn er die Gaben nicht erwidert, sein Gesicht verliert. Warum kann man aber sein Gesicht durch die versäumte Leistung der Gegengabe verlieren? Offensichtlich bekommt man erst als Schenkender sein Gesicht. 176 Wenn also die innere Persönlichkeit eines Menschen ihm nicht angeboren ist, sondern als Effekt seiner symbolischen Handlungen produziert wird, muss in Realisierung des Tauschgedankens auch für die andere, auch die göttliche Seite gelten, dass deren Identität sich erst durch die Gewährung oder Zusage der Gegengabe herausstellt. Dass die symbolische Ökonomie alles andere als eine primitive gesellschaftliche Idylle ist, in der alle Beteiligten an allen symbolischen Gütern gleichermaßen partizipieren dürfen und der profitsüchtige Wille zum Sammeln und Aufbewahren ausgestorben ist, wird von Mauss an dem alten indianischen Brauch des Potlatsch 177 demonstriert, in dem sich die kriegerischen, das heißt die strategischen Elemente des symbolischen Tausches deutlich abzeichnen. Im Potlatsch werden, wenn ein Häuptling einen Teil oder sogar die Gesamtheit seines oder seines Stammes Eigentums vernichtet, die anderen Häuptlinge unter dem Zwang der symbolischen Ökonomie verpflichtet, das Gleiche zu tun, um ihr Gesicht und ihren gesellschaftlichen Rang zu bewahren. So gerät sogar die pure und scheinbar sinnlose Vernichtung von Reichtum zu einer ökonomischen Handlung mit einer gewissen Rendite. Zugleich enthüllt sich der Potlatsch als ein aggressiver 174 Roger Caillois, L´Homme et le sacré, Paris 1950, S. 29: « Par le sacrifice, le fidèle s´en (des puissances sacrées, d. Verf.) est fait créancier ». 175 Boris Groys, Unter Verdacht, Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 119 f. 176 Boris Groys, Unter Verdacht, S. 124 - 125 177 Marcel Mauss, Die Gabe, S. 20 f. 53 Wettbewerb um gesellschaftliche Anerkennung und macht klar, dass es in der symbolischen Ökonomie, die ihm zugrunde liegt, nicht um friedlichen Interessenausgleich, vielmehr um Vorteilsgewinn und Nachteilsvermeidung geht. Dass in dieser Ökonomie ein Umtausch nicht gestattet wäre, liegt auf der Hand. Ein Umtausch müsste als Depotenzierung des Erst-Schenkenden gedeutet werden, als ein nicht zu reparierender Angriff auf seine Identität. Wie weit die Verpflichtungen zur Gegengabe reichen können, die durch gewaltige Opferhandlungen entstehen, deutet Boris Groys mit der Selbstopferung Christi und Sokrates’ freiwilliges Akzeptieren des gegen ihn verhängten Todesurteils 178 an. Die symbolische Macht und in der Folge die Legitimation sowohl des Christentums als auch der europäischen Philosophie wird aus dieser Opferhandlung gewonnen. Nachdem Gott sich in Gestalt Christi der Menschheit geopfert hat, fühlt sich die christliche Menschheit verpflichtet, sich Gott ebenfalls zu opfern – oder zumindest zu gehorchen. Auch die philosophische Tradition ist letztlich auf einem Potlatsch gegründet. Der Tod Sokrates’ verpflichtet andere Philosophen zum Denken, das heißt zur Übernahme bestimmter methodischer Verfahren, die Sokrates ihnen geschenkt und vermacht hat. 179 Ob und inwieweit Marcel Mauss die Teilnahme an der symbolischen Ökonomie nach rationalen Gesichtspunkten und bewussten Entscheidungen erfolgt oder ob der Zwang zum Tausch als ein submediale, ozeanische Bewegung beschrieben wird, 180 bleibt nicht endgültig geklärt. Schließt man sich der ersten, anthropozentrischen und humanistischen Interpretation an, erscheint der symbolische Tausch als eine idyllische Vorform einer Ökonomie ohne Profitsucht und eigennütziges Verhalten der Subjekte. Im anderen Fall handelt es sich um einen Zwang, der sich notfalls ohne jede bewusste Zustimmung seitens der Handelnden und gegen ihren expliziten Willen durchsetzt. 181 In dieser Deutung verhält es sich mit dem symbolischen Tausch wie mit der Hegelschen Dialektik, in welcher der absolute Geist auf These und Antithese setzt, auf Zuspruch und Widerspruch, um seine eigene subphänomenale und submediale Bewegung voranzubringen. Für Mauss dient die Gabe und Gegengabe dazu, eine Ökonomie systematisch zu beschreiben, die, da die erbrachte und die erwiderte Leistung voll und ganz kommensurabel sind, sowohl das Innere der Dinge als auch den Gebenden mit einbezieht und die übliche Marktökonomie transzendiert. Mit der Logik des symbolischen Tausches erschließt er nicht nur die Funktionen von archaischen Gesellschaften, er verwendet sie als überzeitliches Schema zur Beschreibung der Religionen, des Sozialstaats, des Krieges, ja jeder menschlichen Zivilisation. Bei Cassirer hingegen, der den Prozess der Herausbildung der Formen des kultischen Opfers als einen Stufengang betrachtet, der einem Abschluss zustrebt, ist die Logik der Gabe und der Gegengabe als Vorstufe zu einer fortgeschrittenen Weise der Auseinandersetzung mit der höheren Macht zu verstehen. Entscheidend ist dann nicht mehr der Inhalt der Gabe oder Spende, zum Kern des Opfers wird die Form des Gebens und Darbringens. Jetzt wird nicht nur die Gabe verinnerlicht – sondern das Innere des Menschen ist es, was als die einzige religiös-wertvolle und religiösbedeutsame Gabe erscheint. 182 Die Gabe selbst ist nicht mehr ein Tauschobjekt; wie das Gebet vermittelt sie zwischen der Sphäre des Göttlichen und der Sphäre des 178 Boris Groys, Unter Verdacht, S. 126 Boris,Groys, Unter Verdacht, S 126 - 127 180 Boris Groys, Unter Verdacht, S. 131 181 Boris Groys, Unter Verdacht, S. 132 182 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 269 179 54 Menschlichen, sie wird das Medium der Kommunion und der eucharistischen Mahlgemeinschaft, bis schließlich im dialektischen Fortgang das Medium selbst hinfällig wird und in dem eucharistischen Exzess 183 der mystischen Vereinigung von Mensch und Gott nicht nur der Mensch zum Gott, sondern auch der Gott zum Menschen wird. Die größte Distanz zum Opfer als Tausch ergibt sich dort, wo nicht mehr dem Gott geopfert wird, sondern wo der Gott selbst als Opfer dargebracht wird oder sich als solches darbringt. Durch das Leiden und Sterben des Gottes vollzieht sich auf der Seite der Menschlichen die Erhebung dieses Daseins zum Göttlichen und seine Befreiung vom Tode. 184 Solange aber das religiöse Verhältnis noch in Opferkategorien gedacht und entsprechend zelebriert wird, und dazu rechnet Cassirer sogar die hoch abstrakte mittelalterliche Satisfaktionslehre, wonach die unendliche Schuld des Menschen nur durch das unendliche göttliche Opfer getilgt werden kann, verläuft der religiöse Prozess in den altgewohnten Bahnen mythischer Gedankengänge, 185 mit anderen Worten: ist dieser Prozess nicht über die Stufe des Kults hinausgelangt, wo Hegel die Sequenz der Aufhebung der Entzweiung, der Versöhnung, der Wiederherstellung des Subjekts und seines Selbstbewusstseins beobachtet und das Göttliche nicht nur vorgestellt, sondern dargestellt, also auch erzählt wird. Die mythischen Erzählungen, die alle vom Opfer erzählen, welches die übersteigende Macht an die Menschen bindet, werden bald als Reflexe, bald als Wiedergabe und Spiegelbild, bald als Spiegelung 186 des Kults bezeichnet. Für die erzähltheoretischen Fragestellung von Belang ist, dass Cassirer den spekulativ begründeten und religionsphilosophisch belegten Hegelschen Primat des Kults vor dem Dogma überträgt auf das Verhältnis des Kults zur mythischen Erzählung und somit das kultische Grundmotiv des Opfers wenn nicht zur mythischen Leitidee so doch zu einem elementaren Gedanken des Mythos proklamiert. Da aber der Mythos als Denk-, Anschauungs- und Lebensform 187 seinerseits dem dialektischen Gesetz188 unterworfen ist und gemäß der Stadienlehre von Auguste Comte die theologische und metaphysische Stufe durchlaufen muss, um zur positiven zu gelangen und dort seinen Abschluss zu finden, muss der Zeitpunkt kommen, die Krisis, an dem die Religion den Schnitt vollzieht 189 und sich von der mythischen Bildwelt löst. Die Loslösung der Religion, zumal der christlichen, vom Mythos und vom Symbolischen kann aber nur teilweise gelingen. Im Wettstreit mit den orientalischen Religionen, beispielsweise in der Konkurrenz zur 183 Vgl. Peter Sloterdijk, „Herzoperation oder: Vom eucharistischen Exzess“ in: Sphären I, Frankfurt/M 1998, S. 112 -113: „ In der mystischen Ausnahmesituation erscheint das metaphysische Gefälle zwischen den Polen gleichwohl nivelliert. Der Mensch ist jetzt nicht mehr nur das Werk oder der Vasall Gottes; der Rückstand der einzelnen Seele gegenüber ihrem jenseitigen Grund scheint auf mysteriöse Weise aufgeholt; durch eine schwer analysierbare Vertiefung […] wird der Mensch mit einem Mal Genosse, Ko-Subjekt, ekstatischer Komplize und gleichaltriger Mittäter des Absoluten“. 184 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 276 185 ebenda 186 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 262 - 263 187 so lauten die zentralen Kapitel im Teil 2 der Philosophie der symbolischen Formen 188 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 283: „ Dem stetigen Aufbau der mythischen Bilderwelt entspricht das stete Hinausdrängen über sie“. 189 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 286 55 Mithrasliturgie190, war das Christentum angewiesen auf seine mythische Bodenständigkeit, 191 und die Tendenz zur Vergeistigung mit der Forderung der Umkehr ließe sich liturgisch nicht ohne mythische Stoffe darstellen und durchsetzen. Um den Mythos zu überwinden, bedarf es daher einer weiteren Trennung. Gehört im Religiösen das Ineinander und Gegeneinander von Sinn und Bild zu den Wesensbedingungen, 192 so gibt es eine andere Sphäre, in der der Gegensatz zwischen Dingwelt und Symbol wenn nicht aufgehoben, so doch gewissermaßen beruhigt und beschwichtigt 193 ist. Dies ist die Sphäre, in der der Schein seine eigene Wahrheit hat, die Sphäre des Ästhetischen, welche die Frage nach der Bedeutung und der Wirklichkeit ihrer Gegenstände hinter sich lässt und wo die Bilder, die als reiner Ausdruck schöpferischer Kraft entworfen werden, eine rein immanente Bedeutsamkeit 194 gewinnen. Geht es Ernst Cassirer darum, dass der Mythos als Übergangsphase zwischen Magie und Logos, indem er sich vom Kult löst, auf ästhetische Distanz zu ihm geht und die Spiegelbildlichkeit mit ihm verlässt, zu einem Abschluss kommt oder überwunden wird, versteht ihn Hans Blumenberg als Verarbeitungsform von Wirklichkeit eigenen Rechts, 195 als eine überzeitliche Ausdrucksform dafür, dass in der Welt und unter den in ihr waltenden Mächten nicht die reine Willkür herrscht. Obwohl der Ursprung des Mythos nur spekulativ erschlossen werden kann 196 und die aus der griechischen epischen Poesie, Tragödie und Bildhauerei bekannten Mythen bereits einen langen Prozess der Analyse und Entmythisierung hinter sich haben, lassen sich seine Funktionsweisen und Rezeptionsformen erkennen. In der Extrapolation einer archaischen Liminalität, in der der Frühmensch beim Übergang vom schrumpfenden Regenwald auf die Savane einen elementaren Situationssprung zu leisten und nach der Überwindung des Verlustes der alten Urwaldgeborgenheit“ sich den Risiken des erweiterten Horizonts seiner Wahrnehmung als denen seiner Wahrnehmbarkeit auszusetzen 197 hatte, erkennt Blumenberg einen ‚status naturalis’, den er stark macht durch die Analogie mit anderen Urszenen: mit der traumatischen Situation der völligen Hilflosigkeit des Ich, welches nach Sigmund Freuds Befund die überwältigende Gefahr dieser Hilflosigkeit durch die frühkindliche Liebesforderung kompensiert sowie mit dem ontogenetischen Geburtstrauma, welches der FreudSchüler Sandor Ferenczi in Beziehung setzt zu dem stammesgeschichtlichen Übergang vom Meer aufs Land.198 In dieser durch das Heraustreten aus der 190 Der Neue Brockhaus, 3. Aufl. 1964: „Mithras, arischer Lichtgott, Spender von Fruchtbarkeit, Frieden und Sieg […] Sein mystischer Kult […] verbreitete sich von Persien über Kleinasien, Griechenland und seit 70 v. Chr. durch die römischen Soldaten über Rom bis nach Germanien […]. 191 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 297 192 Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 311 193 ebenda 194 ebenda 195 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979), 4. Aufl. Frankfurt/M 1986, S. 59 196 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 53 : „Theorien über den Ursprung des Mythos sind müßig. Hier gilt: Ignorabimus. Ist das schlimm? Nein, denn wir wissen auch sonst von den ‚Ursprüngen’ nichts“. 197 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 10 198 Zu beiden Arten des Biotopwechsels s. Peter Sloterdijk, Sphären I, S. 51 : „Was die Vertreibung aus dem Paradies genannt wurde, ist ein mythischer Titel für die sphärologische Urkatastrophe – in psychologischer Terminologie würde sie annäherungsweise als allgemeines Entwöhnungstrauma umschrieben.“, sowie ders., Sphären III, Frankfurt/M, 2004, S. 360: „Es gilt zu zeigen, dass die Savannen-Bewohner durch ihre eigentümliche Weise des Einwohnens im Raum selbst das Beben (durch welches anthropogene Räume entstanden, d. Verf.) auslösten und wie sich in der Folge ein Treibhauseffekt einspielte, mit dem die Selbstbrütung von homo sapiens begann. Dieses Beben rief 56 Geborgenheit des Urwalds auf die offene Savanne entstandenen Lage, in der Passage von der Deckung zur Lichtung in Verbindung mit den durch den aufrechten Gang gewonnenen Freiheiten und zu gewärtigenden Risiken, bezieht sich die Aufmerksamkeit sowohl für das, was willkommen als auch für das, was bedrohlich ist, nicht mehr auf ein punktuelles und leicht und durch Hinhören zu ortendes Objekt, sondern auf den gesamten Horizont, was einen permanenten und angestrengten Augenaufschlag und eine generelle Spannung erfordert. Da diese in Voraussicht und Umsicht zu leistende generelle Spannung aber nicht auf Dauer zu stellen ist, muss sie immer wieder reduziert werden, am vorteilhaftesten auf bereits bekannte und erfahrungsgemäß bewältigbare Situationen. Der Absolutismus der Wirklichkeit muss daher abgebaut werden in einer archaischen Gewaltenteilung, 199 in der die Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet 200 wird, in dem die Stelle des Unvertrauten und Ungeheuren von Vertrautem und Gegenwärtigem besetzt und für das Unerklärliche eine Erklärung, für das Namenlose eine Benennung ge- und versucht wird, wo der Terror des Ausgesetztseins durch Nachahmung und damit durch spielerische Inszenierung entschärft wird. Dem Ungegenwärtigen und Unfassbaren wird etwas gegenübergestellt und zum Gegenstand der abwehrenden, beschwörenden, erweichenden oder depotenzierenden Handlung 201 gemacht, damit ein Umgang mit diesem Anderen möglich ist. Das hinter dem Horizont liegende Unheimliche und Ungeheure wird antizipierend wahrgenommen und für wahr genommen; es wird in der mythischen Erzählung einer Dialyse der Angst 202 unterzogen, vergegenständlicht, namhaft, ansprechbar und angehbar gemacht. Das Geschehen wird als ein Tun ausgelegt, in den bild- und sprachlosen Himmel wird ein Tierkreistheater hineinphantasiert. Dass dieser Versuch, den Horizont abzuschreiten und das Unvertraute durch Namen, Bilder und Geschichten identifizierbar zu machen, nicht auf jene archaische Situation beschränkt ist, in der der Mensch als Typus des Fluchttiers 203 auf die Bedingungen seiner Existenz nur minimalen Einfluss hatte, zeigt sich in den periodisch wiederkehrenden apokalyptischen Horizontverengungen in Zeiten des Umbruchs, aber auch in der modernen Science-Fiction-Produktion mitsamt den visionären Hochrechnungen mit ihren professionell oder gar professoral ausgemalten Schrecknissen der Gegenwart und erst recht der Zukunft. 204 Welchen Ausgangspunkt man auch immer wählen würde, den frühgeschichtlichen oder den jeweils als modern datierten, das Erzählen von Geschichten, mit denen das Benannte durch die Metapher aus seiner Unvertrautheit herausgehoben und erschlossen wird, hätte immer schon begonnen, der Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit wäre immer schon unternommen, die Arbeit des Mythos und die Arbeit am Mythos wären im Gang, der Mythos selbst wäre bereits ein Stück qualitätsvoller Arbeit des Logos und, was die Pointe von Blumenbergs Analyse ist, diese Arbeit wäre bis heute nicht zu Ende geführt. Demzufolge ist der Mythos nicht einzuordnen in eine linear verlaufende Entwicklung als Phase des Übergangs von der Magie zum Logos, auch nicht in eine hierarchische Beziehung der Vorläufigkeit gegenüber der eine Entsicherung hervor, die nur durch eine Neu-Versicherung kompensiert werden konnte – man wird letztere zu gegebener Zeit als Kultur bezeichnen“. 199 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Erster Teil, Archaische Gewaltenteilung’, erstes Kapitel ‚Nach dem Absolutismus der Wirklichkeit’ 200 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9 201 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 11 202 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M 1988, S. 166 203 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 11 204 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9 57 Theorie und der Wissenschaft, welche im Rahmen ihrer Problemstellung die geeigneteren Bewältigungsformen sind. Indem die Ethnologie und Archäologie ebenso wie die Philosophie und Soziologie den Mythos als ein historisch oder prähistorisch lokalisierbares Phänomen betrachten und die verschiedenen Formen der Psychoanalyse für das Verhältnis des Vorzeitigen zum Gleichzeitigen neue Aspekte eröffnen, bleibt dieser eine ebenso geschlossene wie abgeschlossene Periode der menschlichen Entwicklung. Mag auch die Faszination durch einen angenommenen Zusammenhang von historischer Vorwelt und psychischer Unterwelt zu plausiblen Aussagen führen, solche Vorstellungen erklären nicht, wie mythologische Gehalte fern von ihrem Ursprung und ihrer genuinen Funktion immer wieder als Leitfiguren elementarer Selbst- und Weltbestimmung aufgegriffen und ausgelegt, variiert und umakzentuiert werden konnten. 205 Anstatt das Wesen des Mythos 206 zu bestimmen, plädiert Blumenberg dafür, anhand der Mythenrezeption und- umarbeitung seine ihm eigene Wirkung zu erfassen und die Bedingungen zu erkunden für eine Art neue Mythologie, für formale Mythisierung oder für den nachlebende(n) Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit. 207 In dieser Anforderung kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass der Mythos sich weder vor noch hinter die philosophische oder theologische Rede einzuordnen hat, dass er sich vielmehr als Bewältigungspotential in Gleichzeitigkeit beziehungsweise Konkurrenz mit diesen versteht, als Dichtung, deren Organ die Imagination ist und die sich nicht auf die Argumentation mit abstrakten und metaphysischen Begriffen einlässt. 208 Als genetischer Nachfolger des Rituals, welches als Neu-Versicherung in Reaktion auf die biologische Entsicherung 209 infolge des Biotopwechsels zu denken ist, unterliegt der Mythos wie auch die ritualisierte Handlung dem Zwang zur Wiederholung. Da diese ritualisierte Handlung, in der die unmittelbare Präsenz der dämonischen Mächte zur Abwehr und Beschwörung dargestellt wird, durch Vergessen oder verblassenden Liturgiezwang 210 an Verbindlichkeit verlieren kann, hat der Mythos in zyklischer Wiederkehr verständlich zu machen, was immer schon dargestellt wird. Insofern ist der Mythos als ‚Rezitativ’ der erste Schritt, der, indem er das ritualisierte Geschehen vergegenwärtigt, über das Ritual hinaus führt und sich von ihm löst. Die Inhalte der mythischen Bewältigung, welche zugleich eine ‚Beweltigung’ ist, lassen sich naturgemäß ebenso wenig bestimmen wie die einzelnen Sequenzen der von verschiedenen Anlässen bedingten Rituale. Blumenberg löst dieses stoffliche Problem, in dem er den Vorschlag macht, die mythologischen Gehalte als Produkt einer selektiven Rezeption zu betrachten, deren Auslesekriterium er als Lebenskunst 211 bezeichnet. Gemeint ist damit, dass sich nur 205 Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M 2001, S. 329 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 328 : „…vielleicht ist es für die Konfigurationen, in die mythologische Elemente je versetzt werden sollen, ganz unergiebig, ob Erfahrungen der Natur oder der Geschichte, des individuellen Traumes oder der kollektive Rituale, ob astrale oder meteorische Phänomene in Mythologie eingegangen sind“. 207 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M 1966, S. 302 208 Leszek Kolakowski, Obecność mitu (1966), dt. Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973 S. 159: „Wenn man somit vom rein spekulativen Charakter der behaupteten Diachronie Magie-ReligionWissenschaft absieht, […] so darf man behaupten, dass diese Doktrin Resultate zeitigt, die für die empirische Falsifikation geeignet scheinen“. 209 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 187 210 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 357 211 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 13 206 58 solche Geschichten über Jahrtausende hinweg durchsetzen können, die für die Abund Teilnehmer die Chancen des biologischen Überlebens vergrößern und denen nicht von der Wirklichkeit widersprochen werden konnte. 212 Die erzählte Geschichte muss sich also in der Deutung der Handlung bewähren, und die Wiederholung hat die Aufgabe, das Relevante als das Bedeutende zu bestimmen und zu tradieren. Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben, im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht, 213 beziehungsweise den Todesgedanken und die Todesangst, und der erzählerische Kern der Mythen, die alles andere als heilige unberührbare Texte sind, besteht in dieser apotropäischen Wirkung. Insofern gleicht der Mythos tatsächlich einem im Prinzip unabschließbaren und langlebigen Verfahren, nach dessen Regeln Texte erstellt, bearbeitet und umgearbeitet werden. Aphrodite entsteht aus dem Schaum der schrecklichen Entmannung des Uranos – das ist wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos. Dennoch ist seine Arbeit damit nicht zu Ende: in Botticellis Venus Anadyomene steigt sie auf wie aus dem Schaum des Meeres, nur noch für den Mythenkundigen aus dem des Sekrets der schrecklichen Wunde des Uranos, empor. Wenn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts der ‚Lebensphilosoph’ nach der mythischen Szene der Anadysis greift, um an ihr das Urverhältnis von Leben und Gestalt, von Lebensströmungen und Eros aufgehen zu lassen, dann erhebt sich für ihn die zeitlose Schönheit der Aphrodite nur noch ‚aus dem vergehenden verwehenden Schaum des bewegten Meeres’ 214 . Der Hintergrund des Schreckens ist vergessen gemacht, die Ästhetisierung vollendet. 215 Dass die Karriere des Mythos vom fruchtbaren Schaum, den der philosophierende Rhapsode Hesiod im 7. Jahrhundert v. Chr. zum erste Mal erzählte, noch lange nicht beendet ist, belegt der Titel von „Sphären III, Schäume“, des dritten Bands von Peter Sloterdijks großer Sphären-Trilogie. Dort wird auf 900 in jeder Hinsicht dicht geschriebenen Seiten die Geschichte der Moderne als schaumförmige Raumbildung in Form von Metamorphosen eines unerhörte(n) Denkbild(s) von einem Schaum, dem nicht nur Formkraft zukommt, sondern auch Geburtsfähigkeit und generative 216 Wirksamkeit zu Schönem, Reizvollem, Vollendetem neu erzählt. Wenn Blumenberg immer wieder die Rezeption des Mythischen auf den jeweiligen Kulturstufen nachweist und die hereditäre Hartnäckigkeit seines Mitgehens durch die Geschichte 217 betont, schreibt er ihm eine Wirkungsgeschichte zu, in der er nicht wie bei Cassirer eine prälogische Vorläuferfunktion für vermeintlich höhere Denk- und Ausdrucksformen hat, in denen er aufgehoben und überwunden wäre. Der Mythos ist für ihn weder eine Vorform der Philosophie beziehungsweise der Theologie noch der Wissenschaft. Seine Aufgabe und seine Leistung bestehen darin, ein Bearbeitungspotential zur Selektion von Bedeutungen vor dem Hintergrund des Beliebigen zur Verfügung zu stellen und die Unendlichkeit des Willkürlichen durch die Setzung eines überschaubaren Horizonts zu begrenzen. Was für Prometheus ebenso gilt wie für Odysseus, für das mythische Element des fruchtbaren Schaums wie für das der Stadtgründung infolge eines Schiffbruchs und gleichzeitig den 212 ebenda Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 40 214 Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlass, München 1923, S. 73 215 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 45 216 Peter Sloterdijk, Sphären III, Schäume, S. 41 217 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 68 213 59 Unterschied zur theologischen Rede markiert, lautet in Kurzfassung: Die Geschichte von Prometheus beantwortet keine Frage über den Menschen, aber sie scheint alle Fragen zu enthalten, die über ihn gestellt werden können. 218 Während in der Eschatologie, zum Beispiel in der Heilserwartung im Neuen Testament 219 die Pole der Erlösungsbedürftigkeit und der Heilserfüllung klar definiert sind und der allein rechte Weg des Heils als ein direkter Weg angezeigt wird, verläuft die mythische Erzählung zwar auch nach dem narrativen Dreischritt vom Anfang über ein Hindernis auf ein Ende zu, was ihn aber von der theologischen Rede unterscheidet, ist seine Umständlichkeit, 220 sein Digressions- und Umwegcharakter, der Ausschluss jeder orthodoxen Determination und das Vermeiden einer Anfangsund Endbestimmung, die in topographischer Sicht immer die Form der kürzesten Verbindung zwischen Anfang und Ende anstrebt. 221 Unter den formalen Merkmalen des Mythos nimmt die Figur des runden Umwegs, der Kreisbahn – der narrative Dreischritt kann als deren Abstraktion betrachtet werden – eine herausragende Stellung ein. Blumenberg bringt sie in Verbindung mit der Darstellung einer fraglos gewordenen, ritualisierten Struktur, die den griechischen Kosmos insgesamt prägt, dessen ‚Ordnung’ so etwas wie ein einziges Zeremoniell der Wiederholung des Gleichen ist und in dem Kugelform und Kreisbahn aller Himmelskörper eine ebenso verlässliche wie theoretisch darstellbare Periodik der Erscheinungen als Inbegriff ihrer Vernunft bürgen. 222 Angesichts der Evidenz dieses Kosmosgedankens mit seiner zyklischen Wiederholung und der Vereinigung von Bewegung und Ruhe mag die Neigung aufkommen, ihn selbst für die Präfiguration des Mythos zu halten, auf den sich die Metamorphosen der Metaphysik und Theologie berufen und von dem sie ein hohes Maß an Strahlkraft und Plausibilität beziehen. Doch indem Blumenberg feststellt, dass es sich bei diesem Kosmosgedanken um eine ‚ritualisierte Struktur’ handelt, die von einer ihr vorausgehenden Struktur ‚abstrahiert’ worden ist, stellt sich für ihn auch die antike kosmische Ordnung als eine Mythisierung, als ein Produkt der Arbeit am Mythos, als ein Rezeptionsereignis heraus, dessen Urbedeutung – nach seiner und vieler anderer Annahme - in Vergessenheit geraten ist. Wie sehr dieser zyklische Wirklichkeitsbegriff die Erzählung durchdrungen und weitgehend vereinnahmt hat, braucht hier im Einzelnen nicht dargestellt werden; mit dem homerischen Odysseus ist die Trajektorie mit ihrer weit reichenden Fernwirkung vorgezeichnet, so dass eher die Abweichungen vom Muster der glücklichen Heimkehr nach der abenteuerlichen Reise eine Notiz verdienen: Dantes Held überschreitet die Grenzen der bekannten Welt und geht im Ozean zugrunde, und Odysseus-Bloom, schreibt Joyce am 10. Dezember 1920 an Frank Budgen, schwärmt von Ithaka…und wie er zurückkommt, macht’ s ihn fertig. 223 Doch gerade auch die Abweichungen, die die Arbeit am Mythos fortsetzen, indem sie an ihm Kritik üben, können den Blick für die Konstanz des Grundmythos schärfen 218 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 360 Paulus, Röm. 8, 18-19: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes“. 220 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 372. 221 Eine prägnante Fassung der Differenzqualität des Mythischen stammt von Jean Paul: „Götter können spielen; aber Gott ist ernst“. Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 592 222 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 383 223 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 92 219 60 und ihn nicht als Kontext ausweisen, vielmehr als einen Vertrautheitsrahmen, innerhalb dessen interpoliert wird und der seine Integrationsfähigkeit, seine Leistung als Muster und Grundriss ausmacht. Wenn auch in der ‚Arbeit am Mythos’ alle Stellen immer wieder neu besetzt werden können, verläuft diese Stellenbesetzung nicht chaotisch. Soll eine Erzählung gelingen, das heißt erzählbar, merkwürdig und interessant sein, müssen gewisse Spielregeln beachtet werden, muss die Geschichte einer Geschichte, die Erzählung einer Erzählung gleichen, was wiederum heißt: tendenziell und über den kosmischen Umlaufgedanken hinaus auf die primäre Operation zurückzugreifen, in der die Domestizierung der Übermacht gelungen war, auf den ersten Potlatsch, das erste Opfer zur Aufhebung des Absolutismus der Wirklichkeit, den ersten Tausch, in dem das magische Gebanntsein sich in eine partnerähnliche Grundfiguration verwandelt hatte. Prometheus darf durch Herakles von seinen Qualen befreit werden, aber ein anderer muss, wie ungerecht auch immer, an seine Stelle treten, so als müsste das fixierte Bild einem Urbild entsprechend gewahrt werden. Die Grundfiguren stehen jenseits von Zweckmäßigkeit und Zielbezogenheit, sie bedürfen keiner Rechtfertigung. 224 Das gemachte Bild darf von nun an als Vertreter des Urbilds in menschliche Reichweite kommen, selbst die Sonne und andere Himmelskörper erweisen sich als mythisierbar; sie können nicht nur durch eine göttlichen Namengebung ansprechbar gemacht, sondern im weiteren mythischen Prozess zur goldenen Himmelsscheibe umgearbeitet und als kultischer Gegenstand im doppelten Sinn in Gebrauch genommen werden: als Gegenstand des Kults sowie als kultisches Gerät. Die Frage, warum hinter den mythischen Erzählungen trotz der Klarheit des Grundrisses der Grundmythos nicht sichtbar ist, kann von Cassirer nicht beantwortet werden, weil er den Mythos unter dem Aspekt des terminus ad quem betrachtet als eine Ordnungsform der Erfahrungswelt, die aus geschichtsphilosophischen Gründen auf die der Wissenschaft und ‚reinen’ Kunst hin tendiert. Blumenberg, der die Leistungsfähigkeit des Mythos unter dem Aspekt des terminus a quo beschreibt, ist zwar in der Lage, die Rezeptionenkette zurückzuverfolgen bis an den Punkt, wo er im Zusammenhang mit mythischen Opfererzählungen feststellt, dass solche Mythen […] Denkmäler endgültiger Hinterlassenschaft archaischer Rituale 225 sind, doch die Urbedeutung scheint sich ihm in dem Maß zu entziehen, wie er sich ihr nähert. Indem Blumenberg die Erfahrung der schlichten Vergesslichkeit als Erklärung für den flüchtigen Charakter der Urbedeutung und seine Nichtauffindbarkeit heranzieht, verstärkt er einerseits den Gedanken, dass sich der Mythos immer nur in den Rezeptionen verwirklicht, andererseits scheint er bei ihm eine Art Gedächtnisschwäche zu diagnostizieren, die einen seltsamen Kontrast darstellt zu der immer wieder hervorgehobenen mythischen Ermächtigung. Mit der Feststellung: Das Vergessen der ‚Urbedeutungen’ ist die Technik der Mythenkonstitution selbst – und zugleich der Grund dafür, dass Mythologie immer nur als ‚in Rezeption übergegangen’ angetroffen wird. Die Phänomenologie der Rezeption absorbiert das greift er in vereinfachter Form eine vermeintlich in dieser ’Wirkende’, 226 Beobachtung von Jacob Burckhardt auf, der die Schwierigkeiten, die das Verständnis des Mythos bereitet, auf eine Geisteshaltung der Griechen zurückführt, nämlich dass 224 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 383 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 134 226 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften S. 382 225 61 wir ihn bei einem Volke antreffen, welches die Urbedeutung der Gestalten und Hergänge offenbar hat vergessen wollen. 227 Für Blumenberg liegt der Grund des Vergessens der Urbedeutung des Mythos in der Ästhetisierung, die einsetzt, nachdem der Mythos seine apotropäische ‚Arbeit’ getan hat und von Rezeption zu Rezeption das Konstruktionsprinzip für Metamorphosen liefert. Ein anderer möglicher Grund wird von ihm angedeutet, aber nicht ausgeführt. Wenn er davon spricht, dass im Mythos, wie er in den Verwandlungen angetroffen wird, die Überreste des schrecklichen Grauens nur noch zu dem sprechen, der ihre Geschichte als Versicherung ihrer Entmachtung kennt und das Vergessen einen Hintergrund des Schreckens 228 hat, könnte die Unfähigkeit, vom Ungeheuren zu erzählen, weniger in der Vergesslichkeit der Tradition liegen, als vielmehr darin, dass das Wissen um die Urbedeutung ein gefährliches Wissen ist, ein Wissen, dessen Brisanz abgeschirmt und durch Überarbeitung entschärft und zumutbar gemacht werden muss. Vergegenwärtigt man sich, dass die mythischen Erzählungen als ‚Denkmäler endgültiger Hinterlassenschaft archaischer Rituale’ gleichzeitig auch Zeugen des blutigen Geschehens sind, das sich in der ‚archaischen Gewaltenteilung’ abspielt, wird nachvollziehbar, dass der Kern des rituellen Geschehens, nämlich der Einsatz von Opfergewalt zur Abwehr einer größeren Gewalt, die durch Magie nicht zu bannen ist, in seiner nackten Brutalität nicht aussprechbar ist, jedenfalls nicht durch die an diesem Geschehen Beteiligten. Als solche haben sie zunächst keine Theorie, teilen vielmehr eine Erregung. Wären diese in der Lage, eine objektive Auskunft über die ausgeübte rituelle Gewalt zu geben, so gäbe es beispielsweise Berichte von aztekischen Autoren über ihre Opferrituale, bei denen massenhaft Menschen getötet wurden. Wo es diese Opferdarstellungen von aztekischen Autoren tatsächlich gibt, handelt es sich um Malereien, Skulpturen und Stickereien, die die Ausübung von abwehrender beziehungsweise beschwörender Gewalt in den sakralen Zusammenhang stellen, diese Gewalt sakralisieren und damit die erste Mythisierung vollziehen und den ungeheuren Hintergrund des tatsächlichen Geschehens unkenntlich machen. Während die spanischen Missionare als externe Beobachter Zeugen der Opferhysterie werden und voller Entsetzen davon berichten, wie die Aztekenpriester im Blut der rituellen Massaker waten, zu deren Durchführung grausame Kriege zur Beschaffung der Opfergefangenen geführt werden müssen, 229 erzählen die aztekischen Mythen diese gewalttätigen Opferhandlungen als Geschichten, in denen nach der ‚Arbeit’ der mythischen Metamorphosen der 227 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I, 1 S. 45 zitiert nach Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 381 228 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 45 229 Bericht des spanischen Missionars Padre Bernardino de Sahagún, in: Georg Baudler, Erlösung vom Stiergott, S. 97 : „Nachdem man sie (die Gefangenen, d. Verf.) hinaufgebracht hat(auf die Tempelpyramide, d. Verf.) vor das Angesicht Uitzilopóchtlis, legt man sie, einen nach dem anderen, auf den Opferstein, übergibt sie den Priestern, sechsen derselben übergibt man sie. Die legen sie mit der Brust nach oben und schneiden ihnen die Brust auf mit einem dicken Feuersteinmesser. Das Herz der Gefangenen nennt man Adlerfrucht, den Edelstein. Sie heben es weihend zur Sonne empor, zu dem Türkisprinzen, dem aufsteigenden Adler, geben es ihr, nähren sie damit. Nachdem es dargebracht worden ist, legt man es in die Adlerschale nieder. Danach rollt man sie herab, stürzt sie (die Stufen des Tempels) herab. Sie klappern, kugeln gleich Kürbissen herab, schlagen auf, wälzen sich um und um, bis sie unten in Apétlac (auf der Vorterrasse) am Fuß der Stufenpyramide ankommen“. 62 Massenmord zur Götterspeisung wird und heilige Vögel zur Sonne gesandt 230 werden, aus denen im Verlauf der Rezeptionen gefiederte Bälle werden und das ursprüngliche Massaker zu einem Ballspiel ‚verarbeitet’ wird. Was sich jedoch in großer Klarheit hinter dem Schleier des Vergessens, Vergessenwollens und Verdrängens abzeichnet, ist die Begegnung mit dem Schrecklichen und Überwältigenden, welches abgewehrt werden muss. Die Abwehr in Konfrontation mit dem übermächtigen Gegenüber ist aussichtslos beziehungsweise bietet ein Rezept, welches evolutionär sich nicht als leistungsfähig herausstellt, seine Beschwörung mit dem Zauberspruch bewährt sich nur rein zufällig und überwindet die Konfrontation nicht. Mit dem Gegenüber ins Benehmen zu kommen durch Tausch, Opfer und Gebet, 231 ist für beide Seiten verbunden mit einer gesteigerten Identität; es ist ein der Versuch eines Wandels durch Annäherung. Im Ritual wird das Benehmen durch Opfer, Tausch und Gebet 232 - als Gesinnungsopfer zur Anerkennung einer höheren Macht - begangen und institutionalisiert. Das Ritual als Abwehr des Schrecklichen durch die Gegengabe bietet zwei verschiedene Anschlüsse. Der eine Ausgang geht den Weg der Theologisierung 233 und Dogmatisierung und errichtet mit dem Verbot des Dekalogs, 234 den Gottesnamen unnütz zu gebrauchen und von Gott als von einem affektverhafteten Wesen mit geschichtlichem Anfang und Ende zu sprechen, eine strikte Gegenposition zur mythologischen Poesie mit ihren Umbesetzungen und phantastischen Geschichten. Der andere Ausgang spricht vom Schrecklichen als von dem, was vergessen werden darf, von dem, was man hinter sich hat, von den traumatischen Ängsten und Drohungen, die man abgestreift hat, vom Aufatmen des Überstandenhabens 235 auch im Sinne der aristotelischen Katharsis. Nicht von ungefähr geht Mythologie in Dichtung über 236 und eröffnet eine Tradition, die gleichzeitig auf Variation und die dadurch explizit gemachte Invarianz des Ausgangsbestands setzt, die davon lebt, dass wie in der Musik das Thema in unabschließbarer Variation bis an die Grenze 230 Vgl. C. A. Burland, Peoples of the Sun. The Civilization of Pre-Columbian America (1967), dt. Völker der Sonne. Azteken, Tolteken, Inka und Maya, Bergisch Gladbach 1977, S. 70: „Belege für die Opferung von Herzen gibt es genügend auf den Malereien und in wenigstens einem Fall auch in Form einer Plastik. Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Opfer, die man mit großem Zeremoniell in den Himmel schickte, wichtige Kriegsgefangene waren“. Dazu S. 69 die Abbildung einer Steinstele, „die einen Ballspieler zeigt, der die Sonne grüßt“. 231 Reinhold Schneiders Sonett „Allein den Betern“ (1939) in: ders. Dreißig Sonette, Privatdruck, Halle 1941, kann als Anleitung zur ‚archaischen Gewaltenteilung’ gelesen werden, wonach der heilsökonomische Leistungsaustausch, nicht aber prometheische Selbstermächtigung zum Erfolg führen. „Allein den Betern kann es noch gelingen, / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten / Und diese Welt den richtenden Gewalten / Durch ein geheiligt Leben abzuringen. // Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: / Was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / Was sie erneuern, Über Nacht veralten, / und was sie stiften, Not und Unheil bringen. // Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt, / Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert, / Indes im Dom die Beter sich verhüllen. // Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt / Und in den Tiefen, die kein Aug verschleiert, / Die trocknen Brunnen sich mit Leben füllen“. 232 Vgl. Charles Baudelaire, Œuvres complètes Bd. II, Paris 1961, S. 1256 : « Le sacrifice et le vœu sont les formules suprêmes et les symboles de l´échange ». 233 Gen. 8, 20-21 erzählt die erste Gegengabe nach überstandener Katastrophe: „Dann baute Noach dem Herrn einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Der Herr roch den beruhigenden Duft, und der Herr sprach bei sich: Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe“. 234 Ex. 20, 7: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“. 235 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 335 236 Hans Blumenberg, ebenda 63 seiner Kenntlichkeit abgewandelt werden kann. Die Grundverfassung dieser Tradition der Freiheit und Gebundenheit ist die einer kanonisierten Lizenz, 237 was bedeutet, dass der Mythos ein Muster ist, auf dem und mit dem man frei ausschreiten kann, weil es alte Gefährdungen und Drohungen als das, was man getrost vergessen kann, nur noch wie ferne Vermutungen anklingen lässt. Obwohl der Mythos die Erinnerung an den Schrecken der rituellen Abwehr des Ungeheuren bewahrt, existiert er ausschließlich in jeweils neu kombinierten narrativen Lösungen. Seine Varianten sind Kopien von Kopien, aber nie Kopien einer Originalvorlage. Es gibt keinen Urmythos, der ontologisch gegenüber allen anderen privilegiert wäre, sondern nur die je neue Kombination des überlieferten Materials. Sollte ein erster Mythos existieren oder jemals existiert haben, wäre dieser bereits das Produkt der Mythisierung eines Sachverhalts, und auch seine Deutung eine mythologische Aussage. Der Mythos erzählt die Abwehr des Schrecklichen durch die Gegengabe, behält sie als Verfahren eines kultischen Kommerz für alle kommenden Fälle in Erinnerung und organisiert den Übergang von der rituellen zur textuellen Kohärenz. Fraglos scheint, dass der mythologische Bedarf als Mittel zur Bestimmung des Unbestimmten und als Zelebration des Sinnlosen als Sinn 238 auch in Gegenwart und Zukunft vorhanden und zu befriedigen ist. Ob und in welchem Umfang die literarische Erzählung sich dieser Aufgabe annimmt, ist daran zu messen, inwieweit der Mythos aus der Auslegung des Rituals und damit als Resonanz auf das blutige Geschehen ausbricht und seine poetische Freiheit endgültig erringt. Nicht zu übersehen ist, dass das mythische Verfahren in der Massenkultur, der Unterhaltungsindustrie einschließlich des Sports und überall, wo soziale Dramen inszeniert werden, zur Anwendung kommt, dass seine Morphologie mit deren Morphologie Entsprechungen aufweist. Wenn Adorno von einem ‚nachlebenden Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit’ spricht, scheint die ‚Arbeit am Mythos’ nicht zu Ende gekommen zu sein, und es liegt nahe, eine Latenz des Mythos zu vermuten in der Weise, wie Freud die traumatischen Früherlebnisse der Kindheit als latent vorhanden und prägend für das individuelle Leben beschrieb. 239 Zu klären ist, welchen Beitrag zur Weiterarbeit am Mythos beziehungsweise zu seiner Beendigung gegebenenfalls die Literatur insbesondere mit dem Roman, der modernen bürgerlichen Epopöe 240 als der Gattung des sich als aufgeklärt das heißt weitgehend mythenfreien Zeitalters zu leisten vermag. In seinem engagierten Plädoyer für die Autonomie des Romans des 19. Jahrhunderts wehrt Malraux 241 jede erzählerische Fremdbestimmung ab. Wie der Maler, so entdeckt nun auch der Schriftsteller das künstlerische Schaffen als eine Schöpfung ohne vorgegebenen Konstruktionsplan. Il n´ y a pas de partition, 242 lautet die Parole, und in der Erzählung geht es weder um eine Übertragung des Wirklichen ins Fiktive noch um dessen Nachahmung. Was der Schriftsteller anstrebt, 237 Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften S. 337 Th. W.Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, 1. Aufl. Frankfurt/M 2003, S. 122 239 Vgl. Mircea Eliade, Traité d´histoire des religions (1964), Paris 1974, S. 361 – 362 : « Le mythe peut se dégrader en légende épique, en ballade ou en roman, ou encore survivre sous la forme amoindrie de ‘superstitions’, d´habitudes, de nostalgies, etc.; il ne perd pas pour cela sa structure ni sa portée. [...] Mais les modèles transmis du plus lointain passé ne disparaissent pas ; ils ne perdent pas leur pouvoir de réactualisation. Ils restent ‘valables’ pour la conscience moderne ». 240 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835 – 1838), 2.- 4. Aufl. Bd. 2, Franfurt/M 1995, S. 392 241 André Malraux, L´Homme précaire et la littérature, Paris 1977 242 André Malraux, L´Homme précaire, S. 148 238 64 ist die Vervollständigung der Bibliothek um seinen eigenen Beitrag, die Antwort, die sein Buch auf die bereits geschriebenen Bücher gibt. Die bereits geschriebenen Bücher bilden eine Art Museum, in dem noch ein Stellplatz frei ist und besetzt werden will, und das Motiv zum Schreiben entsteht nicht aus der Erfahrung des Autors mit seiner Umwelt, sondern aus seinem Kontakt mit der Welt der Bücher. Der Künstler kann nicht anders, als seinem quasi natürlichen Schöpfungsdrang 243 zu folgen. Mit der Feststellung jedoch, dass die Person Napoleons 244 in obsessiver Weise die Romanproduktion des 19. Jahrhunderts bestimmt, relativiert Malraux nicht nur den Verzicht auf Nachahmung und auf ideologische Vorgaben und stellt seine eigene Forderung nach einem ‚Musizieren ohne Notenblatt’ in Frage. Indem er sowohl das napoleonische Grundmuster zu einem Verfahren der Wirklichkeitsbewältigung erhebt und zum Ausdruck bringt, dass im Sinne von LéviStrauss der Mythos auf seiner kulturgeschichtlichen Wanderung im Roman angekommen ist 245 und vor allem indem er lesend und dialogisierend durch das ‚imaginäre Museum’ der Bücher geht, reiht er sich ein in die Tradition der ‚Arbeit am Mythos’ und widerlegt die Auffassung von der Voraussetzungslosigkeit des künstlerischen Schaffens. In dem Kapitel Prometheus wird Napoleon, Napoleon wird Prometheus 246 zitiert Blumenberg die Bemerkung Nietzsches, 247 Goethe habe sich in seinem Schaffen weder durch die Freiheitskriege noch die Französische Revolution beeindrucken lassen. Das Ereignis, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem ‚Mensch’ umgedacht habe, sei das Erscheinen Napoleons gewesen, den er am 1. Oktober 1808 in Erfurt trifft in einer prometheischen Begegnung, 248 in der Goethe den Selbstvergleich mit Napoleon anstellt, weil es für ihn darum geht, dem Auge des siegreichen Eroberers, der auf allen seinen Feldzügen den Werther im Marschgepäck hat, standzuhalten. Blumenberg deutet die von Goethe notierte Szene: Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er: Vous êtes un homme. Ich verbeuge mich… als die Anweisung für eine Liturgie der Initiation, 249 die Aufnahme in den Kreis der Großen dieser Welt. Somit wären prominente Autoren, die auf die Freiheit ihres literarisches Unternehmertum pochen, identifiziert als im Projekt des Mythos Beschäftigte, die in doppelter Hinsicht seinem Werk verpflichtet sind: Sie treiben erfolgreich seine Metamorphosen voran und beteiligen sich, ohne es zu wissen, an seiner Vergessens- und Verbergensleistung. Um im Bild der Aphrodite zu bleiben: Sie produzieren die wunderbarsten Schäume und kaschieren und verschweigen eo ipso die schreckliche Wunde des UranosOpfers. 243 André Malraux, L´Homme précaire, S. 202 : « L´appel à la création, que le Musée Imaginaire ressasse irréfutablement, existe à l´égal du besoin religieux de communion – à l´égal du sentiment maternel peut-être ». 244 André Malraux, L´Homme précaire, S. 107 : « Son obsession (de Balzac, d. Verf. ) de Napoléon va plus loin qu´il ne croit, parce que ses personnages sont ordonnés par la passion qui règne sur toutes les autres: l´ambition. Ressentir comme un monde d´ambition ce qui allait devenir le siècle de l´individualisme, était lui donner son âme plus sûrement qu´en s´exténuant à suivre un plan de Danaïdes; et d´autant mieux que le personnage qui nourrira de façon proclamée ou secrète l´individualisme, depuis Stendhal jusqu´à Dostoëvski, est précisément Bonaparte ». 245 André Malraux, L´Homme précaire, S. 92 : « Le grand Jeu de l´homme et de l´imaginaire qui s´ était joué au théâtre, en peinture et à l´ église, se joue donc dans le roman [...] Il n´a ni modèles ni passé. Ni conflits de doctrine ». 246 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 504 - 566 247 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 504 248 Goethes Motto zum vierten Teil von Dichtung und Wahrheit lautet „Nemo contra deum nisi deus.“ Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 570 249 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 510 65 8. Zusammenfassung Dass der kultische Vorgang der Initiation, in welcher der Initiand nach schmerzhaften Prüfungen und Kontakt mit der Tötungsgewalt schließlich in die Gemeinschaft integriert wird, als Anfang der Erzählung gedacht wird, wird von Propp in der morphologischen Resistenz der Funktionen des Märchens und darüber hinaus der erzählenden Literatur ausgeführt. Burkert wendet die Proppsche Funktionentheorie auf die antike Mythologie an und findet sie dort bestätigt, verlegt jedoch den Ursprung der Erzählung von der kultischen Initiation in die biologisch programmierte gemeinschaftliche Nahrungssuche, deren Sequenzen im Opferritual eingespielt und gefestigt werden und über die mythologische Tradition bis zur zeitgenössischen Roman- und Filmproduktion gelangen. Die ethnologische Beobachtung von LéviStrauss ersetzt die historische Analyse durch eine genetische und bemüht sich um den Nachweis, dass es soziale Prozesse sind, die die narrative Technik bestimmen. Gleichwohl beschreibt Lévi-Strauss vor einem historischen Horizont eine Wanderungsbewegung des Mythos durch verschiedene Darstellungsformen hindurch: durch die Religion, die Musik, das Drama, den Roman. Da es soziale Konflikte sind, bei deren Bewältigung kulturelle Darstellungsformen entstehen, ist das Stadium der mythischen Erzählungen keine geschichtliche Epoche, die sich bei primitiven Kulturen verorten oder ethnographisch rekonstruieren lässt, vielmehr ein bei der je aktuellen Verarbeitung der Konflikte mitlaufendes Phänomen. Diese Bestimmung der kulturellen Darstellungsformen, insbesondere der Erzählung als Korrelat gesellschaftlicher Prozesse wird von Turner weiter verdichtet, indem er mit dem Begriff der Liminalität eine plausible Erklärung für die Situation liefert, in der Bewältigungsmechanismen in Gang kommen, und mit dem sozialen Drama eine Verlaufsform entwirft, die mit der dreischrittigen aristotelischen Grundform, die sich bereits bei Propp und Burkert abzeichnet, zur Deckung gebracht werden kann. In der systemtheoretischen Betrachtung von Luhmann wird zwar konzediert, dass die Erzählung vom Ritus und dem Mythos abstammt, jedoch wird nach der Ablösung der segmentären und stratifizierten durch die funktional differenzierte Gesellschaft jede externe Rückbindung beziehungsweise metaphysische Einbettung der Literatur für unmöglich gehalten. Doch bei der Untersuchung der Selektionskriterien, die bei der literarischen Produktion und Rezeption, insbesondere bei der Codierung von schön/hässlich und besonders von unterhaltsam/langweilig, maßgeblich sind, können unübersehbare Anklänge an die erzählerischen Tiefenstrukturen und ihre kognitionspsychologischen Entsprechungen wahrgenommen werden, wie sie in den vorausgehenden Stationen aufgezeigt wurden. Wie Cassirer lässt auch Blumenberg die mythische Erzählung aus dem Kult hervorgehen, behandelt sie jedoch nicht als evolutionäre Passage vom Mythos zum Logos. Während Cassirer im opferbasierten Umgang mit dem Übermächtigen – der von Marcel Mauss reflektierte Potlatsch verlängert die Reichweite ins Soziologische - und nach der Herausbildung der menschlichen und göttlichen Identität den Mythos übergehen und sich aufheben lässt in den religiösen, den philosophisch-wissenschaftlichen und schließlich den rein ästhetischen Formen, ersetzt Blumenberg die These von der Auflösung des Mythos durch die Annahme, dass dieser seine apotropäische Funktion in jedem Ausgangszustand beibehält, sei es beim stammesgeschichtlichen Übergang aus dem Urwald auf die Savanne, sei es beim Überschreiten der Schwelle zur Zukunft. Da die Urbedeutung des Mythos nicht in einem konkreten Ereignis angetroffen wird – dieses wird vergessen oder verdrängt -, sondern immer nur in der Erinnerung an ein offensichtlich unsagbares Geschehen, manifestiert sich der Mythos in künstlerischen 66 Rezeptionen und Interpolationen, die seinen Bedeutungskern enthalten, aber ihn nicht enthüllen. Als so geartetes, Form gebendes Prinzip verrichtet der Mythos seine Arbeit und kommt an kein Ende. Als ein solches erscheint der Mythos auch in der Beschreibung, die Aristoteles von der Dramen- und Epenproduktion seiner Zeit gibt. Auch wenn seine Poetik das erste systematische Nachdenken über das literarische Schaffen und Wirken darstellt, die Geschichten, in denen sich für ihn die Zusammenhänge zwischen Handlungs- und Erzählstrukturen manifestieren, haben bereits eine lange Zeit der Selektion und Bewährung hinter sich, so dass neben den antiken Dramen, welche eine Fülle an mythologischem Material verarbeiten und das ‚Imaginarium’ der westlichen Kultur begründen, auch die Poetik eine ‚Arbeit am Mythos’ ist, welcher die Arbeit der ‚archaischen Gewaltenteilung’ voraus geht, die den ‚Absolutismus der Wirklichkeit’ durchbrochen hat. Dass der Mythos, indem er die Bewältigung einer sozialen Krise darstellt, auf ein dahinter liegendes und ihn fundierendes Geschehen verweist, welches als ursprünglich tatsächliches Ereignis zu einem geregelten Ritual geworden war, ist argumentativ kaum fassbar. Dies schließt nicht aus, dass in einer spekulativen Wendung in Form einer Rückspiegelung eine intuitive Anschauung von dem unsagbaren Geschehen gewonnen werden kann, welche ihn strukturiert und ihn als vielseitig einsetzbares Verfahren zur Krisenbewältigung qualifiziert. Auf dem langen Weg der Rezeptionen, in denen die Akteure, die Anlässe, die Orte durch den jeweiligen Erzähler in das Grundmuster interpoliert und umbesetzt werden können, entstehen Beispiele, in denen sich der Mythos erfahren lässt. Besonders einprägsam sind die Erzählungen, die als griechische Sagen nicht nur das Phantasie-Repertoire der westlichen Literatur darstellen, sondern unter der fabulären Oberfläche die Qualitäten des Mythos weiterreichen, die dazu legitimieren, die Werke der künstlerischen Einbildungskraft als seine Verlängerung zu sehen. 250 Die dichterische Freiheit und ‚Lust zu fabulieren’, auch die von Malraux reklamierte Autonomie des Romans als nouvelle incarnation de l´imaginaire, 251 wären dann eine Komposition mit mythisch gestimmten Instrumenten, eine Texterstellung mit Hilfe einer Tastatur aus mythischen Typographen. Gustav Schwab gehört als Philologe nicht zu denen, die in dieser Weise am Mythos arbeiten. Er dient dem Mythos als Sammler, Archivar und Restaurator, auch da, wo er eine Episode aus den trojanischen Sagen nacherzählt, deren Phasierung in Anfang, Mitte und Ende klar konturiert ist und in der die Austauschbarkeit der umstandhaften Elemente erkennbar ist. Dort wird erzählt, wie der Kriegszug der Griechen gegen das feindliche Troja zu scheitern droht und der Seher Kalchas per Götterspruch dem König Agamemnon zur Bewältigung der Krise das bewährte Potlatsch-Verfahren in Gestalt der Opferung seiner Tochter Iphigenia nahelegt, welches dann durch seine heilsame Wirkung das ‚soziale Drama’ auch zu einem guten Ende bringt und die vom Auseinanderbrechen bedrohte soziale und militärische Ordnung der Griechen wieder zusammenfügt. […] „Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich (König Agamemnon, d. Verf.) das Schreckliche aus, aber ich muss es vollziehen. Ihr seht ja, welch ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer uns umstehen. Sie alle finden die Fahrt nach Troja nicht. Troja würde nicht erobert, wenn ich dich nicht opferte, Kind, so sagt Kalchas der Seher. Die Helden wollen den Entführungen griechischer Frauen ein Ziel 250 251 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 8 André Malraux, L´Homme précaire, S. 89 67 stecken. Sie sind fest entschlossen. Bekämpfte ich den Götterspruch, so mordeten sie euch und mich.“ […] „Ich (Iphigenia, d. Verf.) habe beschlossen, zu sterben: ich verbanne jede niedrige Regung aus meiner Brust und will das Geschick vollenden. Auf mir ruht jetzt das Auge Griechenlands, auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Trojas, auf mir die Ehre der griechischen Frauen. Alles dies werde ich mit meinem Tod schirmen. Mit Ruhm wird sich mein Name bedecken. Soll ich, die Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten, weil es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu verlangen? Nein, ich gebe es willig dahin; opfert mich, zerstöret Troja, das wird mein Denkmal sein und mein Hochzeitsfest.“ […] Währenddessen sammelte sich die griechische Heeresmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Artemis vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet, neben ihm stand der Seher und Priester Kalchas. Mitleid ergriff die Männer, als sie Iphigenia, von ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf Agamemnon zuwandeln sahen. Die Tochter aber stellte sich ihm zur Seite. „Lieber Vater, hier bin ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Spruch so verlangt. Mich freut es, wenn ihr glücklich seid und im Sieg zur Heimat kehrt. Berühre mich auch darum keiner; mutig und still will ich den Nacken dem Opferstahl bieten.“ […] Achill trat in voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte vor den Opfertisch, Iphigenia zu verteidigen; aber ihr Blick verwandelte seinen Entschluss. Er warf die Klinge auf die Erde, besprengte den Altar mit Weihwasser und sprach: „O hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige Opfer gnädig an, das Blut der Jungfrau, das Agamemnon und Griechenlands Volk dir weihen! Schenke unseren Schiffen glückliche Fahrt und Trojas Sturz unseren Speeren.“ Die Atriden und das ganze Heer starrten zur Erde. Der Priester Kalchas nahm seinen Stahl und betete. Dann hörte man den Fall seines Schlages. Aber, o Wunder, im gleichen Atemzug war die Jungfrau aus den Blicken des Heeres entschwunden. Artemis hatte sich ihrer erbarmt, eine Hindin von hohem Wuchs lag auf dem Boden und besprengte mit ihrem Blute den Altar. „Ihr Führer des vereinten Griechenheeres“, rief Kalchas, nachdem er sich von seinem freudigen Staunen erholt hatte, „sehet hier das Opfer von der Göttin Artemis gesandt, das ihr willkommener ist als das der Jungfrau! Die Himmlische ist versöhnt, sie gibt unseren Schiffen frohe Fahrt und verspricht uns die Stürmung Trojas. Seid guten Mutes, ihr Seegenossen, noch an diesem Tage verlassen wir die Bucht von Aulis!“ So sprach er und sah zu, wie das Opfertier allmählich vom Feuer verkohlt ward. Als der letzte Funke erloschen war, unterbrach ein sausender Wind die Stille der Luft, die Blicke der Männer kehrten sich dem Hafen zu. Ihre Schiffe schwankten auf bewegtem Meere. 252 Wenngleich er die Möglichkeit einräumt, dass es kulturelle Emanzipationsprozesse gibt, in denen die Objekte und Verhaltensweisen, die anfänglich einen instrumentalen Sinn besaßen, einen eigenständigen Sinn gewinnen und nicht mehr an ihre Genealogie gebunden sind, verzichtet Leszek Kolakowski auf die historische 252 Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838 - 1840), 9. Aufl. Bayreuth 1986, S. 211 - 212 68 Betrachtung des Mythos, da wir die unbedingten Anfänge der Mythologien nicht kennen, genauso wenig wie wir die unbedingte Ausgangsphase einer beliebigen Kulturform kaum noch jemals kennen werden: des Ritus, der Sprache, der Kunst, des Eigentums, des Rechts. 253 Anstatt den Mythos historisch zu betrachten und ihn als Übergangsphänomen zwischen vorausgehenden und nachfolgenden gesellschaftlich tradierten und individuell angeeigneten Ausdrucksformen zu verorten, setzt Leszek Kolakowski auf dessen radikale Gegenwärtigkeit und weist ihm als Bewusstseinszustand, als Energiequelle und als spezifische Existenzordnung einen eigenen Seinsstatus zu, der abzugrenzen ist vom Seinsstatus der alltäglichen, gewöhnlichen und phänomenalen Erfahrungen. Diese Abgrenzung erfolgt aus dem Bedürfnis, die leidvolle Gleichgültigkeit der Welt zu überwinden, den Mangel der biologischen Unangepasstheit zu kompensieren und gegen die aus der Unangepasstheit resultierende Verzweiflung anzukämpfen in Form einer Invention, die weder mit den körperlichen noch mit den intellektuellen Werkzeugen geleistet werden kann, mit denen der Mensch ausgestattet ist. Diese Invention ereignet sich in einer Situation, 254 in der das menschliche Denken und Verlangen nicht mit Information befriedigt werden kann, vielmehr sich auf eine unbedingte Ordnung zu beziehen versucht, auf welche es nicht sein Erkennen, sondern sein Verstehen bezieht. Obwohl diese beiden Ordnungen scheinbar getrennt und autark sind, kann es weder der empirischen Wirklichkeit gelingen, die Zufälligkeit der Erfahrung, die Zufälligkeit der Welt im Wort zu überschreiten, 255 noch vermag die mythische Intuition zu entscheiden, dass sie einen wahrhaftigeren Zugang zur Realität besitzt. Indem Kolakowski in einer wahrhaft Kantschen Wende sowohl den Sitz des mythologisch-symbolischen als auch des technologisch-kognitiven Bewusstseins in jedem von uns gegenwärtig 256 sieht, subjektiviert er nicht nur die Fähigkeit, mit dem gewöhnlichen Bestand der Sprache unsere Erfahrungen zu organisieren, sondern sieht auch in der jeweils eigenen mythischen Energie und Sprache das apotropäische Organ der Kontingenzbewältigung. Wie die rationalen Denkbewegungen und Denkergebnisse gehört auch das Repertoire mythischer Bilder und Anschauungen zur menschlichen Orientierung und Weltbildung. Dass die beiden Ordnungen sich nicht harmonisieren lassen, zu keiner Synthese fähig und ewig zerstritten 257 sind, ist für ihn kein Anlass zur Resignation. Im Gegenteil: Die Gegnerschaft zwischen Mythos und kritischem Rationalismus im Streit um die authentische Wirklichkeit ist der unverzichtbare Antrieb des kulturellen Prozesses, der davon lebt, dass die Synthese ausbleibt und dass es keiner der beiden Seiten gelingt, sie in ihrem Namen und in ihrer Sprache zu definieren. Beide Gefahren gilt es im Durchlaufen dieser Situation zu erkennen: die Gefahr der natürlichen Eroberungslust des Mythos 258 mit der Folge der drohenden Remythisierung und Hierokratisierung der Realität und andererseits die Gefahr, das mythische Bewusstsein auszuschalten und den mythisch fundierten Werthintergrund als festen 253 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 155 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 148: „… die bloße Gegenwärtigkeit des spezifisch menschlichen Bewusstseins schafft eine untilgbare mythogene Situation in der Kultur, wobei sowohl die bindungsstiftende Rolle des Mythos im sozialen Leben wie seine Integrationsfunktionen im Organisierungsprozess des Einzelbewusstseins unersetzbar scheinen, insbesondere aber nicht austauschbar gegen Überzeugungen, die von den Kriterien der wissenschaftlichen Erkenntnis geregelt werden“. 255 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 164 256 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 168 257 ebenda 258 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 156 254 69 Bestandteil der menschlichen Kommunikation mit der Natur oder mit anderen Menschen durch die bloße Gegebenheit des Faktischen zu ersetzen. Da der Mythos aber nur in der Intuition und Imagination erfahrbar ist und die Teilnahme am Mythos eine ewige Herausforderung der Vernunft darstellt, ist es nicht möglich, den Inhalt des mythischen Bewusstseins argumentativ zu erfassen, und dies trotz oder gerade wegen des nicht isolierbaren Anteils, den die mythologische Energie an allem hat, was Bestandteil der spezifisch menschlichen Praxis ist, der technologischen, sozialen, intellektuellen, künstlerischen und sexuellen Praxis, 259 wo über alles Faktische hinaus eine mythische Option zum Tragen kommt: etwa im Willen zur Domestizierung der Natur durch die Technologie, in der Suche nach der bergenden Integration durch den sozialen Körper im Sozialvertrag, im Verlass auf die Rechtsbindung im Recht, im Glauben an die Strahlkraft der Vernunft in der Logik, in der Erwartung, der gleichgültigen Wirklichkeit im schöpferischen Akt die Stirn zu bieten, in der Kunst, nicht zuletzt in dem Traum, in der sexuellen Begegnung sich an den Androgynen-Mythos von der vollkommenen Vereinigung anzuschließen und das Versprechen der heilbaren Separation einzulösen. III. René Girard: Mythos und Anti-Mythos 1. Einführung und Werkübersicht Dass es dennoch möglich sei, nicht nur um das Zentrum der mythischen Intuition zu kreisen und deren energetische Manifestationen zu identifizieren und zu legitimieren, sondern in den Inhalt des mythischen Bewusstseins einzudringen und es selbst bloßzulegen und zur Sprache zu bringen, also tatsächlich eine Synthese auf rationaler Basis zu erstellen und den Mythos zu entmythisieren, dies und nichts Geringeres ist das Anliegen von René Girard. Die genetisch und wohl auch chronologisch dem Mythos vorausgehende und das Opferritual in der Abfolge von Krise, dosierter Gewalt und Wiederherstellung bestimmende Handlungsstruktur, von Blumenberg prägnant als apotropäisch bezeichnet, die als ‚kanonische Lizenz’ der Erzählung zur Verfügung steht und die Voraussetzung für eine gelungene Geschichte ist, deren Gelingen darin begründet ist, dass sie plausibel, gefällig, unterhaltsam sowie merkfähig und merkwürdig ist, auch darin, dass sie dem Interesse des Hörers/Lesers entgegenkommt, dass sie aus erwartbaren Sequenzen besteht, die das Behalten und Weitererzählen und das Inszenieren auf der inneren Bühne der Einbildungskraft gewährleisten und für einen hohen Wiedererkennungswert als dreischrittige Suche bürgen, diese Handlungsstruktur und deren Spiegelung in der mythosförmigen Erzählstruktur wird von Girard an den von ihm ausgewählten Texten und Materialien nachgezeichnet. Er kommt dabei zu einem Ergebnis, welches die apotropäische Leistung der Such-Geschichten zwar bestätigt, gerade aber in deren Prestige und Erfolg gleichzeitig ein weit reichendes Verhängnis sieht, dessen Aus- und Fernwirkungen geradezu apokalyptische Formen annehmen. Die ‚Arbeit am Mythos’, seine legislative Gewalt, seine Verfahrensweise, seine Bewältigungsstrategie, welche eine Strategie zur Schreckensabwehr und 259 Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 163 70 Entängstigung, zur Überwindung von Liminalität, Inferiorität und Bedrohung ist, wird von Girard mit gewollt biblischer Resonanz als Pfad der Vorzeit 260 bezeichnet, womit er eine Methode meint, die unter dem Druck einer mythischen Korrektheit seit Menschengedenken zur Abwehr von bedrohlicher Gewalt und zur Bereinigung von krisenhaften Zuständen auf den Einsatz sakraler Gewalt baut und damit den Teufelskreis der Gewalt perpetuiert, einen Teufelskreis, in dem angesichts der im Laufe der Moderne gesteigerten Zerstörungsenergien jeder weitere Opfergang im globalen Maßstab sich zur Menschheitsvernichtung, im lokalen Erlebnisraum zur terroristischen Latenz ausweiten kann. Zeigte sich in den vorausgehenden Betrachtungen der Mythos weitgehend unempfänglich für destruktive Argumente, denunziert Girard die Komplizenschaft des Mythos mit dem gewaltsamen Verfahren der Friedens-, Ordnungs- und Kulturstiftung, probt den Zusammenstoß zwischen Mythos und Mythos-Erkenntnis und geht über dessen Deutung als religiöse, soziologische oder biologische Projektion hinaus. Zur Untersuchung von Handlungsstrukturen, die einen soziodramatischen Verlauf und dessen post-rituelle, literarische Fixierung in Gang und ins Werk setzen, benötigt Girard weder die rekonstruierten Inszenierungen einer Initiation oder jägerischen Befehls- und Erzählkette von Propp und Burkert, noch die stammes- und kulturgeschichtlich begründeten Ausgangszustände von Cassirer und Blumenberg, auch nicht die Abstraktion einer Liminalität von Turner oder die rituelle Reduzierung von Lévi-Strauss oder Mauss. Den Ausgangspunkt seiner ‚Sequenz’ und den Erklärungsansatz für seine umfassende Kultur- und Literaturtheorie bildet die bereits von Aristoteles formulierte anthropologische Gegebenheit der Nachahmung, 261 deren positive Funktion als Lernmotiv wohl beachtet aber gleichzeitig stark relativiert wird durch das konfliktive Potenzial, das sie mit sich führt. 1923 in Avignon geboren, absolviert René Girard nach dem Besuch des dortigen Lycée Mistral die Ausbildung zum Archiviste-Paléographe an der Ecole des Chartes in Paris, die er 1947 abschließt mit einer Diplomarbeit über La vie privée à Avignon dans la seconde moitié du XVe siècle. Im selben Jahr arbeitet er mit an der Organisation einer Ausstellung mit Werken von Braque, Chagall, Gris, Picasso, Mondrian, Léger und Matisse im Palais des Papes in Avignon, wo sein Vater als chartiste tätig ist und 1949 mit der Leitungsaufgabe eines conservateur betraut wird. Als sich die Gelegenheit bietet, der ungeliebten archivarischen Tätigkeit 262 an der Ecole des Chartes zu entkommen, bewirbt er sich 1947 mit Erfolg um eine Stelle als Lehrer für Französische Literatur und Geschichte an der Indiana University in Bloomington (Indiana), von wo aus er 1952 an die Duke University nach North Carolina wechselt. Dort erwirbt er 1953 er mit der Arbeit American Opinion of France, 1940-1943 ein Doktorat in Geschichte, wendet sich aber als Autodidakt der Literatur zu und tritt unter dem publish or perish-Diktat der amerikanischen Hochschulkarriere 260 René Girard, La route antique des hommes pervers, Paris 1985, S. 26 : « Veux-tu donc suivre la route antique / que foulèrent les hommes pervers ? / Ils furent enlevés avant le temps / et un fleuve noya leurs fondations. / Car ils disaient à Dieu: ‘Reste loin de nous’ ! ». (Job 22, 15-17) 261 Aristoteles, Poetik, Kap. 4, S. 44: „Denn sowohl das Nachahmen (mímesthai) selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude (chairein), die jedermann an Nachahmungen hat“. 262 « Entretien avec René Girard », in: François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, New York 1994, S. 190 : « Je (François Lagarde, d. Verf.) me rends compte que cette terreur amusée des Archives est à rapprocher de votre rejet de classification ». 71 mit literaturkritischen Arbeiten über Saint-John Perse, Sartre, Proust und Malraux hervor. Von 1953 bis 1957 bekleidet er eine Stelle als Professeur Assistant de français am Bryn Mawr College (Pennsylvania) und erhält dann nach der Position eines Professeur Associé eine Professur an der Johns Hopkins University (Maryland), 263 wo er die romanische Abteilung leitet (1965-1968) und die Zeitschrift Modern Language Notes herausgibt (1961-1968 und 1976-1980). Seine erste aufsehenerregende Publikation Mensonge romantique et vérité romanesque, welche die Struktur von erotischen Dreieckskonflikten im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts untersucht und die Basis für seine integrale Lehre von der conditio mimetica des Menschen bildet, erscheint 1961 in Paris, 1962 folgt in New York unter seiner Herausgeberschaft der Band Proust: A Collection of Critical Essays, 1963 wiederum in Paris mit der Studie Dostoïevski: du doble à l´unité eine Anwendung der mimetischen Romandeutung an dem russischen Autor, der zusammen mit Cervantes, Flaubert, Stendhal und Proust den Kanon bildet, der nach Girard für das Romanschaffen von absoluter Gültigkeit und Autorität ist. 1966 organisiert Girard an der Johns Hopkins University ein internationales Symposion zum Thema The Languages of criticism and the Sciences of Man, an dem unter anderen Roland Barthes, Jacques Derrida, Jacques Lacan, Georges Poulet, Lucien Goldmann, Tzvetan Todorov und Jean-Pierre Vernant teilnehmen und die in der Literaturkritik implizierten anthropologischen Positionen diskutiert werden. Von 1968 bis 1972 ist er Vorstandsmitglied des Lehrerverbands für moderne Fremdsprachen in Amerika und von 1971 bis 1976 Professor an der Buffalo University (New York). In dem von der Stiftung Broquette-Gonin der Académie Française ausgezeichneten Werk La Violence et le sacré, das 1972 in Paris erscheint, überträgt Girard die in den Romananalysen gewonnenen Beobachtungen auf das Feld der Religionskritik und Gesellschaftslehre und erarbeitet daraus unter Verwendung von ethnographischem Material einen primären Dramen-Mechanimus, der aus den mimetischen Rivalitäten entspringt und sich zu einem geregelten soziodramatischen Geschehen zusammenfügt, das in Anlehnung an den von Vladimir Propp geprägten Leitbegriff als ‚Girardsche Sequenz’ angesprochen werden kann. Seit 1974 lehrt Girard an der Stanford University (California), zuerst als Professor für französische Literaturgeschichte und Modern Thougt, seit 1983 für Vergleichende Literaturwissenschaft. Nach einer erneuten Spezialstudie zu Dostojewski, Critique dans un souterrain, die 1976 in Lausanne vorgelegt wird, erscheint 1978 das Hauptwerk, Des Choses cachées depuis la fondation du monde, welches in Dialogen mit den Psychologen und Psychiatern Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort die Resultate der Romandeutung, der Religions- und Gesellschaftsanalyse, der Befunde der Ethnologie sowie der Interpretation der antiken und biblischen Texte zusammenfasst und daraus eine umgreifende Kulturtheorie formuliert. Im gleichen Jahr erscheint in Baltimore der thematisch korrespondierende Sammelband To Double Business Bound: Essays on Literature, Mimesis and Anthropology. Seine gesteigerte Bekanntheit macht ihn 1979 zum Mitglied der amerikanischen Akademie der Künste und Wissenschaften. Während er erneut in Amerika, in Stanford, im Jahr 1981 ein internationales Symposium mit dem Thema Disorder and 263 Dazu René Girard, Les origines de la culture, Entretiens avec Pierpaolo Antonello et João Cezar de Castro Rocha, Paris 2004, S. 29 : « L´autre offre à laquelle j´ai failli dire oui venait de l´université de Fribourg (en Suisse, d. Verf.), pas trop grande, calme, proche de la France. Mais j´étais alors à Hopkins, j´avais de bons étudiants et je m´intéressais trop à mes recherches pour prendre le temps de déménager ». 72 Order durchführt, veröffentlicht er ein Jahr später in Paris mit Le Bouc émissaire eine Studie, die ebenso wie La Route antique des hommes pervers, erschienen 1985, der Dekonstruktion der Mythen gewidmet ist, welche in der Gegenüberstellung mit biblischen Texten als Hetz- und Verfolgungsgeschichten entlarvt werden und in denen die Formation des ‚Alle-gegen-einen’ als unausgesprochenes dramatisches Prinzip bloßgestellt wird. Im April 1984 erhält Girard in seinem Heimatland die öffentliche Anerkennung und die Auszeichnung eines Chevalier de l´Ordre National de la Légion d´Honneur et Officier dans l´Ordre des Arts et des Lettres, obwohl er nach wie vor in den USA lebt und lehrt, wo er seit 1985 Gastdozent der University of North Carolina und seit 1986 in Stanford als Vizedirektor ein interdisziplinäres Forschungsprogramm leitet. Mehrere internationale Symposien, in der Regel in Stanford, folgen, deren Themen sich mit seinen anthropologischen und kulturtheoretischen Entwürfen befassen: Understanding Origin, Paradoxes of SelfReference in the Humanities, Law an the Social Sciences, Vengeance: A Colloquium in Literature, Philosophy an Anthropology. Seit 1994 existiert ein ständiges Colloquium on Violence & Religion, welches periodisch an wechselnden Orten in Europa und Amerika zusammentritt und von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck aus organisiert wird, deren Ehrendoktor Girard seit 1988 ist, nachdem er drei Jahre zuvor als solcher von der Freien Universität Amsterdam geehrt worden war. Mit Shakespeare, Les feux de l´envie erscheint 1990 eine detaillierte und engagierte Textanalyse, in der der Nachweis geführt wird, dass Shakespeare seine Dramen konsequent, wenn auch vom Publikum fast unbemerkt, nach den Regeln des mimetischen Konflikts konstruiert hat. Es folgt 1994 mit einem Zitat aus dem Lukas-Evangelium (21, 28) Quand les choses commenceront… die Veröffentlichung eines Interviews mit dem Filmemacher Michel Treguet, in dem verschiedene GirardThemen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situation der 90er Jahre diskutiert werden. Schließlich wird unter dem neutestamentlichen Titel Je vois Satan tomber comme l´éclair , welcher eine Zeitdiagnose zur Jahrtausendwende auf der Grundlage einer anthropologischen Neudeutung des Zehnten Gebots versucht, die Grenze der wissenschaftlichen Abhandlung überschritten. War der bekennende Unterton in seinem vierzigjährigen Schaffen immer zu vernehmen, so gerät dieses Buch, 1999 in Paris publiziert, explizit zur christlichen Apologie 264 und dokumentiert a posteriori die Konversion zum Katholizismus, die sich zu der Zeit ereignete, als er sein Leben während der Arbeit an seinem ersten Buch Mensonge romantique et vérité romanesque von einer schweren Krankheit 265 bedroht sah. Die beiden folgenden Veröffentlichungen in Buchform, Celui par qui le scandale arrive, Paris 2001, und La voix méconnue du réel. Une théorie des mythes..., Paris 2002, können als Anwendungen der mimetischen Theorie betrachtet werden und als Versuche, deren Erschließungskraft zu erweitern. Die 2004 erschienene und ins Französische übersetzte Schrift Les origines de la culture, Entretiens avec Pierpaolo Antonello et João Cezar de Castro Rocha kann den Rang einer biographie intellectuelle beanspruchen und ist die eindrucksvolle Bilanz einer vierzigjährigen, um die Themen der Mimesis und ihrer persönlichen und sozialen Bewältigung kreisenden Denkbewegung. 264 Auf die Frage: « Est-ce que vous êtes un anthropologue chrétien ? » antwortet René Girard. « Oui, pourquoi pas ? Ou un chrétien anthropologue ». in : François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, S. 203 265 René Girard, Quand les choses commenceront, Entretiens avec Michel Treguet, Paris 1994, S. 194 : « Je n´ai jamais connu de fête comparable à cette délivrance-là. Je me voyais mort, et d´un seul coup, j´étais ressuscité ». 73 Am 17. März 2005 wird Girard zum Mitglied der Académie Française gewählt und folgt dort dem Theologen Pater Carré. 2. Die methodische Position von René Girard Da es Girard, wie die Titel seiner Werke zu Recht vermuten lassen, um eine integrale Literaturbetrachtung geht, deren Reichweite mit der ganzheitlichen Perspektive eines Vladimir Propp oder eines Walter Burkert vergleichbar ist, wird der Einsatz seiner Untersuchungen nicht das künstlerische Detail sein. Es wird auch für ihn die Herausforderung lauten: Es gibt Handlungsstrukturen, die für die Begründung einer menschlichen Gemeinschaft maßgebend sind, und diese Handlungsstrukturen lassen sich erkennbaren Erzählstrukturen zuordnen. Und wie beispielsweise die Märchen- und Mythenanalyse einen Bauplan skizzierte, in dem ethnologisch und archäologisch rekonstruierte Handlungsstrukturen mit Erzählstrukturen zur Deckung gebracht werden konnten, die als literarische Konstruktions- wie Rezeptionsvorgaben bis heute wirksam sind, müssen auch andere Erzählformen als Gründungsdokumente menschlicher Vergemeinschaftung gelesen werden können und muss auch in diesen der Gang der Hominisation nachvollzogen werden können, einer Hominisation, die immer auch zugleich mit einer Soziogenese 266 zu denken ist. Wählt man eine mehr genetische Perspektive, kann dies heißen: Es gibt dieses Urereignis, das ursprüngliche Soziodrama, welches das Zusammenleben von Menschen in einem gegebenen Raum und zugleich ihren homineszenten Augenaufschlag ermöglicht. Diese Urszene ist aber nicht unmittelbar dokumentiert, es gibt davon keinen objektiven Bericht, niemand war dabei. Sie wird jedoch vermittelt, und die Medien, die die Erinnerung an das Urereignis aufbewahren, sind die Riten sowie die mythischen Erzählungen mit ihren narrativen Derivaten. Deren Lesbarkeit ist indes problematisch, weil das mediale Eigeninteresse und die Absichten der Medienarchivare in Konflikt geraten können mit der Repräsentationsund Reaktualisierungsfunktion der Zeichenträger und Sinnbewahrer. Indem Girard die objektiv vorhandenen Mythen und Riten gewissermaßen gegen den Strich liest, ihren verschwiegenen Anteil zum Vorschein bringt und die auf den Anfang zurückweisenden Spuren frei legt, rekonstruiert er deren über alle Kulturen und Zeiten identischen Subtext und formuliert aus diesem Text im Rückschluss die Hypothese für die Realität des Urereignisses. Den Texten lauscht er den dramatischen Ablauf des ersten Ereignisses ab. Aus dem So-ist-es des Textes schließt er auf ein So-muss-es-gewesen-sein dieses Ereignisses, aus der erzählerischen auf die operative Sequenz mit der entsprechenden Phasierung von Anfang, Mitte und Ende, von Exposition, krisenhafter Zuspitzung und Lösung. Auf seiner Spurenlese trägt Girard Indizien aus den verschiedenen, ihm zugänglichen fachwissenschaftlichen Bereichen zusammen, deren jeweilige traditionelle Definitionsbereiche er konsequent ignoriert und überschreitet. Die Frage nach der Einheit des Forschungsgegenstands und damit nach der Girardschen Methode wird insofern beantwortet, als sichtbar wird, dass dem Problem des 266 Peter Sloterdijk verbindet die beiden Aspekte in dem Begriff der ‚anthropogenen Insel’, von der es heißt: „…wir definieren die menschenbrütenden Primatenkollektive als Einheiten insularen Typs und sehen in den dort erzeugten Menschen die Vektoren der schöpferischen Bewegungen, die in ihrem Denken münden, reifen und fortgehen“. In: P. S., Spären III, Schäume, S. 358 - 359 74 Nachahmens 267 und der Folgenbewältigung auf verschiedenen Wegen nachgegangen wird, dem anthropologischen, ethnologischen und literarischen, wobei bei letzterem die Gattungsunterschiede trotz der scheinbaren Engführung durch eine vérité romanesque fast belanglos sind und Texte wie die biblischen Verse, denen nach den üblichen Kriterien der Literaturbetrachtung ein überwiegend entlegener Status zugewiesen wird, mit Werken der so genannten Weltliteratur zu einem unter einem gleichen Aspekt zu befragenden Ensemble zusammengefasst werden. Obwohl Girard eher intuitiv vorgeht und durch die Verknüpfung von wissenschaftlichem und religiösem Engagement 268 bisweilen den Eindruck aufkommen lässt, dass das Ergebnis seiner Ermittlungen feststeht, bevor die Indizien zum Sprechen gebracht werden, lässt sich seine spezifische Arbeitsweise erfassen und zu einem Girardschen System ausformen. Mit dem für sein Projekt programmatischen Titel Mythos und Gegenmythos beteiligt sich Girard an einer von verschiedenen Autoren unter ihren jeweiligen literaturkritischen Aspekten vorgenommenen Analyse von Kleists Das Erdbeben in Chili (1804) 269 und macht explizit, wie sich die lecture girardienne den Texten nähert, wie sich eine Girardsche Handlungs- und Erzählsequenz herausbildet und wie sich aus der Verarbeitung der ethnologischen, anthropologischen und literarischen Befunde und vor allem der Verwertung ihrer dialogischen beziehungsweise polylogischen Bezüge eine veritable Kulturtheorie konfiguriert. Ohne seine Entscheidung bezüglich der Gegenstandskonstitution und der Methodenwahl in der Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Subdiskursen wie der Diskursanalyse, der Hermeneutik, der Kommunikationstheorie, der Literatursemiotik, der Institutionssoziologie oder der sozialgeschichtlichen Werkinterpretation zu begründen, enthält seine Interpretation der Kleistschen Novelle die Formel für eine spezifische Art der kontrollierten Textdecodierung, die als seine eigene Entdeckung gelten kann, seine Individualität und Profiliertheit ausmacht und die Voraussetzungen erfüllen dürfte, dass die methodologische Diskussion der Zukunft sie zur Kenntnis nimmt. Dreh- und Angelpunkt der methodischen Positionierung Girards ist die Mimesis 270 als anthropologische Konstante, die von Platon bis zur modernen Massen- und Mediengesellschaft die Existenz des Individuums und der menschlichen Gesellschaft ermöglicht und bestimmt. Der von Platon und Aristoteles 271 vertretene Begriff der Mimesis wird von Girard als einseitig und verstümmelt kritisiert, weil darin übersehen wird, dass das Nachahmen nicht nur positive Wirkungen wie bei den existenziell und kulturell unabdingbaren Vorgängen des Bildens, Lernens, Erziehens erzeugt, 267 René Girard, Avant-propos, in : Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale mimétique, Paris 2001, S. 7 : « La théorie mimétique n´est pas une Académie ni l´une des multiples écoles ou courants postmodernes ; elle est une proposition concrète pour étudier et mieux comprendre la réalité humaine ». 268 René Girard, Avant-propos, in : Maria Stella Barberi, La spirale mimétique, S. 8 : « ...dans une recherche aussi bien scientifique que religieuse ». 269 René Girard, Mythos und Gegenmythos, Zu Kleists Erdbeben in Chili (Übers.) in: David E. Wellbery (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft, Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili, (1985), 4. Aufl. München 2001, S. 130 - 148 270 Zur Geschichte und Funktion der Mimesis als ästhetische und politische Kategorie vgl. Erich Auerbach, Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), 9. Aufl. Tübingen u. a. 1994, sowie Philippe Lacoue-Labarthe, L´imitation des modernes, Paris 1986 und ders., La fiction du politique, Heidegger, l´art et la politique, Paris 1988 271 Der erste Teil des theoretischen Hauptwerks Des choses cachées depuis la fondation du monde mit dem Titel Anthropologie fondamentale beginnt mit dem Zitat aus der Poetik des Aristoteles: L´homme diffère des autres animaux en ce qu´il est le plus apte à l´imitation. 75 sondern auch zu hochgradig konfliktiven Reaktionen führt, zu Reaktionen, deren Beherrschung die kulturelle Herausforderung schlechthin ist. Er erinnert daran, dass die Göttin Mimesis zwei Gesichter hat und neben der gutartigen auch die maligne Nachahmung ihren Namen leiht. Wenn nämlich das Nachahmen sich nicht auf das Tun des Anderen, sondern auf dessen Begehren und Habenwollen richtet, verwandelt sich das Verhältnis zwischen dem imitierenden Subjekt und seinem Modell in eine Rivalität zwischen Kontrahenten, und aus der um sich greifenden mimetischen Proliferation innerhalb der gegebenen Menschengruppe entsteht eine Kettenreaktion unaufhaltsamer Antagonismen, welche, vor allem wenn es sich um nicht teilbare Appropriationsgüter wie soziales Prestige, Macht, Sexualpartner handelt, gewaltsame Formen annimmt und letztendlich das Kollektiv dem Risiko der Selbstauslöschung aussetzt. Weil die Partner im Duo der Begehrensnachahmung einander zugleich unerlässliche und unerträgliche Doppelgänger, Vorbilder und Hindernisse sind, ist ihr Konflikt unvermeidlich. Im Unterschied zu den animalischen Konfliktlösungen, deren innerartliche Rituale dafür sorgen, dass die aus der Nachahmung entspringenden Aggressionen immer wieder zu einer Erneuerung des Gruppengleichgewichts führen, verfügen die Menschen nicht von Natur aus über ein derartiges Warnsystem, das das entzweiende und konfliktgeladene Potenzial der Nachahmung amortisiert. Weder in der Philosophie mit ihrem Subjektorientierung, noch in der Psychologie mit ihrer Auffassung eines linear operierenden Triebs oder in der Soziologie mit dem unhinterfragt angenommenen menschlichen Veranlagung zur Geselligkeit und Häuslichkeit wird der einseitige Mimesisbegriff ernsthaft in Frage gestellt. Auch die ästhetische und die erzieherische Mimesis werden in einer langen Tradition ebenso ausschließlich positiv bewertet wie die religiöse und die weltanschauliche Nachfolge. Meine eigene Theorie des mimetischen Begehrens (mimetic desire) beruht auf literarischen Texten, 272 statuiert Girard im Gespräch mit David E. Wellbery über die Kleistsche Novelle und führt damit in einem kühnen, aus der Sicht der akademisch verfassten Literaturbetrachtung wohl abenteuerlich zu nennenden Akt, den Mimesisbegriff als ein literaturwissenschaftliches Kriterium ein, dessen naturwissenschaftliche, soziobiologische Herkunft die geisteswissenschaftlich orientierte Ästhetik irritiert und provoziert, zugleich jedoch die Chance bietet, der Literaturkritik ein neues Um- und Betätigungsfeld zu erschließen. Da die so verstandene Mimesis – Girard lässt sich nur en passant ein auf die Diskussion der traditionsgesättigten, philosophischen Variante - experimentell reproduziert und unter Beweis gestellt werden kann, geht sie auch über die von Marx und Freud inspirierte Literaturkritik hinaus, deren Ansätze insofern als hypothetisch markiert sind, als sie auf einer wenn auch anschluss- und einflussreichen Deutung der historischen beziehungsweise psychischen Vorgänge basiert sind. Wenn Girard sich in der Erforschung des mimetischen Begehrens auf Befunde stützt, die von der tierischen und menschlichen Verhaltensforschung sowie von der die rituellen Spuren sozialer Prozesse frei legenden Ethnologie erhoben werden, betreibt 272 In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen skizziert Girard im Gespräch mit Maria Stella Barberi den Weg von der Literaturanalyse zur Kulturtheorie, in: ders. , Celui par qui le scandale arrive, Paris, 2001, S. 154 : « Le livre que vous mentionnez est consacré aux romanciers européens qui m´ont révélé le désir et la rivalité mimétique. Après l´avoir écrit, j´étais curieux de savoir si ce désir est vraiment universel, si on en repère les traces dans les cultures non occidentales et les cultures archaïques. Je me suis donc mis à lire les classiques de l´ethnologie. J´étais littéralement submergé de découvertes mimétiques et je ne savais pas comment classer mes notes ». 76 er damit nicht eine Art Propädeutik, die auf das Hauptstudium der literarischen Mimesis hinzuführen hätte. Es geht ihm vielmehr darum, den literarischen MimesisBelegen den gleichen Status zu verleihen wie den experimentellen, also einen erzählenden Text prinzipiell so zu lesen wie das Protokoll eines Laborversuchs und ihn ethnologisch, verhaltentheoretisch und soziologisch auszuwerten. Er ist überzeugt, dass die literarischen Texte mehr über die mimetische Natur des menschlichen Verlangens als dem Wesenszug der condition humaine wissen als die so genannten Lebenswissenschaften. Einschränkend bemerkt er zwar im Rahmen der Kleistschen Modellanalyse: Ich spreche nicht von allen literarischen Texten, nicht von Literatur per se, sondern von einer relativ kleinen Gruppe von Werken. […] Implizit und manchmal explizit enthüllen diese Werke die Gesetze des menschlichen Begehrens. Aber er lässt sich nicht beirren: Das zentrale Archiv, welches die menschlichen Beziehungen, ihre Strategien und Konflikte sowie ihre Missverständnisse und Täuschungen dokumentiert, sind die großen Werke der Literatur, das heißt, wie zu zeigen sein wird, diejenigen Werke, die das mimetische Begehren durchschauen, im Unterschied zu denjenigen, die es nur abbilden. Obwohl die mimetische Theorie sich im Kontext von Mensonge romantique et vérité romanesque entfaltet – mit Figuren des Begehrens löst sich der deutsche Titel folgerichtig von dem Bezug auf das Genre des Romans – und Kritiker wie Lucien Goldmann das mimetische und degradierende Begehren als ein Charakteristikum bestimmter sozialer Klassen oder einer exklusiven Gattung, des Romans, interpretieren, überschreitet Girard mit seinem Begriff der großen Werke alle herkömmlichen Klassifikationen; er meint Werke aus allen Gattungen, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen geschrieben sind und deren Identität allein darin besteht, dass sie die menschliche Mimesis zum Sujet haben. Was in den theoretischen Definitionen des Mimesisbegriffs nie ausreichend mitbedacht worden ist - Girard macht dafür die abendländische Grundströmung der Subjektautonomie verantwortlich, für die das Nachahmungsbegehren in der Tat eine Demütigung darstellt -, wird in den Meisterwerken der Literatur reflektiert und begründet ihre Universalität. Dass die Mimesis in der Geschichte und im Corpus der westlichen Literatur gewissermaßen als intelligente poetische Zelle zwar immer aktualisiert, nie aber thematisiert wird, mag nach Girard auch mit der Neigung der Literaturkritiker zusammenhängen, selbst mit autorhaften, innovativen und originellen Erklärungen aufzutreten und sich über mimetische Versuchungen erhaben zu fühlen. Wer will schon zugeben, dass sein Verlangen ein durch das Verlangen eines andern entzündetes Verlangen ist, wo doch das Platonische Verlangen sich entweder der Strahlkraft des begehrten Objekts oder der Verlangenspotenz des begehrenden Subjekts verdankt, wo das aristokratische Verlangen des Renaissancemenschen jede Vermittlung von sich weist oder das romantische Verlangen sich auf seine Spontaneität und Unmittelbarkeit beruft? Eine wirkliche Vergegenwärtigung unseres mimetischen Begehrens bedrohte die schmeichelhafte Selbsttäuschung, der wir uns nicht nur in bezug auf unsere eigene Indivualität, sondern auch in bezug auf Ursprung und Wesen jener kollektiven Identität, Gesellschaft genannt, hingeben. Hier erweitern sich literarische Belange zu generelleren anthropologischen Fragen. Die Vergegenwärtigung des mimetischen Begehrens, das ist nach Girard die Domäne der erzählenden Literatur und dies macht ihre Superiorität 273 aus 273 Vgl. Pierre Ganne SJ, La violence originelle, in: Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale mimétique, S. 33 : « Il a violé un tabou culturel, à savoir la distinction, typiquement bourgeoise, entre la littérature et le scientifique et il a prétendu découvrir chez les grands créateurs romanesques une analyse du désir 77 gegenüber den vermeintlich überlegenen Einsichten der Marxisten, Freudianer und Strukturalisten. Daher soll die Literaturkritik nicht länger entweder dem formalen Reduktionismus oder der artistischen Ästhetik dienen; ihre wahre Aufgabe liegt in der Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, welche nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe agieren, wenn sie sich beständig in phänomenologische oder empirische Sackgassen verlaufen, anstatt auf die Erkenntnisse über das mimetische Begehren und die mimetischen Rivalitäten zurückzugreifen, die allein in den literarischen Meisterwerken zu finden sind. Die Literatur ist zugleich die Morphologie und die Metamorphosenlehre, in der sich das menschliche Erototop 274 studieren lässt Besteht Girards Originalität zunächst in der Aufnahme einer naturwissenschaftlichen Kategorie in die Literaturkritik, im Postulat der wissenschaftlichen Gleichrangigkeit aller literarischen Quellen einschließlich der juden-christlichen Bibel sowie in dem Anspruch der Hin- und Herübersetzbarkeit zwischen den ethnologischen und ethologischen Fakten auf der einen und den literarischen Befunden auf der anderen Seite, imponiert sein Werk durch den Nachdruck – Kritiker empfinden dies auch als Monotonie oder Penetranz - , mit dem er die Frage nach dem Ablauf der vom mimetischen Ausgangsmotiv in Gang gesetzten Urszene stellt. Der Ablauf der soziogenetischen Urszene ist für ihn nicht von archäologischem Interesse, sondern insofern erhellend, weil sich dort ein sozialer Mechanismus zu erkennen gibt, der für die gesellschaftlichen Prozesse nicht nur einer entfernten Frühgeschichte, sondern für die Organisation des Zusammenlebens schlechthin von Bedeutung ist. Jede Menschengruppe – nicht nur die modernen Staaten mit ihren gesetzlichen Gedenktagen und die religiösen Konfessionen mit ihren Feiertagen - ist darauf angewiesen, sich immer wieder auf ihre Ursprungsbedingungen zurückzubesinnen, Indem Girard alle die von ihm sich in ihrem Ursprung zu verorten. 275 herangezogenen, fachlich heterogenen Quellen, von den Mythen und Riten über die biblischen und nichtbiblischen Erzählungen bis hin zu den modernen narrativen Werken unter diesem Aspekt befragt, kann sein Leseverfahren als radikalsoziologisch verstanden werden, was vor allem für seine Bibellektüre bedeutet, dass sie nicht den Rang einer theologischen Exegese oder dogmatischen Kritik beansprucht. Seine Lektüre ist deswegen radikalsoziologisch zu nennen, weil sie für alle Formen der Transzendenz, also dessen, was die Fassungskraft des einzelnen oder der Gruppe übersteigt und als übermenschlich und heilig gilt, eine Erklärung zu finden sucht, die sich nicht auf eine metaphysische, himmlische Folie projizieren, sondern sich im gesellschaftlichen Horizont repräsentieren lässt. Der mit der radikalsoziologischen relecture verbundene Anspruch auf Wissenschaftlichkeit bezieht sich nicht auf die christlichen Lehraussagen; sein Gegenstand ist die mit écriture judéo-chrétienne bezeichnete und als Alternative zum Mythos zu verstehende Art und Weise, die originären Ereignisses zu erzählen und durch ihre spezifische Erzählweise zu interpretieren. Beide Quellen, die Mythen und die biblischen Texte, reden von derselben Art von Krisen und ihrer kathartischen beaucoup plus scientifique que celle des psychologues patentés : il le montre de façon très pénétrante. C´est de là qu´il a tiré sa théorie du désir triangulaire ». 274 Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären II, Schäume, Frankfurt/M 1999, S. 357 – 468, wo bei der Darstellung der anthropogenen Inseln das Erototrop als Eifersuchtsfeld mit seinen Stufen des Begehrens und seinen Techniken der Begehrenshemmung unter Bezugnahme auf Girard als Ort der triangulären Provokation mit suggestiver Pointierung beobachtet wird. 275 Besonders expressiv scheint die von Pierre Ganne SJ verwendete Verbform aus La violence originelle, in : Maria Stella Barberi, La spirale mimétique, S. 22 : « La victime émissaire permet à la communauté de s´originer, mettant la violence en dehors de la communauté, dans le sacré.[...] Le jeu du sacré maintient la communauté en l´originant sans cesse ». 78 Auflösung. Was sie zu lesen geben, sind nicht ihre Erfindungen; es handelt sich stets um eine jeweilige réécriture des Gründungsereignisses, um konkurrierende Entwürfe und Interpretationen eines solchen Ereignisses. Sie lassen sich daher mit- und aneinander anhand von angebbaren Kriterien messen und befragen, wie sie das Gründungsereignis und seine rituellen und kulturellen Wiederholungen in Szene setzen und inwiefern sie dabei mit welcher Absicht voneinander abweichen. 276 Wie der Mimesisbegriff die kulturhistorischen Grenzen überschreitet, die die Naturwissenschaft von der Geisteswissenschaft trennen, und wie dieses Grundmotiv sich als textübergreifende Konstante in den Kulturen aller Zeiten und Orte herausstellt, entzieht er sich auch der Erkenntnis, wenn diese ihn als ein pures Faktum zu definieren sucht. Wer sich dieser Mimesis-Göttin mit den zwei Gesichtern nähert, findet sich sogleich in einer Geschichte, in einem Beziehungsgeflecht, einem dramatischen Geschehen. Wenn er auch die Regeln dieses Geschehens nicht in der formalistischen Art eines Vladimir Propp mathematisiert, deutet Girard dessen Ablauf als eine kontrollierbare, also auch vorhersehbare Ereignis- und Erzählfolge, deren gleichsam soziophysikalisches Kräftespiel enthüllt und insofern entfatalisiert werden kann. Mimesis wird nicht nur als relationale Größe gewürdigt, sie wird zur ersten und zentralen Triebfeder einer Mechanik, für deren präzisen Ablauf sie nicht nur die Energie bereitstellt, sondern deren Richtung sie bestimmt. Das Ur-Drama, das nach Girard von der Mimesis in Bewegung gesetzt wird, ist die mimetische Krise, welche trotz aller rituellen und mythischen Reproduktion sowie in einer endlosen Reihe von literarischen Neubearbeitungen und Neuinszenierungen über alle Epochen und Kulturen hinweg das Grundmuster beibehält, das den an der Wiederaufnahme beteiligten Autoren weitgehend unbewusst ist und gerade aus diesem Grund tradierbar bleibt und gerade durch die Variierbarkeit und Adaptionsfähigkeit seine Typologie konserviert und unter Beweis stellt. Dieses Urereignis, das in Freuds Deutung ein wirklich geschehener Kollektivmord ist, der den Ursprung und das Modell aller Rituale und Verbote darstellt, wird von Girard aus dem familialen in den sozialen Kontext und damit in das offene Feld konfliktgeladener Nachahmung übertragen, wo es den geradezu maschinenhaft und fabrikmäßig verlaufenden Prozess dieser Krise und deren Bewältigung determiniert. Es überrascht daher nicht, wenn Girard immer wieder sich einer mechanischen Semantik bedient, um seiner Methode eine szientistische Gewichtung zu verleihen. Im Gespräch mit Maria Stella Barberi, die ihren Girard-Studien aus gutem Grund den endlos-prozessförmigen Titel La spirale mimétique gibt, resümiert er, 30 Jahre nach der Entdeckung des mimetischen Motivs, das methodische und programmatische Projekt, das ihn beseelt: Pourquoi les mythes et le judéo-chrétien se ressemblent-ils autant qu´ils le font? Réponse: parce qu´ils sont tous confrontés au même type de crise, à la machine à fabriquer de faux ‘vrais coupables’. Pourquoi le judéo-chrétien diffère-t-il plus encore des mythes qu´il ne leur ressemble? Réponse: parce qu´il réagit à cette épreuve autrement que les mythes […]. Dans le cas des mythes la machine à fabriquer de faux ’vrais coupables’ fonctionne si efficacement, si irrésistiblement que toute opposition est éliminée. Et ce sont les 276 René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S. 87 : « Le mot scientifique ne s´applique pas à la lecture de l´Evangile, mais à la lecture que les Evangiles donnent des mythologies. Les Evangiles lisent le mythe ». 79 effets de cette machine que les mythes représentent comme s´il s´agissait de vérités […]. Dans le judéo-chrétien, la machine fonctionne encore, mais de moins en moins bien et finalement, dans les deux Testaments, elle fonctionne si mal que la vérité entière des boucs émissaires et du mécanisme qui les produit est révélée […]. Cela explique pourquoi, à la différence des conclusions mythiques, toujours harmonieuses et ‘constructives’, car elles reflètent l´effet cathartique, purgatif de l´unanimité violente, les violences collectives, dans le judéo-chrétien, débouchent toujours sur une désunion que les Evangiles n´hésitent pas à souligner. 277 Diese Scheinschuldigen, denen die Rolle von tatsächlich Schuldigen zugeteilt wird, sind, obwohl sie nicht als dessen Akteure auftreten, die Hauptfiguren des mimetischen Stücks, welches wieder und wieder erzählt wird und das kernhafte ‚ready made’ aller Erzählungen ist. Diese Scheinschuldigen erscheinen auf dem Höhepunkt der durch die konfliktgeladene Nachahmung ausgelösten mimetischen Krise, und im letzten Moment vor und als einige Alternative zu dem kollektiven Untergang geschieht das, was sich im nachhinein den Überlebenden und Geretteten als ein die Vorstellungskraft transzendierendes Heilsmoment und Gnadenmittel engeprägt hat, wovon die Mythen und Riten Zeugnis ablegen und was diese dann repetitiv auf Dauer stellen, in dem sie es kulturell-religiös absichern: Überall auf der Welt geschieht das Opfer auf dem Höhepunkt und als Abschluss eines alle ergreifenden mimetischen Furors. Dieser Kulminations- und zugleich Wendepunkt ist die spontan einstimmige Opferwahl, die eine akut von der Selbstauslöschung bedrohte Gruppe gegen einen einzigen machtlosen Gegner vereint. Da nach der Rettung der Gruppe, die den vom gegenseitigen Totschlag Bedrohten wie durch ein Wunder geschehen vorkommt, der Geopferte als der Urheber dieser Rettung, als Friedensstifter und Heilbringer gilt, muss seine Rolle uminterpretiert werden. Konnte er am Beginn der Krise nur als Schuldiger die Einmütigkeit aller gegen sich polarisieren, muss er nach deren Auflösung als der allmächtige Manipulierer aller menschlichen Beziehungen innerhalb der Gruppe auftreten, mit anderen Worten als Gottheit, für deren Gottesdienst die Gruppe zu Dank verpflichtet ist, weil sie ihr alles verdankt, ihren Bestand, aber auch den gewaltbereinigten Freiraum, der die elementare Voraussetzung für jede kulturelle und technische Schöpfung ist. Damit sich die Sündenbockwirkung zugunsten der Gruppenkohäsion immer wieder, das heißt beim Aufkommen der jeweils nächsten Krise einstellt, die infolge der unüberwindbaren mimetischen Tendenzen der Gruppenmitglieder unvermeidlich ist, muss die Maschine zur Bereitstellung von Scheinschuldigen zuverlässig funktionieren. Da es ihre Aufgabe sein muss, sowohl die Opferwahl zu begründen als auch das geopferte Wesen zu heiligen und dessen Kult zu organisieren, muss sie ihren Betrieb auf einer symbolischen Ebene ausführen; sie muss vor allem sich die Interpretationshoheit sichern und bedingungslos den Standpunkt derer einnehmen, die dem Opfer gegenübertreten, also Partei ergreifen für die Opferer und gegen das Opfer, solange dieses verfolgt wird, jedoch ebenso bedingungslos den Standpunkt des Opfers vertreten, wenn diesese sakralisiert ist. 277 René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S. 69 - 70 80 Um diese Konditionen zu erfüllen, kann die Interpretationsinstanz nicht umhin, falsche Aussagen zu machen. Sie muss schuldig sprechen, ohne dass ein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen ist, und sie muss heilig sprechen, ohne dass übermenschliche Qualitäten dokumentiert sind. Es sind die Religionen der frühen Gesellschaften, die in diesem Sinn interpretieren, und Girard führt diesen Mechanismus nicht nur vor, weil alle seine Quellen darauf schließen lassen, dass diese Prozesse tatsächlich so abgelaufen sind, sondern weil auch in modernen Gesellschaften, obwohl dort alle Beziehungen als Rechtsbeziehungen ausgestaltet sind, diese Interpretationen zur Identifizierung von Scheinschuldigen – als Minderwertige, Klassenfeinde, Ausbeuter, Parasiten, Sozialschädlinge 278 aller Art eine krisenbedingte, also ungebrochene und ununterbrechbare Konjunktur haben. Entsprechend schroff ist sein in dem Positionentext formuliertes Urteil: Man kann unzählige Male nachprüfen, dass sowohl alle Variablen wie auch alle Konstanten religiöser Praxis und Anschauungen auf der ganzen Welt mit dem übereinstimmen, was logischerweise von der verfälschenden Interpretation mächtiger SündenbockEffekte durch diejenigen, die sich davon einen Gewinn versprechen, erwartet werden kann. Mit anderen Worten: Würde das Opfer freigesprochen und daran gehindert, die Aggression aller gegen sich zu bündeln, könnte ihm auch nicht die Wiederherstellung der Ordnung zugerechnet werden. Würde es dennoch sein Leben lassen, handelte es sich um Mord und eine Tat von Mördern, deren Brutalität anstatt der Wiederversöhnung und kulturellen Neustiftung zu dienen, eine weitere Drehung der die Gruppenexistenz bedrohenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt zur Folge hätte. Während die biblische Interpretation anfangs noch unsicher, jedoch zunehmend entschieden für die Unschuld des Opfers eintritt und schließlich eindeutig Stellung nimmt gegen die sakrifizielle Konfliktlösung, verfährt die mythische Interpretation so, dass wider besseres Wissen – aber den Beteiligten ist dies nicht bewusst und darf es nicht bewusst sein – die de facto erfolgte Versöhnung auf die einstimmige Opferwahl zurückgeht und auf die religiösen Gebote, die von der Wahl abgeleitet werden und die zur Erhaltung und Reaktualisierung des am Beginn der Gruppenexistenz real geschehenen und diese erst ermöglichenden Alle-gegen-einen bestimmt sind. Es ist gerade und ausschließlich diese verfälschende Interpretation, die sowohl zur Konstituierung der Riten führt, welchen die Aufgabe zukommt, das originelle Opfer nachzuvollziehen, als auch zur Bildung der Mythen als dem Archiv der kollektiven Erinnerung. Da in der Mythenbildung die Sehweise der Opferer maßgebend ist, wird das Urereignis nicht auf jene Weise nachvollzogen, im Bewusstsein gehalten und erzählt, in der es in Wirklichkeit abgelaufen ist, sondern so, wie es von dem Kollektiv, dem es wieder zur Einheit verholfen hat, verstanden beziehungsweise missverstanden werden muss. Auf keinen Fall darf der ganze Opfervorgang von Willkür beherrscht sein, der viktimäre Heilsweg des Opfers vom Unruhe- zum Friedensstifter muss dramatisch geregelt und einwandfrei inszeniert sein. Der Opfervorgang kann, radikalsoziologisch betrachtet, seine unifikatorische Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sein illusionärer Charakter erhalten bleibt, wenn die Beteiligten diesseits der reflexiven Distanz verharren und die externe Beobachtung ausgeschlossen ist. In seiner relecture des Erdbebens von Chili zeichnet Girard die Krisen und die zu ihren Lösungen führenden kollektiven Mechanismen nach, die er mit dem mythischen 278 Eine ähnliche polarisierende Funktion im Umkehrsinn kommt den Popstars aus Showbusiness und Spitzensport zu. 81 und rituellen Grundmuster identifiziert, und gleichzeitig weist er den Autor der Novelle als den externen Beobachter aus, der die Opferillusion durchschaut, den Mythos dekonstruiert und die soziale, über jeweils punktuelle und ephemäre Opfer-Erfolge hinausgehende Wirksamkeit der mythischen Befriedungsstrategie bestreitet. Der Ereignisablauf folgt in quasi kausaler Strenge dem Ineinandergreifen von Gewalttätigeit und friedlichen Zustand, einer Phasierung, die von der Erwählung von Opfern bestimmt ist. Ausgehend von der erdbebenartigen Erschütterung der ganzen sozialen Ordnung wird eine sprunghafte Abfolge von Krisen und Lösungen erzählt, deren atemloses Tempo als fortschreitende Entdifferenzierung und als Verfallsprozess des kulturell-symbolischen Systems gedeutet werden kann. In Konsequenz zum mythischen Programm wird der dramatische Dreischritt von KriseOpfer-Lösung praktiziert, der die strukturelle Parallelität zwischen rituellem Opfer und literarischer Form offen legt. Auf das Erdbeben, 279 welchem viele zum Opfer fallen, folgt nach und nach die Versöhnung, die Reorganisation und die Wiedergeburt der Kultur. Die antimythische Pointe der Novelle besteht indes darin, dass die sakrifiziellen Lösungen nicht von Dauer, sondern äußerst kurzlebig sind; das vermeintlich letzte Opfer muss beinahe sofort wiederholt werden, die Maschine zur Herstellung von Scheinopfern ist demontiert. Da der Erzähler den mythischen Gang phasengetreu nachgegangen ist, ist er in der Lage, die mythische Konstruktion von innen her zum Einsturz zu bringen und den Moment ihrer Implosion zu beobachten. In der auf Wellberys Einladung hin vorgelegten Interpretation der Kleistschen Novelle präsentiert sich Girard nicht als Vertreter einer ausgewiesenen literaturkritischen Richtung; vielmehr nimmt er den Anlass wahr, um seine eigenständigen, mehrere Spezialisierungen zusamenfassenden Anforderungen an die literarische Produktion und Rezeption zum Ausdruck zu bringen. Übernimmt man Sloterdijks Vorschlag, ihn den Schwellengrößen der europäischen Moderne zuzurechnen, wird für den Leser und gegebenenfalls den Verfasser der Text zwischen dem ersten und dem letzten Satz der Erzählung zu einem Interrogatorium der unverwechselbaren Art. Der Text wird sich daraufhin befragen lassen müssen, wie sich die handelnden, reflektierenden, begehrenden und sprechenden Personen in der triangulären Mimesiskonstellation verhalten, wie die von dem Begehrensnachahmen erzeugte konfliktive Energie sich auflädt und zur Entladung kommt, schließlich – und in diesem Anliegen äußert sich das religiöse Interesse Girards – zu welchem der beiden möglichen Konklusionen der Erzähler sich bekennt: zu derjenigen, die das jahrtausendhaft praktizierte und kulturell etablierte opferlogische Programm in immer neuen Variationen fortschreibt oder zu derjenigen, die das von der judenchristlichen Interpretation der Gründungszusammenhänge inspirierte Modell aufgreift und einen ultimativen Verzicht auf die mythologische Lösung mit ihrem Frieden dieser Welt 280 propagiert. Die dritte mögliche Konklusion, die sich auf die Ausscheidung des mimetischen Gifts über ein pharmakologisches oder ein biotechnisches Verfahren besinnt, wird von Girard nicht thematisiert. Dass diese Konklusion jenseits der soziound psychotechnischen Diskurse, also jenseits der durch heldenhafte Opferfortsetzung beziehungsweise umkehrhaften Opferverzicht markierten Erzählprogramms am literarischen Horizont des 21. Jahrhunderts mehr als nur umrisshaft heraufdämmert, kann indes nicht überraschen. Da das Vertrauen in die Verlässlichkeit sowohl der sozialen als auch der zivilisatorischen 279 Unter dem Gesichtspunkt der Entdifferenzierungssemantik ist das Erdbeben gegen die Pest oder die Flutkatastrohe austauschbar. 280 Vgl. Joh 14, 27: „ Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“. 82 Befriedungsstrategien erschüttert ist und die aktive Eigenschaftsplanung im Mikrobereich des Menschenparks 281 bereits den Weg von den Labors in die Parlamente gefunden hat, wird sich auch in der Erzählung die Frage nach der Funktion der Mimesis neu stellen. Sollte die Grundannahme des mimetischen Verlangens dann noch Bestand haben, müsste sich dessen Arena in die Planungen der Gen-Ingenieure verlagern. Beiläufig und eher wegwerfend bemerkt Girard: de nos jours on recherche les gènes de l´aggressivité, um alsdann sich wieder mit der originären und seiner Anthropologie als Eckstein dienenden Theorie der Gewalt kurz zu schließen: Car la violence n´est pas politique, encore moins biologique, mais mimétique. 282 3. Alles beginnt mit der Nachahmung Wie bereits mehrfach vorweggenommen, scheint es durchaus angebracht und zulässig, auch im Fall von Girard von einer Sequenz von Handlungen zu sprechen, die sich in narrativen Strukturen abbilden. Der Begriff der Sequenz scheint auch deshalb angemessen, weil er Raum lässt für das Zusammenspiel der scheinbar widerstrebenden Perspektiven, unter denen Girard seine Gegenstände in den Blick nimmt. Auf der einen Seite wird er nicht müde, den streng wissenschaftlichen Charakter seines Umgangs mit dem ethnographischen und literarischen Material zu betonen, 283 und andererseits bekennt er sich als Botschafter einer visionären Sendung, die ihn erfüllt, ja ihn bisweilen zu überwältigen scheint. 284 Auch in der Prozessform, die er seinem Soziodrama verleiht, scheint sowohl die szientistische als auch die intuitive Perspektive durch. Mit fast aufdringlicher Monotonie beschreibt er – auch um sich vom Strukturalismus und Positivismus der Ethnologen abzusetzen seine Sequenz als präzise und quasi automatisch ablaufenden Mechanismus, der an unzähligen Stellen als mécanisme de la répétition mimétique, als caractère automatique de la rivalité, als mécanisme de la réconciliation, als mécanisme victimaire, mécanisme d´unanimité, engrenage de la victime émissaire oder gar mécanique infernale du désir auftritt und der sich dennoch hin und wieder zurücknimmt, indem er etwa seinen maschinenhaften semantischen Zugriff lockert 285 und – man erinnert sich an Goethes Morphologie – sein Werk mit einer Straßenkarte 286 vergleicht, die in den verschiedensten Situationen aufgeschlagen, entfaltet und wieder in ihre Urform zusammengefaltet werden kann, eine Urform, die im Keim alle Erklärungen abdeckt und für alle möglichen Anwendungen herangezogen werden kann. 281 Vgl. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Frankfurt/M 1999 René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S.33 283 René Girard, Des choses cachées depuis la fondation du monde. Recherches avec J. M. Oughourlian et Guy Lefort, Paris 1978, S. 45 : « Tout ceci va bientôt entrer dans une lumière scientifique. J´ insiste sur le terme ». 284 René Girard, Quand les choses commenceront, S. 190 : « Il n’ y a pas de système Girard. J´exploite une intuition unique mais très dense ». 285 René Girard, Quand les choses commenceront S. 187 : « J´ai l´impression que je n´ai jamais réussi à exposer mon intuition dans l´ordre le plus logique, le plus didactique, le plus compréhensible ». 286 René Girard, Quand les choses commenceront, S. 188, wo Michel Treguet zur Kennzeichnung dieser Sequenz in bewusster Abkehrung von einer linearen Abhandlung (exposé linéaire) das Bild eines Wollknäuels (inextricable pelote), einer netzartigen Neuronenverknüpfung (réseau de neurones) oder eines Hologramms verwendet « parce que tout est dans chaque partie ». 282 83 Die Entdeckung, die den Schlüssel zum Entziffern der verborgenen Dinge liefert und zum Antrieb für die Girardsche Mechanik wird, verdankt Girard der Romanlektüre und zwar einer Lektüre, die unter Ausblendung der biographischen, soziologischen, psychologischen oder auch formalästhetischen Interpretationsmuster die Frage nach der condition humaine auf einer anthropologischer Grundlage beantwortet haben will, die gleichzeitig den Anschluss für eine allgemeine Kulturtheorie liefert. Die Handlungssequenz, deren Leistung nach der via antiqua darin besteht, dass die vormenschlichen Horden sich in menschliche Ritual- und Opfergemeinschaften verwandeln, indem sie die mimetische Pest, in der jeder jeden mit seinem Begehren ansteckt und bedroht, durch die Anwendung ritueller Gewalt austreiben und für eine gewisse Dauer über die Sakralisierung des Opfers Einmütigkeit herstellen, diese Ereignisreihe der Hominisierung und Soziogenese hat ihren Ausgangspunkt und ihre erste Etappe in der Nachahmung. Jede menschliche Gemeinschaft wird periodisch in Erregung versetzt durch die spontan ausgelösten Mechanismen der Nachahmung und gegenseitigen Eifersucht, die unweigerlich die Gewalt auf den Plan rufen. Jeder begehrt was der andere hat: Hab und Gut, Anerkennung, Sexualpartner, und ein jeder imitiert wiederum des anderen Begehren. Aus einem bestimmten Anlass oder in einem zyklischen Rhythmus treibt dieser aussichts- und endlose Wettbewerb auf eine Krise zu, in der die Gruppe auseinanderzubrechen droht. Diese krisenhafte Zuspitzung ereignet sich in allen Gemeinschaften, angefangen von der Zweierbeziehung bis hin zu gesellschaftlichen und politischen Ensembles. Die primitiven Gemeinschaften bewältigen diese immer wieder von neuem ausbrechenden mimetischen Krisen dadurch, dass sie einem Opfer oder in dessen Stellvertretung einem Sündenbock alle Vergehen und Untaten der Gruppe anlasten und diesen Sündenbock hinrichten oder aus ihrere Mitte verstoßen. Nach und nach machen die Menschen die Erfahrung, dass der tatsächliche Opfermord, der sie einst gerettet hat, auch nur simuliert werden kann, ohne seine konfliktlösende Wirksamkeit zu verlieren. Dieses Opferbringen als ob geschieht in den Riten der primitiven Religionen, und den Mythen kommt die Aufgabe zu, die Riten zu legitimieren und sie zu verknüpfen mit dem heiligen Schauder der ursprünglichen realen Opfer. Durch die Initiation der Heranwachsenden wird diese antike Methode der Aufrechterhaltung und notfalls Restabilisierung des sozialen Gefüges auf Dauer gestellt, eines sozialen Gefüges, dessen Formfestigkeit dem gewaltsamen Tod des Sündenbocks zu verdanken ist, mit dessen Hilfe die Gemeinschaft sich gegen das Gift der Nachahmung immunisiert. Dem Sündenbock wird dabei die magnetische Kraft zugeschrieben, die die im Kollektiv frei zirkulierende Gewalt auf sich zu ziehen und sie durch seinen Tod diesem Kollektiv anschließend zu entziehen. In seiner Shakespeare-Studie von 1990 erinnert sich Girard an die 30 Jahre zu vor gemachte Entdeckung: Mon travail sur Shakespeare est indémêlable de tous mes travaux antérieurs, à commencer par l´étude que j´ai consacrée à cinq romanciers européens (Cervantes, Stendhal, Flaubert, Dostojewskij, Proust, d. Verf.). Je vouais à ces auteurs un amour si égal et si impartialement réparti que, dans mon ignorance béate des exigences de la mode littéraire, laquelle exige toujours qu´un critique s´attache à ce que ses écrivains préférés ont de singulier, d´ unique, d´incomparable (chacun d´eux étant par conséquent totalement coupé de tous les autres), je misais, moi, sur l´ idée que 84 mes cinq romanciers avaient quelque chose de commun. Je crus faire, chemin faisant, une découverte et lui donnai le nom de désir mimétique. 287 Wenn also das mimetische Verlangen als exklusiver Auslöser der verschiedenen Mechanismen der Girardschen Sequenz festgemacht wird und dieses Verlangen nach der Turnerschen Diktion die Situation der Liminalität als Auftakt zum sozialen Drama begründet, wird dem sozialen Prozess bei aller Spontaneität seines Ablaufs eine Ursache zugeschrieben – und, wie zu zeigen sein wird, eine Bewältigungsstrategie angeboten – , die in kulturgeschichtlicher Perspektive unerklärbar ist und sich vielmehr von der animalischen Ausstattung des Menschen herleitet. Dass diese jedem Menschen vom ersten Atemzug an mitgegebene Mimesis als Prinzip des Lernens für das individuelle und kollektive Überleben unerlässlich ist, wird von Girard nicht in Frage gestellt. 288 Gleichzeitig bemerkt er, dass in der herrschenden Verhaltenslehre ein flacher und zu einseitiger Nachahmungsbegriff propagiert wird, für den er zwei Traditionen verantwortlich macht: Zum einen die am Beginn der Neuzeit sich entfaltende und in der Romantik mit ihrem Genie- und Individualismuskult zum Ausdruck gelangte Auffassung vom Menschen als autonomem Subjekt, welche den Nachahmungstrieb als Ursache von Entfremdung, Uniformierung, Vermassung denunziert, 289 zum andern eine Tendenz in der Soziologie des 19. Jahrhunderts, wie sie vor allem Gabriel Tarde vertritt, wonach die Nachahmung zu überwiegend positiven Ergebnissen führt und nicht nur Garantin der sozialen Harmonie, sondern des Fortschritts ist. Gabriel Tarde (1843-1904), der 1890 als Professor am Collège de France, als Mitglied des Institut de France und als Präsident der Internationalen Gesellschaften für Soziologie und Rechtswissenschaften sein Hauptwerk Les lois de l´imitation 290 vorlegt und drei Jahre später vom Justizministerium den Auftrag erhält, eine Denkschrift über die Kriminalstatistik in Frankreich zu verfassen, gilt als der Widersacher von Emile Durkheim, der die Gesellschaft aus den Riten und insbesonders dem religiösen Ritual hervorgehen sieht 291 und mit dieser These die lange Zeit unangefochtene Vertragstheorie in Bedrängnis bringt. Tardes Grundargument besteht darin, dass sich die Gesellschaft in einer unendlichen Vielzahl sozial aneinander anschließender Akte des Imitierens herstellt und dass auch jede gesellschaftliche Veränderung bis hin zum technischen Fortschritt durch die Nachahmung zu erklären ist. Wäre Tarde nicht dem Fortschrittsgedanken seiner Zeit verpflichtet und ließe er sich angesichts der zunehmenden sozialen Spannungen und anarchistischen Erscheinungen nicht zu einer Art gesellschaftlichem Zweckoptimismus verleiten, der 287 René Girard, Shakespeare, Les feux de l´envie, Paris 1990, S. 9 René Girard, Des choses cachées, S. 15 : « Il n´y a rien ou presque, dans les comportements humains, qui ne soit appris, et tout apprentissage se ramène à l´imitation. Si les hommes, tout à coup, cessaient d´imiter, toutes les formes culturelles s´évanouiraient. Les neurologues nous rappellent fréquemment que le cerveau humain est une énorme machine à imiter ». 289 Bespielhaft für Girard dargestellt in der Person des M. Teste, in: Paul Valéry, Monsieur Teste, Paris 1946, S. 60 : « Je confesse que j´ai fait une idole de mon esprit, mais je n´en ai pas trouvé d´autre. Je l´ai traitée par des offrandes, par des injures... ». 290 Gabriel Tarde, Les lois de l´imitation, Paris 1890, dt. Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/M, 2003 291 Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912), 4. Aufl. Paris 1960, S. 598 : « [...] c´est par l´action commune qu´elle (la société, d. Verf.) prend conscience de soi », S. 610 « [...] entretenir et réaffirmer, à intervalles réguliers, les sentiments collectifs et les idées collectives qui font son unité et sa personnalité ». 288 85 die aufeinanderstoßenden mimetischen Reaktionen gewissermaßen auf das Endziel der Harmonie 292 hin programmiert, wäre er für fortschritsskeptische Denker wie Girard nicht nur ein Wegbereiter hinsichtlich des begrifflichen Instrumentariums. Würde ihn nicht die Erfahrung von zwei Weltkriegen mit den vielfältigen kulturellen Folgeschäden und -einsichten von Girard trennen, ist durchaus vorstellbar, dass auch er die konfliktive Energie der Imitation zu einer Theorie der Gewalt weiterdenken würde. Die Einsichten, die Tarde bereitstellt und mit denen Girard seine Sequenz zusammenfügt, reichen vom ansteckenden Charakter des Verlangens 293 bis hin zum Umschlagen der Verfolgungsmeute in die Anbetungsgemeinschaft, 294 von der medienvermittelten contagion à distance 295 der Ideen und Meinungen bis hin zum plötzlichen Ausbruch der Gewalt, 296 von der Doppelfunktion der nachgeahmten Person beziehungsweise Personengruppe als Vorbild und als Rivale 297 bis zu dem objektlosen Verlangen, der Präfiguration des Girardschen désir métaphysique, welches gerade deswegen, weil es durch kein Objekt zu stillen ist und weil sein Begehren nicht einem Ding sondern einem Sein gilt, 298 die zerstörerischen Wirkungen des endlosen Verlangens offen legt. Tarde formuliert, 299 was Girard dann die médiation externe und médiation interne nennen wird und antizipiert den Prozess der Entdifferenzierung, 300 welcher bei Girard über das gewaltsame Sündenbockopfer zu einer Redifferenzierung und einer neuen, vorübergehend haltbaren Ordnung führt. Doch obwohl Tarde die infektiöse Wirkung der imitation, wie auch der contre-imitation beobachtet, wobei er die Nivellierungs-Analysen von Tocqueville und Spencer aufgreift und fortsetzt, und obwohl er Fälle von Lynchmorden 301 erzählt, in denen die 292 Gabriel Tarde, L´opinion et la foule, Paris 1908, S. 61 : « Les foules, donc, les rassemblements, les coudoiements, les entraînements réciproques des hommes, sont beaucoup plus utiles que nuisibles au déploiement de la société ». 293 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 43 : « Leur désir se nourrit du désir d´autrui, et, dans leur émulation même, il y a une secrète sympathie qui demande d´accroître ». 294 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 184 : « Quand la foule féroce s´acharne sur le martyr, quelques spectateurs sont fascinés par elle, mais d´autres le sont par lui ». 295 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 150 296 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 151 : « Les fusils partent tout seuls exposés aux emballements ». 297 Gabriel Tarde, Les lois, S. 216 : « De tout temps, les classes dominantes ont été ou ont commencé par être les classes modèles. Nous voyons nettement au berceau de la société, dans la famille, se montrer cette intime corrélation de l´imitation proprement dite avec l´obéissance et la crédulité. Le père, à l´origine surtout, est l´infaillible oracle et le souverain roi de l´enfant ; par cette raison, il est son modèle suprême ». 298 Gabriel Tarde, Les lois, S. 160 : « Le véritable et final objet du désir, donc, c´est la croyance ; la seule raison d´être des mouvements du coeur, c´est la formation des hautes certitudes ou des pleines assurances de l´esprit... ». 299 Gabriel Tarde, Les lois, S. 243 : « En effet, c´est en raison inverse de la distance du modèle et non pas seulement en raison directe de sa supériorité que l´influence de son exemple est efficace... ». 300 ebenda: « Le corps chaud est le fait capital en physique, où il explique la tendance finale de l´univers à un équilibre éternel de température; et de même, en sociologie, le rayonnement des exemples de haut en bas est le seul fait qui importe de considérer, à raison du nivellement général qu´il tend à proclamer dans le monde humain ». 301 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 159 : « Dans la plupart des villages, dès qu´on a souçonné la lèpre, ou qu´ on accuse à tort quelqu´un de l´avoir, le peuple, sans s´adresser à l´autorité ou tout au moins à un médecin, se constitue illico en jury, et lynche celui qu´il déclare lépreux en le pendant à l´ arbre le plus proche ou en le pourchassant à coups de pierres. Mais cette même populace fréquente les chapelles des léproseries, baise les images aux endroits mêmes où les lépreux ont posé leurs lèvres et communie dans les mêmes calices ». 86 willkürlichen Opfer eine heiligmäßige Bedeutung anzunehmen scheinen und die Transformation von violence zu sacré ‚zelebrieren’, gelingt es ihm nicht, das konfliktive Moment der Nachahmung mit seinen nivellierenden und gemeinschaftsgefährdenden Tendenzen zu thematisieren und die mit Opfergewalt verbundenen Reparationsstrategien zu durchschauen. Er ist unerschütterlicher Fortschrittsoptimist, und wo Girard davon ausgeht, dass die Nachahmung die Feuer des Neides entzündet und die moderne urbane Gesellschaft mit den Folgewirkungen des neidvollen Wettbewerbs – auch im internationalen Maßstab - vor kaum lösbare Probleme stellt, sieht Tarde jenseits der durch die Nachahmung beförderten gesellschaftlichen Entdifferenzierung die wissenschaftlich begründete Ankunft einer befriedeten sozialen Synthese, die keiner proletarischen Revolution bedarf und deren Ausbreitung geräuschlos 302 vor sich geht und eine glückliche universelle Republik 303 schafft, in pathetischer Wendung: un traité de paix final oder un simple et puissant unisson. 304 Während Tarde die Gesetze der Imitation aus der Kriminalstatistik gewinnt, wo er in Konkurrenz zur domonierenden Vererbungslehre und zum darwinistischen Paradigma die kriminelle Tat weder deterministisch noch als letzten absurden Akt einer zur Freiheit verdammten Existenz betrachtet, erschließt Girard das MimesisKonzept, das er in vierzig Schaffensjahren zu einer Theorie der Vergesellschaftung, der Religion und der Geschichte erweitert, aus der höchst eigenwilligen und mit überschaubarem Begriffsapparat durchzuführenden Analyse der ausgewählten großen Romane des 19. Jahrhunderts. Den archimedischen Punkt, das heißt die nicht zu erschütternde, weil aus der Natur des Menschen hergeleitete Position, 305 von der aus seine ganze Sequenz zu beobachten ist, skizziert Girard auf den ersten Seiten seiner Auftaktstudie Mensonge romantique et vérité romanesque von 1961. Was den Don Quixote des Miguel de Cervantes Saavedra zu seinen seltsamen Heldentaten antreibt, ist nicht das Verlangen nach Objekten seiner Wahl, Objekten der Eroberung, der Anerkennung, der Machtsteigerung, es ist kein lineares, libidinöses Begehren, das seinen Reiz etwa im begehrenden Subjekt oder im begehrten Objekt hätte; Don Quixote kann nicht von sich aus etwas wünschen. Was er tut, und was ihn regelmäßig scheitern lässt, tut er im Zustand der Hypnose, wie Tarde sie beschreibt, in der ein Dritter oder ein Drittes im Spiel ist. Sein Begehren ist von Anfang an in ein Dreiecksverhältnis ausgespannt, es ist ein désir triangulaire. Doch um dich nicht zu lange in Spannung zu halten und darüber im Ungewissen zu lassen, was meine Wort bedeuten, so wisse, Sancho, dass der berühmte Amadis von Gallien einer der vollkommensten fahrenden Ritter war. Ich tue ihm unrecht, wenn ich sage, einer; er war der erste und einzige, ja die Krone von allen, die es zu seiner Zeit 302 Gabriel Tarde, Les lois,, S, 221 - 222 : « Comment alors, d´un cerveau à l´autre, s´opérait le transvasement de leur contenu intime, de leurs idées et de leurs désirs ? Il s´opérait [...] comme en vertu d´une sorte d´électrisation psychologique par influence – une action inter-cérébrale à distance – dont la suggestion hypnotique peut nous donner vaguement l´idée ». 303 Gabriel Tarde, Les lois, S. 246 : « La fascination suggestive, impérative qu´il (Paris, d. Verf.) exerce sur un vaste territoire est si profonde, si complète et si continue, que presque personne n´en est plus frappé. Cette magnétisation est devenue chronique. Cela s´appelle égalité et liberté ». 304 Gabriel Tarde, L´opinion, S. 47 bzw. S. 49 305 René Girard, Des choses cachées, S. 464 – 465 : « Nous allons plus loin que nos prédecesseurs dans le refus de l´anthropocentrisme puisque nous enracinons notre anthropologie dans la vie animale ». 87 auf der Erde gab. Pfui über Don Belianis und alle, die sich mit ihm messen wollen; sie täuschen sich, ich schwöre es dir. Auch sage ich dir, wenn ein Maler in seiner Kunst berühmt werden will, so nimmt er sich die Originale der besten Meister zum Muster und Vorbild. Diese Regel gilt von allen wichtigen Künsten und Wissenschaften, die da dienen zur Verherrlichung der Staaten; und ebenso macht es und muss es derjenige machen, der den Namen eines Weisen und Standhaften erwerben will; er muss den Ulysses nachahmen, in dessen Gestalt und Drangsal uns Homer ein Muster der Klugheit und Langmut schildert, so wie uns auch Virgil in seiner Äneas die Tugend kindlicher Liebe und den Scharfblick eines klugen und tapferen Heerführers darstellt. Beide zeichnen und schildern ihre Helden nicht, wie sie waren, sondern wie sie sein sollten, um der Nachwelt in ihren Tugenden ein Beispiel zu geben. Ebenso war Amadis der Nordstern, der Leuchtturm und die Sonne aller tapferen und liebenden Ritter, und wir alle, die wir unter dem Banne der Liebe und der Ritterschaft streiten, müssen ihm nachahmen. Da dies nun ist, wie es ist, Freund Sancho, so muss auch derjenige fahrende Ritter, der ihm am meisten nachahmt, der Vollkommenheit in seinem Stande am nächsten kommen. 306 In dieser Ansprache des Ritters an seinen Knappen, in der sich Cervantes nebenbei in der Gefolgschaft von Homer und Virgil in die Tradition der ‚Arbeiter am Mythos’ einreiht und die Abenteuer seines Don Quixote mit den Aus- und Einfahrten der antiken Protagonisten vergleicht, wird die Triangulierung des Begehrens explizit, ohne dass gleichzeitig der Anspruch erhoben wird, die beiden Helden seien frei von unmittelbaren, linearen oder direkten Wünsche, die an die elementaren körperlichen Bedürfnisse anschließen und auch ohne Einwirkung eines Vermittlers zustande kommen. Dass im Laufe der Abenteuer das nicht imitierte Verlangen zum Zuge kommt - bei dem Ritter von der traurigen Gestalt ebenso wie bei seinem Knappen dass beide also nach Art der romantischen Helden in der Lage sind, spontan und in eigener Regie etwas zu begehren, wird zugestanden. Mehr als Don Quixote eignet sich Sancho für eine glaubhafte Verkörperung der ligne droite des Verlangens. Der Anblick eines Stücks Käse oder eines gut gefüllten Weinschlauchs weckt spontan seinen Appetit, ohne dass die Präsenz eines Vorbilds oder Rivalen diesen Gaumenreiz auslöst. Als sein Herr ihm aber in als Lohn für seine Treue eine eigene Insel und für seine Tochter einen Herzogstitel in Aussicht stellt, wird klar, dass der Sancho, der sich immer wieder nach der Fälligkeit seines Lohns erkundigt, dieses Streben nach einer aus seinem Bauernstand nicht erreichbaren gehobenen Stellung einer Vermittlung verdankt, wobei sein Herr, obwohl er die Zusage nicht einlösen können wird, als médiateur des Verlangens fungiert. Bei Don Quixote, der besessen ist von der Vorstellung, sich als idealer Ritter zu bewähren, lässt sich kein Abenteuer, keine Unterhaltung und keine Überlegung ohne die imaginäre Präsenz seines Vorbilds Amadis von Gallien denken, das er nachahmen will. Beide Protagonisten werden zu Opfern des désir triangulaire, in welchem ein Dritter Macht über sie gewinnt, ohne dass sie sich des Zustands der Inferiorität und Abhängigkeit bewusst werden, in den dieser parasitäre 307 Dritte sie versetzt. Sobald die Autorität eines Vermittlers in das Begehren einfließt und die Autonomie des Subjekts herausfordert, löst sich dessen Relitätssinn auf und lähmt sein rationales Urteil. 306 Cervantes, Don Quixote (1605-1615), dt. Miguel de Cervantes Saavedra, Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha, nach der anonymen Ausgabe 1837 von Konrad Thorer, 2. Aufl. 11. 14. Tausend, Frankfurt/M 1908, S. 298 - 299 307 Vgl. Michel Serres, Le Parasite, Paris 1979 88 Während der Imitator Sancho es mit einem Imitanden zu tun hat, der durch den sozialen Status unerreichbar weit von ihm entfernt ist, kennt Don Quixote sein Vorbild aus den phantastischen Rittergeschichten, wie sie in den trivialen Romanen seiner Zeit erzählt werden und wo die gesellschaftlich längst überholten Ritterideale der Vasallentreue, der Selbstlosigkeit in der Liebe, der Armenhilfe und des Engagements für die Christenheit besungen werden. Aufgrund der unüberbrückbar großen Entfernung zwischen den beiden Helden und ihren jeweiligen Vorbildern ist eine rivalisierende Auseinandersetzung und direkte Konfrontation mit diesen ausgeschlossen. Obwohl Don Quixote dem Sancho in mancherlei Hinsicht unterlegen ist, besitzt er ihm gegenüber als Junker einen uneinholbaren Status. Ist zwischen diesen beiden Protagonisten eine reale Konkurrenzsituation aus gesellschaftlichen Gründen undenkbar, kann die suggestive Wirkung, die von Amadis von Gallien auf Don Quixote ausgeht, aus dem einfachen Grund nicht in Rivalität ausarten, weil dieser Amadis eine fiktive Gestalt ist und dem Don Quixote im Dreieck von Subjekt, Objekt und Vermittler nicht körperlich begegnen kann. Der nachahmende Eifer entfaltet zwar eine beträchtliche Energie 308 hinsichtlich des erstrebten Objekts oder Status, wendet sich jedoch nicht eifersüchtig gegen den Vermittler als einen potenziellen Konkurrenten, der hinsichtlich des Objekts das gleiche Verlangen haben könnte. Girard vergleicht dieses innige Begehren, welches die souveräne Position des Vermittlers akzeptiert, mit der aus religiöser Motivierung begründeten Lebenspraxis, wie sie nach dem Verständnis der christlichen Lehre das Verhältnis des Gläubigen zu Jesus als dem Christus charakterisiert. 309 Dieses Begehren, in dem das Subjekt seinen Wunsch auf ein Objekt richtet, das durch einen starken und in seiner Überlegenheit anerkannten Vermittler als Wunschobjekt bezeichnet wird, entdeckt Girard auch im Werk Gustave Flauberts als Generalmotiv der Akteure. Und in einer geschichtsphilosophisch – in späteren Darstellungen theologisch – begründeten Fortentwicklung wird dieses Motiv bei der Analyse der Romane von Stendhal, Proust und Dostojewski, in denen die Position des Vermittlers ihren fixen Ort nach und nach verliert, variiert und zu einem Leseverfahren formuliert, welches als vérité romanesque den Anspruch erhebt, sämtliche narrativen Texte zu beobachten und zu decodieren. So wie Don Quixote in seinem désir selon l´Autre 310 den sagenhaften Amadis von Gallien nachahmt, ist Emma Bovarys Phantasie- und Wunschhorizont dicht besetzt von den romantischen Heldinnen der Liebesromane, die sie in ihrer Mädchenzeit gelesen hat. Auch sie will etwas werden, was sie nicht selbst ist und was sie bei anderen verwirklicht sieht. Jedes spontane Tun und Denken ist ihr fremd. Um sich als eine andere, erfolgreichere und vollkommenere zu erleben, orientiert sie sich an Vorbildern, 311 welche sie so genau wie möglich in ihrem Auftreten, ihren Gesten, 308 Cervantes, Don Quixote, S. 299: „Aber was wollt ihr denn eigentlich in dieser Wüste beginnen, gestrenger Herr?“ fragte Sancho. „Ich habe es dir ja schon gesagt “, versetzte Don Quixote; „ich will Amadis nachahmen und mich verzweifelnd, wahnsinnig und rasend stellen…“ 309 René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961, S. 12 : « L´éxistence chevaleresque est l´imitation d´Amadis au sens où l´existence du chrétien est l´imitation de JésusChrist ». 310 René Girard, Mensonge romantique, S. 13 311 Gustave Flaubert, Madame Bovary, Mœurs de Province (1857), Paris 1994, S. 290 : « J´ai un amant! un amant! – Elle allait donc posséder enfin ces joies de l´amour, cette fièvre du bonheur dont elle avait désespéré. [...] Elle entrait dans quelques chose de merveilleux où tout serait passion, extase, délire. [...] Alors elle se rappela les héroïnes des livres qu´elle avait lus, et la légion lyrique de ces femmes adultères se mit à chanter dans sa mémoire avec des voix de sœurs qui la charmaient ». 89 ihrer Redeweise nachahmt. Und selbst als sie erkennt, dass ihre Vorbilder sich ihrerseits wieder an Vorbildern orientieren und sich ihrem mimetischen Zugriff entziehen, lässt sie sich nicht davon abhalten, sich nach neuen, vermeintlich enttäuschungsresistenten Garanten ihres Verlangens umzusehen. 312 In beiden Erzählwelten, der des Don Quixote wie der der Emma Bovary, erfolgt die Nachahmung insofern über eine externe Vermittlung, als die Vorbilder/Vermittler des Verlangens außerhalb der zeitlichen und räumlichen Reichweite ihrer Adepten sind. Trigonometrisch übersetzt: In dem Dreieck stünde den Punkten A (Subjekt) und B (Objekt) ein Punkt C (Vermittler) mit großer Höhendistanz gegenüber, dessen Aktionsradius auch durch den mit steigender Höhe enger werdenden Winkel eingeschränkt ist. Zusätzlich wird der Abstand der Punkte dadurch markiert, dass diese Vorbilder nicht unvermutet auftauchen, sich aufdrängen oder sich aktiv in die Begehrens-Geschichten einmischen; sie verdanken ihre Existenz der kontaminierenden Wirkung, die sie auf die Nachahmungssüchtigen ausüben, und diese Nachahmungssüchtigen entnehmen ihre Vorbilder dem Personal der gelesenen Bücher und rufen sie ins Leben als livreske ‚Stars’, deren Strahlkraft derjenigen von relativ fernen Sonnen zu vergleichen ist. Diese fernen Sonnen wären solche, die zwar hell leuchten, deren blankes Licht aber nicht auch noch Hitze erzeugt und damit Näheprobleme neuer Art schafft. Mit dem Begehren nicht in eigener Regie, sondern aus der Hand des Anderen in Verbindung mit der infizierenden Funktion der Literatur beziehungsweise der Geschichte überträgt Girard seine anthropologisch basierte relecture von Cervantes auf Stendhal und Flaubert, wobei die Intention nicht zu übersehen ist, die literarischen Phänomene, insbesondere der Romankonstruktion, im Hinblick auf gesellschaftliche Prozesse zu reflektieren und den Übergang des 19. Jahrhunderts von der ständischen in die sich ausdifferenzierende, egalitäre Gesellschaft mit der entsprechenden Neuformulierung der condition humaine auf eine historische Linie zu bringen. Wie die Fremdbestimmung des Verlangens bei Flaubert oder auch bei Cervantes durch einen ‚abwesend anwesenden’ Dritten erfolgt, ist auch die Motivation von Stendhals Protagonisten zunächst fremdkonditioniert. Was bei Flauberts Personen der schwärmerische bovarysme ist, an dem sie leiden und scheitern, ist bei Stendhals Figuren die vanité, die sie nicht zur Ruhe und zu sich selbst kommen lässt. Während Mathilde de la Mole in Le Rouge et le Noir ihre Vorbilder aus der Geschichte ihrer adligen Familie bezieht, gesteht Julien Sorel offen ein, dass er keinen Geringeren als Napoleon nachahmt und dass dessen Schriften, Le Mémorial de Sainte-Hélène und die Bulletins der Großen Armee für ihn von existenzieller Bedeutung sind. 313 Im Hinblick auf die Distanzen, die die begehrenden Personen von den Vorbildern trennen, übersteigt Stendhal die relativ stabile Dreieckskonstellation von Cervantes und zeigt sich in diesem Punkt der Konkurrenzanalyse fortgeschrittener als Flaubert. Amadis ist in jeder Hinsicht unerreichbar weit von Don Quixote entfernt, die Entfernung zwischen Emma Bovarys normannischem Provinzstädtchen Yonville und 312 Gustave Flaubert, Emma Bovary, S. 356 : « Elle voulait devenir une sainte ». S. 358 : « Alors, elle se livra à des charités excessives ». 313 Stendhal, Le Rouge et le Noir (1830), Paris 1958, S. 17 : « ...son livre, c´était celui de tous qu´il affectionnait le plus, le Mémorial de Sainte-Hélène». S. 74 : «...mais à cet âge, Bonaparte avait fait ses plus grandes choses ». S. 102 : « Il voyait dans les yeux des femmes qu´il était question de lui. [...] Il était officier de Napoléon et chargeait une batterie ». 90 dem strahlenden Zentrum ihrer Idole in Paris ist zwar groß, aber immerhin messbar und zur Not mit Hilfe von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, Modeheften und Zeitungen überwindbar. Stendhal hingegen ist nicht nur Zeitgenosse seines Vorbilds und Vermittlers; er ist dessen Offizier und begleitet ihn auf diversen Feldzügen. Seine Beziehung zum Vorbild ist nicht nur spiritueller Natur. Daher ist er in der Lage, seinen Personen diese erlebte mimetische Nähe zum bewunderten Modell einzuhauchen und sie in dieser gewissermaßen thermisch aufgeladenen Arena in ihrer Doppelfunktion als Komplizen und Rivalen aufeinander treffen zu lassen. Die Verkürzung des Abstands zum Vorbild, die Stendhal in seinem 1822 erschienenen philosophischen Essay De l´Amour analysiert, wird in dem neun Jahre später veröffentlichtem Roman in kunstvollen Variationen durchgespielt und reicht hinein bis in die Gestaltung des erzählerischen Dekors. 314 Durch diese Verkürzung des Abstands erhält die Nachahmung eine neue, konfliktive Qualität. Das Vorbild wird, da das kompetitiv begehrte Objekt nicht aufgeteilt werden kann, zu einem Gegenüber, welches einerseits aus der Position des Idols heraus das Verlangen suggeriert und stimuliert, andererseits es verneint, welches gleichzeitig fasziniert und frustriert, welches zugleich das höchste Glück verspricht und die größte Gefahr androht. 315 Thront bei Cervantes der Vermittler in einer himmlischen Höhe, von wo auch ein gewisser Glanz auf seinen gläubigen Don Quixote fällt, setzt er sich in Le Rouge et le Noir in Bewegung und treibt im Überschreiten der napoleonischen und der rousseauistischen 316 Distanz auf den Punkt zu, wo er gewissermaßen auf gleichem Fuß und in Augenhöhe mit dem begehrenden Subjekt verkehrt beziehungsweise ihm gegenübertritt. Der mécanisme mimétique, der als Thema mit Variationen den Roman orchestriert, hat seine erste tonangebende Episode und motivische Umsetzung in der Auseinandersetzung um Julian Sorel, an dem das Ehepaar de Rênal nicht nur wegen seiner Lateinkenntnisse interessiert ist, sondern vor allem deswegen, weil auch die Familie Valenod einen Hauslehrer einstellen könnte, wodurch deren Reputation gegenüber dem Dorfbürgermeister aufgewertet würde. Das Interesse der Rênals an Julien ist also nicht spontan und gilt nicht direkt seiner Person. Julien wird ihnen als Wunschobjekt angezeigt, sein Gütesiegel erhält er durch den mitbietenden, mitwerbenden und damit valorisierenden Konkurrenten Valenod, der auch wegen seines Status als reicher Emporkömmling eine Herausforderung für den unter Napoleon geadelten, also nicht deutlich sozial überlegenen de Rênal, darstellt. In diesem Spiel des imitierten Begehrens spielt auch Juliens Vater, der in Verrières das Sägewerk betreibt, seine Rolle, indem er, als es um die Lohnvereinbarung für seinen Sohn geht, den Tarif steigert und den Bürgermeister unter Androhung eines 314 Stendhal, Le Rouge et le Noir, S. 5 : « En Franche-Comté, plus on bâtit de murs, plus on hérisse sa propriété de pierres rangées les unes au-dessus des autres, plus on acquiert de droits aux respects de ses voisins ». 315 Stendhal, De L´Amour (1822), Paris 1980, S. 119 : « Chaque perfection que vous ajoutez à la couronne de l´objet que vous aimez, et qui peut-être en aime un autre, loin de vous procurer une jouissance céleste, vous retourne un poignard dans le cœur. Une voix vous crie : Le plaisir si charmant, c´est ton rival qui en rejouira.[...] l´on ne se rappelle plus qu´en amour : posséder n´est rien, c´est jouir qui fait tout ; l´on s´exagère le bonheur du rival, l´on s´exagère l´insolence que lui donne ce bonheur, et l´on arrive au comble des tourments, c´est-à-dire à l´extrême malheur empoisonné encore d´un reste d´ espérance ». 316 Als Julien seine Hauslehrerstelle im Hause Rênal antritt, erinnert er sich an die Confessions von Rousseau und die Weigerung des Protagonisten, am Tisch des Hauspersonals zu essen. s. Stendhal, Le Rouge et le Noir S. 19 : « Animal, qui te parle d´être domestique, est-ce que je (Juliens Vater, d. Verf.) voudrais que mon fils fût domestique ? – Mais avec qui mangerai-je ?» 91 anonymen Rivalen schlagartig in die Knie zwingt. 317 Man sieht, das imitierende Begehren ist ansteckend und nicht aufhaltbar. Durch einen Wink des Vermittlers kann die Extase des Begehrenden in Demütigung umschlagen und umgekehrt. Unter der Oberfläche der ausgetauschten Gesten, Worte und Reflexionen treibt das metamorphosierende Dreieck sein Spiel und gibt wie ein unter der Tischplatte geführter Magnet die Richtung der Figuren vor, welche indes in ihrer romantischen Selbsteinschätzung sich dem Glauben wiegen, sie seien die souveränen Urheber ihrer Entscheidungen. Indem Girard diesen mimetischen Mechanismus mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks funktionieren sieht, verbindet er seine relecture der großen Romane mit den von Tarde formulierten Nachahmungsregeln, welche als Naturgesetze vorgetragen werden und ihre Metaphern mit Vorliebe der Elektrizitäts- und Wellenlehre entnehmen. Wenn Begehren sich fortpflanzt und ausbreitet, ansteckend und übertragen wird und mehrere Grundannahmen der Propagation zur Verfügung stehen, scheint es eine Frage des Weltbilds, des Blickregimes oder der vorherrschenden Medientheorie zu sein, für welche Übertragungsform auch der mimetischen Prozesse sich die Beobachter entscheiden, ob sie einer biologischen 318 , physikalischen, kybernetischen oder chemischen Sprechweise den Vorzug geben. Girard, der im Unterschied zu dem fortschrittsoptimistischen Tarde in dem Phänomen der Verbreitung eher ein Moment der Bedrohung und Verführung, den Beginn einer mit Pest und Cholera assoziierten Epidemie, einen um sich greifenden katastrophischen Brand in der Form zerstörerischer Feux de l´envie sieht, pendelt zwischen mehreren Registern, greift aber gern für die Darstellung der verschiedenen Spielformen seines mécanisme auf eine weitgehend technische und von Alltagserfahrung gestützte Semantik zurück. 319 Die Option für die technische Übertragunsweise ist freilich keine absichtlose Medienentscheidung. Mit ihr verknüpft ist die Prämisse, dass es sich mit dem Raum, in dem die Nachahmungen geschehen, wie mit einem Raum verhält, in dem die Regeln der Mechanik, mithin der klassichen Physik mit Aussicht auf Mathematisierbarkeit herrschen und der sich durch ein hohes Maß an objektiver Überprüfbarkeit und Voraussagbarkeit auszeichnet. Auf der einen Seite erhöht diese Option für technische Bildgebung und Modellbau die Nachvollziehbarkeit durch den mit der Populartechnik vertrauten Leser, andererseits weisen die dabei gewonnenen Diagnosen und Analysen bisweilen einen Grad von Konstruiertheit auf, der den Blick auf die vermeintlich abschließende Gleichung einengt und den Beobachter vorschnell in Sicherheit wiegt. Obwohl Girard wissen muss, dass jede Botschaft durch ihr Medium vorgeprägt und mitentschieden wird, hält er sich nicht damit auf, sich kritisch mit seiner Semantik und seinen Metaphern auseinanderzusetzen. Möglicherweise führt aber auch gerade das Wissen um die Gefährdung durch den medialen Eigensinn dazu, dass Girard sich mehrerer Register bedient. Wenn auch der Zentralbegriff des Mimetismus in den meisten Fällen mit dem Begriff des Mechanismus assoziiert und damit ein technisch-physikalischer 317 Stendhal, Le Rouge et le Noir, S. 21 : « Nous trouvons mieux ailleurs. A ces mots la figure du maire fut bouleversée ». 318 Vgl. Boris Groys, „Das Märchen vom Begehren“ in: Politik der Unsterblichkeit, München 2002, S. 64: „Die virale Verbreitung ist die geheime Wahrheit jeder Kommunikation, die aber von den meisten Kommunikations- und Gesellschaftstheorien nicht angemessen berücksichtigt wird“. 319 z. B. des Effekts der Kapillaraszension von netzenden Flüssigkeiten, in: René Girard, Mensonge romantique, S. 15 : « Un peu d´eau suffit à amorcer une pompe; un peu de désir suffit pour que désire l´être de vanité ». 92 Verständnishintergrund vorgegeben wird, weisen Begriffe wie contagion, contamination, peste, fièvre, hallucination auf eine mehr organistische Verfasstheit einer Wirklichkeit hin, in der gewissermaßen unter anderen Laborbedingungen mit den Phänomenen umgegangen wird und wo die Diagnosen weniger auf rechnerische als auf beobachtende und analogisierende Verfahren zurückgehen. Das gültigste Modell jedoch für die Abbildung der vom Mimetismus ausgehenden Prozesse ist für Girard nicht die Maschine, denn sie lässt die Fragen nach ihrem Konstrukteur und der extern zugeführten Bewegungsenergie offen. Es ist auch nicht der Organismus, denn auch dessen Funktionen sind von einer Energie abhängig, die er nicht selbst erzeugt. Das Modell par excellence, in dem sich die Vorzüge des Maschinenhaften und die des Organischen verbinden, ist das des Spiels, welches als jeu mimétique oder als jeu de la violence vor allem Girards kultur- und religionstheoretischen Arbeiten als Funktionsmodell dient und sich hervorragend dafür eignet, den autopoietischen Charakter der mimetischen Prozesse explizit zu machen und diese Prozesse sowohl auf eine natürlich-anthropologische wie auch kulturell-institutionelle Grundlage zu stellen. Maßgebend und erhellend für die Romananalyse, von der aus Girard seine geregelte soziodramatische Ereignisabfolge startet, sind demnach nicht die mechanistischen Versuchsanordnungen der sozialen Maschine, wo die Leidenschaften und Gesinnungen wie Räder und Transmissionen ineinandergreifen und einen gesellschaftlichen Schicksalsmechanismus in Gang setzen, der zu Ergebnissen führt, die so von niemand beabsichtigt werden; es ist das spielerische, geometrische Experiment des Dreiecks von Subjekt, Objekt und Vermittler und die in diesem jeweils doppelten Gegenüber vorkommenden oder denkbaren Distanzen mit ihren Auswirkungen auf das Subjekt, welches wiederum einem anderen Subjekt gegenüber als Vermittler auftritt und die zunehmend unbeherrschbare Kettenreaktion des auslösenden und zugleich verwehrenden Wollens und Liebens ins Unendliche fortsetzt, wobei, wie beim Fortgang der Sequenz in La violence et le sacré zu zeigen sein wird, periodisch kritische soziale Aggregatszustände erreicht werden, zu deren Auflösung dosierte Gewaltanwendung angezeigt ist. Dieses Seinsmodell des Begehrens, welches wie jedes Modell gleichzeitig reduktionistisch ist und gerade deswegen eine ungeheur konsequente Wirkung entfacht, geht davon aus, dass innere Vorgänge, indem sie wie äußere Abläufe beschrieben werden, anschaulich gemacht und in letzter Konsequenz verräumlicht werden. In seiner Schiller-Studie 320 ruft Safranski in Erinnerung, dass seit dem 17. Jahrhundert mit Descartes und Spinoza versucht wurde, mit den Prinzipien der res extensa den Geist zu verstehen und die von der ausgedehnten Körperwelt abgelesenen Merkmale auf den Geist zu übertragen, welcher zuvor als ein Spiegel des göttlichen Geistes betrachtet und mit theologischen Begriffen erfasst worden war. Seitdem ist die Auffassung plausibel, dass die Körper, die beseelten und die unbeseelten, sich im Raume stoßen, aufeinander einwirken und sich zu neuen Konstellationen verbinden, dass auch die Verknüpfung von Gedanken, Affekten und Motiven von einer Art Bewusstseinsmechanik gesteuert wird, die einer mathematisch darstellbaren Gesetzmäßigkeit gehorcht. Demnach sind in strikter Verfolgung dieses assoziationspsychologischen Ansatzes die inneren und äußeren Handlungen, somit 320 Rüdiger Safranski, Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, München 2004, S. 61 f. 93 auch das Begehren, more geometrico zu behandeln, als wäre von Linien, Flächen und Körpern die Rede. Nicht alle Romane sind nach Girard in der Lage, die trianguläre Experimentalanordnung zu reproduzieren und die Wahrheit des Begehrens aufzudecken. Viele, und damit meint Girard nicht nur die Ritterromane, die dem Don Quixote den Kopf verdreht haben, sondern die Werke der so genannten romantischen Literatur mit der Verherrlichung des spontanen, souveränen, selbstbewussten und in eigener Regie begehrenden Helden, mit dem Kult des Genies 321 und der Originalität sagen die Unwahrheit über die menschliche Situation, befinden sich im Irrtum des mensonge romantique. Mit romantisch meint Girard nicht die Literatur einer Epoche oder eines bestimmten Erzählstils. Diese Bezeichnung wird für ihn zum Inbegriff der menschlichen Selbsttäuschung und Verirrung, zur Kennzeichnung einer épouvantable maladie ontologique. 322 Die romantischen Autoren sind insofern Lügner, als sie dem Individuum einreden, es sei Herr seiner selbst und souveräner Autor seines Beobachtens, seines Denkens, Handelns, Liebens und Begehrens. Romantisch ist derjenige, der den anderen gegenüber darauf besteht, dass er kein Herdenwesen ist, dass sein Verlangen echt ist und aus seinem Inneren, quasi von Herzen beziehungsweise und in abgeleiteter umgangssprachlicher Version‚ aus dem Bauch kommt. Für das romantische Ich ist der Andere nicht konstitutiv, das Ich kommt als pures Ich vor, ist von den anderen unabhängig und findet sich ausgeführt in den modernen Individualismen, angefangen vom Romantizismus und Symbolismus bis hin zum Surrealismus und Existenzialismus, wie es zum Beispiel in den Werken von Nietzsche, Valéry 323 und Gide dargestellt wird. Für Girard ist das autonome Ich eine Illusion, welches nach der Art des M. Teste glaubt, es sei das unverrückbare Beobachtungs-, Erkenntnis- und Verfügungszentrum gegenüber dem Anderen und den Anderen, obwohl es nach der in der Romanliteratur freigelegten Topologie des Begehrens in Wirklichkeit erst als Produkt der Relativität und des Verwiesenseins in Erscheinung tritt. 324 Girard sieht im désir triangulaire die universelle Matrix, mit deren Hilfe sich die Wahrheit des Romans herausstellen lässt. Mit diesem Prüfverfahren bringt er die 321 Zur Kritik der Aktionskultur vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraums des Kapitals, Frankfurt/M 2005, S. 108: „Das notorische Gestammel von Genie und Schöpfertum, das seit dem Ende des 15. Jahrhunderts über Europas Kunstbetrieben liegt, ist ein Beweis für die Unfähigkeit der Modernen, zu iher eigenen Initiativkraft sinnvoll Stellung zu nehmen. Beruft man sich auf einen genius, um Werke und Handlungen von ihm herzuleiten, so erklärt man den Akteur impicite für einen Besessenen, sei es auch im achtunggebietenden Sinn; folglich wird die Tat vom Täter auf eine überpersönliche Instanz verschoben, die ihn durchgreift und in einen Zustand erhabener Unverantwortlichkeit versetzt“. 322 François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, S. 27 323 Paul Valéry, M. Teste, S. 84 : « La nature les (les deux énergies, d. Verf.) a jointes pour toujours, quoique furieusement ennemies. L´une est l´éternel mouvement d´un gros électron positif, et ce mouvement engendre une suite de sons graves où l´oreille intérieure distingue sans nulle peine une profonde phrase monotone : Il n´y a que moi, moi, moi... Quant au petit électron radicalement négatif, il crie à l´extrême de l´aigu, et perce et reperce de la sorte la plus cruelle le thème égotiste de l´autre : Oui, mais il y a un tel... Oui, mais il y a un tel... Tel, tel, tel. Et tel autre !... Car le nom change assez souvent ». 324 René Girard, Mensonge romantique, S. 100 : « ...elle (la phénoménologie du roman, d. Verf.) cherche à établir une topologie du désir selon l´Autre ». Sowie S. 79 : « L´espace du désir est euclidien. Nous croyons toujours nous mouvoir en ligne droite vers l´objet de nos désirs et de nos haines. L´espace romanesque est einsteinien ». 94 Unterscheidung zwischen dem anthropologisch begründeten Romanhaften oder Romanesken und dem illusionären Romantischen zum Vorschein, was gleichbedeutend ist mit dem Unterschied zwischen dem, was bei der Aufklärung und Aufhellung der condition humaine weiterhilft und dem, was in die Sackgasse der Selbstverblendung mit den katastrophischen Konsequenzen auf der zwischenmenschlichen und der sozialen Ebene führt. Dabei ist die Testmethode, mit der er die Romanlektüren verarbeitet, von geradezu verblüffender Einfachheit. Indem er in der Topologie des Begehrens zwischen Subjekt (A) und Objekt (B) die Position des Vermittlers/Rivalen (C) wie einen Schiebewiderstand bewegt, also die Distanz von C gegenüber A oder B jeweils neu einstellt, bringt er alle denkbaren Metamorphosen des Begehrens zum Vorschein. Er kann damit sowohl innnerhalb eines jeweiligen Romans als auch innerhalb des Gesamtwerks eines Autors sowie innerhalb einer jeweiligen literarischen Richtung die verschiedenen Intensitäten des Begehrens gleichsam stufenlos regeln und den dadurch ausgelösten Mechanismus nachstellen. Er gelangt so zu einer mit reduziertem begrifflichem Aufwand überschaubaren intra- und intertextuellen Phänomenologie des Romans, in der sich die Karriere des mimetischen Verlangens auch in einem literaturhistorischen Rahmen verfolgen lässt. Die besondere Pointe dieses Dreipunktearrangements besteht darin, dass sich durch Verschieben nicht nur die Distanzen manipulieren lassen, sondern dass etwa die Punkte B (Objekt der Begierde) oder C (Vermittler/Rivale) de facto aus dem Spiel genommen 325 und als pure Imagination mitgeführt werden können, ohne dass die Logik des nachahmenden Begehrens außer Kraft gesetzt wird und dass dann dieses Begehren als ein désir métaphysique selbst ohne Objekt, auf das es sich richtet, und ohne Konkurrenten, der ihm den Weg zugleich weist und versperrt, sein konfliktives und in diesem Fall selbstzerstörerisches Potenzial entfaltet. Für den Fall, dass das begehrte Objekt aus dem Spiel genommen wird, richtet sich der Argwohn des Begehrenden unmittelbar und ohne Objektablenkung auf das Gegenüber, dessen Blick, da er nicht durch ein Objekt umgeleitet wird, eine direkte Konfrontation Auge in Auge erzeugt. Wird nun auch der jeweilige leibhaftige Rivale liquidiert, kommt das begehrende Ich dennoch nicht zur Ruhe. Im Gegenteil: Es beginnt in dieser Konstellation die Halluzination des Doppelgängers, das heißt die Vorstellung, dass immer jemand da ist oder auch nur da sein könnte, ein double, dessen Begehren nur darauf wartet, dass es sich über mein Begehren hermacht. Un da ich ihn nicht kenne und nicht weiß, von woher und wann er sich mir in den Weg stellt, führe ich – auf verlorenem Posten - einen permanenten Abwehrkampf gegen einen unsichtbaren Gegner. Ich sehe mich in meinem Begehren umringt von erdachten anonymen, feindlichen Rivalen. Vermittler meines Begehrens ist nicht mehr ein ferner und buchförmiger Amadis, auch nicht ein M. Valenod aus meiner Stadt oder ein M. de Norpois, ein Vertrauter des Salons meiner Eltern. Ich befinde mich in der verzweifelten Lage des Kellerlochbewohners, den Dostojewski sagen lässt: Ich bin Einer, und sie sind Alle. 326 Je größer die Distanz des Wunsch-Vermittlers beziehungsweise potenziellen Rivalen und insofern möglichen Gegners zum vermeintlich autonom begehrenden Ich und zum Objekt der Begierde ist, desto sicherer fühlt sich dieses Ich. Im Idealfall ist das 325 Vgl. Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1861 – 1862), dt., Stuttgart 1984, S. 19: „Bei näherer Betrachtung verflüchtigt sich das Objekt, die Gründe verdunsten, ein Schuldiger ist nicht mehr aufzutreiben…“. 326 Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, S. 50 95 Vorbild ein transzendenter Gott, der seine Nachahmer als seine ebenbildlichen Geschöpfe betrachtet, die wiederum sich nicht als Konkurrenten sondern als Kinder eines gemeinsamen Vaters erkennen. Das Verlangen diesem Vermittler gegenüber wird heilsökonomisch in einem vertikalen Begehren ausagiert, die Rivalität durch die Leistung und Gegenleistung, durch den ‚wunderbaren Tausch’ in Form von Opfer und Segen ruhig gestellt. Rückt das Vorbild aus seiner jovialen Position in die zunächst literarisch vorgestellte und insofern eingebildete Nähe zum Subjekt, erfährt das Objekt eine gewisse Wertsteigerung, es wird auffällig und wird deutlicher wahrgenommen; es konstituiert sich gewissermaßen erst als Objekt. Auch der Vermittler wird deutlich wahrgenommen; indem er auf das Objekt hinweist, wird er bedeutend, wegen seiner Überlegenheit wird er respektiert, bisweilen gefürchtet, genießt aber auch ein gewisses Maß an Verehrung. Variiert das Dreipunkte-Schema in der Regel von Autor zu Autor, kann es auch innerhalb eines einzigen Werks je nach Bedarf und erzählerischer Absicht seine Form verändern. So lässt Cervantes seinen Don Quixote unter der Verzauberung durch den symbolisch entrückten Amadis auf Abenteuerreise gehen und eine in Schönheit erstrahlende Dulcinea lieben, die es nicht wirklich gibt, präsentiert aber in der Novelle von der unbesonnenen Neugier 327 eine Konfiguration von real existierenden Anwesenden, in der die Logik der triangulären Begierde mit ihrer konfliktiven Energie freigelegt wird. Indem die Formen des désir triangulaire innerhalb dieser universellen Struktur in großer Freiheit verstellt werden können, verfügt der Erzähler über eine bewährte Anleitung, Personen in Szene und in ein dynamisches Verhältnis zueinander zu setzen und, was der Forderung nach Unterhaltsamkeit entspricht, das Überraschende mit dem Vertrautem zu kombinieren. Für Girard ist dies die den großen Autoren abgelauschte Prozessformel des Romans. 328 Sie treibt mit naturgesetzlicher Notwendigkeit das Romanschaffen an, ohne dass sich die einzelnen Autoren dessen bewusst sind. Denn dadurch dass sie im Sinne des musée imaginaire von Malraux sich in eine künstlerische Tradition einreihen und ihre Werke als Antworten auf Vorhergegangenes verstehen, übernehmen sie gleichzeitig, sei es in der Affirmation oder in der Negation, die reflektierten oder auch ungeprüften Prämissen dieser Logik des Begehrens. Da auch die Autoren auf der Suche nach Anerkennung sich mit Mitbewerbern – in der Regel mit denen, die nur noch durch ihre Bücher am Leben sind – auseinandersetzen müssen, gilt auch für ihr künstlerischen Schaffen, dass es nicht ein Handeln aus freien Stücken ist, dass auch hier am Eingang zum Paradies des Erfolgs als doppelte Faszination ein engelhaftes Vorbild steht, das mit der einen Hand auf die offene Pforte zeigt, mit der anderen Hand, die ein flammendes Schwert hält, die Näherkommenden und Nachahmenden vom Eingang fern hält. 329 327 Cervantes, Don Quixote S. 411 f. Anselmo bittet seinen Freund Lothario, der die Heirat mit Camila angebahnt hatte, er solle seiner jungen Ehefrau zum Schein den Hof machen in der Erwartung, dass seine Liebe zu ihr durch die Eifersucht auf seinen Freund noch stärker würde. Lothario stellt Camilla zwar widerwillig aber weisungsgemäß auf die Probe und wird dann unversehens für Anselmo zum veritablen Rivalen. Als dieser erfährt, dass er betrogen wurde und seine Ehre verlor, bringt er sich um. Fazit: begehrenswert ist, was den Rivalen frustriert. Begehren ist die Nachahmung des Begehrens eines Konkurrenten. Der Stopp der Spirale des Begehrens kostet einen hohen Preis. 328 René Girard, Mensonge romantique, S. 100 : « Le désir apparaît donc comme une structure dynamique se déployant d´un bout à l´autre de la littérature romanesque. On peut comparer cette structure à un objet qui tombe dans l´espace et dont la forme se modifie sans cesse en raison de la vitesse croissante imprimée par la chute ». 329 Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of the Mind, NewYork 1972. Die hier in einer Theorie der Schizophrenie formulierte intersubjektive Reaktion des double bind mit dem positiven und 96 4. Das mimetische Begehren als literaturtheoretisches Prinzip Die Romananalyse, die zur Entdeckung des mimetischen Verlangens (désir mimétique) und zur Unterscheidung der äußeren und inneren Vermittlung (médiation externe, médiation interne) führt, wird von Girard eingeschrieben in eine neuzeitliche gesellschaftliche Entwicklung, die mit dem Begriff der Demokratisierung ebenso umschrieben werden kann wie mit der Lukács-Formel der transzendentalen Obdachlosigkeit 330 oder der Goldmann-Formel der Degradierung, 331 wobei letztere nicht kulturpessimistisch als Abstieg und Verfall, sondern als Verlust beziehungsweise Abschaffung der Unterschiede zu verstehen ist. Blickt man von der siebzehn Jahre später in Des choses cachées depuis la fondation du monde vorgelegten Fundamentalanthropologie auf die Romananalyse von Mensonge romantique et vérité romanesque zurück, lässt sich die geschichtsphilosophisch gefasste Degradierung in den metahistorischen und nur mit religiösen Kategorien kenntlich zu machenden Rahmen einer offenbarenden, also apokalyptischen Drift einzeichnen, als deren Anfang die Begründung der menschlichen Gemeinschaft aus dem Geist der Gewalt eingestanden wird und als deren Enthüllung, jedenfalls aus jüdisch-christlicher Sicht in der Lesart von Girard, die Bloßstellung und Defaszinierung dieser Gewalt in Form der biblischen Enthüllung der sieben Siegel durch das Lamm in Aussicht gestellt wird. 332 In seiner Standard-Analyse, die sein ganzes Werk durchzieht und in zahlreichen Varianten auftaucht, diagnostiziert Girard in der Geschichte der Neuzeit eine fortschreitende metaphysische Vergiftung, 333 deren Ursache in dem Versuch zu sehen ist, den Gott der mittelalterlichen Philosophie durch das cogito des abendländischen Individualismus zu ersetzen. Da infolge dieser Umbesetzung jede Subjektivität ihre Wirklichkeit in sich selbst zu begründen hat, kommt es zu einer Selbstvergottung, die dem Individuum eine Identifikationsleistung abverlangt, die es überfordert. In der Frage, wer den toten Gott oder seinen Sohn beerben soll, glauben die Philosophen der Aufklärung, es genüge, das Ich in die frei gewordene Position einzurücken. Dabei wird aber übersehen, dass das Ich keine Monade ist und dass es dieses Ich ohne den Anderen nicht geben kann. Tritt also das Ich an die Stelle des biblischen Gottes, wird zwangsläufig die Beziehung zu dem Anderen vergiftet, weil der Andere diese göttliche Position mit dem gleichen Recht beansprucht. Der Divinitätsanspruch kann nicht zugleich vom Ich und dem Anderen erhoben werden, er ist also ständig zwischen diesen beiden Polen umstritten. Diese umstrittene Göttlichkeit infiziert mit einer wie im Untergrund des Bewusstseins agierenden Kraft, einer métaphysique souterraine, sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen insbesondere die Sexualität, das Streben nach Geltung und Erfolg und das Ringen negativen feedback wird von Girard gern zur Absicherung seiner Mechanik des Begehrens herangezogen. 330 Georg Lukács, Die Theorie des Romans (1962), 9. Aufl. München 1984, S. 32 331 Lucien Goldmann, Soziologie des modernen Romans (Übers.), Neuwied 1970, S. 20: „Girards Romantheorie basiert auf der Idee, dass die Degradierung der Welt des Romans das Ergebnis eines mehr oder weniger fortgeschrittenen ontischen Übels ist […], dem ein Wachsen des metaphysischen, d. h. degradierten Verlangens entspricht“. 332 Offb 7, 9-10: „ Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen. Sie riefen mit lauter Stimme: Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm“. 333 René Girard, Dostoïevski, du double à l´unité, Paris 1963, S. 101 97 um künstlerische Anerkennung. Girard sieht das Unvermögen des Rationalismus zur Identifizierung und zur ontischen Sättigung und Besiegelung des Subjekts darin, dass es lange vor Dostojewski und bereits bei Descartes und Corneille insofern zu einer pathologischen Doppelung des Individuums kommt, als das klassische Ideal einer irrationalen générosité, welches von Descartes philosophisch und von Corneille dramaturgisch dargestellt wird, nicht von einem cogito deduziert werden kann. Girard betrachtet diese Doppelung als den Beginn einer unterirdischen Dialektik, in der das generöse, in der romantischen Epoche das empfindsame Ich dem Andern in einer moralisch-ästhetischen Überlegenheitspose gegenübertritt, es aber nicht schafft, diese Überlegenheitsgeste in echte Souveränität zu verwandeln: Le Moi est incapable de réduire l´Autre, tous les Autres, en esclavage. 334 Der Antagonismus zwischen dem Ich und seinen Rivalen wird jedoch mit einiger Verzögerung erst explizit. Der Individualismus versucht die ihm antwortende dialektische Reaktion unter Kontrolle zu halten und hält den Anderen mit diplomatischen Mitteln auf Distanz: Il cherche à signer un pacte de non-agression métaphysique avec l´Autre335. Dies ist, am Ende des 18. Jahrhunderts, die spirituelle Situation, in der die Menschen sich einander in die Arme werfen und das Alle Menschen werden Brüder-Lied anstimmen, bevor die Revolution schließlich über die Brüderlichkeit hinaus zur Geschäftsordnung der ungehinderten Konkurrenz übergeht, was sich alsbald in einer Literatur abbildet, in der der Sadismus und Masochismus jegliche Individualdistanz unterlaufen. Nur wenigen Autoren gelingt es, die offene Flanke der zwischenmenschlichen Beziehungen angemessen zu reflektieren; die meisten plädieren entweder für die Einsamkeit des Subjekts gegenüber einer unheimlichen Welt oder für den Eigensinn der Dinge gegenüber den zur Erkenntnis unfähigen menschlichen Voyeuren. Einigen großen Romanciers ist es vorbehalten, das unterirdische Doppel- und Wiedergängertum aufzudecken, das, angetrieben von der Nachahmungsmimesis, die zwischenmenschlichen Beziehungen beherrscht. Die Literatur, so sieht es Girard, wird nun eingespannt in diesen ungelösten Konflikt zwischen dem Ich und dem Anderen und hat sich zu entscheiden, ob sie diesen Konflikt austrägt und einer Lösung zuführt, oder ob sie ihn nur darstellt, ob sie die mimetischen Schwingungen zu einem Stillstand bringt, oder ob sie sich von ihnen mitreißen lässt. Dass Dostojewski zu denen gehört, die dieses untergründige und selbstzerstörerische Kräftemessen durchschauen, verdankt er nicht einer Eingebung. Er hat, wie es der Konflikt mit seinem frühen Förderer und nachmaligen Rivalen Bielinski bezeugt, diese Erfahrung, bevor sich zu dem Verzicht auf seinen eigenen Stolz durchringen kann, existenziell durchlebt und durchlitten, so dass Girard zu dem Schluss kommt: La lucidité du Dostoïevski génial n´est pas donnée, mais conquise, et nous comprendrons que cette conquête n´avait rien de nécessaire, qu´elle est presque miraculeuse. 336 Was hier sich bei dem visionären russischen Dichter wie durch ein Wunder ereignet, ist offensichtlich nur zum Teil das Ergebnis einer unbefangenen Literaturkritik. Allzu deutlich ist die Parallele mit Girards biographischem Hintergrund. Girard steht noch ganz unter dem Eindruck der mimetischen Entdeckung in der zwei Jahre vorher veröffentlichten Romanstudie, eine Entdeckung, für ihn ebenso wundersam ist wie das von ihm formulierte Mirakel der romanesken Konklusion, beides in erlebnishafter Nähe zu der von ihm als gnadenhaft empfundenen Genesung von einer malignen Krankheit sowie zu der religiösen Neubekehrung zum abhanden gekommenen Glauben seiner Kindheit. 334 René Girard, Dostoïevski, S. 104 René Girard, Dostoïevski, S. 105 336 René Girard, Dostoïevski, S. 106 335 98 Was Girard in seinem theoretischen Hauptwerk systematisch dargestellt und argumentativ erörtert, ist in der Romananalyse des mensonge romantique im Kern enthalten, obwohl diese nur die gesellschafts- und literargeschichtlicheZeitspanne von Cervantes bis Proust umfasst. Diese liest sich als die Diagnose eines fortschreitenden und sich verschärfenden Übels, als progrès de la maladie ontologique, 337 deren Etappen an ausgesuchten Erzählungen fixiert werden. Während die anthropologische Studie das Menschenganze in den Blick nimmt und mit einer Theorie über den Ursprung der Kultur einsetzt, ist die Stunde Null der modernen Verhängnisgeschichte gleichzusetzen mit dem Übergang der aristokratischen Ordnung des Ancien Régime zu demokratischen Strukturen mit ihren nicht nur neuartigen Regierungsformen, sondern vor allem neuartigen zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Übergang, den unter anderen Montesquieu, Saint-Simon und Tocqueville als Zeugen der Depotenzierung des Adels durch die königliche Zentralgewalt aus nächster Nähe beschrieben, schlägt sich für Girard gleichzeitig nieder im Übergang vom Theater zum Roman und dort besonders von dem Typ des Helden, der nach Art des Renaissance-Ideals Autor und Herr seines Begehrens ist, 338 zu dem Protagonisten, dessen Verlangen in Richtung auf das Wunschobjekt verunsichert wird durch den Blick des egalitären Konkurrenten, ja dessen Verlangen erst durch den Rivalen hervorgerufen wird und auch aus dem Grund seiner selbst nicht sicher sein kann, weil es unwillkürlich Nachahmer auf den Plan ruft, die ihm die Inhaberschaft am Verlangen bestreiten. Erzähltechnisch gesehen ist dies der Übergang von der äußeren Vermittlung mit einem relativ fernen Vermittler zu einer inneren Vermittlung, zum travail souterrain de la médiation interne. 339 Es ist die Arbeit am Dreipunkteschema. Die ersten Etappen dieses pathologischen Verlangens lassen sich, wie ausgeführt, an der relativ äußeren Vermittlung durch den fernen und kalten Stern namens Amadis im Falle des Don Quixote darlegen, ebenso wie an der durch das Näherrücken des konkurrierenden Vorbilds aufgeheizten Vermittlung im Falle des M. de Rênal und der Emma Bovary. Fazit: Das Subjekt begehrt ein Wunschobjekt nicht, weil es von einer libidinösen Energie dazu veranlasst wäre oder wegen der spezifischen Eigenschaften des Objekts, vielmehr weil ein anderes Subjekt sich für das Objekt interessiert. Das Verlangen ist also nicht gegenständlich; es ist mimetisch. Es geht ihm nicht um eine Sache, es geht ihm um ein Sein. Hinter dem vordergründigen Habenwollen ist ein vor sich selbst und nach außen uneingestandenes Seinwollen am Werk; was die Menschen an den Dingen interessiert, ist der Wunsch, so zu sein wie deren Besitzer. Und weil dieses Sosein sich nicht in dem Maß realisieren lässt, wie man Dinge sich aneignen kann, kommen die Begehrenden niemals auf ihre Kosten. Die Seins- und Statusdifferenzen lassen sich niemals als Besitzdifferenzen bearbeiten. Identifikation gelingt nicht via Appropriation, selbst dann nicht, wenn wie im Akt der sexuellen Vereinigung das Habenwollen sich auf den Körper des anderen bezieht und die Appropriation die Form einer Einverleibung annimmt. Dies ist die Antwort auf die Frage, warum die Menschen in der modernen Welt nicht glücklich werden können. 340 Wenn in 337 René Girard, Mensonge romantique, S. 153 René Girard, Mensonge romantique, S. 122 : « Est noble, aux yeux de Stendhal, l´être qui tient ses désirs de lui-même et s´efforce de les satisfaire avec la dernière énergie ». 339 René Girard, Mensonge Romantique, S. 138 340 René Girard, Mensonge romantique, S. 122 : « Nous ne sommes pas heureux, dit Stendhal, parce que nous sommes vaniteux ». 338 99 Anlehnung an die grammatische Norm die Position des Begehrenden mit Subjekt bezeichnet wird und damit immer wieder in den Anschein eines autonomen, im Sinne Girards romantischen Subjekts gerät, welches nach Heideggers Sprechweise sich anmaßt, das Gegenüberliegende als Objekt zu stellen und zum Gegenstand zu machen, und wenn auch der Subjekt-Objekt-Substitution durch das Ich und das Es noch zu sehr der lineare Charakter des Begehrens anhaftet, ist der Hinweis auf die Unterscheidung möglicherweise erhellend, die einer der Begründer des Existenzialismus, Gabriel Marcel, in Form eines qui und quid getroffen hat, die in ihrer schwachen pronominalen Determiniertheit den krisenhaften Aspekt des Verlangens etwas deutlicher in den Blick rücken. 341 Sieht Girard in der Freilegung des triangulären Begehrens die von dem an der Erhellung der condition humaine interessierten Romancier zu lösende Aufgabe, besteht dessen Technik darin, die Positionierung der drei Punkte so zu variieren, dass verschiedene Aggregatszustände des Begehrens explizit werden. Was in seinem Erstlingswerk als problèmes de technique bei Stendhal, Cervantes, Flaubert, Proust und Dostojewski herausgearbeitet und in seinem theoretischen Hauptwerk systematisch dargestellt wird, ist der Stationenweg des Verlangens, 342 der gleichzeitig einen Zugang in die Problemlage der Moderne eröffnet. Es geht ihm beim Abschreiten der großen Romanschöpfungen im Pathos der révélation um nichts weniger als um das Aufdecken eines Verlangens, welches sowohl in den extern als auch den intern vermittelten Formen des Begehrens unstillbar bleibt und sich letzten Endes als ein objektloses und sogar rivalenfreies und demzufolge metaphysisches Verlangen herausstellt, welches, da es sich nicht mehr am Objekt oder am Rivalen abarbeitet, sich in selbstzerstörerischer Frontstellung gegen sich selber wendet. Ein Objekt begehren heißt zuerst, darunter zu leiden, dass man nicht so ist wie der Andere, der es besitzt, und den man dann kopiert. Wer begehrt, nimmt mit Gabriel Marcel in Kauf, dass seine Permanenz bedroht ist, was er aber weder sich selbst noch dem Konkurrenten der Kompetition eingestehen kann, da so seine Inferiorität offenkundig und seine Identität brüchig würde. Um seine Schwäche zu kaschieren, versucht er, sich der vermeintlich starken Position des Anderen zu bemächtigen, indem er ihn nachahmt. Da die Nachahmung aber nicht zur deckungsgleichen Identifikation mit dem Vorbild führt und den Prozess des Begehrens nicht zum Stillstand bringt, bleibt ein deprimiertes und enttäuschtes Verlangen zurück. Da dieses Verlangen, da es dafür kein einlösbares Gut gibt, unstillbar ist, erhält es bei Girard den Rang eines désir métaphysique. In seiner Analyse des Ressentiments beschreibt Max Scheler – als Motto von Mensonge romantique un vérité romanesque zitiert ihn Girard mit L´Homme possède un Dieu ou une idole - die Situation des auf der Objektebene unstillbaren 341 Vgl. Gabriel Marcel, Etre et Avoir, Paris 1935, S. 236 : « Sans doute il y a dans l´avoir une double permanence: permanence du qui, permanence du quid; mais cette permanence est par essence menacée ; elle se veut, ou du moins elle se voudrait; et elle s´échappe à elle-même. Et cette menace, c´est la prise de l´autre en tant qu´autre, l´autre qui peut être le monde en lui-même, et en face duquel je me sens si douloureusement moi ; je serre contre moi cette chose qui va m´être arrachée peut-être, je tente désespérément de me l´incorporer, de former avec elle un complexe unique, indécomposable. Désespérément, vainement... ». 342 René Girard, Mensonge romantique, S. 145 : « Les romans de Stendhal, de Flaubert, de Proust et de Dostoëvski sont autant d´étapes sur une même route. Ils nous décrivent les états successifs d´un désordre qui s´étend et s´aggrave sans cesse ». 100 Verlangens dem Anderen gegenüber als Existenzialneid 343 und nimmt mit seiner Diagnose der Grenzenlosigkeit des Strebens das transzendente Verlangen vorweg, das nach Girard die Roman-Protagonisten zerreibt. Mit seinem Befund des Ressentiments als seelischer Selbstvergiftung, als seelischen Dynamits oder als mächtiger Ladung widerspricht er der harmoniestiftenden Imitation nach Tarde ebenso, wie er mit Girard in dem übereinstimmt, worin sich der vor der neuzeitlichen Degradierung herrschende, ‚präliminare’ Weltzustand unterscheidet von dem Stand, präziser formuliert: der reaktiven Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie in den Romanen der bürgerlichen Zeit inszeniert werden. Wird dieser Typus des Auffassens der Werte zu dem in einer Gesellschaft herrschenden Typus, so wird das ‚Konkurrenzsystem’ die Seele einer solchen Gesellschaft. Es wird um so ‚reiner’ gegeben, je weniger sich der Vergleich in bestimmten Sphären bewegt, die z. B. Ständen entsprechen, sowie mit den damit verbundenen Ideen von standesgemäßem Unterhalt, ‚standesgemäßer’ Lebensführung, Sitte usw. Der einzelne Ackerbauer vor dem 13. Jahrhundert vergleicht sich nicht mit dem Feudalherrn, der Handwerker nicht mit dem Ritter usw. Er vergleicht sich höchstens mit dem reicheren oder angeseheneren Ackerbauer, und so jeder nur innerhalb seiner Standessphäre. Gewisse Ideen sachlicher Einheiten von Lebensaufgaben jeden Standes, die der Gruppe als solcher eigen sind, binden hier jene vergleichende Auffassung in die Grenzen von Ganzheiten, die höchstens wieder als Ganzheiten verglichen werden. Darum beherrscht in solchen Zeiten allenthalben der Gedanke der gott- und naturgegebenen ‚Stelle’, auf die sich jeglicher ‚gestellt’ fühlt und auf der er seine besondere Pflicht zu tun hat, alle Lebensverhältnisse. Nur innerhalb dieses Stellenwertes kreist sein Selbstwertgefühl und sein Verlangen. Vom König bis zur Hure und zum Henker trägt jeder jene formale ‚Vornehmheit’ der Haltung, an seiner ‚Stelle’ unersetzlich zu sein. Im ‚Konkurrenzsystem’ hingegen entfalten sich die Ideen der sachlichen Aufgaben und ihre Werte prinzipiell erst auf Grund der Haltung des Mehrsein- und Mehrgeltenwollens aller mit allen. Jede ‚Stelle’ wird nun zu einem bloß transitorischen Punkt in dieser allgemeinen Jagd. 344 Wie Tarde die Nachahmung als Ansteckung mit neuen Bedürfnissen reflektiert und sozialkonstitutiv deutet, kann Scheler in Anspruch genommen werden als Denker, der den reaktiven Impuls der Nachahmung in den Blick nimmt und deren Beitrag zur sozialen Synthese überaus skeptisch beurteilt. Wenn auch Girard diese Vordenker nicht ausdrücklich zitiert – sie werden eher beiläufig namentlich erwähnt -, so zeigt sich doch seine Romananalyse ihren Beobachtungen in erkennbarer Weise verpflichtet. Es ist insbesondere Scheler, der das Terrain für die gewaltsame Zuspitzung des désir mimétique vorbereitet, wenn er einen Fortschritt des Gefühls und Impulses bis zur Entstehung des Ressentiments aus dem Rachegefühl, dem Groll, dem Neid, der Scheelsucht und Hämischkeit diagnostiziert und auf das verbissene und verbitterte Ohnmachtsgefühl hinweist, das aus dem Streben nach einem Gut dadurch entsteht, dass ein anderer dieses Gut besitzt und das sich in 343 Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912), Frankfurt/M 1978, S. 11: „Der Neid, der die stärkste Ressentimentbildung auslöst, ist daher derjenige Neid, der sich auf das individuelle Wesen und Sein einer fremden Person richtet: der Existenzialneid. Dieser Neid flüstert gleichsam fortwährend: „Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, dass nicht ich bin, was du bist; ja dass ‚ich’ nicht ‚du’ bin.“ Dieser ‚Neid’ entmächtigt die fremde Person von Hause aus schon ihrer bloßen Existenz, die als solche als ‚Druck’, ‚Vorwurf’, furchtbares Maß der eignen Person empfunden wird“. 344 Max Scheler, Das Ressentiment, S. 14 101 Aggression, Autoaggression und terroristischem Wahn entlädt, wenn kein befriedigender objektaler Ausgleich möglich ist. Indem er darauf hinweist, dass das vorbürgerliche Wertebewusstsein im Zuge der Demokratisierung sich auflöst und zu einem unaufhörlichen Wertevergleichen 345 verflüssigt, wird unwillkürlich die Frage nach dem Vergleichspartner, und da nur der stärkere Partner das Ressentiment provoziert, nach dem überlegenen Vorbild laut. Da ein solcher Wertevergleich gleichzeitig die Bindung an einen Helden impliziert, entsteht eine Abhängigkeit, die sich in Eifersucht äußern kann und in Ehrgeiz, aber auch in einer bewussten und rivalitätsfreien Haltung wie zum Beispiel die der Nachfolge Christi oder in einer unbewussten Haltung dessen, der jeden Vergleich ablehnt und wie der Snob, der Dandy 346 beziehungsweise Stendhals vaniteux oder Goethes Original seine Vergleichsbemühungen darauf richtet, dass er sich mit sich selbst vergleicht und darauf spekuliert, dass sich andere mit ihm vergleichen. Girard markiert in seinen literarischen Analysen die transitorischen Stellen dieser allgemeinen Jagd und verfolgt ihre Bewegung auf einer sowohl intra- als auch intertextuellen Bahn, die, obwohl sie mit einer großen Verlustmeldung anhebt und mit allen Merkmalen einer Verfallsgeschichte versehen ist, mit einer überraschenden Konklusion aufwartet: Das mimetische Verlangen ist die Dreipunkte-Schablone, mit der er - ohne Scheu vor methodischer Reduzierung oder Einseitigkeit – das humane Wünsche-Feld vermisst und das Eifersuchtsmanagement beobachtet, welches den affektiven Wettbewerb in den menschlichen Gruppierungen stimuliert und unter Kontrolle zu halten versucht. Wenn Girard in der Figur des Don Quixote das Umschlagen des authentischen zum vermittelten, degradierten Verlangen festmacht – in der Hegelschen Diktion ist dies vergleichbar mit dem Übergang des romantischen Helden des Epos zum prosaischen Jüngling des Romans, der sich durchschlagen 347 muss -, ist gleichzeitig die dieser Wende vorausgehende Zeit als eine Epoche datiert, in der die Menschen noch nicht von diesem mimetischen Übel befallen sind. In seiner auf die mimetische Theorie bezogenen Unterscheidung von Anciennität und Modernität parallelisiert Girard den Verlauf zwischen dem Alten und Neuen mit dem einerseits extern, andererseits intern vermittelten Begehren und erweitert den Bereich der anciens um den Begriff der Repetition, den der modernes um den Begriff der Innovation. 348 345 Max Scheler, Das Ressentiment, S. 12: „Vergleiche unseres Selbstwertes überhaupt oder irgendeiner unserer Eigenschaften mit den Werten, die anderen zukommen, vollziehen wir fortwährend; und jeder vollzieht sie, der Vornehme und Gemeine, der Gute und Böse“. 346 Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1961, S. 678 : « Le dandy doit aspirer à être sublime sans interruption ; il doit vivre et dormir devant un miroir ». 347 G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1832 - 1845), 1. Aufl. Frankfurt/M 1986, Bd. II, S. 219: „Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so dass jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermessliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muss, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen…“. 348 René Girard, ‘Innovation et répétition‘, Vortrag im Dez. 1989 in Tel-Aviv, in : ders. La voix méconnue du réel, Paris 2002, S. 292 f. 102 Beide Lager haben gemeinsam, dass sie verlässliche Vorbilder brauchen und dass sie das Prinzip der Nachahmung nicht in Frage stellen. Beide wissen, dass die Sicherheit des eigenen Standpunkts auf einer topologischen Basis beruht, die eine trianguläre Struktur aufweist und dass das richtige Tun und Wollen nicht aus der Selbstbezüglichkeit entsteht, sondern eines Vorbilds bedarf. Die Welt der externen Vermittlung ist besorgt um das Verschwinden ihrer transzendenten Modelle, denn sie weiß um die Fragilität der zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn die Modelle der Nachahmung nicht mehr dem unmittelbaren Zugriff enthoben sind, sondern sich im horizontalen Blickfeld des wünschenden Subjekts bewegen und ihm körperlich in die Quere kommen. L´objet de la crainte générale, c´est un effondrement de la religion et de la société dans son ensemble par le biais d´une contagion mimétique susceptible de transformer la foule en meute. 349 Was den Zusammenbruch der religiösen und sozialen Ordnung verhindern kann, ist die rituelle Wiederholung des alten Bewährten. Demgegenüber muss aus der Sicht der Bewahrer alles Innovative bedrohlich wirken und einen geradezu apokalyptischen Anklang haben. Doch auch die Erneuerer sind keine Erfinder, auch sie imitieren trotz des revolutionären Anscheins ihre Vorbilder. Beide Parteien bekämpfen sich indes heftigst und werfen sich gegenseitig vor, das falsche Modell zu imitieren, wobei die anciens sich die im Mittelalter herausgebildete und bis in das 17. Jahrhundert reichende negative Konnotation des Innovationsbegriffs nutzbar machen können, dessen Negativität sich allerdings mit dem Fortschritsglauben der von Naturwissenschaft und Technik beherrschten Moderne in ihr Gegenteil umkehrt. Der Streit der Bewahrer und Erneuerer um das richtige Modell endet nicht durch den Sieg der einen oder anderen Partei; er geht dadurch zu Ende, dass die Zeit der externen Vermittler abläuft, dass sich deren Mediationskapazität erschöpft und – das ist die Entdeckung, die sich aus Girards Romananalyse herauskristallisiert – die sozusagen zur Nachahmung Verdammten ihre Vorbilder unter ihresgleichen suchen müssen und so den folgenreichen mimetischen Konflikt provozieren. Nach dem Verschwinden der transzendenten Modelle ist, falls nicht diktatoriale oder totalitäre Gesellschaftsmodelle ihre Stelle einnehmen, der Weg endgültig frei für die Innovation und für die Besetzung der Vermittlerposition durch im Prinzip austauschbare und zumeist massenmedial auftretende Größen aus Popkultur und Sport. La médiation externe fait désormais place à un monde où, au moins en principe, individus et communautés sont libres d´adopter les modèles de leur choix ou, mieux encore, pas de modèles du tout. 350 Eine literaturhistorisch abgesicherte Epoche der stabilen externen Mediation wird von Girard nicht postuliert. Wie in der Cervantes-Analyse angedeutet, versteht Girard das Erzählen immer schon als ein Infragestellen des transzendenten Modells und als ein Abgleiten von der bedingungslosen Nachahmung des transzendenten Modells auf das Niveau der konfliktiven Nachahmung der doubles. Sein Fall und sein Fortschreiten in der Degradierung der internen Mediation werden in Anlehnung an gängige kultur- und geistesgeschichtliche Phasentheorien eher umrisshaft wiedergegeben. Im Dialog mit dem Psychologen Oughourlian 351 betonnt er, dass das animalisch bedingte Aneignungsverlangen, le désir d´appropriation, da es neben der objektalen Aneignung immer auch eine Statusveränderung anstrebt, zwar nie ohne mimetische Schlagseite mit allen konfliktiven, kompetitiven und subversiven 349 René Girard, La voix méconnue du réel, S. 294 René Girard, La voix méconnue du réel, S. 298 351 René Girard, Des choses cachées, S. 307 f. 350 103 Konnotationen denkbar ist, dass aber in den religiös strukturierten Sozietäten der externen Vermittlung dafür gesorgt ist, dass die zerstörerische Energie durch Verbote und Regeln sowie durch die über das gemeinsame Opfer hergestellte Einmütigkeit periodisch absorbiert wird, dass somit bei der drohenden Ausdehnung der Feuer des Neids zu einem verheerenden Flächenbrand geeignete ‚Löschvorrichtungen’ zur Verfügung stehen. Werden aber am Ende des religiösen Zeitalters die nicht mehr durch einen obersten Gesetzgeber garantierten Regeln und Verbote kraftlos und die ruhestiftenden gemeinsamen Opfer nicht mehr begangen, wird das Einhaltgebieten gegenüber den mimetischen Kettenreaktionen zum Problem. Den menschlichen Gemeinschaften droht Gefahr von innen, wenn die Kontamination durch das Begehren nicht durch religiöse oder kulturelle Interventionen unterbunden wird. 352 Vor Ausbruch der mimetischen Epidemie also steht der Mensch im Status der religiösen Transzendenz dem einen und allmächtigen Gott gegenüber. 353 Nach dessen Tod, nach Nietzsches Formel die Eröffnung des Zeitalters der Immanenz, gibt es keine Instanz mehr, die den Menschen a priori als Orientierung, als Helfer und als tiers garant 354 inmitten ihrer mimetischen Krisen dienen kann. Für Girard wird diese Orientierung in dem Kirchturm von Combray in Prousts A la recherche du temps perdu symbolisiert, einem Turm, der als Mittelpunkt der Stadt von weitem sichtbar ist und über den Häusern und dem Treiben der Menschen herrscht, der aber auch Teil einer Kirche ist, die leer steht. Der Bruch ist vollzogen: Le clocher est partout visible mais l´église est toujours vide. Les dieux humains et terrestres de la médiation externe sont déjà des idoles; ils ne s´alignent pas sur la verticale du clocher.[...] A mesure que le médiateur se rapproche du sujet désirant la transcendance s´éloigne de cette verticale. 355 Die durch das Herabsteigen von der Turmhöhe auf das menschliche Niveau zu Idolen gewordenen Götter markieren den Abschied von der Transzendenz und breiten auf dem ‚Boden’ der Wirklichkeit das Feld aus, in dem die Zusammenlebenden ihr Wunschleben zu organisieren haben. Der aus der transzendenten Verankerung, genauer: Verhimmelung gelöste Vermittler hat sich gleichsam emanzipiert und genießt eine Bewegungsfreiheit, die ihn befähigt, sich sowohl den Wunsch-Subjekt als auch dem Wunsch-Objekt anzunähern bis hin zu der Idenfizierung mit dem einen oder dem anderen. Sieht man in dem symbolischen Höhenverlust des Kirchtums von Combray eine Metapher für die Kulturrevolution des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich gewöhnlich mit dem Begriff der Säkularisierung als der Enteignung der kirchlichen Güter verbindet, lässt sich dieser Vorgang auch philosophisch deuten als Prozess der Verweltlichung und Absolutsetzung des 352 Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären Bd. III, S. 408: „Der erste Unterricht in der Schule des Begehrens wird durch Verbote erteilt. Hier lernt man das Nötigste durch das Tabu und das Du-sollst-nicht. Je ruhiger der Besitz, desto eher wird die Wunsch-Eskalation verhindert. Im Verbot macht sich die Anwesenheit des Dritten bemerkbar, der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist, bevor wir uns empirisch begegneten: Dieser garantieleistende Dritte trennt mich von meinem naiven Begehren nach den Vorteilen des anderen ebenso, wie er dem anderen die Exhibition seiner Begünstigungen untersagt“. 353 Vgl. Peter Sloterdijk, „Mir näher als ich selbst“ in: Sphären Bd. I, S. 549 f., wo in der Deutung von Augustinus und Nikolaus von Kues das Gegenüber von menschlicher Seele und Gott als Resonanzverhältis, Bannkreis des absoluten Ich, Kosubjektivität, Ineinander- und Miteinandersein beschrieben wird. 354 Vgl. Pierre Legendre, Sur la question dogmatique en occident, Paris 1999, wo die gängigen Kommunikationstheorien und Diskursethiken kritisiert werden und die Funktion des garantieleistenden Dritten als Voraussetzung für den allgemeinen Normengehorsam betont wird. 355 René Girard, Mensonge romantique, S. 218 104 Säkularen. Die Welt wird zum gegensatzlosen Inbegriff des Seienden erhoben, und gleichzeitig werden die beiden supranaturalen Größen, die im Seinsmodell des metaphysischen beziehungsweise religiösen Zeitalters von der Welt zu unterscheiden und ihr entgegenzusetzen waren, nämlich Gott und die Seele, liquidiert. In der radikal verweltlichten Welt ist es nicht mehr möglich, neben der Welt ontologisch eigenständige Positionen wie Seele und Gott bestehen zu lassen. Damit implodiert das klassiche metaphysische Dreieck von Gott, Welt und Seele, und an die Stelle der wohltemperierten Abstände zwischen den Polen der dreifaltigen Totalität tritt nun, vage und monolithisch, ein absoluter Block, die ‚Welt’ schlechthin. 356 Die a priori abstandslose Welt, in der keine Instanzen über die Distanzen wachen, diese Welt ist alles, was der Fall ist. Sie ist ein offenes und weites Feld und bietet reichlich ‚Spielmaterial’ für Erzähler, wenn sie Personen auf die Bühne stellen, die unter der Bedingung der aufgehobenen Distanzen eine Antwort auf die Anforderungen sowohl des Wunsch-, als auch des Zusammenlebens geben sollen. Für den Literaturkritiker die Gelegenheit, den Prozess der Soziogenese vom animalischen Nullpunkt her in der erzählerisch gebotenen Sequenz wiederzufinden und die Aussagekraft der Erzählung – oben dargestellt als Schönheit, Trefflichkeit, Unterhaltsamkeit, Merkwürdigkeit, Übersetzbarkeit usw. - an dem Maß ihrer Entsprechung mit der handlungsstrukturellen Folie zu messen, mit Girard gesprochen: an der Wahrheit. 357 Neben der Horizontalisierung des Verlangens symbolisiert die St. Hilarius-Kirche von Combray einen weiteren Ausgangspunkt für den Girardsche Stationenweg des Begehrens. Die Kirche bildet das Zentrum der Stadt, die Straßen laufen dort zusammen, die Erinnerungen der Generationen werden dort aufbewahrt, die Zusammengehörigkeit der Einwohner findet dort ihr architektonisches Muster, aber die Kirche ist leer. Diese Leere hat Aufforderungscharakter; sie bilanziert nicht eine bloße Abwesenheit; sie signalisiert vielmehr ein Bedürfnis nach Fülle und nach Erfüllung, sie ist der Abgrund, der nach dem Tod Gottes im Herzen der Menschen klafft, eine Leere, die nach Sättigung verlangt, in der pessimistischen Anthropologie des Augustinus, 358 zu der sich Girard bekennt, die Ursache der metaphysischen Unruhe, die allein durch die Umkehr zu Gott gestillt werden kann. In Anlehnung an die augustinische Lehre von der Erbsünde geht dem transzendenten Elan die 356 Peter Sloterdijk, „Chancen im Ungeheuren“ , Vorwort zu : William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1902), dt., Frankfurt/M-Leipzig 1997, S. 13 357 René Girard, Mensonge romantique, S. 220 : « La vérité du romancier est totale. Elle embrasse tous les aspects de l´existence individuelle et collective. Même si le roman néglige un peu certains de ses aspects il indique clairement une perspective. Les sociologues ne reconnaissent rien chez Proust qui rappelle leur propre démarche parce que l´opposition entre la sociologie romanesque et la sociologie des sociologues est fondamentale ». 358 René Girard, Quand ces choses commenceront, Entretiens avec Michel Treguer, Paris 1994, S. 196 : « Les trois quarts de ce que je dis sont dans Saint Augustin. » Dazu Aurelius Augustinus (354 430), Confessiones, dt. Des Heiligen Augustinus Bekenntnisse, Freiburg 1949, S. 65: „ Denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir.“ Die Bekenntnisse enthalten mehrere Belege für die Positionsverschiebung zwischen médiation interne und médiation externe/absolue, z. B. S. 80 – 81: „Der Mann (ein berühmter Redner in Rom, d. Verf.) wurde gelobt, und so wurde er geliebt, obgleich er nicht zugegen. Kommt also aus dem Mund des Lobenden die Liebe in das Herz des Hörers? Gewiss nicht. Aber an der Liebe des einen entflammt sich die Liebe des anderen […] Jener Redner aber, den ich so liebte, war von der Art, dass ich ihm zu gleichen wünschte. Und ich ging in die Irre in meinem Stolz und wurde umhergewirbelt von jedem Wind, aber ganz im Verborgenen leitete mich deine Hand“. 105 göttliche Adresse 359 verloren, sie kommt vom rechten Weg ab, und anstatt sich in der Vertikalen auf den einen Punkt zu beziehen, von dem aus alle Menschen als Gleiche, nach christlichem Verständnis: Brüder und Schwestern eines Vaters, erscheinen, verlegt sie sich in die Horizontale. In der Horizontalen erscheinen die Menschen nicht als gleiche, sondern als andere, als Menschen, deren Transzendenzverlangen ebenfalls abgefälscht und umgeleitet ist, so dass personifizierte ‚metaphysische Unruhen’ einander in der Erwartung auf Ruhigstellung und Befriedung entgegenkommen und entgegenstehen, was zwangsläufig dazu führt, dass sie in dieser Erwartung enttäuscht werden und umso mehr ihre verbitterte und verbissene Energie investieren, um fortan die Enttäuschung zu überwinden. Da jedes objektale Verlangen ein verkapptes und abgefälschtes transzendentes Verlangen ist, das sich in Abwesenheit des göttlichen Vermittlers am externen beziehungsweise internen Vermittler abarbeitet, ist von Anfang an das Begehren mimetisch, und damit ist es triangulärer und somit konfliktiver Natur. Daher geht es dem begehrenden Subjekt nicht einmal darum, das Wunschobjekt als Objekt der Begierde eines Vermittlers sich anzueignen. Im Kern seines Begehrens pulst das Verlangen, sich mit seinem Vermittler-Rivalen zu identifizieren, ein Verlangen, das a priori unerfüllbar ist. Begehren heißt demnach: daran leiden, dass man nicht der andere ist, der man sein will, und dennoch alles tun, um ihn nachzuahmen. In A la Recherche du temps perdu empfindet der junge Marcel eine leidenschaftliche Zuneigung für die Schauspielerin Berma. Als er erfährt, dass sie in Racines Phädra die Hauptrolle spielt, brennt er darauf, ins Theater zu gehen, um sie zu sehen. Es stellt sich aber heraus, dass dieses unwiderstehliche Verlangen seinen Grund keineswegs in seinem freien Ich hat, sondern bedingt ist durch eine Reihe von Bewunderungsverhältnissen, die nach seiner Beobachtung gewisse Personen in seiner Umgebung mit der Schauspielerin unterhalten. Nicht der junge Marcel denkt oder hat das Gefühl, dass es nichts Schöneres als die Berma gibt; diese Sicht wird ihm vermittelt und eingeimpft durch den Schriftsteller Bergotte sowie den Diplomaten de Norpois, der mit Marcels Eltern befreundet ist. Im Sinne der Freudschen Identifizierung geht es für Marcel mehr darum, diesen angesehenen Männern mit ihren interessanten Berufen zu gleichen, als darum, die Berma auf der Bühne zu sehen und zu hören. Er ist zwangsläufig von dem Theaterbesuch enttäusch, aber als im Tischgespräch de Norpois wiederum lobend die Berma erwähnt, erwacht in Marcel erneut die Bewunderung für die Schauspielerin. Die Bewunderung für die Berma ist also die Nachahmung der Bewunderung der beiden ob ihres Könnens und ihrer Status bewunderten erwachsenen Vorbilder. Und diese mimetische Kettenreaktion gedeiht besonders gut, wenn die Vermittlerfunktion durch entsprechende Träger, vor allem Bücher, mediatisiert wird, welche die Attraktivität des Wunschobjekts verstärken, indem sie es in einem blow-up-Effekt aus dem Kontext isolieren, in den Blick bringen, mit einem neuen, starken Licht beleuchten und die Vorstellungskraft des Betrachters mobilisieren. 360 359 Für Baudelaire ist die göttliche Adresse eine aus der menschlichen Natur zu erklärende Projektion. Vgl. Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, S. 1295 : « C´est toujours l´animal adorateur se trompant d´idole ». sowie S. 1247 : « Dieu est le seul être qui, pour régner, n´ait même pas besoin d´exister. [...] Quand même Dieu n´existait pas, la Religion serait encore Sainte et Divine ». 360 Vgl.Marcel Proust, A la Recherche du temps perdu (1913 - 1925), Paris 1987, Bd. III, S. 402 : « ... et comme chacun a besoin de trouver des raisons à sa passion, jusqu´à être heureux de reconnaître dans l´ être qu´il aime des qualités que la littérature et la conversation lui ont appris être de celles qui sont dignes d´exciter l´amour, jusqu´à les assimiler par imitation et en faire des raisons nouvelles de son amour, ces qualités fussent-elles les plus opposées à celles que cet amour eût recherchées tant qu´il était spontané... » Dazu auch S. 103 : « Quant à Bergotte, ce vieillard infiniment sage et divin à 106 Erwächst das Verlangen jenseits des natürlichen Bedürfnisses von dem Augenblick an, wo dessen Erfüllung von einem Konkurrenten bedroht oder bestritten wird, 361 so wird aus dem Verlangen in dem Maß, wie die Bedeutung des Wunschobjekts hinter der des Vermittlers zurücksteht, ein metaphysisches Verlangen, wobei Girard das Metaphysische nicht im aristotelischen Begriff als das Fragen nach den ersten Gründen und Ursprüngen des Seienden gebraucht. Ein metaphysichen Verlangen ist in der Stationenlehre des Begehrens ein Verlangen, dem das Objekt abhanden kommt und das sich in dieser Objektlosigkeit umso heftiger gegen seinen Rivalen richtet. 362 M. de Rênal möchte Julien als Hauslehrer verpflichten, weil sein Rivale ihn auch verpflichten möchte. Aber M. de Rênal geht nicht so weit, dass er den Wunsch hätte, sich mit Valenod zu identifizieren. Am Beispiel der Schauspielerin Berma wird erkennbar, dass eine neue Stufe des Verlangens erreicht ist. Das Wunschobjekt hat seinen Ort nicht mehr in der Äquidistanz von Subjekt und Vermittler. Marcel verlangt nicht mehr nur danach, das Begehren des Andern, also des Schriftstellers Bergamotte und des Diplomaten de Norpois, zu imitieren. Er verlangt danach, in der Imitation des Andern zu eben diesem zu werden. Das Verlangen geht über das Wunschobjekt hinaus; es wird metaphysisch, weil Marcels Verlangen sich nicht mehr primär auf das physische Objekt richtet, sondern sich von etwas motivieren und reizen lässt, was von diesem physischen Objekt abstrahiert und mit ihm nur noch lose verbunden ist. Lockert sich diese Bindung weiter, tritt das Verlangen, der Andere zu sein, an die Stelle des Verlangens, sich anzueignen, was der Andere besitzt. Schließlich, wenn die Bindung abgerissen ist, nimmt das trianguläre Begehren duellhafte Formen an, verwandelt sich das dreistellige Schema in einen Antagonismus, in dem das Subjekt und der Andere einander gegenüberstehen, sich voneinander weg- oder aufeinander zu bewegen, ohne dass in dieser Ökonomie des Begehrens dem Wunschobjekt noch eine entscheidende Funktion zukommt. Das Verlangen speist sich nicht mehr aus der Nachahmung; es manifestiert sich als ein Seinsdefizit und als Ausdruck der Leere, die durch den ‚Tod Gottes’, das Aussbleiben eines transzendenten Dritten, entstanden ist; es ist die Leere, die man, da keine Verbindung zu einer externen Instanz besteht, auszufüllen versucht durch die Fülle des Anderen. Wenn sich das Verlangen vom Besitz des Anderen wegbewegt und dessen Status zuwendet, und wenn dann der Andere zugleich das ist, was ich sein will und was mich daran hindert, es zu sein, verwandelt sich das Verlangen in grundlose Rivalität, in Hass, Angst und Verzweiflung. Das Verlangen wird pathologisch, es wird ein Leiden am Anderen, der all das hat, was mir fehlt, der all das ist, was ich zu sein verlange. Der Andere erscheint im Glanz einer gottgleichen Vollkomenheit, welche mich noch schwächer und minderwertiger macht. Es kommt zu einem feindseligen Dialog zwischen dem Ich und dem Anderen, und nicht nur, wie Hegel meint, zu einem Kampf um gegenseitige Anerkennung. Das zugleich manisch und depressiv cause de qui j´avais d´abord aimé Gilberte, avant même de l´avoir vue, maintenant c´était surtout à cause de Gilberte que je l´aimais ». 361 René Girard, Des choses cachées, S. 319 : « Pour débrouiller l´échevau du désir, il faut et il suffit d´admettre que tout commence par la rivalité pour l´objet. L´objet passe au rang d´objet disputé et de ce fait les convoitises qu´il éveille, de part et d´autre, s´avivent ». 362 René Girard, Des choses cachées, S. 321 : « On peut décider de n´employer le mot désir qu´à partir du moment où le mécanisme incompris de le rivalité mimétique a conféré cette dimension ontologique ou métaphysique à ce qui n´était auparavant qu´un appétit ou un besoin ». 107 aufgeladene Verlangen, 363 wie Girard es deutet, ist die Reduzierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse auf die Herrn-Sklaven-Dialektik und daher vom Format eines ontologischen Übels. Der Andere wird für das begehrende Ich so notwendig, dass er von diesem, wie es Cervantes in der Episode von der unbesonnenen Neugier gezeigt hat, erfunden und engagiert werden muss, wenn das Begehren wach gehalten werden soll. Und wenn das Begehren in metaphysischer Ausprägung ein Seinwollen ist, wird der rivalitäre Andere geradezu seinsnotwendig. Ohne einen jederzeit aktiven Anderen, von dessen Vermittlung und Konkurrenz das Begehren des Ich abhängt, ist auch eine Liebesbeziehung nicht am Leben zu erhalten. Dies ist Girards Interpretation des Ewigen Gatten von Dostojewskij, wo ein Mann, der Witwer geworden ist, sich auf die Suche nach den früheren Liebhabern seiner verstorbenen Frau macht. Er sucht die Nähe derer, die über ihn triumphierten, und empfindet dabei Trost und Stärkung wie ein Kind bei seinem Vater. Als er sich wieder verheiraten möchte, bittet er einen dieser Liebhaber, ihn zu seiner Verlobten zu begleiten, damit seine Leidenschaft für die junge Frau durch die Gegenwart dieses potenziellen Rivalen sich voll entfalten kann. Wie Don Juan begehrt er schon nicht mehr die geliebte Frau, sondern die mimetische Rivalität mit seinem Vorbild, welches zum blockierenden Vor-Bild wird, das sich zwischen ihm und seiner Geliebten in den Weg stellt. Was folgt, entspricht der Logik des Begehrens: Die Verlobte verliebt sich in diesen Dritten, der in ihren Augen dank seiner erotischen Erfahrungen attraktiver ist als der armselige Witwer. Das Verlangen sucht also, wenn es erwachen, anhalten und sich seines Motivs vergewissern soll, den Anderen, den Dritten. Es geht über das Wunschobjekt hinaus auf diesen Anderen zu, an den es sich in der doppelten Faszination von Verehrung und Abscheu, von Bejahung und Verneinung heftet. Je mehr sich das Ich dem Anderen als Unterworfener nähert, desto größer, verehrungswürdiger und unnahbarer erscheint dessen Herrlichkeit. Sucht aber das Ich den Anderen zu beherrschen, verliert dieser seine rivalitäre Energie und bringt das Verlangen des Ich zum Erlöschen. 364 Wie immer man sich als Begehrender verhält, das Begehren enthüllt seine masochistische Dimension und endet in der Niederlage. Im äußersten Fall begegnet das begehrende Ich nicht nur der doppelten Faszination des Vorbilds, sondern es erfährt dessen Gewalt. Indem nun auch die Gewalt zum unwiderstehlichen Faszinosum wird, entsteht ein monströses Verhältnis zwischen dem Begehren und der Gewalt. Immer wenn das Ich sich auf ein Wunschobjekt zu bewegt, erfährt es Scheitern, Zurückweisung und Konfrontation mit fremder Gewalt. Also ist es letzten Endes die Gewalt, auf die es sich zu bewegt, welche sein Begehren rechtfertigt und das durch das Begehren substituierte Seinwollen zu erfüllen in Aussicht stellt. Wenn das begehrende Ich nicht durch sein Vorbild zufrieden gestellt wird, sucht es sich seinen Rivalen. Verliert das Wunschobjekt seine Attraktivität, verwandelt sich der Rivale in den mit Macht und Gewalt ausgestatteten Herrn mit der Folge, dass das Begehren des ohnmächtigen Ich autodestruktive 363 René Girard, Des choses cachées, S. 331: « Le maniaco-dépressif est possédé, visiblement, d´une ambition métaphysique prodigieuse.[...] Le maniaco-dépressif a une conscience particulièrement aiguë de la dépendance radicale où sont les hommes à l´égard les uns des autres et de l´incertitude qui en résulte ». 364 René Girard, Des choses cachées, S. 330 : « Le rapport à l´autre ressemble à une balançoire où l´un des joueurs est au plus haut quand l´autre est au plus bas, et réciproquement ». 108 Formen annimmt, sich in eine Art Todestrieb verwandelt und in letzter Konsequenz aus seinem Widerstand seinen Richter und Henker macht. 365 Denis de Rougemeont formuliert in seiner Analyse des Tristan-Mythos das grausame Spiel der Leidenschaft mit dem von ihr benötigten Hindernis: Tristan et Iseut ne s´aiment pas, ils l´ont dit et tout le confirme. Ce qu´ils aiment, c´est l´amour, c´est le fait même d´aimer. Et ils agissent comme s´ils avaient compris que tout ce qui s´oppose à l´amour le garantit et le consacre dans leur cœur, pour l´exalter à l´infini dans l´instant de l´obstacle absolu, qui est la mort. 366 Da das Verlangen seinen transzendenten ‚Ausgang’ verloren hat, kommt Girard zu dem Schluss, dass die horizontalen Lösungen des Verlangens auf der Suche nach dem obstcale absolu ins Verderben führen und tödlich verlaufen. Mehr als die Philosophen, die Theologen und die Soziologen begreifen die Erzähler den Ernst und die Tragik der condition humaine. Und indem sie als Stimme einer pressante interrogation de l´homme […] et celle de l´Occident 367 die apokalyptische Situation der Moderne in ihrer ganzen Ausweglosigkeit darstellen, deuten sie die Richtung an, aus der eine Rettung kommen kann. Bei seinen Recherchen im Archiv der westlichen Erzählliteratur kommt Girard zu dem Resultat: Es gibt zwei verschiedene Arten von Autoren, die einen, die eine seherische und prophetische Begabung haben und die Wahrheit sagen, und die anderen, die auf antiken Pfaden daherkommen, die lügen und täuschen. Die Wahrheit sagen diejenigen, die die mimetische, also dreistellige Verfasstheit des Verlangens erkennen und an ihren Protagonisten durchspielen. Lügner sind diejenigen, die Romantiker und die Modernen, die ihre Protagonisten zu Urhebern ihres Verlangens erklären und die Illusion der Spontaneität und Linearität aufrechterhalten. Die romanhafte Mission wird vorbildhaft erfüllt von Proust, dem Girard bescheinigt, er durchschaue das Verlangen seiner Helden und damit die Befindlichkeit seiner und der nachfolgenden Epoche 368 oder auch von Dostojewski, von dem es lapidar heißt: Un Dostoëvski perçoit l´essence maléfique des fascinations qui gouvernent ses héros. 369 Stellvertretend für diejenigen, die die Wahrheit nicht kennen oder sie verraten, belegt Girard die zeitgenössischen und in seinen Augen rückständigen Autoren mit seinem Bann, indem er ihnen den Vorwurf macht, sie machten sich zu Komplizen der tödlichen Faszinationen, anstatt diese zu durchschauen und ihr Publikum gegen die mimetische Ansteckungsgefahr zu immunisieren. Für sie gilt: Nos écrivains contemporains s´y abandonnent, par contre, avec d´autant plus de complaisance qu´ils sont plus teintés de néo-romantisme. 370 365 René Girard, Mensonge romantique, S. 285 : « L´individu, toujours plus égaré, toujours plus désaxé par un désir que rien ne peut satisfaire, finit par chercher l´essence divine dans ce qui nie radicalement sa propre existence, c´est-à-dire dans l´inanimé ». 366 Denis de Rougemont, L´amour en occident, Paris 1938, S. 33 367 André Malraux, L´Homme précaire, S. 10 368 René Girard, Mensonge romantique, S. 284 : « En révélant le désir de son époque, le romancier, comme toujours, révèle la sensibilité de son époque ou de l´époque qui va suivre. Le monde contemporain tout entier est pénétré de masochisme. L´érotisme proustien est aujourd´hui l´érotisme des masses. Il suffit pour s´en convaincre, de jeter un coup d´œil sur le moins sensationnel des nos journaux illustrés». 369 René Girard, Mensonge romantique, S. 285 370 ebenda 109 Die letzte Station im Parcours des Begehrens, die der Rettung, kann nur dann angemessen dargestellt werden, wenn sie zugleich verstanden wird als die Schwelle, an der der zwanghafte und mechanische Charakter des Imitierens und Begehrens zurücktritt zugunsten von Entscheidungen, die nicht reaktiver Art sind und den Raum der mimetischen Verstrickungen hinter sich lassen. Lässt sich, wie es Girard überzeugend nachweist, der Reigen des mimetischen Verlangens an allen ernsthaften Autoren aller literarischer Gattungen verfolgen, spielt der Roman die Rolle einer Königsdisziplin, wenn es darauf ankommt, aus der mythisch gestimmten Verhängnisspirale des Mimetischen auszubrechen und Wege der Befreiung – in religiöser Diktion: der Erlösung – aufzuzeigen. Spätestens im Schlusskapitel von Mensonge romantique wird klar, dass die Analyse der großen Romane sich nicht damit begnügt, eine Romantheorie zu entwerfen, sondern mit der Aufdeckung der menschlichen Beziehungen als konfliktiver Begehrensverhältnisse den Grundstein legt für eine allgemeine Kulturtheorie. Wie sich das dreistellige mimetische Verlangen mit seinen undenkbar vielen objektalen und personalen Anschlüssen zu einem erzählenden Text ausspannt, entsteht in dieser Mechanik des imitierenden Begehrens und des begehrenden Imitierens eine erste soziale Zelle, eine gesellschaftliche Vorform, die bei ihrer Erweiterung zu einer kulturellen Großform prinzipiell nur noch quantitative Veränderungen erfährt. Der mimetische Reigen hebt im Roman nach der gleichen mechanischen Notwendigkeit an wie im Mythos und kennt wie dieser die verschiedenen Figuren des Begehrens: die extern vermittelten bei Cervantes und Flaubert, die intern vermittelten bei Stendhal und Proust, darunter die exogamischen Varianten und, bei Dostojewski, die endogamischen. 371 Mit der gleichen Drift dehnt er sich aus in Zeit und Raum wie der Mythos. Mit diesem stimmt er darin überein, dass er die Geschichte einer Gruppe von Menschen erzählt, wie sie – die Gruppe und die Erzählung - entsteht, was sie zusammenhält und was ihren Zusammenhalt bedroht. Mit der gleichen Unausweichlichkeit wie der Mythos stellt der Roman die Frage, was unternommen werden oder geschehen muss, damit das drohende Chaos verhindert wird. 372 Während jedoch der Mythos die bedrohliche Krise durch ein Opfer überwindet und bis zur jeweils nächsten Krise Zeit gewinnt, kennt der Roman eine Konklusion, die einem Akt des Exorzismus gleichkommt und als guérison métaphysique 373 eine Wiederaufrichtung des abgefälschten und eine letzliche Erfüllung des transzendenten Verlangens eröffnet. Mit der gleichen methodischen Großzügigkeit, mit der alle Epochen und Autoren der Romanliteratur als zu einem einzigen Corpus zusammenfasst, lässt Girard alle Romane, sofern sie nicht unter das Verdikt des Romantischen beziehungsweise Modernen fallen, in einer Bewegung enden, welche den Protagonisten aus der belasteten Perversion heraus- und der befreienden 371 eine endogame und äußerst konfliktive Vermittlung findet sich in Schillers Räuber. Vgl. Rüdiger Safranski, Schiller, S. 112 – 113: „Franz indes hat es auf eine einzige Frau abgesehen, Amalia. Er unternimmt einen Vergewaltigungsversuch, er begehrt sie, ohne sie zu lieben, und was er an ihr begehrt, ist weniger ihr Körper selbst als die Vorstellung, dass er einen Körper, den sein Bruder begehrt, diesem entziehen und für sich selbst in Besitz nehmen könnte. Er will Amalia, die an Karl versprochen ist, den ehelichen Schwur aus der Seele pressen, ihr jungfräuliches Bette mit Sturm ersteigen und ihre stolze Scham mit noch größerem Stolze besiegen“. 372 René Girard, Mensonge romantique, S. 288 : « Toute la littérature romanesque est emportée par une même vague, tous les héros obéissent à un même appel vers le néant et vers la mort. La transcendance déviée est une descente vertigineuse, une plongée aveugle dans les ténèbres. Elle aboutit à la monstruosité de Stavrouguine, à l´orgueil infernal de tous les Possédés ». 373 René Girard, Mensonge romantique, S. 295 110 Konversion zuführt. 374 Im romantischen oder modernen Roman wird das mimetische Begehren bloß gespiegelt, im großen Roman wird es durchschaut und entlarvt. Der große Roman endet mit einer Bekehrung und mit einer Enthüllung. Insofern ist er apokalyptisch, und darin liegt die romaneske Wahrheit. Le mensonge fait place à la vérité, l´angoisse au souvenir, l´agitation au repos, la haine à l´amour, l´humiliation à l´humilité, le désir selon l´Autre au désir selon Soi, la transcendance déviée à la transcendance verticale. 375 Um das Heer der Griechen von der drohenden Revolte abzuhalten, lässt der König Agamemnon den Opferalter errichten, und der Mythos will – und will wissen -, dass die Königstochter ihrer Opferung zustimmt. Im Unterschied zu dieser mythischen Konklusion und Krisenbewältigung lässt Cervantes den Don Quixote in seiner Todesstunde erkennen, dass es ein Irrtum war, den Amadis von Gallien und alle die anderen Helden der Ritterromane nachzuahmen. Don Quixote erkennt, dass er einer romantischen Illusion nachgejagt ist und sich und andere dabei unglücklich gemacht hat. Don Quixote stirbt nicht für eine ‚große Sache’. Der Augenblick der Heimkehr nach der abenteuerlichen Reise ist gleichzeitig der Augenblick der Umkehr und Versöhnung, die von Sacho Pansa angekündigt wird. Mit diesen Gedanken und Wünschen erreichten sie einen Hügel, von dem herab man ein Dorf entdeckte. Bei diesem Anblick warf sich Sancho auf die Knie und rief: „Öffne die Augen, ersehnte Heimat, und sieh deinen Sohn Sancho Pansa, wenn auch nicht sehr reich, so doch wohl gestriegelt in deinen Schoß zurückkehren! Öffne die Arme und nimm auch deinen Sohn Don Quixote wieder auf, der zwar von fremder Hand besiegt, doch als Sieger über sich selbst heimkommt; und das ist, wie er mir gesagt hat, der größte Sieg, den man erringen kann. 376 Die religiöse Dimension dieser Umkehr wird von Don Quixote selbst dokumentiert, wenn er seiner Nichte gegenüber erklärt, dass der Verzicht auf die wenn auch externe Nachahmung gleichzeitig die gnadenhafte Wiederherstellung des transzendenten Verlangens bedeutet. „Was sagt Ihr, gnädiger Herr?“ fragte sie ihn. „Ist Euch etwas Besonderes widerfahren? Oder was meint Ihr mit dieser Barmherzigkeit und mit diesen Missetaten der Menschen, von denen Ihr sprecht?“ „Die Barmherzigkeit, liebe Nichte, von der ich spreche“, antwortete Don Quixote, „hat mir Gott in diesem Augenblick erzeigt, und meine Missetaten haben sie nicht verhindert. Mein Verstand ist wieder hell und klar und frei von den dichten Schatten der Unvernunft, mit denen ihn das unsinnige Lesen der Ritterbücher umflort hatte. Ich erkenne jetzt ihre Ungereimtheit und ihre trügerische Verführung. […]…jetzt bin ich nicht mehr Don Quixote de la Mancha, sondern Alonzo Quixano, den man wegen seines schlechten und rechten Wandels den Guten zu nennen pflegt. Jetzt bin ich ein Feind des Amadis von Gallien und des ganzen unendlichen Schwarms seiner Sippschaft“. 377 374 René Girard, Mensonge romantique, S. 293 : « Toutes les conclusions sont des conversions. Personne ne peut en douter ». 375 ebenda 376 Cervantes, Don Quixote. S. 1340 377 Cervantes, Don Quixote, S. 1349 111 Im Romanschluss versöhnt sich der Don Quixote nicht nur mit seinen Mitmenschen, sondern auch mit dem Gott, dem Ziel seines Seinwollens, von dem ihn die Ausrichtung seiner Nachahmung auf Amadis entfernt hatte. Indem er nicht mehr der Don Quixote als Kopie von Amadis und von dessen Gnaden ist, gewinnt Alonso eine Identität, die sich nicht mehr über die Nachahmung von einem Modell/Hindernis definiert. Der ästhetische dénouement ist gleichzeitig des Protagonisten Entspannung, seine neue Freiheitserfahrung, sein desengano und die Freisetzung seines reflexiven Potenzials. Die literarischen Personen werden von Girard nicht primär beobachtet unter dem Gesichtspunkt eines sozialen Status oder einer psychologisch oder sonstwie definierten Charaktereigenschaft, Befindlichkeit oder Motivationslage. Sein Generalschlüssel für die Entzifferung der Romane, Mythen und biblischen Erzählungen ist der Dreieck-Test, den die handelnden Personen bestehen müssen, wo auf dem Prüfstand des Begehrens die Lektion „Wer begehrt was gegen wen?“ abgehandelt wird. Wie der Vergleich der Protagonisten und deren reaktive Rolle in der Ökonomie des Begehrens das gesamte Romancorpus zum Gegenstand hat und mit dem universellen Interpretationsschema des désir mimétique zu übereinstimmenden Ergebnissen kommt, entdeckt Girard auch in den Romanschlüssen ein allgemein gültiges Muster, in dem sich dem jeweiligen Autor nur Akzentverschiebungen bieten. Die Wahrheit des Romans, sagt er, ist in jedem Werk und überall in ihm anzutreffen, aber sie hat ihren besonderen Ort im Romanschluss; dort hat sie ihren Thron aufgeschlagen beziehungsweise den Altar, an dem das Aufscheinen des Heiligen, die Hierophanie sich ereignet, wobei dem Heiligen keine ontische Qualität zukommt. Das Heilige ist nicht vorhanden, es hat keinen Ort, an dem es anzutreffen wäre; es existiert im Modus des Ergriffen- und des Überwältigtwerdens von einer Macht, welche zugleich fasziniert und Angst einjagt und der gegenüber ein rationales Verhalten ausgeschlossen ist. Das Heilige ist, wie es Roger Caillois auf den Punkt bringt, offenbar eine Kategorie des Empfindungsvermögens. 378 Und wie nach Caillois in der Verausgabung des Opfers und des Festes, in der äußersten Zuspitzung im rauschhaften massenweisen Töten des Krieges die eigentliche Zeit des Heiligen 379 zu sehen ist, zeigt es sich in der romanesken Erzählung im Romanschluss: La conclusion est le temple de cette vérité. 380 Gerät in diesem Bild das Lesen wie auch das Schreiben eines Romans zu einer Prozession oder einer Pilgerfahrt, bei der jeder Schritt und jede Etappe von der Ankunft am Ziel beseelt ist, verstärkt sich die Interdependenz von Erzählhandlung und ihrer Konklusion in Form der romanesken Bekehrung in der Metapher vom sich drehenden Rad und seiner unbeweglichen Achse. 381 Die Konklusion kommt dann der Vorstellung von einem mythischen Zentrum sehr nahe, dessen Peripherie einerseits prinzipiell offen, andererseits durch den Selbstbezug der Kreisförmigkeit in sich geschlossen und an den mythischen Kern in der Mitte gebunden ist. Und wie es nach Girard zulässig, ja geboten ist, von einer Phänomenologie des Romans, genauer: des Romanesken, zu sprechen, das heißt in dieser Erzählgattung ein Skript für die Ökonomie des Begehrens in seinen verschiedenen Stufen, vom Aneignungsbegehren bis hin zum metaphysischen Verlangen zu sehen, so ist die romaneske Konklusion schlechthin der Wendepunkt, an dem der Protagonist 378 Roger Caillois, L´Homme, S. 18 : « Le sacré apparaît ainsi comme une catégorie de la sensibilité ». Roger Caillois, L´Homme, S. 227 : « Cette ferveur est aussi le temps des sacrifices, le temps même du sacré, un temps hors du temps, qui recrée la société, la purifie et lui rend la jeunesse. [...] Elle espère une vigueur neuve de l´explosion et de l´épuisement ». 380 René Girard, Mensonge romantique, S. 306 381 René Girard, Mensonge romantique S. 306 : « La conclusion est l´axe immobile de cette roue qu´est le roman. C´est d´elle que dépend le kaléidoskope des apparences ». 379 112 umkehrt, sich in Form eines befreienden Verzichts von seiner Besessenheit lossagt und einen Ausweg aus der Sackgasse der mimetischen Rivalität findet. Die Entdeckung dieses Wendepunkts der guérison hat insofern einen bedeutungsvollen biographischen Hintergrund hat, als Girards Formulierung der romanesken Heilung zeitgleich ist mit der Abwendung einer drohenden Hautkrebserkrankung 382 und mit der entschlossenen und befreiten Hin- und Rückwendung zum christlichen Glauben. Diese Entdeckung ist die für sein Leben 383 wie für sein Werk 384 folgenreiche Begegnung mit dem Religiösen und dem Heiligen. Was für den Romanautor, wenn er an der Konklusion arbeitet, ein literarästhetisches Problem ist, zeigt sich für Girard, da die Konklusion des dernier moment sich stets als Konversion ereignet, als eine religiöse Erfahrung, als eine Auferstehung, die die Form eines vom wiedergefundenen inneren Frieden markierten Todes wie bei Don Quixote oder Julien Sorel annehmen, aber auch dazu führen kann, dass der Protagonist in der Person des Erzählers die Ebene des horizontalen mimetischen Begehrens übersteigt und, wie Proust am Ende beziehungsweise am Ziel der recherche, sich in die Lage versetzt, die Logik der Faszination literarisch zu dokumentieren, sie zu demaskieren und so sich von ihr zu lösen. Was die Bestimmung der romanesken Morphologie, also des im Formenbau eingelassenen Geistes des Romans betrifft, reklamiert Girard kein Urheberrecht; er verweist auf Proust, den seiner Meinung nach profundesten Kenner der RomanPoetik, der Auskunft darüber hätte geben können, wie in dieser Gattung das Denken, Fühlen und Wissen einer Zeit erzählerisch zum Ausdruck gebracht werden kann. 385 Proust ist für Girard nicht primär der Entdecker und Anwender des affektiven Gedächtnisses oder des Bewusstseinsstroms; er ist für ihn der Vertreter und Vordenker seiner eigenen romanesken Phänomenologie, der zwar auch in seiner Recherche die auktoriale Strategie reflektiert, ausdrücklich aber in den experimentellen und literaturkritischen Etüden 386 die Beobachtungen formuliert, die seiner Meinung nach das spezifisch romaneske Leistungsvermögen kennzeichnen. In dem Artikel Dans un roman de Balzac illustriert Proust das mimetische Begehren einer Marquise d´Espard, die mit der asketischen Hingabe einer Nonne einen aristokratischen Salon um sich schart, der in einem als himmlischer Konvent und als gegnerische Front fungiert, wobei das mimetische Begehren in der Horizontalen eines gesellschaftlichen Paradieses als Verfälschung des transzendenten und vertikalen Verlangens kenntlich gemacht wird. Es kommt einer romanesken Stilübung gleich, wenn Proust, indem er knappe Fragen stellt, die Rohform einer 382 s. Anmerkung Nr. 265 René Girard, Quand les choses commencent, S. 194 : « Je suis persuadé que Dieu envoie aux hommes quantité de signes qui n´ont aucune existence objective pour les sages et les savants.[...] J´ai tout de suite compris que, si j´en échappais, le souvenir de cette épreuve me soutiendrait ma vie durant, et c´est bien ce qui s´est produit ». 384 René Girard, Mensonge romantique S. 306 : « L´univers multiple des passions se décompose et retourne à la simplicité. C´est à l´analusis des Grecs et à la seconde renaissance des Chrétiens que fait songer la conversion romanesque. Le romancier rejoint dans ce dernier moment tous les sommets de la littérature occidentale; il rejojnt les grandes morales religieuses et les humanismes supérieurs, ceux qui élisent la part la moins accessibles de l´homme ». 385 René Girard, Mensonge romantique, S. 301 : « Il (Proust, d. Verf.) aurait pu écrire, sur l´unité du génie romanesque, le seul livre que mérite ce grand sujet ». 386 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve (1908 – 1919), Paris 1971 383 113 Romansequenz fertigt, deren weitere Materialisierung der Sammlungs- und Vorstellungskraft des Romanciers übertragen ist. N´est-ce pas en effet une des grandeurs de la maîtresse de la maison – cette carmélite de le réussite mondaine – qu´elle doit immoler sa coquetterie, son orgueil, son amour-même, à la nécessité de se faire un salon dont ses rivales seront parfois le plus piquant ornement ? N´est-elle pas en cela l´égale de la sainte? Ne mérite-telle pas sa part, si chèrement acquise, du paradis social? 387 Dass der Schriftsteller selbst sich nicht als freistehende Persönlichkeit betrachtet, sondern sich gleichfalls in einem Handlungsgeflecht der mondänen Nachahmung bewegt, bestätigt Proust in dem Artikel Journées de Pèlerinage, wo das mimetische Verlangen im Vergleich zur transzendent gerichteten Pilgerbewegung eine vordergründige und rein zwischenmenschliche Reaktion ist, deren konfliktiver Aspekt an dieser Stelle jedoch ausgeblendet bleibt. Quand on travaille pour plaire aux autres on peut ne pas réussir, mais les choses qu´on a faites pour se contenter soi-même ont toujours chance d´intéresser quelqu´un. Il est impossible qu´il n´existe pas de gens qui prennent quelque plaisir à ce qui m´en a tant donné. Car personne n´est original et fort heureusement pour la sympathie et la compréhension qui sont de si grands plaisirs dans la vie, c´est dans une trame universelle que nos individualités sont taillées. 388 Was den Romanschluss betrifft, scheut sich Proust nicht, den aristotelischen Begriff der Katharsis in seiner vollen Tragweite als Reinigung, Gesundung und Wiederherstellung zu verwenden. Die ästhetische Dimension, die darin besteht, dass eine Erzählung zu Ende gebracht werden muss, wird durch die kathartische Dimension der Erleichterung und Entspannung ergänzt. Vor allem aber, und dies macht Proust deutlich, erscheint vom kathartischen Punkt aus die Lektüre im Rückblick in einem neuen Licht, einem Licht, welches im Falle von Proust den Protagonisten/Erzähler der Recherche insofern verändert, als er sich aus den horizontalen Verstrickungen löst und die Befreiung zum Erinnern und darüber hinaus zum Schreiben des Romans erfährt. So formuliert Proust, ohne in der Pose des romanesken Gesetzgebers das von Girard angedeutete ‚Handbuch’ zu schreiben, das Gesetz des Romans: Es entsteht eine durch die konfliktive WunschNachahmung angeheizte kritische Situation, die das Zusammenleben der Gruppe bedroht und die Protagonisten einer selbstzerstörerischen Wirkung aussetzt. Die Rettung erfolgt durch Umkehr. Girard wird später präzisieren: durch ein Opfer, verstanden als eine Abstinenz und als Aufgeben einer Illusion. Auch wenn die Katharsis am Ende des mimetischen Reigens erfolgt, erfolgt sie nicht zu spät; eine blitzartige Erleuchtung genügt, um den Don Quixote von seinem romantischen Übel zu erlösen und aus ihm einen neuen Menschen zu machen, wie sie auch genügt, um den Muttermörder Henri van Blarenberghe, der aus Verzweiflung über das unaufhaltsame Siechtum seiner altersschwachen Mutter an ihr zum Mörder wird, in Erkenntnis seiner Schuld und Übernahme der Verantwortung zum Gewehr greifen zu lassen und es in neu gewonnener Freiheit gegen sich selbst zu richten. Si nous savions voir dans un corps chéri le lent travail de destruction poursuivi par la douloureuse tendresse qui l´aime [...] peut-être celui qui saurait voir cela, dans ce 387 388 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 8 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 71 114 moment tardif de lucidité que les vies les plus ensorcelées de chimère peuvent bien avoir, puisque celle même de don Quichotte eut le sien, peut-être celui-là, comme Henri van Blarenberghe quand il eut achevé sa mère à coups de poignard, reculerait devant l´horreur de sa vie et se jetterait sur un fusil, pour mourir tout de suite. 389 Girard, der diese doppelte Tragodie aus der mit den Prousts befreundeten Familie van Blarenberghe in Verbindung bringt mit der ambivalenten Mutter-Kind-Beziehung des Erzählers der Recherche und an den Artikel erinnert, den Proust 1907 in Le Figaro unter dem Titel Sentiments filiaux d´un parricide veröffentlicht hat, parallelisiert das Erwachen des Mörders mit dem Zu-sich-selbst-Kommen des Don Quixote und unterstreicht, wie die Katharsis nicht nur das Ende bedeutet, sondern auch das Purgatorium, das heißt die reinigende und bereinigende Aussöhnung mit der Vergangenheit ermöglicht. Le parricide recouvre sa lucidité en expiant son crime, expie son crime en recouvrant sa lucidité. La vision horrible du passé est vision de véríté ; elle s´oppose radicalement à la vie « ensorcelée de chimères ». 390 Dass die Literatur, wenn sie es unternimmt, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen 391 und die menschlichen Leidenschaften auf die Bühne zu bringen, auf den Leser nicht ansteckend, sondern purgierend und immunisierend wirkt, ist eine Erkennntis, die auf die aristotelische Katharsis-Theorie zurückreicht, von Proust aber insofern ergänzt wird, als er am Beispiel von Balzac den therapeutischen Wert der Literatur in eins setzt mit ihrem Unterhaltungswert, ja mit dem Lustgewinn, den sie verschafft. Aussi continuerons-nous à ressentir et presque à satisfaire, en lisant Balzac, les passions dont la haute littérature doit nous guérir. Une soirée dans le grand monde décrite dans Balzac y est dominée par la pensée de l´écrivain, notre mondanité y est purgée comme dirait Aristote ; dans Balzac, nous avons presque une satisfaction mondaine à y assister. 392 Wenn die Beschreibung einer Abendgesellschaft, anstatt einer Kamera-Fahrt zu folgen, von der Idee des bescheidwissenden Romanciers gesteuert wird, ist sich Proust sicher, dass es diese Roman-Idee tatsächlich gibt und dass diese Idee, la pensée de l´écrivain, so zwingend ist, dass kein Romancier sich ihr entziehen kann, ja dass man so weit gehen kann zu behaupten, dass alle großen Romane aller Zeiten in gleichsam kanonischer Strenge wie mit einer Stimme sprechen und bei aller Verschiedenheit der Verfasser sozusagen ein und dieselbe Autorschaft haben. Er überträgt dem Roman die Mission des Mythos, von der gesagt wurde, dass sie eine vertreibende Funktion hat, dass sie der Panik die Poetik entgegensetzt, dass sie das Namenlose zu benennen, das Ungeheure zu entzaubern und das Kontingente zu valorisieren und zu rationalisieren hat. Mais tous les grands écrivains se rejoignent par certains points, et sont comme les différents moments, contradictoires parfois, d´un seul homme de génie qui vivrait autant que l´humanité. Où Flaubert rejoint Balzac, c´est quand il dit : « Il me faut une fin splendide pour Félicité ». (La servante d´un Cœur simple, d. Verf.). Cette réalité selon la vie des romans de Balzac, fait qu´ils donnent pour nous une sorte de valeur 389 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 159 René Girard, Mensonge romantique, S. 300 391 Friedrich Schiller, München-Wien Bd. I, S. 484 , zitiert nach Rüdiger Safranski, Schiller, S. 76 392 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 268 - 269 390 115 littéraire à mille choses de la vie qui jusque-là nous paraisaient trop contingentes. Mais c´est justement la loi de ces contingences qui est dégagée dans son œuvre. 393 Proust ist überzeugt, hinter aller Kontingenz und Singularität verbirgt sich eine Wahrheit: Es gibt Gesetze auf beiden Ebenen, der des Handelns, der situations und der des Erzählens, der production. Wie dem kombinierten Ritual 394 der Soziogenese und Homineszenz eine im Mythos festgehaltene erzählerische Sequenz entspricht, entspricht der Anatomie der Leidenschaften eine Grammatik des dargestellten Handlungsgeflechts, und eine fundiertere Kenntnis davon als der Pschologe oder der Soziologe hat der Romancier, dessen poetische Arbeit ein bewusstes Machen und Ausprobieren ist und der im kalkulierten Arrangement seiner Charakterexperimente die verborgenen Gesetze der Motive und der Empfindungen aufdeckt. Wie die verschiedenen Autoren sich unter einer universellen Romancier-Instanz subsumieren lassen, lässt sich auch das universelle Romancorpus als geschlossenes Ensemble mit austauschbaren Modulen verstehen, was bedeutet, dass ein Don Quixote, ein Julien Sorel oder eine Emma Bovary zwar unter geänderten Namen, aber doch identifizierbar, genauso überall anzutreffen wären wie gewisse Handlungssequenzen. Auch wenn die Träger dieser Sequenzen mit so unterschiedlichen Namen wie Stefan Trofimowitsch, Dimitri Karamasow, Raskolnikow, Don Quixote, Julien Sorel, Emma Bovary, Madame de Clèves, Marcel oder Meursault gerufen werden, so gehören sie doch in ihrer gemeinsamen Not einer großen Familie an. So gilt, dass nach Proust 395 alle Dostojewski-Romane den Titel „Schuld und Sühne“ und alle Flaubert-Romane „Madame Bovary“ oder „Schule des Herzens“ heißen könnten. Selbst wenn der universelle Romancier, um es dem Leser nicht zu leicht zu machen, zu einer literarischen Strategie greift und die Wende von crime zu châtiment, 396 von Mangel zu Erfüllung, von Chaos zu Ordnung und von Not zu Rettung anstatt an einer einzigen Person zu vollziehen, auf zwei Rollenträger 397 verteilt und auf diese Weise die Spur der romanesken Regel leicht verwischt, steht für Proust außer Frage: Es gibt für den romanesken Text ein Webmuster mit dem Anspruch auf gattungsweite Gültigkeit. 393 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 276 Vgl. Kenneth Burke, The philosophy of Literary Form (1941), dt. Dichtung als symbolische Handlung, Eine Theorie der Literatur, 1.- 8. Tausend, Frankfurt/M 1966, S. 101: „Ich sehe nämlich das Ritualdrama als die Urform oder Nabe und alle anderen Erscheinungen menschlichen Handelns als von dieser Nabe ausgehenden Speichen an. […] Das Ritualdrama ist bei dieser Betrachtungsweise die höchste Form; alle anderen Formen stellen nur einseitige Ausformungeneines bestimmten Elements des Ritualdramas dar, die bestimmte Wirkungen erzielen sollen“. 395 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 644 396 Das binäre Schema findet sich u. a. in der so genannten Rudimenttheorie von William James (einem Zeitgenossen von Sigmud Freud), Die Vielfalt religiöser Erfahrung, (1901), dt. Frankfurt/M 1997, S. 487: „ …aber es gibt dennoch eine gewisse einheitliche Botschaft, in der sich alle Religionen zu treffen scheinen. Sie besteht aus zwei Teilen: 1. einem Unbehagen, und 2. in der Befreiung von ihm. 1. Das Unbehagen besteht, auf die einfachste Formel gebracht, aus dem Gefühl, dass mit uns in unserem natürlichen Zustand irgendetwas nicht stimmt. 2. Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten. 397 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 644 : « Mais il est probable qu´il (Dostoëvski, d. Verf.) divise en deux personnes ce qui a été en réalité d´une seule. Il y a certainement un crime dans sa vie et un châtiment (qui n´a peut-être pas de rapport avec ce crime), mais il a préféré distribuer en deux, mettre les impressions du châtiment sur lui-même au besoin (Maison des morts) et le crime sur d´autres ». 394 116 La vérité en quelque sorte contingente et individuelle des situations, qui fait qu´on peut mettre des noms propres sous tant de situations [...] est frappante. [...] Là, sous l´action apparente et extérieure du drame, circulent de mystérieuses lois de la chair et du sentiment. [...] Que les conditions extérieures de la production littéraire aient changé au cours du dernier siècle, que le métier d´homme de lettres soit devenu chose plus absorbante et exclusive, c´est possible. Mais les lois intérieures, mentales, de cette production n´on pas pu changer. 398 Die Einheitlichkeit dieser mentalen Strukturen verdichtet sich für Proust - und Girard macht daraus das romaneske Betriebsgeheimnis schlechthin – immer wieder in dem finalen luziden Augenblick der Protagonisten, für den durchaus die Deutung als religiöses Situation zulässig ist und in dem Girard den Einbruch einer Gnade und die Begegnung mit dem Heiligen sieht. In einer kurzen Skizze zum Tod eines Gladiators räumt Proust ein, dass die Umkehr und Aussöhnung sogar noch in den allerletzten Atemzügen möglich ist. La mort a gagné tous ses membres, la mort va l´avoir glacé complètement, il est au seuil de l´éternité. Réunissant alors toutes ses forces, il bégaie une prière, il supplie au juge qu´ il entrevoit vaguement comme dans un rêve de pardonner à ses ennemis. 399 Was er in einer knappen Notiz zu Tolstois christlicher Einstellung und seinem Patriotismus bemerkt, kann als Zusammenfassung der romanesken These gelesen werden, wonach die Erzählung entlang der mimetischen Begierden dans les vies les plus ensorcelées de chimère verläuft, um am Ende, im Verzicht auf die selbstsüchtigen Ziele und gemäß der augustinischen Konzeption vom Ruhen in Gott, den Blick frei zu bekommen für den inneren Gott und für das allein selig machende und vor allem konfliktfreie vertikale Verlangen. Toutes les fortunes pourraient être également réparties par la force. [...] Ce jour-là l´univers sera déchristianisé, puisque christianisme signifie Dieu intérieur, vérité désirée par le cœur, consentie par la conscience. 400 Schließlich sind es zwei Notizen über Stendhal und Georges Eliot, mit denen Proust das romaneske Anliegen in einer Begrifflichkeit formuliert, die in ihrer Abstraktionshöhe insofern als Wegbereiter der Girardsche Romanphilosophie gelten kann, als sie Regungen der Seele benennen, von Vergegenwärtigung der Vergangenheit, Verzicht auf Geltungssucht, Relativierung der Handlungsoberfläche, seelischer Erhöhung und freier Sicht sprechen. Mit dieser Diagnose, die sich ein halbes Jahrhundert später im Romanschaffen und in den literaturkritischen Beobachtungen von Albert Camus bestätigt findet, versieht Proust den Roman mit der extraliterarischen Tragweite, die es Girard ermöglicht, die in ihm verborgenen anthropologischen Konstanten heraus zu präparieren und sie zum Fundament einer Kulturtheorie zu machen. Wenn der Geist des Romans zu seiner klarsten Ausprägung in der kathartischen Konklusion der moments lucides kommt, wo der Protagonist in einer finalen Metamorphose sich zu sich selbst verwandelt und im Rückblick sein Leben als ein Sinnganzes erfährt, wird ein Punkt erreicht, wo alles erzählt ist, was erzählt werden kann. Dieser Punkt ist wiederum und in Umkehrung 398 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 277 - 278 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 312 - 322 400 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 366 399 117 der Abwärtsbewegung am Kirchturm von Combray ein Turmerlebnis, eine Elevation, die Wiederaufrichtung und Wiederausrichtung der Seele, das Aufgehen einer Transzendenz, auch wenn der Ort dieser Transzendenz letztlich leer wie eine leere Kirche bleiben kann und das Heilige im Enthusiasmus erfahren wird, im erfüllten Augenblick, in der wiedergewonnenen Klarheit über sich selbst und in der Entschlossenheit zur schöpferischen Gestaltung. Goût exclusif des sensations de l´âme, reviviscence du passé, détachement des ambitions et ennui de l´intrigue, soit près de la mort (Julien en prison : plus d´ambition. Amour pour Mme de Rênal, pour la nature, pour la rêverie), soit par suite du détachement causé par l´amour (Fabrice en prison, mais ici la prison ne signifie pas la mort, mais l´amour pour Clélia). Cette élévation de l´âme liée à l´élévation en hauteur physique (prison de Julien très élevée, d´où belle vue, prison de Fabrice très élevée, d´où belle vue). 401 Une des conclusions qu´on peut tirer de ces œuvres (mais qui n´est pas indiquée), c´est que le mal que nous faisons est le mal (nous faisons du mal à nous et aux autres), et qu´au contraire le mal qui nous arrive est souvent la condition d´un plus grand bien que Dieu voulait nous faire. 402 Wie für Julien könnte auch für den Meursault des Etranger ein Turmerlebnis 403 der Ort der Umkehr und Läuterung, des schrittweisen Loslassens in einer zugleich zärtlichen und kosmisch-distanzierten Gleichgültigkeit sein. Auch hier eine äußere und innere Elevation, ein weiter Blick über die Stadt aufs offene Meer, ein neues Körper- und Selbstgefühl nach dem Verzicht auf die Zigaretten, ein unverkrampftes Einholen der Vergangenheit, die Sympathie mit der Natur und dem erwachenden Morgen, das Glücksgefühl des ersten Mal, die Erlösung vom Bösen… Eine in Etappen erfolgende Konklusion, deren Inszenierung den kathartischen Anforderungen gerecht zu werden scheint, in ihrer letzten Konsequenz aber insofern scheitert, als Meursault die romaneske Wiedergeburt und Selbstfindung durch den explosionsartigen Ressentiment-Ausbruch verfehlt und, was für Girard einem Strukturbruch gleichkommt, in die ultra-romantische Pose des selbstherrlichen und autonomen Ich gegenüber den Anderen zurückfällt. 404 Im Licht dieser verfehlten 401 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 654 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 657 403 Der Begriff geht bekanntlich auf ein Ereignis im Leben des Martin Luther mit epochalen Auswirkungen zurück. Er berichtet von einer Nacht der Entscheidung (1513 oder 1514), als er in der Studierstube seines Wittenberger Klosterturms die blitzartige Erkenntnis hatte über Gottes Gerechtigkeit, in der der Gerechte nicht durch seine Taten, sondern durch Gottes Gnade lebe. Vgl. Luther, Vorrede zum 1. Bd. der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke (WA 54, 183 f): „Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben’. (Rm 1, 17 d. Verf.) […] Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da erschien mir durchgehend ein anderes Gesicht der ganzen Schrift“. Eine Phänomenologie der vertikalen Trans- oder Aszendenz zur Bewussteinserneuerung beziehungsweise –erweiterung würde eine Fülle an Material zusammentragen: von der SinaïErfahrung des Moses (Ex 19) und dem Tabor-Erlebnis von Petrus, Johannes und Jakobus (Lk 9, 28) über Petrarcas Mont Ventoux-Etappe, Baudelaires Elévation (Va te purifier dans l´air supérieur…), Saint-Exupérys Höhenflüge, die Babel-, Pyramiden-, Kathedralen- und Towerarchitektur bis hin zu den touristischen und individualistischen (auch rauschhaften) Gipfel- und Höhenextasen reicht. 404 René Girard, Critique dans un souterrain, Lausanne 1976, S. 130: « Camus ne voit pas ou refuse d´accepter les conséquences de son solipsisme littéraire. Il a recours au procédé du meurtre innocent 402 118 Konklusion symbolisiert Meursault nicht die Geschichte von Schuld und Sühne, sein Verbrechen verliert die dramatische Kohärenz und den Verhängnischarakter mit dem im Namen der Gesellschaft ergangenen Schuldspruch der Richter. Obwohl Meursault gelernt hat, sich zu erinnern, erhält seine Geschichte, um mit Martin Luther zu sprechen, im Rückblick kein anderes Gesicht; Girard rückt diese Geschichte – im Unterschied zu dem späteren Gerichtsroman La Chute – in die Nähe eines Falles von Jugendkriminalität, eines sozialen Phänomens also, wie es in zahlreichen Romanen und Filmen als élément de romantisme moderne et démocratisé 405 zur Aufführung kommt – zum Beispiel in dem Godard-Film « A bout de souffle » (1959), der einen sympathischen Gangster, dargestellt von Jean-Paul Belmondo, fast beiläufig einen Polizistenmord begehen lässt und dann fast ebenso unbeteiligt und degagiert mit den Folgen des Konflikts zu tun bekommt. La prison était tout en haut de la ville et, par une petite fenêtre, je pouvais voir la mer. 406 Mais à ce moment-là, je m´etais habitué à ne plus fumer et cette punition n´en etait plus une pour moi. 407 J´ai fini par ne plus m´ennuyer du tout à partir de l´instant où j´ai appris à me souvenir. 408 Lui parti (l´aumônier de la prison, d. Verf.), j´ai retrouvé le calme. J´étais épuisé et je me suis jeté sur ma couchette. Je crois que j´ai dormi parce que je me suis réveillé avec des étoiles sur le visage. Des bruits de campagne montaient jusqu´à moi. Des odeurs de nuit, de terre et de sel rafraîchissaient mes tempes. La merveilleuse paix de cet été endormi entrait en moi comme une marée. A ce moment, et à la limite de la nuit, des sirènes ont hurlé. Elles annonçaient des départs pour un monde qui maintenant m´était à jamais indifférent. [...] Et moi aussi, je me suis senti prêt à tout revivre. Comme si cette grande colère m´avait purgé du mal, vide d´espoir, devant cette nuit chargée de signes et d´étoiles, je m´ouvrais pour la première fois à la tendre indifférence du monde. De l´ éprouver si pareil à moi, si fraternel enfin, j´ai senti que j´avais été heureux, et que je l´étais encore. 409 Pour que tout soit consommé, pour que je me sente moins seul, il me restait à souhaiter qu´il y ait beaucoup de spectateurs le jour de mon exécution et qu´ils m´accueillent avec des cris de haine. 410 In der Bestimmung der romanesken Apokalypse, das heißt der Leistung des Romans für die Enthüllung und für die Erkenntnis der Wahrheit über den Menschen geht Girard entschieden über Proust hinaus, wenn er sagt, dass der Roman allein vom christlichen Menschenbild her erklärt und erfasst werden kann. 411 Demzufolge ist der einzelne Roman nicht zu befragen, inwieweit in ihm eine religiöse Problematik anzutreffen wäre oder welche religiösen, beziehungsweise antireligiösen Absichten sein Autor verfolge; vielmehr drängt sich die Einsicht auf, dass die romaneske Problemstellung bereits als solche eine religiöse ist. Wenn das Weizenkorn nicht in afin de récupérer l´archétype du poète maudit ou, sous une forme plus générale, de l´homme d´exception persécuté par la société ». 405 René Girard, Critique dans un souterrain, S. 138 406 Albert Camus, L´Etranger, Paris 1962, S. 1177 407 Albert Camus, L´Etranger, S. 1181 408 ebenda 409 Albert Camus, L´Etranger, S. 1211 410 Albert Camus, L´Etranger, S. 1211 - 1212 411 René Girard, Mensonge romantique, S. 309 : « Et nous comprendrions enfin que le symbolisme chrétien est universel car il est seul capable d´informer l´expérience romanesque ». 119 die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. 412 Diese Zitat aus dem Johannesevangelium, welches in Dostojewskis Brüder Karamasow mehrmals erscheint und von Proust wörtlich als Begründung zitiert wird für die Notwendigkeit des Schriftstellers, sich um seines künstlerischen Schaffens willen in seine Krankheit und aus der Welt zurückzuziehen, könnte der Untertitel für alle Romane sein. 413 Nach all den leidvollen Irrungen und Wirrungen der romanesken Peripetie verzichtet am Ende das Ich auf seine Differenz, aller Stolz und alle Eigenliebe werden überwunden, das Ich ist ein Anderer geworden. Am Ende, welches auch ein Neuanfang ist, geschieht das Wunder des Romans, 414 das das Wunder einer Wiedergeburt und einer Auferstehung ist. Die Ausrichtung der Nachahmung auf den Nächsten, das innerweltlich verkürzte Begehren, hat sich als teuflische Falle erwiesen. Das mimetische Verlangen hat aus dem Gegenüber des Ich mit dem Anderen und mit den Anderen ein Zwangsverhältnis gemacht, welches sich als ebenso gewaltträchtig erweist wie die snobistische und narzisstische Variante der Selbstherstellung. Wie bei Odysseus das rationale Ziel aller Bewegung die Heimkehr ist, kommt der Romanheld am Ende der Prüfungen und unter der Voraussetzung, dass die Wende gelingt, zu einer neuen, mit sich und der Welt versöhnten Identität. Scheitert der Rettungsversuch aus der Beziehungsfolter der médiation interne, herrscht schlagartig höchste Gefahr, und es tritt ein, was Girard mit dem Buchtitel Je vois Satan tomber comme l´éclair, 415 einer Beobachtung des Evangelisten (Lk 10, 18) zu verstehen gibt. Satan, den der Evangelist Johannes einen Menschenmörder von Anbeginn (Joh 8, 44) nennt, ist dann nicht mehr in einem fernen Himmel, sein vertikaler Sturz aus der Transzendenz in die Immanenz und sein jähes Herabfallen aus der Höhe bedeutet, dass er plötzlich und als höllische Gegenwart unter uns ist; er ist wie einer, der umhergeht wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann. 416 Wie also, wenn die Wende nicht gelingt, wenn die Erzählung ohne Konklusion, ohne Entknotung, ohne dénouement endet? Wenn die Heimkehr wie bei Odysseus-Bloom die gleichgültigste und belangloseste aller Stationen ist und in den inneren Monolog der Molly Bloom mündet als Ausdruck der Unberührbarkeit durch diese Heimkehr, und wenn es gerade die Heimkehr in das verheißungsvolle Ithaka ist, was den Odysseus fertig macht? 417 Girard ist nicht der Mann des Kompromisses; für ihn ist ein Roman nur dann ein Roman, wenn er mit der kathartischen Konklusion endet, was heißt, dass die Handlung an den finalen Punkt geführt wird, wo die Handlungsebene transzendiert wird und der Protagonist vor dem Überwältigenden steht, an den Punkt, wo das Heilige erscheint, sei es in Form der Erleuchtung, sei es in Form des Opfers oder des 412 Joh. 12, 24 René Girard, Mensonge romantique, S. 310 : « La phrase de saint Jean sert d´épigraphe aux Frères Karamazov, elle pourrait servir d´épigraphe à toutes les conclusions romanesques ». 414 René Girard, Mensonge romantique, S. 308 : « La conversion dans la mort ne doit pas nous apparaître comme un glissement vers la facilité mais comme une descente quasi miraculeuse de la grâce romanesque ». 415 dt. Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. 416 1 Ps 5, 8: „Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann“. 417 « Odysseus-Bloom, schreibt Joyce am 10. Dezember 1920, an Frank Budgen, schwärmt von Ithaka..., und wie er zurückkomt, macht’s ihn fertig ». Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 92 413 120 Selbstopfers. In äußerster Abstraktion lautet dies : Dans toutes les conclusions romanesques authentiques, la mort qui est esprit s´oppose victorieusement à la mort de l´esprit. 418 In poetischer Diktion erinnert Girard in diesem Zusammenhang an das orientalische Märchen, 419 in dem der Held sich mit letzter Kraft mit den Händen an den Felsvorsprung klammert, schließlich aber vor Ermattung den Sturz in die Tiefe nicht verhindern kann. Als er den Halt verliert, weiß er, dass er jeden Augenblick am Boden zerschellen wird, aber plötzlich trägt ihn die Luft, die Schwerkraft ist überwunden. Wer sich nicht fallen lässt, wird sich nicht finden. Der Autor, der die Handlung nicht enden lässt, also durchaus im aristotelischen Verständnis sich nicht dafür verbürgt, dass nichts mehr folgen kann, verhält sich wie ein Moses, der das versprochene Land nicht betreten kann. Für Girard steht Kafka exemplarisch für eine Literatur ohne Konklusion. L´impossibilité de conclure […] est une impossibilité de mourir dans l´œuvre et de se délivrer de soi-même dans la mort .420 Und aus diesem Grund spricht Girard bei den Erzählungen von Kafka bewusst nicht von Romanen; er nennt sie récits und markiert damit den Unterschied zwischen der romanesken Vollendung, l´achèvement de l´œuvre romanesque und der erzählerischen Unvollendetheit, l´inachèvement du récit contemporain. 421 Mit den Erzählungen ohne Konklusion – in soziodramatischer Perspektive sind dies die Krisen ohne sakrifizielle beziehungsweise opferfreie Lösung - scheint für Girard die romaneske Ära am Ende zu sein. Er registriert diese Unmöglichkeit des erzählerischen Todes und der damit verbundenen Befreiung nicht als modische Erscheinung, sondern als Entsprechung zu einer ihn zutiefst beunruhigenden historischen Situation. Diese Situation ist jedoch nicht überraschend eingetreten; sie hat sich romanhaft angekündigt, zum Beispiel dort, wo Dostojewski in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) einen Schriftsteller präsentiert, der kein Ende finden kann, dessen Spannungen sich nicht auflösen lassen, dessen Beklemmung kein Turmerlebnis und dessen Höllenfahrt, in der Diktion von Dante, keine Auferstehung kennt. Le journal de cet amateur de paradoxes ne se termine pas encore. L´auteur n´a pu résister à la tentation et a repris la plume. Mais il nous semble à nous, qu´on peut mettre ici le point final. 422 Während Dostojewski und mit ihm die von Girard immer wieder so angesprochenen ‚großen’ Romanciers die Schwelle vom Romantischen zum Roman überschreiten und zu kathartischen Konklusionen kommen, wird Kafka der Beginn einer Erzähltradition mit offenen oder fehlenden Konklusionen zugeschrieben, welche für Girard bedeuten, dass das mimetische Verlangen sich nicht in einer authentischen Versöhnung beruhigt, in der die Grenze zwischen der ästhetischen Erfahrung eines literarischen Kunstwerks und der religiösen Erfahrung einer Bekehrung in der blitzartigen Erleuchtung des letzten luziden Augenblicks aufgehoben ist. 418 René Girard, Mensonge romantique, S. 303 René Girard, Mensonge romantique, S. 293 420 René Girard, Mensonge romantique, S. 307 421 ebenda 422 ebenda: Fjodor Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, frz. Le Sous-sol, zitiert nach René Girard 419 121 Les œuvres romanesques vraiment grandes naissent toutes de cet instant suprême et elles retournent à lui à la façon dont l´église jaillit du chœur et s´avance vers lui. Toutes les grandes œuvres sont composées comme des cathédrales .423 Dass den Erzählungen von und nach Kafka die Konklusion abhanden gekommen ist, entspricht einer Zeit der Angst, einer Epoche, die den rettenden Ausweg aus dem Labyrinth der mimetischen Verflechtungen nicht findet, die Kettenreaktion der ansteckenden Rivalitäten nicht beherrscht und nicht unterbricht. Le devenir réciproque du rapport mimétique engendre un dynamisme redoutable. Le jeu de l´obstacle-modèle détermine un système de feedbacks, un cercle vicieux qui va se rétrécissant toujours. Au-delà d´un certain seuil, l´individu ne peut plus du tout maîtriser ou même dissimuler ce mécanisme, c´est le mécanisme qui a raison de lui. 424 Die ‚kathedralförmige’ Erzählung mit ihrer transzendentalen Bezogenheit im Fluchtpunkt des Chor- oder Altarraums beziehungsweise ihrer vertikalen Ausrichtung und ihrer Lichtsprache wäre ein Gegenmodell zum Teufelskreis der personnages voués à l´interminable, deren Heraufkommen von Dostojewskij im Kellerloch beschworen wird. Sie wäre der Ort der Versöhnung und des Neubeginns, der Ort, an dem eine Handlung an ihr Ende gelangt und damit Raum schafft für eine nachfolgende Handlung. Die Unfähigkeit, eine Geschichte zum Abschluss zu bringen, zeigt sich als Verstoß gegen die Morphologie und den Geist des Romans; und dieser erzählerische Notstand wird von Kafka explizit gemacht, indem er die Sage der nicht enden wollenden Hinrichtung des Prometheus aufgreift und sie um drei Fassungen ergänzt, in denen das Leiden des von den Göttern Verurteilten kein Ende nimmt und einer Zeitfolter gleicht. Während Goethe seinen Prometheus 425 als heilig glühend Herz einen romantischen Protest gegen den Göttervater ausstoßen lässt und ihm das Programm seiner Eigenmacht entgegenschleudert: Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, kennt Kafkas Prometheus kein Erweckungserlebnis; seine Verklärung kommt einer Verglasung und Mineralisierung gleich. Er kehrt in einer ultimativen Metamorphose ins Namenlose und Unerklärliche zurück. Das Anorganische allein überdauert die Geschichte, zu deren Datierung und Deutung ihres Anfangs und ihres Endes niemand mehr da ist. 426 Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen. 423 René Girard, Mensonge romantique, S. 309 René Girard, Critique dans un souterrain, S. 22 425 Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1756 – 1799, Hg. Karl Eibl, Franfurt/M 1987, S. 203 - 204 426 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 688, deutet das Ende der Datierbarkeit als eine Gegenposition gegen das Fortschrittsdenken und als eine Art Remythisierung unter wissenschaftlichen Vorzeichen: „Sucht man nach analogen Aussagen (zu Kafkas Prometheus, d. Verf.) abseits dieser großartigen und rücksichtslosen Imagination, so stößt man auf die Auseinandersetzung des Fortschrittsoptimismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem physikalischen Gegenprinzip des Wärmetods, auf den zweiten Satz der Thermodynamik, als das große Modell, dem noch Sigmund Freud das Organische und Psychische eingeordnet und unterworfen hat, als er in sein dem Mythischen sich immer mehr näherndes System 1920 den Todestrieb einfügte“. 424 122 Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.- Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden. 427 Auf Lévi-Strauss geht die Beobachtung zurück, die Musik habe im Europa des 16. Jahrhundert von der Religion die Funktion des Mythos übernommen, und mit dem Ende der großen musikalischen Formen im ausgehenden 19. Jahrhundert sei diese Funktion auf den Roman übergegangen. Nun aber sei festzustellen, dass der Roman die bevorzugte Funktion, die er in der westlichen Welt eingenommen hat, tendenziell verliert, und es sei höchst ungewiss, ob die serielle Musik die mythischen Funktionen, die der Roman allmählich verliert, nicht mehr übernehmen wollte oder könnte. 428 Eine ähnliche Bewertung der musikgeschichtlichen Zäsur beim Aufkommen der neuen Formen findet sich in Thomas Manns Dr. Faustus, in dem der Tonsetzer Adrian Leverkühn, hinter dem sich der Komponist Arnold Schönberg verbirgt, neue Kompositionsregeln formuliert. Während die alten Formen Musik als Spiel von aufgestauter Erwartung und eingelöster Erfüllung praktizieren und eine Organisation, Vertaktung und Modulation des zeitblinden Erlebens anstreben – für Leibniz kann Musik zu einem unbewussten Rechnen werden - und damit das Hören mit der Fähigkeit eines wenn auch illusionären Risikomanagements ausstatten – bezeugt von Adorno: Musik hilft gegen Psychose, und von Nietzsche: Ohne Musik könnte ich nicht leben -, fordert Leverkühn/Schönberg sowohl den Verzicht auf den resümierenden Schlussakkord als auch den stimulierenden Wechsel von Dissonanzen und Harmonien, mit denen das Spiel der Erwartungen und der Reigen von Lust und Unlust in Gang gesetzt und gehalten wird. Er fordert die Emanzipation der Dissonanz von ihrer Auflösung, das Absolutwerden der Dissonanz 429 und bescheingt den heute zerstörten Formen, dass sie nicht allezeit so objektiv, so äußerlich auferlegt, sondern Verfestigungen lebendiger Erfahrung waren und als solche lange eine Aufgabe von vitaler Wichtigkeit: der Organisation, 430 erfüllten. Und nun, so seine Verlustmeldung, die an den Exodus des Mythos aus der Erzählung erinnert, war es die ästhetische Subjektivität, die sich der Aufgabe annahm; sie machte sich anheischig, das Werk aus sich heraus, in Freiheit, zu organisieren. 431 Die nach Art der mythischen Sequenzen in den musikalischen Formen eingelassene Verfestigung lebendiger Erfahrung wird durch eine neue Komposition ersetzt, die den luziden Moment im Werk nicht thematisiert und nicht sucht, ihn möglicherweise entsprechend dem optimistischen Rezeptionsvorschlag 427 Franz Kafka, Prometheus, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1.- 6. Tsd., New-York City 1953, S. 100. Auch in der Skizze Poseidon (S.128) wird dieses endlose Ende dargestellt: “Poseidon wurde überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger Küste und eine von seiner Gegenwart betäubte Taube zog schwankende Kreise um sein Haupt“. 428 Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 269 429 Thomas Mann, Dr. Faustus, Das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn (1947), 8. – 15.Tsd. Frankfurt/M 1948, S, 307 430 Thomas Mann, Dr. Faustus, S. 302 431 Thomas Mann, Dr. Faustus, S. 312 123 von Camus dem Hörer als Aufgabe und Chance überlässt. Ob Thomas Mann den Entdecker der Zwölftonmusik der rationalen Kälte und darüber hinaus der Verstrickung in die nationalsozialistische Diabolik bezichtigen wollte, sei in diesem Zusammenhanhg dahingestellt. Ebenso kann vorläufig offen bleiben, ob der Auszug des Mythos aus der Musik als Verlust oder als Gewinn verbucht werden soll. Indem jedoch die Dodekaphonie die Forderung erhebt, dass ein Ton erst wiederholt werden kann, wenn alle anderen Töne der Tonleiter einmal durchgespielt sind, wird dem Hörer und Spieler die Befriedigung versagt, die in der Ausbildung eines tonalen und wiedererkannten Zentrums liegt. Fraglich ist, ob die Musik unter diesen Bedingungen in der Lage ist, als Simulationsmodell für das Erleben einer Zeitspanne zwischen Anfang und Ende zu dienen und damit Kohärenz abzubilden und ob unter diesen Bedingungen sinnvolle Erwartungswahrscheinlichkeiten aufgebaut werden können oder ob nicht der Hörer sich als dem Risiko des Ungeheuren ausgesetzt fühlen muss und ihm die lustvolle Rückkehr in tonale Zentren oder Attraktoren, mit denen die so genannte U-Musik eine gläubige Fan-Gemeinde an sich bindet, für immer versagt bleibt. Wenn das Ereignis des Gefallens, also des ästhetischen Vergnügens von der Übereinstimmung mit und dem Wiedererkennen von festen Formen abhängt, ist damit zu rechnen, dass eine serielle Komposition, die lediglich ein Segment des fließenden Hörganzen abbildet, anstatt es in fassbare musikalische Stücke umzuarbeiten, den Hörer eher mit intellektuellen Reizen in Form von aufblitzenden und verlöschenden Möglichkeiten bedient, als ihm die von Adorno und Nietzsche angedeutete orientierende, reparierende, heilende und rettende Wirkung angedeihen zu lassen. Jean Baudrillard macht für das Verschwinden der Taktgebung und der ‚Rechenleistung’ in der Musik nicht die Komposition verantwortlich. Für ihn verschwindet in völliger Unabhängigkeit von der Komposition die Musik jenseits der Schwelle der high fidelity, das heißt in der Perfektionierung ihrer Materialität, in ihrem eigenen Spezialeffekt. Jenseits dieses Punktes gibt es keine Urteilskraft und kein ästhetisches Vergnügen mehr, sondern nur noch reinen Klangrausch - und das ist das Ende der Musik. 432 Das radikale Ignorieren der in der Musik eingelassenen verfestigten Lebenserfahrungen, das eine Folge der durch technikbesessene Klanggenauigkeit perfektionierten Aufnahme- und Übertragungstechnik ist und durch die Proliferation der mit Nebeneffekten aufbereiteten Tonträger verstärkt wird, setzt Baudrillard in Beziehung zur Geschichtsblindheit der den Globus umkreisenden Informationen, welche das Ereignis als solches unkenntlich machen. Wie das globalisierte Informationswesen keinen Sendeschluss, das Verkehrswesen kein Ziel und das Rauschen der Klänge keine Zentren und Attraktoren aufweist, verschwindet auch die Geschichte durch die Überfülle an Aktualität. Vor diesem Hintergrund an die Möglichkeit von Konklusionen in der Virtualität des Kunstwerks zu glauben, ist utopisch. Dies verdeutlicht Baudrillard mit einer originellen Version des um sein Ende gebrachten Prometheus: Wir sind von unserem eigenen Ende eingekreist, und wir können es nicht landen, nicht wieder auf die Erde zurückkehren lassen. Das ist die Parabel vom russischen Kosmonauten, der im All vergessen wurde, den niemand empfangen und zurückholen wollte – das einzige Stück des sowjetischen Territoriums, das ironischerweise ein deterritorialisiertes Russland überfliegt. Während sich auf der Erde alles geändert hat, wird er praktisch unsterblich und kreist weiter herum wie 432 Jean Baudrillard, L´illusion de la fin ou la grève des événements (1992) dt. Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 16 124 Götter, Sterne und atomare Abfälle. Wie so viele Ereignisse, für die er eine vollkommene Illustration ist und die weiterhin im leeren Raum der Information kreisen, ohne dass irgend jemand sie in den geschichtlchen Raum zurückholen könnte oder wollte. Nach dem Muster all dessen, was weiterhin seine volle Leistung im Orbit bringt und dessen Identität während der Fahrt verloren gegangen ist, ist auch unsere Geschichte auf ihrem Weg verloren gegangen, sie umkreist uns wie ein künstlicher Satellit. 433 Baudrillards russischer Kosmonaut ist so weit von einer Um- und Rückkehr entfernt, dass er nicht einmal mehr wie der heimkehrende Ulysses von einer nörgelnden Molly-Bloom fertig gemacht werden kann, und hätte er einen sein Leben in neuem Licht erscheinen lassenden, finalen luziden Moment, niemand wäre da, dem er sein Turmerlebnis mitteilen könnte. Es ist auch keine Kurskorrektur der orbitalen Drift möglich, denn die bordeigenen Energiereserven, falls sie nicht aufgebraucht sind, könnten nur von einem terrestrischen Kommandostand aus aktiviert werden. Aber dort hat man ihn ja vergessen, sein Identifikationscode ist gelöscht oder überschrieben. Niemand ist an einer Rückholung und einem Wiedereintritt in die Geschichte interessiert. Der Kosmonaut kann kein ferner Nachkomme des Don Quixote, des Julien Sorel, der Emma Bovary, der Karamasofs sein. Er kann eine mythische Spur nachvollziehen oder eine neue Variante einer derartigen Spur ausbilden, doch er kann kein Romanheld sein. Ohne ausdrücklich auf den Zusammenhang von Mythos und Romankonklusion einzugehen, sieht Albert Camus im Werk von Kafka auch bei ausbleibender Konklusion den Mythos an der Arbeit. Für Camus enden die Erzählungen von und nach Kafka, auch wenn sie die den romanesken Erwartung im Sinne Girards nicht gerecht werden, keineswegs im geschlossenen Raum der Immanenz. Die Ausweglosigkeit in ihrer bittersten Konsequenz kann das Aufgehen eines metaphysischen Raums sein. Erniedrigung kann sich in Demut wandeln, Resignation in Hoffnung. Les romanciers existentialistes: tournés vers l´absurde et ses conséquences, aboutissent en fin de compte à cet immense cri d´espoir. Ils embrassent le Dieu qui les dévore. C´est par l´humilité que l´espoir s´introduit. 434 Wenn er auch Kafkas Schloss für einen seltsamen Roman hält, où rien n´aboutit et tout se recommence, bescheinigt er ihm doch, dass es darin um das Abenteuer einer Seele geht, die ihr Heil sucht, d´une âme en quête de sa grâce. 435 Dass diese Seele trotz aller Bemühungen und trotz eines gewissen kathartischen Therapieangebots ihr Heil nicht findet, änderts nichts daran, dass sich der luzide Moment einstellt und in einem mutigen Erkenntnisakt das absurde Schicksal angenommen wird. Le monde de Kafka n´est pas aussi clos qu´il ne paraît... Le Procès diagnostique et le Château imagine un traitement. Mais le remède proposé ne guérit pas. Il fait seulement rentrer la maladie dans la vie normale. Il aide à l´accepter. 436 433 Jean Baudrillard, Die Illusion, S. 185 - 186 Albert Camus, L´Espoir et l´absurde dans l´œuvre de Franz Kafka (1943) in : ders, Essais, Paris 1965, S 208 435 Albert Camus, Essais, S. 204 436 Albert Camus, Essais, S. 205 434 125 Schließlich sieht Camus im kafkaesken Ausbleiben der Konklusion nicht nur die von Lukács konstatierte transzendentale Obdachlosigkeit, 437 sondern auch die dem Leser angebotene Chance einer relecture in eigener Regie und einer von eigenen Lebens- und Leseerfahrungen gestützte und verantwortete Interpretation. Tout l´art de Kafka est d´obliger le lecteur à relire. Tous les dénouements, ou ses absences de dénouement, suggèrent des explications, mais qui ne sont pas révélées en clair et qui exigent, pour apparaître fondées, que l´histoire soit relue. Quelquefois, il y a une double possibilité d´interprétation, d´où apparaît la nécessité de deux lectures. 438 In der Girardschen Konzeption, in der die Konklusion als Tempel der Romanarchitektur fungiert, von dem aus im Rückblick die Geschichte erst ihre Kohärenz und ihre erzählerische Intentionalität erhält, muss die dem Leser übertragene deuterische Haftung einem Scheitern des Romanprojekts gleichkommen. Die Möglichkeit einer Sinn-Wahl durch den Leser wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den romanesken Sinn-Anspruch. Wie nach dem Hölderlin-Diktum die Rettung ihren Sinn allein aus der historisch vorausgegangenen Gefahr erhält, wird auch die Gefahr als solche nur aus der Sicht der Rettung erfahr- und kommunizierbar. Wenn der Roman seinen Gattungsauftrag als Abenteuer, als quête oder recherche, als die Abfolge von crime et châtiment, als éducation sentimentale oder Ulysses-Parcours erfüllen soll und sich vom lyrischen Bekenntnis, der gebetshaften Beschwörung oder der historiografischen Notierung der laufenden Ereignisse unterscheiden soll, ist er ohne finale Offenbarung nicht denkbar. Wenn das Weizenkorn, so Girards Metatheorie, nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Das allein bleibende Weizenkorn, das ist der romantische Solitär, der alsbald von der mimetischen Pest angesteckt wird und als Genie oder Snob, Sadist oder Masochist mit den Anderen und dem Anderen rivalisiert und niemals zur Ruhe kommen oder in Ruhe lassen kann. Das allein bleibende Weizenkorn gerät in Konflikt mit einem Vorbild, welches als Idol gleichzeitig verehrt und als Hindernis empfunden wird. Auf einer gesteigerten Stufe der Degradierung verwandelt sich jedes Vorbild in ein Hindernis und jedes Hindernis in ein Vorbild. Masochismus und Sadismus sind dann die degradierten Formen des vermittelten Begehrens. Verschiebt sich der erotische Wert vom Wunschobjekt hin zum Vermittler-Rivalen, erhält man den Typ des Homosexuellen, wie ihn Proust darstellt. Die durch die Begehrensvermittlung provozierten Konflikte und Spannungen erreichen ihren Höhepunkt in der Halluzination des Doppelgängers, ein Bild, das nicht so sehr den unüberbrückbaren Gegensatz von zwei Rivalen, sondern jene eine Person meint, in deren Brust sich zwei Seelen bekämpfen. Das Weizenkorn, das stirbt, das heißt aus dem Teufelskreis des obsessiven Begehrens herausfindet, erfährt sich als neu geboren, als identisch mit sich selbst und versöhnt mit der Welt und den Anderen. Es erfährt die Anderen nicht mehr als tatsächliche oder potenzielle Rivalen, sondern als Nahestehende und in Solidarität Verbundene. Obwohl er an diesem Punkt bekennt, dass die romaneske Erzählung deckungsgleich ist mit der religiösen heilsgeschichtlichen Vision, 439 geht es Girard nicht um religiöse 437 Georg Lukács, Theorie des Romans, S. 22 Albert Camus, Essais, S. 202 439 René Girard, Mensonge romantique, S. 312 : « Les dernières distinctions entre l´expérience romanesque et l´expérience religieuse s´abolissent ». 438 126 Propaganda. Es ist für ihn ein literaturwissenschaftliches Faktum, und deshalb sind ihm die Zeugnisse des agnostischen Marcel Proust und des religionskritischen Stendhal auch so wichtig, dass der Roman dieselben archetypischen Strukturen aufweist, die auch für das juden-christliche Menschenbild der Bibel maßgebend sind. Wenn dies im religiösen Raum – in der augustinischen Fassung - die Geschichte von Erbsünde und Erlösung ist, ist es im literarischen Raum die über die Jahrhunderte sich erstreckende Geschichte von crime et châtiment, deren lesbarste Fassung nach Girard Dostojewskis letzter, 1000-seitiger Roman Die Brüder Karamasow aus dem Jahr 1880 ist, in dem der Tod des Kindes Iljoucha als exemplarisch für alle seine Roman-Tode als Moment der Erlösung, der Kommunion und der unübersteigbaren Erleuchtung dargestellt wird. …le petit Ilioucha meurt pour tous les héros dostoïevskiens et la communion qui jaillit de cette mort est une ’lucidité sublime’ à l´échelle du groupe. La structure du crime et du châtiment rédempteur transcende la conscience solitaire. Jamais romancier n´avait brisé aussi radicalement avec l´individualisme romantique et prométhéen. 440 Wenn das romaneske Projekt und das in der johanneischen Weizenkornmetapher formulierte biblische Projekt sich parallel setzen lassen, und sich die quête des einen mit dem Heilsweg - von Tod zu Auferstehung - des anderen vergleichen lässt, kann diese Gleichsetzung auch als Beleg dafür gewonnen werden, dass in beiden ein und derselbe Mythos an der Arbeit ist. Girard skizziert mit dem Postulat, dass die expérience romanesque in der Tat die expérience religieuse ist, diesen einen Mythos als Hintergrund für beide Manifestationen. Wie die erzählbare Version dieser Erfahrung, die sich durchaus als Experiment mit unsicherem Ausgang versteht, der Roman ist – Girards Interpretionsschema erstreckt sich auf weitere Gattungen, soweit sie zwischenmenschliche Beziehungen reflektieren - , zeigt sich eine begehbare großformatige Fassung in dem in den zyklischen Sonnenkalender eingepassten Kirchenjahr vom ersten Advent bis zum Sonntag des Jüngsten Gerichts sowie eine komprimierte Fassung im Ritual der Eucharistiefeier, in dem das durch die mimetischen Differenzen mit Gott und der Welt zustandegekommene menschliche Sündenregister durch Tod und Auferstehung des göttlichen Weizenkorns getilgt wird und die Versöhnung und der Neubeginn im gemeinsamen Mahl besiegelt werden. Während die Konklusion des Kirchenjahres das Risiko des Scheiterns nicht zu fürchten braucht, weil sie ein sowohl sakral, als auch profan legalisiertes Datum ist, kann der Erzähler sie als existenzeill zu leistendes Faktum wohl verfehlen. Dass auch der gottesdienstliche Ritus sich der gelingenden Konklusion, der Annahme der konsekrierten Opfergaben aus der Hand des Priesters, nicht a priori sicher ist, ist daran erkennbar, dass die Gemeinde zusammen mit dem Priester das suscipiat 441 spricht, in dem Gott angefleht wird, das Opfer anzunehmen - und nicht zu verweigern. In dem 1976 veröffentlichten Essay-Band, der in Resonanz zu Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) den Titel Critique dans un souterrain trägt und mehrere Zeitschriftenartikel enthält, die in der Zeit zwischen der Roman-Studie Mensonge romantique et vérité romanesque und dem darauf aufbauenden religions440 René Girard, Mensonge romantique, S. 312 Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Freiburg 1975, S. 381: „Priester: Betet, Brüder und Schwestern, dass mein und euer Opfer Gott, dem allmächtigen Vater, gefalle. Alle: Der Herr nehme das Opfer an aus deinen Händen / zum Lob und Ruhm seines Namens, / zum Segen für uns und seine ganze heilige Kirche“. 441 127 beziehungsweise kulturtheoretischen Werk La violence et le sacré erschienen sind, greift Girard weit über Proust hinaus und formuliert die mimetische Theorie als literarisches Kompositions- und Interpretationsschema, dessen Schlüssigkeit sich sowohl an Augustinus und Dante wie auch an Dostojewski und Camus bestätigt und das in der ausdrücklichen Distanzierung von Freuds Triebtheorie die wissenschaftliche Basis für eine anschlussreiche Beschreibung der interindividuellen und kollektiven Prozesse liefert. Bei Freud, der sich nach Girard große Verdienste um die Aufdeckung der relationalen Dimension der menschlichen Motive erworben und die Einsicht in die trianguläre Konstellation des Verlangens nur knapp verfeht hat, wird der Vatermord durch das inzestuöse Verlangen der Söhne erklärt, letzteres durch die triebhafte Flucht in den Mutterschoß, welcher der Vater im Wege steht, also durch die Wirkung eines linear zum Objekt agierenden Triebapparats, der in den kleinkindlichen Erfahrungen grundgelegt worden ist. Wir nannten die Energiebesetzungen, die das Ich den Objekten seiner Sexualstrebungen zuwendet,’Libido’, alle anderen, die von den Selbsterhaltungstrieben ausgeschickt werden,’Interesse’ und konnten uns durch die Verfolgung der Libidobesetzungen, ihrer Umwandlungen und ihrer unendlichen Schicksale eine erste Einsicht in das Getriebe der seelischen Kräfte verschaffen. 442 […] Libido soll, durchaus dem Hunger analog, die Kraft benennen, mit welcher der Trieb, hier der Sexualtrieb wie beim Hunger der Ernährungstrieb, sich äußert. 443 Während die Freudsche Ökonomie des Begehrens sich aus den frühkindlichen sexuellen Erfahrungen speist und also zu ihrer Erhellung der Anamnese bedarf, hat die mimetische Begehrenstheorie nicht nur den Vorteil, dass sie sich von der Zentrierung auf das Sexualobjekt löst und den Blick für andere Wunschobjekte frei macht, sie erlaubt auch eine Konfliktanalyse in der jeweils gegebenen triangulären Situation und bedarf keiner rückwärts gewandten hypothetischen Rekonstruktion eines Ausgangszustandes. Daher der dynamische Charakter des Prozesses, der jedes Mal ausgelöst wird, wenn ein Ich in die Kampfzone zwischen ein Objekt und einen Dritten gerät, in der dieser Dritte, nachdem er das Begehren des Ich entzündet hat, sich alsbald als dessen eifersüchtiger Gegenspieler aufspielt. Ohne auf den Begriffsapparat der Psychoanalyse zurückgreifen zu müssen und ohne das Unbewusste als jederzeit einsatzbereiten deus ex machina zu bemühen, stellt das mimetische Verlangen, das sich von einem Objekt weg- und auf den Rivalen hin umleitet, für den Romancier wie für den Leser ein zugleich einfaches und leistungsfähiges Prinzip dar, mit dem eine Vielfalt von Konflikten beobachtet werden kann. Il est clair, par exemple, que la structure du désir proustien, tel qu´il se dégage de ‘La Recherche du temps perdu’ est toujours structure de rivalité et d´exclusion mimétique, qu´il s´agisse de l´érotisme ou du snobisme, en dernière analyse identiques l´un à l´autre. On peut montrer que les analyses de Proust tendent toutes à révéler cette identité, qu´elles tendent non vers Freud mais vers la définition mimétique. 444 442 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Libidotheorie und der Narzissmus (1915 – 1917), 30. – 32. Tsd. Frankfurt/M 1976, S. 395 443 Sigmund Freud, Vorlesungen, S. 299 444 René Girard, Critique dans un souterrain, S. 29 128 So wie er die Analysen von Proust nicht als Dokumente einer Freudschen Sublimierung oder Verdrängung, sondern als psychologischen und soziologischen Befund versteht, beansprucht Girard auch für das von ihm formulierte Leseverfaren den Charakter der Wissenschaftlichkeit, das heißt der Generalisierbarkeit und Überprüfbarkeit. Unter dem Begriff der Soziologie des Romans 445 skizziert er eine Romantheorie, die die biographischen Wendemarken des Romanciers in den Kontext des erzählerischen Schaffens und die erzählte Wirklichkeit wiederum in den Kontext einer religiösen Erfahrung stellt. Der wahre Romancier ist der, der die Strukturen des Verlangens nicht nur abbildet, sondern sie erkennt und die Wirkungszusammenhänge durchschaut. Dabei muss er sowohl den Blick für das Ganze haben, also das Erzählte als Vorgeschichte einer Konklusion und die Konklusion als Ergebnis einer Vorgeschichte gedanklich erfassen, als auch sich auf das Risiko eines unsicheren Ausgangs beim Ausarbeiten der einzelnen Situationen einlassen. Er ist weder der olympische und selbstgefällige Alleswisser, den Sartre in der Schrift Qu´est-ce que la littérature kritisiert, noch der engagierte Schriftsteller, den derselbe Sartre an die Stelle dieses falschen Gottes setzen möchte. Er kann seine Protagonisten nur dann in die Strukturen des Verlangens verhaken und sie, bei günstigem Ausgang, zur Umkehr führen, wenn er selber ihren Weg gegangen ist, wenn er selber in den Sog des mimetischen Begehrens hineingerissen wurde und sich daraus befreit hat. Da alle großen Romane ein einheitliches Romancorpus bilden, das als un seul ensemble signifiant 446 vorliegt und analysiert werden kann, sind auch ihre Verfasser über alle räumlichen und zeitlichen Distanzen sowie die Unterschiede des Temperaments hinweg eingebunden in ein und dieselbe Mission. Und in derselben Bewegung wie ihre Protagonisten, so suggeriert es Girard, durchleben, durchleiden und durchlaufen die Romanciers die Geschichte ihrer Bildung, religiös gesagt: ihrer spirituellen Menschwerdung oder zweiten Geburt, deren Anfang die romantische und heldische Illusion bildet und an deren Ende diese Illusion als solche enthüllt und überwunden wird. Sowohl den Flaubert von La première éducation sentimentale, als auch den Proust von Jean Santeuil und den Dostojewski in den Werken vor dem Kellerloch stuft Girard als Autoren der romantischen Lüge ein, bevor sie wahrhafte Romane schrieben. In ihrer romantischen Phase waren sie selbst innerlich zerrissen zwischen einer prometheischen Ichbehauptung und dem Druck, den ihre Vorbilder-VermittlerRivalen auf sie ausübten. Und wie der Protagonist sich erst am Ende des Romans in Analogie zum sterbenden Weizenkorn aus den Fängen des rivalitätsträchtigen Objektbegehrens befreit, gelangt auch der Romancier in der Konklusion seines Gesamtwerks ans Ende und ans Ziel seines romanesken Projekts. Auch seine Konversion besteht in der Absage an seine Idole. Auch für ihn besteht diese Konversion darin, dass er auf das aussichtslose mentale Wettrüsten mit seinen Rivalen, den gegebenen und den mit jedem Übertreffenswunsch auf den Plan gerufenen, verzichtet, dass er der Doppelung mit seinem jeweiligen Amadis von Gallien aus dem Weg geht und dass er in der Abwendung von existenziellen und literarischen Vormachtsstrategien in einer spirituellen Metamorphose zu seiner dichterischen Schaffenskraft findet. Girard wendet sich einmal mehr Proust zu, den 445 Sein Aufsatz De la Divine Comédie à la sociologie du Roman erschien 1963 in der Revue de l´Institut de Sociologie, Bruxelles, also 2 Jahre nach Lucien Goldmanns Schrift Soziologie des modernen Romans . 446 René Girard, Critique dans un souterrain, S. 146 129 er für die romanciers antérieurs sprechen lässt und von dem er berichtet, dass seine große Recherche erst möglich wurde nach einer totalen Lebens- und Schaffenskrise. La conclusion qui est mort au monde est une naissance à la création romanesque. On peut vérifier trés concrètement ce fait dans le chapitre intitulé ‘Conclusion’ du ‘Contre Sainte-Beuve’ et dans d´autres textes tirés des archives proustiennes. Les premières ébauches du Temps retrouvé sont là et elles se ramènent à un constat d´ échec généralisé, à un désespoir existentiel et littéraire qui précède de peu la mise en chantier de ‘La recherche du temps perdu’. 447 Die Umkehr des Protagonisten wird in Funktion gesetzt zu der Umkehr des Romanciers. Die eine Wende ist der Ermöglichungsgrund für die andere. Und wie die ernthaften Romane - in Girards Lesart: nicht die abbildenden, sondern die reflektierenden und demaskierenden – im Sinne der Saussureschen Zeichentheorie einen einzigen Signifikanten darstellen, und wie deren Autoren mit einer einzigen Stimme sprechen, lassen sich auch die diversen Konklusionen auf einen einzigen Nenner bringen. Il faut les envisager comme une seule totalité signifiante.448 Wenn nun Girard die Soziologie und die Phänomenologie des Romans so weit schematisiert, dass sowohl der Romancier als auch sein Werk und darin insbesondere die sinnbildende Konklusion von archetypischem Format sind, liegt es nahe, die letzte noch ausstehende Frage in diesem archetypischen Sinn zu beantworten und die Vermutung zu riskieren, dass das vom Signifikanten Gemeinte, dass also der Roman, beziehungsweise die erzählerische Inszenierung von intersubjektiven Beziehungen, ein einziges Signifkat darstellen. Indem Girard die romaneske Form in ihrer äußersten Reduzierung auf die Confessiones des Hl. Augustinus am Ausklang der Antike zurückgehen lässt, formuliert er gleichzeitig die romaneske Agenda als den Weg einer in die ruhelose Selbstzerrissenheit führenden Abwendung des Menschen von Gott, auf dem sich jedoch eine Bekehrung ereignet, in der dem Menschen im Licht der Hinwendung zu Gott zugleich die Selbsterkenntnis zuteil wird. Dieser Abstieg in der Perversion der Selbstsucht und der daraus abgeleiteten zwischenmenschlichen Konflikte, der sich im Fall einer gnadenhaften göttlichen Intervention in den Aufstieg der Konversion 449 und der allseitigen Versöhnung verwandelt, bildet den romanesken Prototyp, der auch Dantes Commedia als Bauform dient. Ist bei Augustinus die im mimetischen Begehren angestrebte und gescheiterte Selbstverwirklichung die notwendige Voraussetzung und Vorstufe der Selbsterkenntnis in Gott, so lässt Dante seine Francesca, 450 bevor sie in der Hölle 451 schmachtend zur Einsicht kommt, in den Sog 447 René Girard, Critique dans un souterrain, S. 147 ebenda 449 Vgl. Peter Sloterdijk, Spären I, S. 518 – 519: „Augustinus hatte mit großer psychologischer und logischer Folgerichtigkeit die Chancen der gefallenen Seelen, beim letzten Urteilsspruch zu Gott zurückgerufen zu werden, als sehr prekär beurteilt; seine Eschatologie schildert eine göttliche Ökonomie, in der nur die Wenigen aufgespart werden und heimkehren, während die meisten verloren gehen – eingebunden in den umfassenden Klumpen des Verderbens (massa perditionis). In dem bleiben die dunklen Mehrheiten befangen, die von ihrer zweiten Chance, dem Evangelium der wahren Religion, keinen guten Gebrauch zu machen wussten. Ihnen wird die Fixierung in ihrer gottfernen Eigenhölle als letzter Dauerzustand in Aussicht gestellt“. 450 Im zweiten Kreis der Hölle trifft Dante auf ein unglückliches Paar: Paolo und Francesca. Francesca war 1275 aus politischen Gründen mit Gianciotto, dem ältesten Sohn des Herrschers von Rimini, verheiratet worden, verliebte sich aber beim gemeinsamen Lesen des Ritterromans „Lanzelot vom 448 130 des mimetischen Begehren geraten, welches hier, wie so oft, sich an einer Leseerfahrung entzündet und die Girardsche Auffassung der fonction séminale 452 der Literatur, also des durch sie vermittelten und insofern degradierten Verlangens bestätigt, welches, da es weder auf direktem Weg vom Wunschobjekt ausgeht noch einen libidinalen Ursprung im Wünschenden hat, sich am vermeintlich überlegenen So-Sein des Vorbilds/Rivalen festmacht und daher als metaphysisches Verlangen bezeichnet wird. Die Überlegenheit des Vorbilds beruht darauf, dass dieses ein ‚Erstwünscher’ ist, was wiederum dieser nur in den Augen eines nachahmenden ‚Zweitwünschers’ sein kann. Da der ‚Zweitwünscher’ nicht erkennen kann, dass auch der ‚Erstwünscher’ sich in der Position eines Nachahmers befindet und er auch nicht absehen kann, dass sein nachgeahmter Wunsch seinerseits wieder einen Nachahmer auf den Plan ruft, bewegen sich die aus der Ersten Liebe Herausgefallenen in einem mimetischen Kreis und folgen den Zirkelstrukturen von Inferno, Purgatorio und Paradiso, wobei im Unterschied zum Paradies die höllischen Räume keine göttliche Mitte aufweisen und ihre Rundheit die Funktion einer Beengungsfolter hat und eine in sich zurücklaufende Aussichtslosigkeit signalisiert. Obwohl Girard darauf besteht, dass der Verweis auf Augustinus und auf Dante keine Theologisierung des romanesken Projekts bedeute, besitzt seine Phänomenologie beziehungsweise Soziologie, in der so nachdrücklich die Signifikanz der romanesken Konklusion und die Verknüpfung der Protagonisten-Umkehr mit der existenziellen Wende in der Autorenbiographie herausgestellt wird, die Konturen einer religiösen Erfahrung. Wenn er es auch nicht unternimmt, die ‚Körperschaft’ der Romanciers zu christlichen Katecheten und das Corpus der Romane zu einem fünften Evangelium zu machen, steht für ihn fest: die romaneske Erfahrung wie auch das romaneske Experiment sind nicht zu trennen von der religiösen Erfahrung und vom religiösen Lebensentwurf. Am Beispiel der Brüder Karamasof von Dostojewski formuliert er bereits in seinem ersten Werk, unter dessen literaturkritischer Oberfläche eine anthropologisch basierte Kulturtheorie am Entstehen ist, die Überzeugung, dass Roman und Religion, soweit sie in ihrer zeitlichen Dimension zu beobachten sind, nach ein und derselben Sequenz verfahren. Les dernières distinctions entre l´expérience romanesque et l´éxpérience religieuse s´abolissent. 453 Im Hinblick auf eine solche programmatische Festlegung unterläuft der Titel der deutschen Übersetzung, Figuren des Begehrens, Girards Frontstellung gegen Die Lüge der Romantik. Wir müssen, so lässt sich dieses Programm fassen, den Dichtern nicht ihre eigenen Theorien über den Menschen glauben, etwa die vom Helden oder vom großen Individuum in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Nicht in dem, was sie denken, wohl aber in dem, was sie erzählen, sind sie Erkenntnisorgane, die den argumentierenden und beweisführenden Denkern überlegen sind. Wir müssen entdecken, was sie beschreiben, nicht was sie zu beschreiben meinen. Wir müssen das erzählende und dramatisierende Verfahren zur Erkenntnisgewinnung dem deduzierenden zumindest gleichstellen. Im intuitiven Hinterfragen der Textoberfläche bei Cervantes, Flaubert, Balzac, Stendhal, vor allem See“ in dessen jüngeren Bruder Paolo. Gianciotto überraschte seine Frau in flagranti und erstach sie und ihren Liebhaber. 451 Francescas romantischer ‚amour fou’ der Selbsterlösung als gottferne Eigenhölle, zugespitzt formuliert von Peter Sloterdijk, Spären II, S. 597:„… werden wir beobachten, wie die Exkommunikation aus dem Liebesgott zu einer Auslöschung durch Internierung führen wird. Das also ist die Christenhölle: das Vernichtungslager für Dissidenten der Ersten Liebe“. 452 René Girard, Mensonge romantique, S. 13 453 René Girard, Mensonge romantique, S. 312 131 aber immer wieder bei Dostojewski und Proust richtet Girard sich seinen eigenen anthropologischen Schlüssel zu, mit dem er die romaneske Infrastruktur ohne Rücksicht auf die romantischen, phänomenologischen Details entziffert: Die zunächst auf nichts festgelegte Begierde heftet sich erst im Prozess der Nachahmung des andern an ihr Objekt und gerät ins Taumelspiel der Rivalität. Der daraus entstehende Kampf aller gegen alle wird nicht durch den Gesellschaftsvertrag im Sinne von Hobbes oder Rousseau beendet. 454 Es ist der Sündenbockmechanismus, durch den aus dem Kampf aller gegen alle die Einigung der Überlebenden und damit eine Gesellschaftsordnung entsteht, die in gesellschaftserhaltender Repetition des realen gesellschaftsstiftenden Urgeschehens immer wieder erneuert wird. Dies ist das Girardsche Urmuster einer großen anthropologischen und gesellschaftlichen Gesamttheorie, die er ausgehend von seiner Romananalyse entwickelt. Während die Voraushandlung vom mimetischen Begehren und der romantischen Ichbehauptung beherrscht wird, steht die Konklusion im Zeichen der Umkehr und der Abkehr von der individualistischen Befangenheit. Vom Anfang zum Ende verläuft nicht etwa eine kontinuierliche historische Entwicklung, sondern ein dynamischer Prozess mit eigenem Antrieb, dessen Regelmäßigkeit intertextueller Natur ist und dessen Abweichungsspielraum dem Temperament der Autoren überlassen ist. Immer ist es jedoch so, dass die finale Erleuchtung in der Retrospektive den zurückgelegten Weg erklärt und ihm Sinn verleiht. Die Handlung gewinnt dann aus der Sicht der Konklusion einen gewissermaßen nachträglichen Charakter. So wie die synoptischen Evangelien der Bibel ausgehend vom Tod und der Auferstehung Jesu Christi zu lesen und zu verstehen sind, fungiert die Romanhandlung zugleich als Erzählung und als Rechtfertigung der erzielten spirituellen Metamorphose. Die enge Berührung von Roman und Religion erschöpft sich für Girard nicht in den von den Romanciers verwendeten religiösen Metaphern und Allegorien. Wenn Lucien Goldmann von den Bekehrungen von Don Quixote oder Julien Sorel als conversions finales 455 spricht und Georg Lukács das degradierte Verlangen der Helden als dämonisch bezeichnet, handelt es sich für Girard um mehr als um literarische Strategie, er erkennt darin, und sei es im Umkehrsinn, die Struktur der christlichen Erlösung, mehr noch: die starke Vermutung einer den Roman wie die Religion transzendierenden Einheit des abendländischen Denkens. 454 Dazu Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 261 f., wo in dem Kapitel Nicht Vertrag, nicht Gewächs das Unangemessene des Gesellschaftsbegriffs darin gesehen wird, dass dieser entweder als kontraktuell nach dem Muster eines Vertrags zur Sicherung der Individualinteressen oder als organizistisch im Sinne der Integration der Teile in ein lebendiges Ganzes (Körper, Bau- oder Kunstwerk) vorverstanden und damit eine holistische Hypnose erzeugt wird. Eine derartige Überintegration, so seine Reaktion vor dem Rätsel der sozialen Synthesis, verzerrt die humanräumlichen, psychosphärischen, konspirativen und polemogenen Qualitäten des Zusammenseins… 455 Lucien Goldmann, Marx, Lukács, Girard et la sociologie du roman, Paris 1964, S. 145 132 5. Das mimetische Begehren und die kulturelle Genese Mit dem in der Literaturkritik geschmiedeten begrifflichen Werkzeug der mimetischen Analyse 456 gelangt Girard zu der doppelten Gewissheit, dass seine Interpretation trotz ihres simplen Apparats sich auf ein unvorstellbar reiches, durch verstehendes Lesen erreichbares Wissen vom Menschen stützt und dass seine mimetische Theorie sowohl der Freudschen Psychoanalyse als auch der marxistischen Sozialund Geschichtstheorie überlegen ist. Er postuliert, dass eine wahrhafte Wissenschaft vom Menschen nicht nur es sich nicht leisten kann, die großen literarischen Werke zu ignorieren, sondern dass diese Wissenschaft deren Überlegenheit gegenüber den theoretischen Abhandlungen bestätigen sollte. Es müsste dazu kommen, dass eine erneuerte Literaturkritik und eine für literarische Verfahren offene Psychotherapie Verbündete werden, anstatt dass, wie üblich, die psychoanalytischen Diagnosen den darunter liegenden mimetischen Prozess verdecken und unbehandelbar machen. Er ist überzeugt: Die mimetische Theorie ist nicht nur ein Leseraster zur Entzifferung von erzählerischen Texten; sie ist der Schlüssel für das Verständnis des menschlichen In-der-Welt-Seins, also für sein Denken und Handeln wie auch für die kollektiven Prozesse als die Vorgänge seiner zweiten Natur. Elle (l´explication mimétique, d. Verf.) se porte jusqu´au cœur de la motivation individuelle dans le champ culturel, quand les autres types d´analyse se gardent bien au contraire de s´aventurer dans ce domaine. 457 Von Augustinus über Dante, Cervantes und Shakespeare bis zu Dostojewski und Proust verkünden die großen Werke der Literatur – für Girard ist die hier gemeinte Größe genau definierbar - das Wissen um das Getriebe der seelischen Kräfte, wie sich Freud ausdrückt oder, in Schillers Diktion, das Wissen um die geheimsten Operationen der Seele, was Girard recht unbescheiden in der letztinstanzhaften Formel der romanesken Wahrheit zusammenfasst. Demnach, und das ist das Fazit der Literaturanalyse, ist das menschliche Begehren nicht authentisch, sondern mimetisch, es verläuft nicht linear, sondern triangulär, weil zwischen dem begehrenden Ich und dem begehrten Objekt immer ein Vermittler in Aktion ist. Wir begehren die Objekte nicht, weil sie von sich aus begehrenswert wären, wir begehren sie, weil der Andere, allein deshalb, weil er sie begehrt, diese Objekte begehrenswert macht oder erscheinen lässt. Nicht in jedem Fall muss der Vermittler sich in Augenhöhe mit seinem begehrenden Adepten treffen; er kann sowohl nur als Resultat seiner Einbildungskraft auf den Plan treten, als auch aus dem Untergrund des Bewusstseins heraus seine Wirkung entfalten. Dostojewskis auch in Nietzsches Augen programmatische Schrift Aufzeichnungen aus dem Kellerloch signalisiert bereits im Titel, dass die kontaminierende Wünsche-Vermittlung das Bewusstsein des Adressaten unterlaufen kann, womit der gleiche Effekt der Sichtverblendung und Täuschung erreicht wird wie bei dem in der Sprechweise Girards bevorzugten metaphysischen Verlangen. Das Kellerloch-Verlangen aus dem seelischen Untergrund entzieht sich der rationalen Erkenntnis in demselben Maß, wie das metaphysische Verlangen sie verfehlt. Weder die Nachahmung auf einen Impuls von unten, noch die auf einen Impuls von oben kann als Nachahmung begriffen werden. In beiden Fällen muss der ausgelöste Wunsch als spontan und unbedingt erlebt 456 Dieses Werkzeug wird in der Analyse von Dostojewskis Notizen aus dem Kellerloch zum Gesetz, la loi du souterrain, weiterentwickelt. Vgl. René Girard, La voix méconnue du réel, S. 210 457 René Girard, Superman in the Underground (1976), frz. Le surhomme dans le souterrain, in: ders. La Voix méconnue du réel, S. 140 133 werden und dem Wünschenden als Garant seiner Identität dienen. Das romantische und sich im Begehren allein wähnende Ich weiß nicht und darf nicht wissen, dass sein Wollen auf einer Täuschung beruht. Zur Lösung der mimetischen Rivalität mit dem Vermittler, die aus einem solchen Begehren entsteht und unvermeidlich sowohl zu intersubjektiven Konflikten als auch zu innerer Zerrissenheit führt, welche angesichts der Unüberwindlichkeit der Grenze zum Anderen zu pathologischen, das heißt schizophrenen, depressiven und manischen Reaktionen führt, bietet sich die romaneske Konklusion des letzten luziden Moments, und im Licht dieser Konklusion und ihrer Voraushandlung weist die romaneske Trajektorie von descente und ascension eine unverkennbare Nähe auf zur religiösen Erfahrung eines Heilswegs, der aus der kreatürlichen Verfallenheit zur erlösenden Umkehr führt und bei dem der Vermittler aufgrund seiner transzendenten Position über jeden Neid- und Eifersuchtsverdacht erhaben ist. Wenn Girards mimetische Theorie mehr sein soll als eine grille de lecture, muss sie ihre Gültigkeit außerhalb der literarischen Erzähltexte beweisen, das heißt, ihre Aussagen müssen den Vergleich aufnehmen mit denen der Ethnologie, der Verhaltensforschung, der Anthroprologie; sie müssen sich ihrer empirischen, natürlichen und animalischen Basis versichern. Die größte Gefahr, die die menschlichen Gesellschaften bedroht und die nicht von außen kommt, sondern von innen her das geordnete Zusammensein periodisch in Frage stellt, besteht darin, dass die mimetischen Konflikte gewaltsame Formen annehmen und dass das Austragen dieser Konflikte eine unbeherrschbare Kettenreaktion auslöst. Ähnlich wie in der Literaturanalyse erweist sich auch hier der Erklärungsansatz des mimetischen Verlangens, wenn die begehrten Güter sich als unteilbar oder unaufteilbar erweisen, als überlegen gegenüber der Annahme, dass die in einer Gesellschaft auftretenden zerstörerischen Kräfte einem von der Natur mitgegebenen Todes- oder Aggressionstrieb beziehungsweise dem Befreiungsdrang von unterdrückten Individuen oder Klassen verpflichtet wären. Girard ist überzeugt: Jenseits der elementaren, vom puren Stoffwechsel diktierten Bedürfnisse gibt es im Motivrepertoire des Begehrens nur eine einzige, unabdingbare und unableitbare Verhaltenskonstante. Und diese auf animalischer Basis gründende anthropologische Verhaltenskonstante ist das Bedürfnis oder genauer: die Unwiderstehlichkeit der Nachahmung, welche für den Einzelnen wie für die Gruppe ebenso überlebenswichtig wie konfliktträchtig ist. Überlebenswichtig ist die Nachahmung als Motor des individuellen Lernens und der kulturellen Tradierung; konfliktträchtig ist sie dort, wo, wie in der Literaturbetrachtung belegt, ein Verlangen nachgeahmt wird und im unvermeidlichen Zusammenstoß konkurrierender Desideranten gewaltsame Einsätze zu katastrophischen Lösungen führen. Die Gesellschaften sind den zerstörerischen Auswirkungen der gewaltsamen Einsätze und der grassierenden mimetischen Kontamination jedoch nicht hilflos. ausgeliefert. Es gibt zwei Möglichkeiten, mehr – vorerst - nicht, um die vom mimetischen Begehren in Bewegung gesetzte Spirale der Gewalt zu stoppen. Die erste, seit Beginn der Welt – depuis la fondation du monde - von allen Kulturen praktizierte, homöopathische Strategie besteht in der Verabreichung einer kalkulierten und streng lokalisierten Gewaltdosis, mit der die böse Gewalt symbolisch abgesättigt und das Übergreifen der unkontrollierten Gewalt auf den Gesellschaftskörper verhindert werden soll. Es ist dies die unter politisch-kultischer 134 Aufsicht getätigte Wiederholung eines Lynchmords, ersatzweise die Tötung eines prestigehaltigen Opfertiers, weil man sich daran erinnert, dass es einmal ein gemeinschaftlich begangener Mord gewesen war, der wie ein Schock gewirkt hatte und mit einem Schlag den gruppeninternen Streit beendet und den bedrohten Frieden wiederhergestellt hatte. Also weiß man seitdem, dass es eine Art Gewalt abführendes Mittel gibt, mit der man die Gewalt gewissermaßen hinters Licht führen und unschädlich machen kann. Eine ähnliche kathartische Purgierung kann möglicherweise auch erzielt werden, wenn statt des Blutvergießens jemand durch einstimmigen Beschluss aus der Gruppe ausgeschlossen oder seine Marginalität oder Asozialität auf andere Weise markiert wird. Wenn dieser reinigende Ausschluss an einem Tier vollstreckt wird, ist dies ein Sündenbock, ein Tier, das ökonomisch betrachtet weniger wertvoll ist als ein Schaf und das überdies niemand ‚riechen’ kann. Die zweite Möglichkeit, die in der langen Geschichte der Menschheit immer wieder reflektiert, manchmal erprobt aber bis heute nicht realisiert wurde, besteht schlicht und einfach im Verzicht auf die Anwendung von Gewalt einschließlich der Opfergewalt mit ihren sämtlichen Metamorphosen. Dies bedeutet a fortiori den Verzicht auf das mimetische Begehren, den Verzicht darauf, im Nächsten den Rivalen zu sehen und sich als Rivalen des Nächsten zu gebärden. Und dieser Verzicht wäre gleichzeitig die Einladung, beispielsweise in einer imitatio Christi als eines transzendenten und nicht konkurrierenden Vermittlers den Nahestehenden als Nächsten anzunehmen wie sich selbst und ihn aus dem mimetischen Bann zu entlassen. Das Wissen um die gewalteindämmende Wirkung des ersten Mordes wird konserviert in den religiösen Riten, die daher in ihrem Wesen Tötungs- und Opferriten sind. Da die Religionen die anfänglichen Institutionen sind, aus denen die Kulturen hervorgehen, ist eine Theorie der Religion zugleich eine Theorie der kulturellen Genese und die Vorstellung vom Entstehen einer Religion und der Funktion ihrer Riten zugleich die Überlegung zu einer allgemeinen und fundamentalen Anthropologie. Obwohl die Kultur diesen einen Ursprung hat, ist es angezeigt, von verschiedenen Kulturen und nicht von einer einzigen zu sprechen, weil es zwangsläufig so viele Kulturen gibt, wie es Interpretationen sowie Verarbeitungs- und Verfestigungsformen des ersten Mordes und seiner rituellen, das heißt sakrifiziellen Wiederholung gibt. Der Ritus, in dem in einer peinlich genauen Nachahmung das erste Mal des friedenstiftenden Mords wiederholt wird, ist gültig und wirksam, wenn und nur dann wenn die Menschen, die ihn begehen, sich hinsichtlich des Aufkommmens der mimetischen Krise und ihrer gewaltsamen Auflösung täuschen. Der Ritus erfüllt nämlich nur dann seinen Zweck, wenn die Beteiligten daran glauben, dass das geopferte Wesen, ein Mensch oder ein Substitut, für beides haftbar zu machen ist: für das Ausbrechen der Krise im Innern der Gruppe und für das Beilegen dieser Krise. Dieses Wesen ist also alleinschuldig an der Störung der Ordnung, und ihm allein verdankt die Gruppe die Wiederherstellung der Ordnung. Nur dann, wenn es von der Gruppe für alleinursächlich gehalten wird sowohl für das ihr zugefügte Trauma als auch für die Heilung von eben diesem Trauma, kann es die Doppelfunktion ausüben, wie sie in dem Begriff des sacré zum Ausdruck kommt, der für beide Deutungen offen ist, für die des Unheilvollen und für die des Heilsamen und Heiligen. Sollten die Menschen in der Gruppe bezweifeln, dass das zu opfernde 135 Wesen für das Aufkommen der mimetischen Krise zu belangen ist, würde dieser Gruppe die für die Exekution des Opfers erforderliche Einmütigkeit fehlen; folglich könnte diesem Wesen nach seiner Opferung auch nicht die Verehrung und der Dank für den durch seine Tötung zurückgebrachten inneren Frieden entgegengebracht werden. Die Menschen müssen sich also täuschen über die wahre Natur des Opferwesens. Dieses muss immer, das heißt auch in jeder rituellen Wiederholung, als schuldig gelten; es muss immer in der Rolle des Sündenbocks erscheinen, dessen einmütige Vertreibung beziehungsweise Opferung die Kohäsion der Gruppe erneuert und dessen Verehrung als göttliches Wesen sich gleichzeitig als Dank für den erwiesenen Gottes- und Friedensdienst und als Bitte um Friedenserhaltung äußert. Die verschiedenen Opfersysteme, deren rituelle Wirksamkeit Aufgabe der Religionen und der kulturellen Institutionen ist, verhalten sich nicht anders als die romanesken Texte. Sie unterscheiden sich nicht darin, dass die mimetische Krise und ihre Lösung einen je anderen Verlauf nehmen. Sie unterscheiden sich darin und sehen darin ihre Originalität, dass es verschiedene Interpretationen für das krisenauslösende Moment, also der Sündenbockrolle, und verschiedenene Interpretationen für die das krisenbewältigende Element, also der Verhimmelung des geopferten Retters gibt. Die Unterschiede lassen sich reduzieren sich auf die Frage, wer oder was von wem aus welchem Anlass und auf welche Weise zur Opferung bestimmt sowie auf die Frage, in welchen kultischen Formen das Gedenken an die wundertätige Wiederherstellung der Ordnung begangen und wachgehalten wird. Der erste Mord, den die Theorie von der Erhaltung der Gesellschaft durch Einsatz religiös dosierter Gewalt voraussetzt, ist empirisch nicht nachweisbar. Er lässt sich hypothetisch rekonstruieren aus der Analyse eines umfangreichen ethnologischen Materials und von mythischen sowie biblischen Texten, in deren Verlauf Girard die in dem literaturkritischen Essay gewonnene Entdeckung des désir mimétique und der romanesken conclusion auf die soziodramatische Ebene überträgt. Dabei macht er wahr, was in Mensonge romantique unübersehbar war, dass für ihn die Literaturanalyse umweglos Kulturanalyse ist und dass sich in den Bauformen und Entstehungsbedingungen eines erzählenden Textes die Bauformen und Kohärenzbedingungen einer Gesellschaft abzeichnen und darstellen lassen. Wie das nachahmende Begehren die Sequenz des romanesken Textes regiert, ist es im kulturellen Prozess die Liminalität oder das Trauma des ursprünglichen Chaos, in dem sich jeder gegen jeden wendet, das durch das viktimäre Umschlagen, in dem sich alle gegen einen zusammenrotten, unterbunden wird und wo schließlich eine durch die auf die konkludierende Opferung folgende Heiligung dieses Einen ein Zustand gefunden wird, in dem alle im Glauben an den geopferten Einen eine versöhnte Gemeinschaft bilden, die es mit kulturellen, kultischen und den daraus abgeleiteten institutionellen Mitteln auf Dauer zu stellen gilt. Hängt somit die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung von der Zuverlässigkeit des Opferkults ab, gilt für den Zustand, in dem sich die Gruppe vor dem Aufkommen des Opferwesens befindet, dass er unbefriedet, chaotisch und von der Art ist, dass das Überleben der Gruppe zur Disposition steht. Wie die Theorie des Gesellschaftsvertrags von der logischen Annahme ausgeht, dass der Naturzustand ein Kriegszustand als Folge der Gleichheit der Menschen ist und dass zur Zähmung der Leidenschaften der Menschen dieser Naturzustand durch eine allgemeine und absolute Gewalt überwunden werden muss, welcher die 136 Menschen im wohlverstandenen Eigeninteresse ihre Eigengewalt übertragen, steht auch am Anfang der Girardschen Sequenz der kulturellen Genese eine von Gewalt und Rivalität beherrschte Welt ohne Hierarchie und ohne soziale Differenzierung. In Analogie zu dem romanesken Projekt, in dem die Nachahmung des Begehrens mit quasi mechanischer Folgerichtigkeit zu inter- und intrasubjektiven Konflikten führt und die mimetische Krise erzeugt, die bei günstigem Ausgang auf die lösende Konklusion zusteuert, provoziert in den primitiven Gesellschaften die Nachahmung, wenn sie nicht der bloßen Repräsentation dient, sondern sich mit dem Begehren des Nächsten kreuzt, eine kritische Situation, in der innerhalb der Gleichen jeder von jedem bedroht ist und in der die rettende Konklusion in dem Opfer besteht, das die Differenz wieder einführt, auf das und über dem sich die Gruppe verständigt nach dem Verfahren: il y a le jeu d´une violence réelle, d´une violence réciproque conclue par le meurtre unanime de la victime émissaire. 458 Auffindbar ist die Spur der durch Verlangensnachahmung ausgelösten violence réciproque sowohl in der Verhaltensforschung als auch in der Ethnologie. Im Unterschied zu dem von Konrad Lorenz attestierten und von Sigmund Freud bereits formulierten, spontanen Aggressionstrieb,459 ist es die Aneignungsmimesis, die sowohl in den tierischen wie in den primitiven menschlichen Gruppen zu Rivalitätskonflikten führt. Bei den höher entwickelten Säugetieren, insbesonders bei Menschenaffen, den Meistern im ‚Nachäffen’, sind die Elemente des mimetischen Konflikts inklusive seiner Lösung unschwer beobachtbar. Befinden sich mehrere Tiere in einem gegebenen Revier, bildet sich beim ersten Konflikt, wenn ein gemeinsames Wunschobjekt in Form einer Beute oder eines Sexualpartners zur Disposition steht, eine Rangordnung in Form von dominance patterns heraus mit der Folge, dass nach und nach der schwächere Kontrahent gegenüber dem stärkeren zurücktritt. Diese Rangordnung bleibt auch dann in Geltung und wird von allen beachtet wird, wenn kein Wunschobjekt im Spiel ist, das alle interessieren könnte. Es trifft also nicht zu, wie Lorenz vermutet, dass die Rangordnung das Resultat einer spontanen Aggression, eines so genannten Bösen mit positiven Auswirkungen ist. Diese Ordnung entspringt einem Konflikt, und dieser wiederum entsteht aus dem Verlangen, das auf das Objekt der Aneignung gerichtete Begehren nachzuahmen. Die Stabilität der Gruppe beruht auf der Summe der Demutsbezeugungen, mit denen die jeweils Schwächeren auf die Imponier- und Drohgebärden der Stärkeren antworten, also einerseits auf Unterwerfung und endgültigen Verzicht der Vielen: L´individu qui cède le premier cédera toujours désormais 460, und andererseits auf der Kür eines Einzelnen an der Spitze der Rangordnung, den die Vielen in allem nachahmen, ausgenommen im Begehren von Aneignungsdingen. Und diese kampflos erreichte Stabilität genügt auch größeren Herausforderungen: Les animaux dominés se laissent mourir de faim plutôt que de disputer leur nourriture aux animaux dominants. 461 Obwohl der Aneignungskonflikt der Artgenossen mit den zur Verfügung stehenden gewaltsamen Mitteln ausgetragen werden könnte und die physischen Voraussetzungen für ein Massaker gegeben sind, das im denkbar äußersten Fall die Selbstauslöschung der Gruppe zur Folge hat, fungiert der Konflikt, 458 René Girard, La Violence et le Sacré, S. 156 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 77-78: „Gerade die Einsicht, dass der Aggressionstrieb ein echter, primär arterhaltender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen: die Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht.[…] Freud darf den Ruhm für sich beanspruchen, die Aggression erstmalig in ihrer Eigenständigkeit erkannt zu haben…“. 460 René Girard, Des choses cachées, S. 99 461 René Girard, Des choses cachées, S. 98-99 459 137 der als Analogie zur mimetischen Krise des Romans vorgestellt werden kann, anstatt den Kampf aller gegen alle auszulösen, geradezu als Katalysator für dessen friedliche Beilegung. Die Mimesis ist ausgetrieben aus dem Aneignungskampf und wendet sich dem stärksten Gruppenmitglied zu, welches die Kohäsion der Sozietät garantiert. Diese Garantie besteht einerseits in der ‚Berufung’ des Chefs auf die dominance patterns, andererseits und vor allem darin, dass alle ihn nachahmen, wenn er bei einem Konflikt mit Artfremden, bei der Verteidigung des Reviers oder beim Versuch, Beute zu machen, als erster angreift oder flieht. Fazit: Die primäre gegenseitige Imitation, in der jeder das Begehren eines jeden nachahmt und die daher alle Voraussetzungen für einen internen kollektiven Gewaltausbruch erfüllt, verwandelt sich auf dem Höhepunkt der Krise in eine sekundäre Imitation, in der einer von allen anderen nachgeahmt wird, dem die Gruppe ihren Frieden und ihre Stabilität verdankt. Auf Dauer gestellt ist dieser geordnete Zustand allerdings nicht, denn die Rangordnung hält sowohl Aufstiegs- als auch Abstiegsmöglichkeiten parat, und das Kräfteverhältnis innerhalb der Gruppe wird im Lauf der Generationen und der periodisch ausgetragenen Konflikte immer wieder neu justiert. Der primäre Mimetismus 462 im Rahmen des tierischen, vom Bedürfnis diktierten Aneignungsverlangens schaltet a priori jede Art von Bewusstsein und Reflexion aus. Ebenso lässt sich im Experiment mit spielenden Kindern, denen man jeweils das gleiche Spielzeug gibt, beobachten, dass sie ohne einen sächlichen Grund in einen Verteilungsstreit geraten – bei Erwachsenen verhindern kulturelle Institutionen wie Erziehung, Höflichkeit oder das Strafgesetz den Ausbruch von offenem Streit - und dass dieser Konflikt seine Erklärung nicht in einem strittigen Objekt finden kann, auch nicht, im Gegensatz zu der marxistichen oder Freudschen Grundannahme, in einer Situation der Unterdrückung beziehungsweise der Auflehnung gegen ein libidofeindliches Gesetz oder gegen einen repressiven Vater. Mettez un certain nombre de jouets, tous identiques, dans une pièce vide, en compagnie du même nombre d´enfants: il y a de fortes chances que la distribution ne se fasse pas sans querelles. 463 Die ethnographische und auch mythologische Analogie der mimetischen Krise, vor allem die Sequenz des Umschlagens der primären und konfliktträchtigen Aneignungsmimesis in eine hierarchiestützende Nachahmung und in die Herausbildung einer sozialen Ordnung ist das Hauptanliegen von Das Heilige und die Gewalt, 464 dessen französischer Titel, indem er den sequenziellen Charakter der Soziogenese zum Ausdruck bringen will, mit innerer Folgerichtigkeit als La Violence et le sacré den Weg der vorstaatlichen Gesellschaften aus der herrschenden oder drohenden Gefahr zu der religiös gefassten Ordnung wiedergibt. Die in der Analyse der fiktionalen Realität am Beispiel des Romancorpus gemachten Entdeckungen werden übertragen auf das Corpus der ethnographischen Befunde und das Corpus der in den griechischen Tragödien konservierten Mythen. Die von der primären Nachahmung ausgehende und sich über das metaphysische Begehren des rivalisierenden Seinwollens verschärfende mimetische Krise und ihre Konklusion werden dabei nicht nur soziologisch abgebildet oder verifiziert. Die in der Literaturanalyse ausgearbeiteten Schlüsselbegriffe werden umgearbeitet zu 462 René Girard, Des choses cachées, S. 314 : « Comme toujours, il faut remonter à ce qu´on pourrait appeler le mimétisme primaire ». 463 René Girard, Des choses cachées, S. 17 464 René Girard. Das Heilige und die Gewalt (Übers.), Zürich 1987 138 Vielzweckinstrumenten, die Girard in die Lage versetzen, eine allgemeine Anthropologie und damit eine Kulturtheorie zu begründen. Beim Studium der herangezogenen Quellen findet Girard nicht nur seine thematischen und methodischen Prämissen bestätigt; er scheint geradezu überrascht zu sein vom Reichtum und der vielseitigen Verwendbarkeit seiner Funde und damit vom Integrationsvermögen seiner Hypothese, mit anderen Worten, davon, dass alle möglichen Konflikte sich auf sein Schema des mimetischen Begehrens reduzieren und sich mit ihm frei legen lassen: Le schéma proposé ici dégage une source inépuisable de conflits. 465 Und er ist von der Richtigkeit seiner Hypothese in einem Maße ergriffen, dass er den vollen Umfang ihrer Anwendungsmöglichkeiten noch gar nicht fassen kann und überwältigt davon sich eingestehen muss: Les analogies donnent le vertige par leur nombre et leur exactitude.466 Dass die Vorstellung von den mimetisch gesteuerten Aktionen und Reaktionen mitsamt ihren Konsequenzen sich zu einer Kulturtheorie entfalten lässt und dass diese Theorie über den Anschauungsmodus hinaus sich als anschlussfähig auch für außerliterarische Funktionsanalysen erweist, zeigt sich an Spezialuntersuchungen, die den mimetischen Mechanismus in autopoietischen und endogenetischen Prozessen neben der Soziologie auch in der Biologie und der Ökonomie am Werk sehen. Gesellschaft, im Lichte dieser Theorie betrachtet, hat demnach weder einen – platonischen - ontologischen Ort, der ihrem Heraufkommen präexistiert, noch kommt sie zustande aus der Einsicht der Zusammenlebenden, dass es vorteilhaft wäre, ihrer Kohabitation eine vertragliche Grundlage zu geben. Sie entsteht vielmehr als Resultat einer Krise in dem Moment ihrer Überwindung, und der Moment der Überwindung tritt ein, wenn die mimetisch aufgeladene reziproke Gewalt aller gegen alle sich plötzlich auf ein willkürlich ausgewähltes Opfer stürzt und zur Ruhe kommt. So willkürlich die Wahl des einigenden Opfers ist, dessen Tötung die gesellschaftliche Ordnung hervorbringt, so willkürlich sind die Objekte, von denen aus die Kollektive ihre systemerhaltenden Asymmetrien aufbauen, ihre Differenzen errichten und auch ihre Ökonomien sich organisieren. Es ist dieser Mechanismus, den der Girard-Schüler treffend mit physique des cultures 467 bezeichnet, der dem sozialen Wesen seine Autonomie und seine Selbststeuerung verleiht, zugleich aber auch signalisiert, dass dieser Prozess unkontrollierbar ist, gleichgültig gegen Partikularinteressen und keiner Zielsetzung verpflichtet. In Resonanz zu dem von der Biologie 468 erklärten Übergang vom Einfachen zum Komplexen sowie von der Undifferenziertheit zur Differenz deutet Girard den Weg von der sakrifiziellen Krise zur Neubegründung der gesellschaftlichen Ordnung. Auch in der ökonomischen Anwendung 469 bedeutet dies, dass eine Marktordnung auf ebenso natürliche, das heißt unbeabsichtigte und sich selbst steuernde Weise zustande kommt, ohne dass weder ein Ausgangs- noch ein Zielzustand definiert sind. Wie ein Mangel entsteht, ein Preis sich bildet oder ein Aktienkurs sich herausstellt, wie eine Mode sich durchsetzt oder Kaufinteresse sich äußert, hat mit festen Vorstellungen von einem Wert oder einem Bedarf nichts zu tun. Die am Markt Beteiligten sind keine Interessensatome; sie sind Beziehungswesen, welche ihre 465 René Girard, La Violence et le sacré, S. 235 René Girard, La Violence et le sacré, S. 402 467 François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, S. 176 468 Vgl. Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée. Essai sur l´organisation du vivant, Paris 1979, 469 Vgl. Paul Dumouchel et Jean-Pierre Dupuy, L´enfer des choses : René Girard et la logique de l´économie, Paris 1979, sowie M. Aglietta et A. Orléan, La violence de la monnaie, Paris 1982 466 139 Wunschobjekte begehren, weil diese von anderen besessen oder begehrt werden und weil die anderen sich dadurch an etwas erfreuen können, was man selbst am liebsten auf dieser Welt haben möchte. Welche ökonomische Konfiguration als Markt sich auf der Folie dieses trangulären Dauerkonflikts in der nicht fixierbaren Gestalt einer Dauerbewegung einspielt, hängt trotz wirtschaftspolitischer Interventionen allein von der mimetischen Logik ab, und die Tatsache, dass die ökonomischen Rivalitäten punktuell lösbar sind, ist dem Einsatz eines Mittlers in der Gestalt des Geldes zu verdanken, welches die sakrale Rolle dessen übernimmt, der als die Instanz qui contient la violence die reziproke Gewalt eindämmt, auf sich zieht und speichert. Wie der geldvermittelte Friedensschluss zwischen den Rivalen, da er diesen Zustand bewirbt und so das Begehren der Umstehenden provoziert, für die Prekarität eines ökonomischen Gleichgewichts steht, lassen sich mittels der mimetischen Theorie, versucht man sie im Sinne Girard zu generalisieren, im Prinzip alle kulturellen Gleichgewichtsillusionen als solche beschreiben beziehungsweise auf die momentane und relative Größe zurückrechnen, die ihnen im Prozess des mimetischen Konflikts zukommt. Wenn es zutrifft, dass im Begehrenskonflikt die Verlierer beziehungsweise die sich als Verlierer Fühlenden oder vom Verlust Bedrohten für die Gesellschaft die perverse Funktion erfüllen, die Angst zu produzieren, zu den Verlierern zu gehören, ist die Jagd auf positionelle Geltungsgüter eröffnet und hat immer schon begonnen. Solche Geltungsgüter sind dann nicht nur die zum persönlichen Konsum bestimmten Produkte, auch im Kunstschaffen, in der Forschung, in der technischen Realisierung und in der philosophischen Theoriebildung sind die Neiddreiecke in der Form von Neidreaktoren aktiv. Aus diesen Reaktoren speist sich die Bewegungsenergie, die die nachständischen Gesellschaften ständig in Unruhe versetzt und die sowohl den innerstaatlichen Streit um die sozialen Forderungen mitsamt den gegenläufigen Tendenzen lesbar macht als auch den globalen Phänomenen des Terrorismus sowie des auch kriegerischen Kampfs um Hegemonien und Ressourcen ihre trianguläre Dimension verleiht. Ohne zwischen dem Künstler, dem Forscher und dem Terroristen in unzulässiger Vereinfachung eine Gesinnungsgemeinschaft zu suggerieren, lässt sich doch die mimetische Diagnose stellen: Das endliche Subjekt begehrt das endliche Objekt, weil es der tendenziell unendlich Andere auch begehrt und der Andere ist Rivale, weil er Modell ist, und Modell, weil er Rivale ist. Je mehr Respekt das Subjekt dem Anderen entgegenbringt, desto mehr hasst es ihn, und je mehr das Subjekt ihn hasst, desto mehr respektiert es ihn. Und ferner: Die Güter haben keinen gesellschaftlichen Wert in Form von Nützlichkeit an sich, auch keinen reinen Zeichenwert, wertvoll ist das endliche Objekt, das von tendenziell unendlich vielen Rivalen begehrt wird. Bleibt noch die Feststellung, dass das Geldopfer seinen Opfercharakter nicht erkennt, dass ein mythischer Schleier seinen gewaltsamen Kern verhüllt und dass die friedenstiftende Wirkung dieses Vorgangs mit seiner ‚unsichtbaren Hand’ gerade auf seinem Verkennen und auf der Annahme der Unverantwortlichkeit der Akteure beruht. Nicht nur der reale kulturelle Prozess, sondern auch seine erzählerische Verarbeitung macht die Akteure glauben, ihre Motive seien authentisch und originell. Der vom mimetischen Begehren ausgelöste und in Gang gehaltene Mechanismus wird nicht durchschaut: Im Mythos erscheint die Krise wie ein Schauspiel, das der Gott mit den Menschen veranstaltet hat. 470 470 Paul Dumouchel et Jean-Pierre Dupuy, Die Hölle der Dinge (Übers.), Wien u. a. 1999, S. 221 140 6. Die Girardsche Sequenz und der Hominisationsprozess Girard nimmt sich vor, die Hominisation, verstanden als die Herausbildung eines Horden-Ego und Eroberung einer technisch-magischen Zone inmitten eines Naturmeers, von der Aneignungsmimesis und den von ihr erzeugten Konflikten her zu denken und in dieser Denkbewegung nichts weniger als die Wahrheit der zwischenmenschlichen Beziehungen zu enthülllen sowie das Geheimnis der sozialen Kohäsion zu lüften, also den starken Grund des Zusammenseins 471 auf den Begriff zu bringen. Das von ihm zusammengetragene, umfangreiche ethnologische und mythologische Material wird in ähnlicher Weise wie beim Studium der fiktiven Erzählungen einer scheinbar induzierenden lecture mimétique unterzogen. Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass Girard sich seit seiner frühen Formulierung der romanesken Sequenz im Besitz einer Wahrheit weiß, die von nun an nicht mehr von neuem zu begründen, deren Gültigkeit vielmehr nur noch durch weitere Anwendungen zu erhärten und zum Leuchten zu bringen wäre. Er verhält sich als multidisziplinärer Forscher wie der von Roberto Calasso aus dem Spruch des Archilochos, einem Dichter des 7. Jahrhunderts v. Chr., zitierte Igel, von dem es heißt: Der Fuchs weiß viele Dinge, der Igel dagegen weiß nur eine einzige große Sache. Und Girard, so Calasso, ist einer der letzten überlebenden ‚Igel’, 472 der seiner Sache so sicher ist wie das – in einem bekannten Ostermärchen - stets obsiegende und die Täuschung einer mimetischen Doppelung nutzende Stacheltier im Wettlauf mit dem sich an den Dingen abarbeitenden Hasen. Die knappste Formulierung dieser einzigen großen Sache – in Wirklichkeit sind es zwei: le désir mimétique und le bouc émissaire - entlehnt Girard einem Essay von Roger Caillois, 473 wo dieser in Weiterführung der These von der kulturstiftenden Funktion des Spiels nach Johan Huizinga 474 die Spiele von Kindern und Erwachsenen untersucht und klassifiziert. Indem er die Reihenfolge der von Caillois analysierten Spieltypen manipuliert, erhält Girard eine aus vier Hauptmomenten zusammengesetzte Sequenz, die auf verblüffende Weise dem Verfahren der Girardschen Hominisation entspricht, wie es nach allem, was die Mythen und ethnologischen Befunde erschließen lassen, ein erstes Mal sich ereignet haben muss und seitdem rituell nachvollzogen und in mythischer und religiöser Abblendung tradiert wird. Die von Caillois erstellte Abfolge von Agôn, Alea, Mimicry und Ilynx wird, um der Serialisierung des Gründungsprozesses zu entsprechen, umgestellt und lautet nun: Mimicry, Agôn, Ilynx und Alea. Und so ist sich Girard sicher: C´est exactement la même genèse, en somme, que dans tous les exemples analysés par nous. 475 Der vorkulturelle Urzustand ist gekennzeichnet durch das Fehlen von Kennzeichnung. Es ist der Zustand der Entdifferenzierung, des Chaos, der 471 Vgl. Peter Sloterdijk, Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, Frankfurt/M 1998 472 Roberto Calasso, La rovina di Kasch (1983), dt. Der Untergang von Kasch, Frankfurt/M 2002, S. 190 473 Roger Caillois, Les jeux et les hommes, Paris 1958 474 Johan Huizinga, Homo Ludens (1938), frz. Paris 1951, S. 57 – 58 : « Le jeu est une action ou une activité volontaire, accomplie dans certaines limites fixées de temps et de lieu, suivant un règle librement consentie, mais complètement impérieuse, pourvue d´une fin en soi, accompagnée d´un sentiment de tension et de joie, et d´une conscience d´être autrement que dans la vie courante ». 475 René Girard, Des choses cachées, S. 110 141 Doppelgänger, der Gespenster, der ansteckenden und halluzinierenden, quasi animalischen Nachahmung von Gebärden und Verkleidungen, und es gibt kein Entrinnen aus der Weg- und Orientierungslosigkeit. Nach einer panikerregenden Formel gilt: In-der-Welt-Sein heißt In-der-Gewalt-Sein: Mimicry: Tout jeu suppose l´acceptation temporaire, sinon d´une illusion (encore que ce dernier mot ne signifie pas autre chose qu´entrée en jeu: in-lusio), du moins d´un univers clos, conventionnel et, à certains égards, fictif). [...] On se trouve alors en face d´une série variée de manifestations qui ont pour caractère commun de reposer sur le fait que le sujet joue à croire, à se faire croire ou à faire croire aux autres qu´il est un autre que lui-même. Il oublie, déguise, dépouille passagèrement sa personnalité pour en feindre une autre. Je choisis de désigner ces manifestations par le terme de mimicry, qui nomme en anglais le mimétisme, notamment des insectes, afin de souligner la nature fondamentale et élémentaire, quasi organique, de l´impulsion qui les suscite. 476 Das kompetitive Gegeneinander verschärft sich, aus den Nachahmungsspielen werden Wett- oder Kampfspiele wie Laufen, Springen, Werfen, Ringen, Boxen. Sie entsprechen dem Kampf zwischen den doubles: Agôn: Tout un groupe de jeux apparaît comme compétition, c´est-à-dire comme un combat où l´égalité des chances est artificiellement créée pour que les antagonistes s´affrontent dans des conditions idéales, susceptibles de donner une valeur précise et incontestable. Il s´agit donc chaque fois d´une rivalité qui porte sur une seule qualité (rapidité, endurance, vigueur, mémoire, adresse, ingéniosité, etc.), s´exerçant dans des limites définies et sans aucun recours extérieur, de telle façon que le gagnant apparaisse comme le meilleur dans une certaine catégorie d´exploits. 477 Auf dem Höhepunkt der Krise wird, da eine Intervention durch eine äußere Instanz nicht erfolgt, aus der nicht aufhaltbaren und weiter um sich greifenden Rivalität aller mit allen ein Zustand der Panik, verbunden mit einer allgemeinen Besinnungslosigkeit und Bewusstseinstrübung. Caillois bezeichnet das Taumelspiel mit dem griechischen Wort ilinx. Dieses Spiel entspricht dem halluzinatorischen Paroxysmus der mimetischen Krise: Ilynx: Une dernière (nach Caillois, d. Verf.) espèce de jeux rassemble ceux qui reposent sur la poursuite du vertige et qui consistent en une tentative de détruire pour un instant la stabilité de la perception et d´infliger à la conscience lucide une sorte de panique voluptueuse. Dans tous les cas, il s´agit d´accéder à une sorte de spasme, de transe ou d´étourdissement qui anéantit la réalité avec une souveraine brusquerie. 478 Die Krise wird schließlich beendet entweder dadurch, dass die Spiel-Gemeinschaft kollabiert und zerbricht oder dadurch, dass ein Heilmittel gefunden wird. Das Therapeutikum, Pharmakon oder Apotropaion ist verfügbar, wenn aus dem Kampf aller gegen alle ein Sieger hervorgeht. Im Zufallsspiel, welches der Lösung im Opfer entspricht und wo der Unterlegene sich einfach nur dadurch ausweist, dass er das kürzere Ende des verdeckt dargebotenen Strohhalms zieht, wird der Sieger 476 Roger Caillois, Les jeux, S. 39 Roger Caillois, Les jeux, S. 30 478 Roger Caillois, Les jeux, S. 45 477 142 wahrgenommen wie ein vom Schicksal Erwählter, er ist in den Augen der Gemeinschaft eine sakrale Erscheinung und wird als Friedensstifter gefeiert und als die heimsuchende Erscheinung des Sakralen verehrt. Auch im Losentscheid polarisieren sich die positiven wie negativen Bedeutungen des Sakralen auf den Erwählten. Wer beim Verteilen des Dreikönigsskuchens die eingebackene Bohne, la fève du roi, erhält, hat einerseits Spaß und Hohn über sich ergehen zu lassen, andererseits thront er über der Gruppe, transzendiert sie in einer scherzhaften MiniSakralisierung als ihr König. Alea: C´est en latin le nom du jeu de dés. Je l´emprunte ici pour désigner tous jeux fondés, à l´exact opposé de l´agôn, sur une décision qui ne dépend pas du joueur, sur laquelle il ne saurait avoir la moindre prise, et où il s´agit par conséquent de gagner bien moins sur un adversaire que sur le destin. Pour mieux dire, le destin est le seul artisan de victoire et celle-ci, quand il y a rivalité, signifie exclusivement que le vainqueuer a été plus favorisé par le sort que le vaincu. 479 Obwohl Caillois jedes der Spiele 480, für die er Belege in allen Kulturen sammelt, für sich betrachtet und ihr Fortleben in unendlich vielen Variationen gerade auch in der rational organisierten modernen Gesellschaft nachweist, um sie unter der Ordnung stiftendenden Klasse der agôn/alea-Spiele oder der die Ordnung bedrohende Klasse der mimicry/ilynx-Spiele zu rubrizieren, sie also nicht wie Girard zu einer soziodramatischen Verkettung bringt, sind seine Beobachtungen insofern hilfreich für die Rekonstruktion einer Soziogenese, als die Spiele ein eigenständiges und Grenzen überschreitendes Kulturphänomen darstellen, das weder Text noch Ritual ist und weder mit rein anthropologischen noch rein ethnologischen Kategorien erfasst werden kann. Auch bei Caillois, der zahlreiche Beispiele aus dem tierischen Verhalten 481 heranzieht, wird das In-das-Spiel-Kommen, vergleichbar dem in-lusionären Auftakt vermittels des angehimmelten Rhetoriker-Stars beim jungen Augustinus oder vermittels der Lichtgestalt des Amadis bei Don Quixote durch die Mimesis, beziehungsweise mimicry erklärt. Einmal in Gang gekommen – in der Fußballsprache: nach dem Anpfiff durch einen Dritten oder, wenn sich kein solcher findet, nach dem 1:0 -, wird das Spiel durch einen eigenen Mechanismus vorangetrieben, und es werden immer mehr Mitspieler, aktive und passive, einbezogen: Les jeux ne trouvent généralement leur plénitude qu´au moment où ils suscitend une résonance complice. Même quand, en principe, les joueurs pourraient sans inconvénient s´y adonner à l´écart chacun de son côté, les jeux deviennent vite prétexte à concours ou à spectacle.[...] On dirait qu´il manque quelque chose à l´activité du jeu, quand elle est réduite à un simple exercice solitaire. 482. Obwohl Caillois die Spiele der Welt und das Spielhafte in den Kulturäußerungen zu einem beeindruckenden Spielecorpus vereinigt und darin seine Klassifizierung vornimmt, geht es ihm nicht nur um das Aufzeigen von Strukturen. Indem er die ordnungsstiftenden Typen von agôn und alea den ordnungsauflösenden Typen von 479 Roger Caillois, Les jeux, S. 35 Mit Hilfe der Unterscheidungen von Caillois ließe sich auch eine Typologie des Vergnügunsparks erstellen: Geisterbahn-mimicry, Riesenrad-ilynx, Schießbude-agôn, Tombola-alea. 481 Roger Caillois, Les jeux, S. 29 : « Et chaque fois que j´ai pu, j´ai recherché dans le monde animal des conduites homologues ». 482 Roger Caillois, Les jeux, S. 70 480 143 mimicry und ilynx gegenüberstellt, erzielt Caillois eine dialektische Bewegung von Wirkung und Gegenwirkung, die sich kulturtheoretisch und geschichtsphilosophisch nutzen lässt. Wo Menschen zusammen leben, soviel erlaubt der Umkehrschluss, muss ein Zustand herrschen, der nach Entspannung, Befreiung, Ablenkung und Aufheiterung verlangt. Mais il reste qu´à la source du jeu réside une liberté première, besoin de détente et tout ensemble distraction et fantaisie. 483 Wenn dann im Spiel die gruppeninternen Energien beobachtbar werden, erfolgt ein Schritt, der nicht begründbar, bestenfalls im Tier- oder Humanexperiment nachweisbar ist. Caillois dazu in lapidarer Bescheidenheit: Bientôt naît le goût d´inventer des règles et de s´y plier obstinément, quoiqu´il en coûte. 484 Ist somit der Ausgangspunkt fixiert für eine Soziologie aus dem Geist des Spiels nach dem von Caillois zitierten römischen Rechtsgrundsatz, wonach sich aus dem Zusammenleben der Menschen die Gesetze ergeben, 485 sind die für das Spiel konstitutiven Elemente der Nachahmung, der Rivalität ebenso dokumentiert wie das quasi automatische Ablaufen der gruppeninternen Prozesse und das – wenn auch argumentativ nicht erfassbare und nur nachträglich beobachtbare – Umschlagen der Normlosigkeit zur Norm, der Gesetzlosigkeit zum Gesetz. Auch dass die gefundene Ordnung jederzeit wieder verloren gehen kann, ist in Caillois’ Dialektik vorgezeichnet, weil die zerstörerischen Spielformen der gleichen Nachahmungslogik unterworfen sind wie die aufbauenden, einer Logik, der sie nicht nur ihre Entstehung verdanken, sondern auch ihre bis zur Raserei 486 sich steigernde Ausbreitung, gegen die im Unterschied zu Girard bei Caillois keine Therapie vorgesehen ist. Wie bei Girard wird auch bei Caillois dieses Umschlagen im Positiven wie im Negativen, da es für die Betroffenen, die es überwältigt und überkommt, einen für sie unerklärlichen Ursprung hat, mit dem Begriff des Sakralen bezeichnet. Mit der typologischen Aufbereitung der Spiele durch Caillois wird zugleich deren performativer Charakter betont. Dies bedeutet, dass die Spiele, indem sie als stattfindend inszeniert werden, gleichzeitig erzählt werden. Die Spielanleitung ist deckungsgleich mit der Erzählung. Die im Spiel maßgebliche Handlungsform ist die für die Erzählung gültige Erzählform. Sind es bei Caillois vier verschiedene Spielaufführungen, deren jeweilige Spielanleitungen sich wie Geschichten mit dem Thema De la turbulence à la règle 487 lesen, in denen erzählt wird, wie dem Spiel über den wundersamen Umschlag der Regelgewinnung ein institutioneller Charakter zukommt, verwendet Girard die vier Kategorien – die Anzahl ist situativen Änderungen unterworfen – als aufeinander folgende Akte in einem dramatischen 483 Roger Caillois, Les jeux, S. 52 Roger Caillois, Les jeux, S. 55 ,Dazu auch S. 68 : « La tendance à la compétition ne reste pas longtemps implicite et spontanée. Elle aboutit à préciser un règlement, adopté d´un commun accord ». 485 Roger Caillois, Les jeux, S. 201 : « Les jeux créent le droit, c´est-à-dire un code fixe, abstrait, cohérent, et par là, modifient si profondement les normes de la vie en commun que l´adage romain ubi societas, ibi jus, en présupposant une corrélation absolue entre la société et les lois, semble admettre que la société même commence avec cette révolution ». 486 Roger Caillois, Les jeux, S. 201 – 202 : « En temps normal, elles (mimicry et ilynx, d. Verf.) ne sont pas inconnues dans un pareil univers, mais elles s´y trouvent pour ainsi dire déclassées. En temps normal, elles n´y apparaissent même que destituées, désaffectées, sinon domestiquées, comme le montrent divers phénomènes foisonnants, mais malgré tout subalternes et inoffensifs. Pourtant leur vertu d´entraînement demeure assez puissante pour précipiter à tout moment une foule dans quelque monstrueuse frénésie. L´histoire en fournit assez d´exemples singuliers et terribles, depuis les Croisades d´enfants du Moyen Age jusqu´au vertige orchestré des Congrès de Nuremberg lors du Trosième Reich, en passant par nombre d´épidémies de sauteurs et de danseurs, de convulsionnaires, de flagellants, par les Anabaptistes de Münster au XVIe siècle... ». 487 Roger Caillois, Les jeux, S. 52 484 144 Stück. Und dieses eine Stück konstruiert sich nach ein und demselben Bauplan; und dieser Bauplan, den Girard aus dem Romancorpus herauspräpariert hat, beherrscht nicht nur die Erzählungen und die Spiele für Kinder oder Erwachsene, er ist auch der Masterplan für das große Spiel einer sozialen Physik, bei dem es um das Zusammenleben der Menschen im kleinen wie im großen und letztlich planetarischen Maßstab geht und das mit keinem treffenderen Ausdruck als dem eines Gewaltspiels, eines jeu de la violence, 488 bezeichnet wird. Durch die semantische Offenheit dieses Begriffs ist eingeräumt, dass die Gewalt sowohl als Objekt wie auch als Subjekt dieses Spiels auftreten kann. Im ersten Fall ginge es bei diesem Spiel darum, dass es Akteure gibt, die mit der Gewalt in irgendeiner Weise fertig zu werden suchen, mit ihr ein Arrangement zu treffen, um eine Art Gewaltmanagement beziehungsweise Gewaltadministration. 489 Im Falle der Gewalt als Akteur des Spiels wäre zu zeigen, welches Spiel mit welchem Ausgang sie treibt und was dabei für die Betroffenen auf dem Spiel steht. Da es aber Girard um nichts Geringeres geht als darum, dieses Spiel in dem doppelten Sinn als jeu de la violence zu durchschauen, es zu desillusioneren, das Geheimnis seiner Mechanik zu lüften und eine Alternative zu allen Formen von gewaltsamen Verläufen und Lösungen aufzuzeigen, ergänzt sich seine wissenschaftliche Spielanalyse mehr und mehr um intuitive und prophetische Akzente. Der Beleg, dass sich die roman- und spieltheoretischen Erkenntnisse sowohl an dem tragödienvermittelten Corpus der Mythen als auch an einem umfangreichen ethnographischen Material verifizieren lassen, dass damit Formen des Erzählens, also kommunikativen Sprechens, zugleich Formen des kommunikativen Handelns sind, ist das Anliegen des Essays La Violence et le sacré, der eine methodisch schlüssige lecture girardienne zur Entfaltung bringt, mit der sich auch Texte der jüdisch-christlichen Bibel wie mythische Dokumente der Hominisation und Kulturgründung entziffern lassen. Dabei geht es Girard, wie noch zu zeigen sein wird, um den Nachweis, dass bei aller Gemeinsamkeit der Strukturen die biblische Tradition beziehungsweise die biblische Arbeit 490 in der von Blumenberg so genannten Arbeit 491 am Mythos bis heute in einer mehrfachen Rolle wirksam ist: in der Rolle des ‚verworfenen Ecksteins’ und in der Rolle der ‚verwerfenden Bauleute’, schließlich in der sich mehr und mehr aufdrängenden Erkenntnis der Unersetzlichkeit eines solchen Ecksteins für die soziale Synthese. Stellvertretend für die zahlreichen ethnologischen Befunde, in denen die Analogie zur Girardschen Roman- und Spielsequenz greifbar ist, sei auf einen Bericht verwiesen, den Girard einem Werk des Völkerkundlers Jules Henry 492 entnimmt, der einige Zeit in dem Stamm der indianischen Kaingang in Brasilien lebte. Dieser Stamm war kurze Zeit davor in ein Reservat eingewiesen worden, so dass die neue Umgebung noch 488 René Girard, La Violence et le sacré, S. 139 : « Le jeu de la violence, tantôt réciproque et maléfique, tantôt unanime et bénéfique, devient le jeu de l´univers entier ». 489 Vgl. Roger Caillois, L´Homme, S. 18 : « La religion est administration du sacré ». 490 René Girard, Des choses cachées, S. 198 : « C´est dire que l´inspiration biblique et prophétique est déjà à l´œuvre sur les mythes qu´elle défait, littéralement, pour en révéler la vérité ». 491 Auch Girard verwendet gern den Begriff der Arbeit als geschichtskräftige Wirkungsmacht, auch in der Gleichsetzung von Arbeit und Offenbarung im biblischen Sinn. In: ders. Des choses cachées, S. 200 : « Tout ce qui peut apparaître dans l´ethnologie, apparaît à la lumière d´ une révélation en cours, d´un immense travail historique qui nous permet peu à peu de rattraper des textes déjà explicites, en vérité, mais pas pour les hommes que nous sommes, qui ont des yeux pour ne pas voir et des oreilles pour ne pas entendre ». 492 Jules Henry, Jungle People (1941), New York 1964 145 keine tiefgreifende Änderung ihrer Lebensweise und ihrer sozialen Physik, also – nach dem Sprachspiel von Michel Serres – ihres sozialen Leims einer colle collective 493 bewirken konnte. Jules Henry registriert in dieser Menschengruppe eine extreme Armut an religiösen und kulturellen Bräuchen wie auch an technischen Hilfsmitteln und sieht in dieser Defizienz eine direkte Folge der blood feuds, das heißt der Rachemorde, die unaufhaltsam wie eine Kettenreaktion selbst durch die verwandten Familien hindurch ihre Spur ziehen. Er gebraucht zur Beschreibung dieses permanenten und allseitigen Gewaltexzesses geradezu mythische Metaphern, insbesondere die der Pest, womit im Gegensatz zur Überschaubarkeit eines mechanischen Räderwerks eine pandemische Bedrohung signalisiert wird, die sich über nichtwahrnehmbare Mikroben ausbreitet, welche als ungeheure Botenstoffe die Immunschranken des Organismus unterlaufen und nach dem unbemerkten Einnisten zu einer Erkrankung führen, die beim Auftreten der ersten Symptome von keinem Therapieversuch mehr eingeholt werden kann. Was Henry mit spürbarer Betroffenheit als das Hereinbrechen einer unaufhaltsamen Katastrophe registriert: La vendetta se répandait, sectionnant la société comme une hache terrible, la décimant comme le ferait une épidémie de peste, 494 wird von Girard gedeutet als der Verlust eines Opfersystems, welches in den vorstaatlichen Gesellschaften dafür zu sorgen hat, dass zum Schutz der Gemeinschaft und zur Vermeidung eines sozialen Suizids die Gewalt aller gegen alle umgewandelt wird in die Gewalt aller gegen einen, dass die vernichtende Gewalt also durch Sakralisierung, das heißt Anwendung einer rituell dosierten Gewalt aus der Gesellschaft evakuiert wird. Wenn die Blutrache in der primitiven Menschengruppe wie eine Axt wütet und in letzter Konsequenz bewirkt, dass jeder tötet, weil er befürchten muss, getötet zu werden, dass also das Heil im Präventivschlag eines jeden gegen jeden zu suchen ist, sind die Voraussetzungen für die Selbstauslöschung einer Gruppe vorhanden, vor allem, wenn es wie im vorliegenden Fall einer Reservat-Situation nicht gelingen kann, die Kohäsion der Gruppe nach dem Modus von l´union fait la force durch eine kriegerische Unternehmung gegen einen externen, real existierenden oder vorgestellten Feind zu festigen und so die Vendetta zu exportieren. Ein einziger Mord genügt, und die Spirale der Gewalt ist nicht mehr aufzuhalten. Der Mörder steckt in der Falle: Er muss töten und immer wieder töten, denn er muss diejenigen aus dem Weg räumen, die jetzt oder irgandwann den Tod ihrer Angehörigen rächen könnten. Das Opfersystem – für den Ethnologen Henry ist es ein förmliches Verfahren zur Bändigung der internen Kräfte 495 - ist den Kaingang abhanden gekommen. Diese haben es, wie es scheint, vergessen oder durch das zur Routine erstarrte Ritual den Glauben an seine Wirksamkeit bei der Domestizierung der internen Gewalt verloren. Möglicherweise ist der Verlust auch auf den Druck der brasilianischen Regierung zurückzuführen oder auf die Einwirkung der christlichen Mission, deren Prinzipien 493 Vgl. Michel Serres, Hominescence, Paris 2001, S. 288 : « Les religions retournent à l´état archaïque de ciment sociétaire, ou, plutôt et à l´inverse, la nouvelle et puissante colle collective s´expanse en intégrismes, d´où les guerres qui les opposent comme aux temps les plus anciens ». 494 Jules Henry, Jungle people, S. 50, in der Übers. von René Girard, in: ders., La violence et le sacré, S. 81 495 Jules Henry, Jungle people, S. 7, in der Übers. von René Girard, in: ders., La violence et le sacré S. 83 : « Ce groupe que ses qualités physiques et psychologiques rendaient parfaitement capable de triompher des rigueurs du milieu naturel était néanmoins incapable de résister aux forces internes qui disloquaient sa culture et, ne disposant d´aucun procédé régulier pour maîtriser ces forces, il commettait un véritable suicide social ». 146 des Verzichts auf die eigene Faust beziehungsweise des Verzichts auf das heidnische Opfer das überkommene Gewaltmanagement außer Kraft setzten. Für Girard jedenfalls erfüllt dieser Zustand der Liminalität die Bedingungen einer sakrifiziellen Krise, weil kein Opfer mehr als victime zur Verfügung steht, welches durch eine einmütig durchgeführte Opferhandlung als sacrifice eine doppelte Konkordanz stiften würde: Gemeinsam und mit mimetisch erzeugter und aufgeladener Wucht würde eine personifizierte Ursache der durch gewaltsam ausgetragene Rivalitätskonflikte gestörten Ordnung identifiziert und als Sündenbock geschlachtet beziehungsweise aus der Gemeinschaft verstoßen, und weil nach dieser Opferung der interne Friede wie durch ein Wunder wieder eingekehrt wäre, würde – wiederum im psychischen Sog der Mimesis – das geopferte Wesen einmütig als wundertätiges Wesen anerkannt, sakralisiert und divinisiert. Diesem divinisierten Wesen gebührte daher Dank für die ihm zugeschriebene Errettung. Gleichzeitig gelte dieses Wesen auch als Garant dafür, dass in Zukunft eine solche sakrifizielle Krise sich nicht erneut ereigne, was dadurch zu erreichen wäre, dass zur Prävention ihm Verehrung, Gehorsam und Dienst entgegengebracht würde, die in Form von geistigen Gaben, den Gebeten, oder anderen kultischen Gaben zu realisieren seien. Wird am Beispiel der Kaingang ein ethnologisch belegtes Modell für den rettenden Einsatz von religiöser Gewalt aus dem Umkehrschluss ihres Fehlens rekonstruierbar, sind die von Henry notierten Beobachtungen von Interesse sowohl für eine Theorie des Zeichens als auch für das Verständnis der griechischen Tragödie. Das zum Idol verwandelte Opfer, dem das Chaos und seine Überwindung zugeschrieben werden, spielt in Wirklichkeit und aus der Sicht des externen Beobachters bei diesem Vorgang keine aktive Rolle. Doch in der Wahrnehmung der Mitglieder der Gemeinschaft, die alle um ihr Leben fürchten müssen und für die es kein Außen zum Rückzug, zur Beobachtung und Theoriebildung gibt, steht dieses Idol für die von ihm hervorgebrachte Wirkung. Und da ihm nach dem mit ihm veranstalteten Prozess zu seinem heilbringenden und tendenziell ewigen Andenken ein Grabmal errichtet wird, das seine weitere Präsenz in der Mitte der Gemeinschaft sichert, ist das Grabmal das erste Symbol, ein Mal, welches nicht auf seine Materalität reduziert werden kann, sondern diese transzendiert und im Verweisen auf eine zeichenhafte Wirklichkeit diese auch begründet. Entscheidend für das Gelingen der Friedensstiftung und – erhaltung auf dem Weg der Sakralisierung ist, dass die Betroffenen daran glauben, dass dem Idol die doppelte Leistung der Störung und Wiederherstellung der Ordnung zuzurechnen ist, dass alle ausnahmslos und rückhaltlos von dessen Schuld überzeugt sind und seiner Opferung zustimmen – eine Stimmenthaltung wäre äußerst risikoreich - und dass alle ausnahmslos und vorbehaltlos sich zu der Gemeinde der Gläubigen versammeln, die das göttliche Wesen verehrt. Die griechische Tragödie lässt, wie Henry in einem Vergleich der Kaingang-Mörder mit den Tragödienfiguren suggeriert, darauf schliessen, dass das archaische Opfersystem in eine Phase der nachlassenden Wirksamkeit eingetreten ist und also die Polis-Gesellschaften sich in einer sakrifiziellen Krise befinden. Les meurtriers Kaingang ressemblent aux personnages de la tragédie grecque, prisonniers d´une véritable loi naturelle dont on ne peut pas interrompre les effets une fois qu´elle s´est déclenchée. 496 Girard, der abweichend von der idealisierenden, humanistischen Tradition die sakrale Herkunft der Tragödien betont, 497 vergleicht die reziproke 496 Jules Henry, Djungle people, S. 84, in der Übers. von René Girard in: ders., La Violence et le sacré, S. 84 497 René Girard, La violence et le sacré, S. 99 : « Comme tout savoir de la violence, la tragédie est liée à la violence ; elle est fille de la crise sacrificielle ». 147 Gewaltanwendung der Kaingang mit der Auflösung der kulturellen Ordnung, die in den antiken Tragödien ihren Ausdruck findet in dem Status des von Hölderlin formulierten Gleichgewichts der tragischen Kontrahenten. Dieses Gleichgewicht ist nicht etwa ein Gleichstand der Waagschalen, für den eine höhere Macht oder ein Rechtsystem bürgt; dieser Gleichstand verdankt sich der Gewalt und ist, in moderner Diktion, ein Gleichgewicht des Schreckens. Il y a toujours de part et d´autre les mêmes désirs, les mêmes arguments, le même poids : Gleichgewicht, comme dit Hölderlin. La tragédie est l´équilibre d´une balance qui n´est pas celle de la justice mais de la violence. [...] Si le conflit s´éternise c´est parce qu´il n´y a aucune différence entre les adversaires. 498 Bezeichnet die sakrifizielle Krise einen Zustand, in dem die in der Gemeinschaft wütende Gewalt nicht auf ein Opfer abgeleitet werden kann, kann die differenzielle Krise, da ja dem Opfer bis hin zu seinem Grabmal und den anderen Reliquien die primäre Zeichenfunktion zukommt ist, als eine abstrakte Variante der ersteren betrachtet werden. Äschylus, Sophokles und Euripides bringen zwar verschiedene Menschentypen auf die Bühne und verteilen auf sie ihre Präferenzen, aber deren tragischer Charakter besteht gerade darin, dass sie als symmetrische Antagonisten auftreten und es dem Zuschauer schier unmöglich machen, einen Unterschied zu machen und Partei zu ergreifen. Wie ein Opfersystem seine stabilisierende Funktion verliert, wenn nicht mehr entschieden werden kann, wer oder was als Opfer in Frage kommt, um die Einmütigkeit der Opfernden (wieder)herzustellen, ist das Gemeinwesen vom Zerfall bedroht, wenn in der tragischen Konfrontation des débat tragique 499 keine Auseinandersetzung, keine Lösung und Konklusion erfolgt, sondern wie am Beispiel der feindlichen Brüder Eteokles und Polyneikes die Ununterscheidbarkeit nach der reziproken Tötung sich bis hin zu deren Leichen erstreckt, so dass die Redifferenzierung durch das von Kreon angeordnete Staatsbegräbnis und das von ihm errichtete Grab des nicht mehr identifizierbaren, also mutmaßlichen Helden auf einer kultischen Täuschung beruht und, von einem risikofreien Außen her betrachtet, ein höchst fragwürdiges, weil auf gläubiges Dafürhalten gestütztes Zeichen darstellt. Wenn auch der Stoff der Tragödie auf den Mythos zurückgeht und demzufolge als Konklusion ein Alea-Ereignis, in aller Regel eine Opferung, benötigt, endet die tragische Debatte unentschieden. Wer in diesem losähnlichen Verfahren das bessere Ende für sich hat, bleibt offen; ob es die alte rituelle und religiöse Ordnung ist, für die Antigone steht, oder ob es angesichts der Auflösungserscheinungen des archaischen Opfersystems Kreons Staatsraison ist, für die der Zuschauers Partei ergreifen soll, wird vom Autor nicht entschieden. Antigone verletzt das Recht des Staates, Kreon das der Familie. Die Antinomie zweier gleichberechtigter Prinzipien macht, wie Hegel bemerkt, das Wesen 500 der Tragödie 498 Roger Caillois, Les jeux, S. 39 René Girard, La violence et le sacré, S. 70 – 71 : « La parfaite symétrie du débat tragique s´incarne, sur le plan de la forme, dans la stychomythie où les protagonistes se répondent vers pour vers. Le débat tragique est une substitution de la parole au fer dans le combat singulier. Que la violence soit physique ou verbale, le suspense tragique est le même. [...] La mort des deux frères ne résout rien. Elle perpétue la symétrie de leur combat. [...] On voit naître ici la tragédie proprement dite comme prolongement verbal du combat physique, querelle interminable suscitée par le caractère interminablement indécis d´une violence préalable ». 500 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik Bd. III, Frankfurt/M, S. 544: „Der Hauptgegensatz, den besonders Sophokles nach Aischylos’ Vorgang aufs schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit. Dies sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung. […] Antigone ehrt die Bande des Bluts, die unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und Gemeinwohls“. 499 148 aus. Während in der Komödie das Pathos der Individuen dadurch sich als sich an ihnen selbst auflösend 501 gezeigt wird, dass sie sich gegenseitig lächerlich machen, hat die Tragödie nicht etwa die eine oder die andere der feindselig gegenüberstehenden Seiten zu prämieren beziehungsweise schuldig oder unschuldig zu sprechen; sie hat die Kollision der höchsten sittliche Zwecke darzustellen und auf die Spitze zu treiben, so dass mit innerer Notwendigkeit der Ausgang darin gefunden wird, dass die Einseitigkeit der Mächte, welche in den Individuen sich verselbständigen, 502 aufgelöst und überwunden werden muss zugunsten einer ewigen Gerechtigkeit, die die sittliche Substanz und Einheit mit dem Untergang der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. 503 Ob man mehr auf die Krise des Opferwesens oder die Krise der Differenzen abhebt, beides trifft nach Girard sowohl auf den ethnologischen Befund der Kaingang wie auf dem mythologischen Befund des griechischen Tragödiencorpus zu. In beiden Fällen liest er die Texte als Dokumente, die einen Verlust und eine Dekadenz 504 anzeigen, und er umreißt von da aus die Hypothese eines funktionierenden Opfer- und Zeichensystems, welches den Ausbruch der reziproken Gewalt ebenso verhindert hätte wie den Antagonismus der Gestalten der Tragödie. Dass durch das Opfersystem gleichzeitig ein Zeichensystem konstituiert wird, wird dort und dann, wo es ausbleibt, deutlicher wahrnehmbar als durch sein reibungsloses Funktionieren. Wenn im Falle der Kaingang beobachtet wird, dass dem Mangel an kultischen Bräuchen ein Mangel an technischen Ausstattungen entspricht, lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass das Opfer- beziehungsweise Zeichensystem eine erste Stufe der Abstraktion darstellt, ohne die die Emergenz des dafürhaltenden, vorstellenden, denkenden, erinnernden und vorausschauenden Individuums nicht denkbar wäre. Eine menschliche Gruppierung, in der nicht bestimmt werden kann, ob und gegebenenfalls was geopfert werden kann, verfügt, wenn man der Analogisierung der Opfer- mit der Zeichentheorie folgt, auch nicht über weitere lebensweltliche Differenzierungen. Demzufolge ist die Demarkation zwischen Opferbarem und Nichtopferbarem in enger Verbundenheit zu sehen mit der räumlichen und zeitlichen Differenzierung und insofern mit den Grundlagen des Denkens, der Logik und den elementaren Voraussetzungen von Technik und Wissenschaft. Wie auf der Handlungsebene das Opfern im Sinn einer sakrifiziellen Ausscheidung die primäre Differenzierung darstellt, ist es auf der Zeichenebene das dem Geopferten errichtete, ihn zugleich verhüllende und erhöhende, die Opferspuren zugleich tilgende und verklärende Grabmal, von dem die kulturellen Unterscheidungen und Übertragungen ihren Ausgang nehmen. Kulturell konstitutiv ist nicht, was sich von einer Idee oder einer Metapher ableitet, vielmehr was sich über seine Herkunft und seine Distanz zum Grab als der ersten Institution, dem Nullpunkt aller kulturellen Genealogie und Topologie bestimmen lässt. Qui dit métaphore dit déplacement, et il n´y a pas ici de déplacement métaphorique. C´est au contraire à partir du tombeau que s´effectuent tous les déplacements constitutifs de la culture. [...] Les rites funéraires, nous l´avons dit, pourraient bien 501 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik Bd. III, S. 481 ebenda 503 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. III, S. 524 504 René Girard, La violence et le sacré, S. 68 : « Les historiens sont d´accord pour situer la tragédie grecque dans une période de transition entre un ordre religieux archaïque et l´ordre plus moderne, étatique et judiciaire qui va lui succéder. Avant d´entrer en décadence, l´ordre archaïque a dû connaître une certaine stabilité. Cette stabilité ne pouvait reposer que sur le religieux, c´est-à-dire sur le rite sacrificiel ». 502 149 constituer les premiers gestes proprement culturels. C´est autour des premières victimes réconciliatrices, il y a lieu de le croire, c´est à partir des transferts créateurs des premières communautés que ces rites ont dû s´élaborer. On songe aussi à ces pierres sacrificielles qui constituent le lieu fondateur de la cité antique, toujours associées à quelque histoire de lynchage assez mal camouflé. 505 Im Unterschied zu dem homo necans von Walter Burkert ist es bei Girard nicht der gemeinschaftlich jagende, sondern der gemeinschaftlich opfernde Mensch, der die physische Gewalt als Tötungsgewalt entdeckt und sich, beziehungsweise der Gemeinschaft nutzbar macht, wobei jedoch beide Auffassungen sich darin treffen, dass der Tötungszweck nicht primär in der Nahrungsbeschaffung zu sehen ist. Während für Burkert das Motiv der Futtersuche und deren Ritualisierung im Jagdopfer den Handlungsrahmen für den transkulturellen Erzählzusammenhang der Mythen darstellt, betrachtet Girard das Opfer als den Vorgang schlechthin, von dem alle Kultur ausgeht, als den entscheidenden Schritt, an dem der Übergang von der Animalität zur Humanität festgemacht werden kann. Indem die mimetische Krise allein dadurch aufzulösen ist, dass die durch die allseitige Nachahmung eskalierende reziproke Gewalt durch Ableitung auf ein Opfer aus der Gruppe evakuiert wird und so eine Art Druckausgleich geschaffen wird, wiederholen die Menschen die Erfahrung, die am Anfang ihres Zusammenlebens ihre Gruppe von dem real drohenden kollektiven Selbstmord bewahrt haben muss, eine Erfahrung, die sie gelehrt hat, dass es eine Art des risikofreienTötens 506 gibt, die nicht nur sozialverträglich, sondern im wahrsten Sinn des Wortes sozial notwendig ist: das Umlenken der Gewalt auf ein Opfer, das zum einen so beschaffen ist, dass von seiner Seite keine Gegenreaktion in Form von Rache zu befürchten ist und zum anderen so, dass seine Auswahl, seine Isolierung vom Gemeinschaftskörper und seine finale Behandlung einmütig erfolgen kann. Wenn in den allein durch religiöse Bindung zusammengehaltenen frühen Gesellschaften der Opferakt die Riten abschließt, also deren Konklusion ist, müssen alle an der Opferung teilnehmen, die auch dann einem Lynchmord zum Verwechseln ähnlich ist, wenn die Immolation einem einzigen Opfervollzieher vorbehalten ist. Im Opferakt vollzieht sich die Einheit einer Gemeinschaft, und diese Einheit offenbart sich blitzartig gerade auf dem Höhepunkt der Krise, gerade in dem Moment, wo in der Gemeinschaft ein heilloses Gegeneinander herrscht und der Teufelskreis der nicht zu stoppenden Privatrache den allgemeinen Untergang heraufbeschwört. Mit der Heftigkeit eines Stromstoßes 507 schlägt das Jeder-gegen-jeden um in die Opposition aller gegen einen. Auf die chaotische Vielzahl der Einzelkonflikte folgt die Reduzierung auf die Einfachheit eines Antagonismus. Die ganze Gemeinschaft steht 505 René Girard, Des choses cachées, S. 187 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (1995), dt. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M 2002. Für Agamben bedeutet die sacratio keine Opferweihe, vielmehr die Begründung der originären politischen Struktur der Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes, modellhaft ausgeführt in den bio- und ideologiepolitischen Großexperimenten der totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts mit ihrer alle Lebensbereiche erfassenden Gesetzgebung und in der Form einer Ausschließung durch Einschließung die Umwandlung von Bürgern in Lagerinsaßen. Dazu S. 93: „Heilig, das heißt tötbar und nicht opferbar, ist ursprünglich das Leben im souveränen Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität“. 507 Vgl. Johannes Munck, The Acts of the Apostles, New York 1967, wo das zur Steinigung des Stephanus führende Umschlagen der aufgebrachten Zuhörerschaft in die Hetzmeute mit „a spark that starts an explosion“ (S. 70) beschrieben wird. 506 150 auf der einen Seite und auf der anderen das Opfer, welches insofern die Lösung bringt, als diese Gemeinschaft solidarisch wird auf Kosten eines Opfers, das nicht nur nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, sondern auch nicht über die ‚Hausmacht’ zur Organisation einer Rache verfügt. Daher eint seine Vernichtung alle in einer die Kette der Gewalt abschließenden, letzten Gewalttat, in einem letzten Wort der Gewalttätigkeit. Die schrecklich heimgesuchte Gemeinschaft ist mit einem Schlag von jedem Antagonismus erlöst und befreit. Da der Frieden diesem zugleich furchtbaren und wohltätigen Wesen zu verdanken ist, welches durch sein gewaltsames Verschwinden die Kohäsion der Gruppe beim ersten Mal gestiftet und in der Folge rituell wiederhergestellt hat, wird die Gemeinschaft ihr Verhalten und alle ihre künftigen Entscheidungen unter das Zeichen dieses Wesens stellen und die zur Verhinderung der mimetischen Krise und zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlichen Verbote und Regeln auf dieses Wesen beziehen. Zum einen wird sie bestrebt sein, die zur Krise führenden Verhaltensweisen zu ächten, und das heißt vor allem, jede Geste einer Aneignung von Objekten, die tendenziell den Nachbarn zum Gegenspieler macht, zu verbieten, das heißt mit einer negativen sozialen Indikation zu belegen, zu diskreditieren und ihren Autor zu kulpabilisieren, wobei die Verbote durch geeignete Institutionen, Sinninstanzen und sanktionenbewehrte Regelwerke durchsetzbar zu machen sind. Zum andern muss sie sich ein rituelles Repertoire sichern, damit das wunderbare Ereignis der opfergestützten Wiedervereinigung, das die Krise beendet hat, in einem abrufbaren und kultisch geregelten Mechanismus wiederholbar ist, dass also anstelle des realen ursprünglichen Opfers unter möglichst gleichen Bedingungen ein neues, äquivalentes Opfer dargebracht werden kann, welches den gleichen Ertrag, die gleiche Friedensrendite verspricht. Wie dieser Eine, der die Blicke aller auf sich zieht und damit die feux de l´envie der Nachahmungsrivalitäten herunterkühlt, in naturgeschichtlicher Perspektive identifiziert werden kann, konnte am Tierversuch aufgezeigt werden. Lässt sich der Kinder- und Erwachsenenversuch anhand der Spielekategorien von Caillois als Verknüpfung des natur- und kulturgeschichtlichen Ansatzes verstehen, ist die Figur des Sündenbocks beziehungsweise des Opferkönigs, die ethnographisch eindrucksvoll belegt sind, in dem Maß deutlicher den kulturellen Institutionen zuzuordnen, als sie planvoll, das heißt im Rahmen eines religiös gestützten und verwalteten Ritus ihre Rolle in der Dramaturgie der sozialen Befriedung zu erfüllen haben. Der Ausdruck Sündenbock - frz. bouc émissaire, engl. scapegoat - geht auf den caper emissarius der Vulgata zurück, der in griechischen Bibelübersetzung der Septuaginta als apopompáios, das heißt einer, der die Plagen entfernt, bezeichnet wird und dessen hebräischer Ursprung mit für Asasel bestimmt übersetzt werden kann, wobei Asasel für einen alten Dämonen stehen kann, der in der Wüste wohnt. In Lev 16, 21-22 wird berichtet: Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bocks geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen, und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen. Unter den zahlreichen ethnologischen Dokumenten, in denen Girard den Mechanismus des stellvertretenden Opfers aufdeckt und die für ihn geradezu ein 151 Archiv darstellen, in dem die Gründungsurkunden des animal sociale aufbewahrt werden, findet sich ein Bericht 508 über den rituellen Kannibalismus der Tupinamba, einem Indianerstamm an der Nordwestküste Brasiliens. Die Tupinamba scheinen für ihn auch deswegen von besonderem Interesse zu sein, weil aus diesem Volk die beiden Indianer stammen, die Montaigne (1533-1592) in Rouen kennengelernt hat und die in seinen Essais lange vor der im 18. Jahrhundert aufkommenden Idealisierung des Natürlichen und Exotischen als Prototypen des guten Wilden Eingang in die europäische Literatur gefunden haben. Neben dem üblichen Kannibalismus der Tupinamba, 509 die in dem fortwährenden Kriegszustand mit den Nachbarstämmen jeden Feind, dessen sie im Kampf habhaft werden, an Ort und Stelle töten und seinen Leichnam verzehren, wird dort ein ritueller Kannibalismus praktiziert, der nur an einem solchen Gefangenen begangen wird, der lebend in das Dorf gebracht wird. Dieser Kriegsgefangenen lebt monate-, mitunter jahrelang mitten unter denen, die ihn schließlich umbringen und verzehren werden. Er nimmt am alltäglichen Leben des Stammes teil und heiratet eine seiner Frauen, knüpft also mit diesem Stamm Beziehungen, die sich kaum von denen der Stammesmitglieder unterscheiden. Was den Gefangenen jedoch von den Menschen seiner Umgebung unterscheidet und ausgrenzt, ist die wechselhafte und widersprüchliche Behandlung, der er ausgesetzt ist. Es gibt Phasen, wo man ihm Achtung, ja Verehrung entgegenbringt und wo sexuelle Kontakte mit ihm nachgefragt sind. Dann gibt es wieder Perioden, wo man ihn beschimpft, verachtet und körperlich demütigt. Kurz vor dem für seine Tötung festgelegten Termin wird der Gefangene zur Flucht aufgefordert, jedoch rasch wieder eingefangen, und zum ersten Mal bindet man ihm ein starkes Seil um die Knöchel. Er erhält keine Nahrung mehr, so dass er zum Stehlen gezwungen ist. Anstatt daran gehindert zu werden, wird er zu solchen und auch anderen Regelverstößen geradezu ermutigt. Nach und nach wird so der Gefangene in den Sündenbock verwandelt. Je mehr und größere Untaten er begeht, desto größer die Rechtfertigung, wenn man ihn tötet und wenn der ganze Stamm geschlossen hinter dieser Tötung steht. Dieser operative Sündenbock ist auf zweifache Weise heilbringend: Indem er sich so verhält beziehungsweise zu verhalten gezwungen ist, dass der Stamm ihm gegenüber geschlossen auftreten muss, reinigt er den Stamm von seinen internen Rivalitäten und Aggressionen, bündelt diese und lenkt sie auf sich. Und indem er schließlich, mit der kollektiven Schuld beladen, aus ihrer Mitte ein für alle Male verschwindet, macht er die Stammesmitglieder glauben, dass sie im Grunde genommen nicht gewalttätig sind, sondern von einer bösen Gewalt heimgesucht worden sind, die etwas ihnen Äußerliches ist und die, wenn das Ritual sorgfältig befolgt wird, immer wieder auf Distanz und in Schach gehalten werden kann. Was bei den Tupinamba der geopferte Gefangene ist, ist bei anderen primitiven Gesellschaften der Sakralkönig oder auch der mythische Held. Der wie auch immer auserwählte Eine muss alle inneren Spannungen und die aufgestauten Hassgefühle, die unkontrolliert und eskalierend in der Gemeinschaft zirkulieren, auf sich ziehen. Man beauftragt ihn, durch seine Verbrechen und den darauf folgenden Tod diese bedrohliche Gewalt in ein rettendes sacrum zu verwandeln und so eine latent prekäre Ordnung immer wieder aufzurichten. Wenn die Tupinamba ihren rituellen Kannibalismus praktizieren, folgen sie einem Muster, das in allen vorgesetzlichen 508 Girard verweist auf die von Alfred Métraux gesammelten Berichte, in : Alfred Métraux, La religion des Tupinamba et ses rapports avec celles des autres tribus Tupi-Guarini, Paris 1928 509 René Girard, La violence et le sacré, S. 380 f. 152 Kulturen anzutreffen ist. Sie bemühen sich in ihrem Ritual, genau das zu reproduzieren, was sich irgendwann in ihrer Vergangenheit tatsächlich ereignet hat, dass nämlich zu einem ersten Mal ihr Stamm an und in einem Opfer seine Einmütigkeit erfahren hat. Und diese Erfahrung haftet als etwas sie Übersteigendes und Wunderbares so fest in ihrer Erinnerung, dass sie dieses ‚Wunder’ bei drohender Gefahr oder auch zur Vorbeugung immer wieder geschehen lassen. Der jeweilige Gefangene hat dabei das erstmalige Opfer zu vertreten, und was jenes vollbracht hat, wird auch ihm abverlangt; er muss er den kollektiven Hass und die diffudierende Gewalt auf sich lenken und Verfolgung und Tod auf sich nehmen, und als Gegenleistung für diesen Dienst kann er damit rechnen, als eine Erlösergottheit verehrt zu werden. Soll diese Rechnung aufgehen, müssen allerdings mehrere Bedingungen erfüllt sein. Das Vorhandensein eines zu opfernden Menschen oder ersatzweise eines Tieres allein genügt nicht, um den Opfermechanismus – nach der von Girard manipulierten Typisierung von Caillois – von der Mimikry-Phase bis zur Alea-Konklusion in Gang zu setzen. Der Exorzismus der Gewalt aus der Gemeinschaft gelingt nur, wenn bei der Wahl des Opfers Einmütigkeit herrscht, wenn kein Zweifel an der Schuld des Sündenbocks aufkommt und wenn die wundersame Wiederherstellung des inneren Friedens tatsächlich dem Geopferten und wegen seines heilbringenden Todes zu Verehrenden zugerechnet wird. Das Opfersystem ist also darauf angewiesen, dass alle Beteiligten einschließlich des Geopferten sich über die wahre Natur der gemeinschaftsinternen Gewalt täuschen und dass diese Täuschung aufrechterhalten wird. Sie alle müssen glauben, dass die Gewalt nicht ihren menschlichen Rivalitäten entspringt, sondern wie die Heimsuchung einer höheren Macht über sie kommt und dass das Böse, das den sozialen Organismus befallen hat, von diesem auch wieder ausgeschieden werden kann. Für die Menschen muss das Hereinbrechen der Gewalt wie auch deren Überwindung einer himmlischen Intervention angerechnet werden. Sie müssen sicher sein, dass sie in der Frage nach dem Woher und Wohin der Gewalt ihre Hände stets in Unschuld waschen können. Das Opfersystem lebt also davon, dass der Ursprung der Gewalt verkannt wird und dass dieses Verkennen institutionalisiert und durch Mythen und primitive Religionen auf Dauer gestelt wird. Die Ethnologie, die ihre Gegenstände zu statischen Modellen umarbeitet und deren Strukturen komparativ bestimmt, ist nach Girard nicht in der Lage, zum operativen Aspekt der Riten vorzudringen. Würde sie, Girards Intuition folgend, nicht nur die phänomenale, sondern die erzählende und somit die Verlaufsdimension der Riten in den Blick nehmen, würden ihre Analysen auch den finalen und intentionalen Charakter der Riten erfassen und deren energetische Potenz aufzeigen. Als Vertreter einer Ethnologie, die darauf ausgelegt ist, Riten wie die der Tupinamba-Kannibalen exakt zu beschreiben und sie in aller Regel als Vorstufe einer kulturellen Entwicklung zu klassifizieren, sie aber nicht als Dokument der Hominisierung zu lesen, vor allem nicht ihren mécanisme victimaire zu erkennen, bemerkt Lévi-Strauss über einen solchen Mythos, 510 dass er sich wie ein horrible petit roman lese. Girard zeigt sich von diese narratologischen Äußerung des Strukturalisten überrascht und erweitert sie um den Vorschlag: Disons plutôt extraordinaire roman sur l´horreur des rapports entre les hommes dans la violence réciproque. 511 Damit unterstreicht er einmal mehr die Analogie des Opfermechanismus mit dem romanesken Projekt. Die 510 Es handelt sich um « La geste d´Asdiwal » in : Claude-Lévi Strauss, Annuaire de l´Ecole pratique des Hautes Etudes, VIe section, 1958 - 1959 511 René Girard, La violence et le sacré, S. 341 153 gegenseitige Gewalt, die sich im Antagonismus der Tragödien ebenso manifestiert wie im Missverständnis der Komödien und die auch im mimetischen Verlangen des Romans spürbar ist – und das ist das Generalthema von Girard, egal, ob er als Literaturkritiker, Ethnologe, Kultur- oder Religionstheoretiker spricht -, entsteht aus der Nachahmung. Diese Nachahmung zerstört die Differenzen und Hierarchien. Die differenzielle Krise ist auch eine sakrifizielle Krise, weil das Ausscheiden der reziproken Gewalt durch eine einmütig vollzogene Opferung nicht mehr gelingt. Auf dem Höhepunkt der Krise droht eine Vendetta ‚bis zum letzten Mann’, es sei denn, es geschieht auf einmal, das heißt zum ersten Mal oder auch zum rituell wiederholten Mal das Wunder einer unanimité violente, und der Frieden und die Ordnung kehren, wenn das Opfer seinen Dienst getan hat, in die Gemeinschaft zurück, was im Fall des Roman bedeuten würde, dass der Protagonist durch einen Akt der Läuterung und Askese beziehungsweise Erleuchtung von seinem mimetischen Wahn loskommt und eine sozusagen gewaltfreie Identität gewinnt, die nicht dem Sog eines Vorbilds unterliegt und auch nicht der Verstoßung durch einen Rivalen. Die Universalität der Sequenz, die von der Gewalt zum Heiligen verläuft und sich im romanesken Projekt von Schuld und Sühne oder von Illusion und Desillusion spiegelt, zeigt sich darin, dass sich nicht nur die Erzählungen, die mythischen wie die nicht mythischen – zumindest die von Girard ausgewählten – als ihre Anwendung verstehen lassen. Da die Opfertheorie, wie angedeutet, sich zugleich zu einer Zeichentheorie abstrahieren lässt, liegt es nahe, dass Girard auch Institutionen und kulturelle Konstellationen nicht unter dem Gesichtspunkt der Struktur, sondern dem der zivilisierenden und humanisierenden Intention betrachtet, wobei sich beide Intentionen auf den gemeinsamen Nenner des Gewaltmanagements bringen lassen. Übersetzt man das Begriffspaar la violence et le sacré mit die Gewalt und das Heilige, geht die Ambivalenz des sacré insofern verloren, als das heimsuchende und ängstigende Übernatürliche an ihm ausgeblendet und das Erlösende und demzufolge Verehrungswürdige isoliert wird. Und es wird nicht deutlich erkennbar, dass am Beginn der soziogenetischen Sequenz eine und dieselbe Gewalt am Werk ist und dass diese Gewalt als double vertu maléfique et bénefique 512 zwei Anschlüsse beziehungsweise Ausgänge hat. Girard jedoch erschließt mit der Doppelfunktion der Gewalt einen geradezu abenteuerlich weiten Archipel am kulturellen Phänomenen, der überraschende Entdeckungen bereithält. Er berichtet, dass in vielen primitiven Kulturen dem Schmied und der Schmiede eine ganz besondere Rolle zukommt und weist darauf hin, dass zum Beispiel in Afrika die Metallherstellung von strengen Tabus belegt und der Schmied von einer sakralen Aura umgeben ist. Und er ist der Trefflichkeit seiner Analyse sicher: Il y a là, au sein de la vaste énigme du sacré, une énigme particulière dont notre hypothèse générale suggère immédiatement la solution. 513 Das Metall - technikgeschichtlich und auch semantisch ist es das Eisen, nach weiteren Entwicklungsstufen der Stahl, im fortgeschrittensten Sinn: die Kernkraft - verkörpert wie kein anderes Element die Gewalt in der Hand des Menschen und des Kollektivs, und wie kein anderes Element offenbart es die beiden Gesichter dieser Gewalt. Als unersetzliches Werkzeug erleichtert und ermöglicht es unendlich viele Handgriffe und Arbeiten; es ist die wichtigste Voraussetzung für die Verteidigung gegen äußere Feinde. Aber diese segensreichen Vorteile sind nicht zu haben ohne ein zugleich beträchtliches Risiko. 512 513 René Girard, La violence et le sacré, S. 360 ebenda 154 Alle diese Werkzeuge haben gewissermaßen eine doppelte Schneide. Sie verschärfen die Konflikte, wenn innerhalb der Gemeinschaft Rivalitäten auftreten, und werden zur Bedrohung für den Fortbestand der Gemeinschaft. Was man in sicheren und prosperierenden Zeiten erreicht hat, kann mit einem Mal wieder verloren gehen. Die Neigung der Menschen zur Kooperation und zur Kohäsion wie auch die Neigung, sich in den mimetisch provozierten Rivalitätskonflikt hineinziehen zu lassen, erhält durch die Verfügung über das Metall eine gewaltträchtige Dimension. Für beide Anwendungen, die der werkzeuggestützten Kooperation wie die der bewaffneten Konfrontation, zeigt sich der Schmied als der Herr über eine höhere Gewalt. Er ist im doppelten Wortsinn sacré, das heißt, dass er als eine Instanz betrachtet werden kann, die für ihre Verdienste um die Kohäsion der Gruppe zu ehren und zu verehren ist, aber auch als eine Instanz, die wegen des von ihr zu verantwortenden drohenden Auseinanderbrechens der Gruppe in respektvollem Abstand zu halten und zu verfluchen ist. Zwar genießt der Schmied in den primitiven Kulturen einige Privilegien, aber er gilt doch auch als ein finsterer Geselle, mit dem man nicht gern in Kontakt tritt. Daher befindet sich auch die Schmiede nicht im Dorf. Sie hat ihren Platz außerhalb der Gemeinschaft. Auf der Schmiede lastet ein Tabu, weil ihre Nähe zu den Menschen sich als riskant herausstellen kann. Auch die mythologischen Erzählungen unterstreichen die Sonderstellung des Schmieds. Den das Glutfeuer meisternden Schmiedegöttern Hephaistos, Vulcanus und Wieland wird nicht nur eine rätselhafte Geburt und zweifelhafte Abstammung nachgesagt, sie werden sowohl durch ihren hinkenden Gang 514 als auch durch ihren Listenreichtum und ihre Verschlagenheit sowie durch den Standort ihrer Tempel außerhalb der Stadt – im Gegensatz zum römischen Vesta-Tempel, in dem auf kleiner Flamme das Herdfeuer behütet wird – als Sonderlinge und Außenseiter markiert. Und bei Außenseitern und Sonderlingen, insbesondere wenn sie durch eine Behinderung, eine tatsächliche oder auch ihm zugeschriebene auffallen, sind die Voraussetzungen besonders günstig, dass sich gegen sie in der Gemeinschaft Einmütigkeit herstellen lässt, dass also alle sich zusammenschließen, um diesen Einen – der moderne Starkult inklusive seiner Kehrseite des ‚stalking’ findet darin seine Entsprechung - zu verehren beziehungsweise, dass alle, wenn aus irgendeinem Grund der normale Gang der Dinge gestört wird, sich zusammenrotten, um diesen Einen für diese Störung haftbar zu machen und ihn zu eliminieren. Für das Auffallen in der Gemeinschaft genügt immer schon eine unscheinbare Difformität, eine fremdartiges Aussehen, eine Gehbehinderung wie im Falle des Ödipus, eine ungewöhnliche Haarfarbe bei den Hexen oder ein schielender Blick als Ausdruck eines scheinbar feindlichen malocchio, und schon ist der oder die Betreffende als potenzielles Opfer prädestiniert. Wenn dann der erste Stein geworfen ist, ist es aufgrund des mimetischen Sogs nicht mehr weit bis zur volkszornigen kollektiven Lapidation. Hat dieser Eine seine sozialhygienische Funktion als einigendes Feindbild erfüllt und seinen Beitrag zur Lösung der internen Spannungen geleistet, kann er rehabilitiert und sein Andenken von den Überlebenden zum Zweck der Erbauung umprogrammiert werden. 514 Wie der Schmied, ist auch der Opferpriester ein Verwalter des Feuers. Von hinkenden Opferpriestern berichtet 1, Könige 18, 26b: „Sie nahmen den Stier, den er (der Prophet Elija, d. Verf.) ihnen überließ, und bereiteten ihn zu. […] Sie tanzten hüpfend um den Alter, den sie gebaut hatten“. Dazu der Kommentar in: Die Bibel, Einheitsübersetzung, Freiburg u. a. 1980, S. 357 „Sie tanzten hüpfend: Das hebräische Wort deutet an, dass bei dem Tanz Bewegungen um den Altar ausgeführt werden, die Not und Behinderung ausdrücken“. 155 Solange alles gut geht und die Menschen von den metallenen Werkzeugen profitieren, lässt man den Schmied seine Zauberkunst ausüben und hält ihn in Ehren. Sobald aber irgendein Unheil über die Gemeinschaft kommt, welches mit dem Metall nicht das Geringste zu tun haben braucht, gehört der Schmied wie auch andere, deren Hantieren mit gefährlichen Dingen aus der Sicht der Unwissenden einen Pakt mit den höheren Mächten vermuten lassen, zu den Hauptverdächtigen für diese Heimsuchung. Er wird verdächtigt, die Gemeinschaft verraten zu haben, der er ja auch nicht voll und ganz angehört hat, und man unterstellt ihm, er habe gegen sie jenes magische Feuer verwendet, dass ihnen noch nie geheuer war. Sobald also das sacré, im Fall des Schmieds das von ihm verkörperte und zum Guten wie zum Bösen zu gebrauchende Schmiedefeuer, in die Gemeinschaft eindringt, zeichnet sich unwillkürlich des Schema des Sündenbocks, der victime émissaire ab. Der Schmied als Kulturbringer und Meister der Explosionen und Implosionen 515 gilt als der Emissär der höheren Macht, die zu friedlicher Zusammenarbeit befähigt und aufruft. Er wird aber auch bei einer aufkommenden Krise als Stellvertreter jener Macht angesehen, die das Böse will und die Gemeinschaft in den Abgrund stürzt. Und wenn dieser Emissär in einer sozialen Notsituation von der geschlossen auftretenden Gemeinschaft umgebracht wird, und wenn nach diesem blutigen Akt die kollektive Hysterie abklingt, ist die Annahme der Umstehenden bestätigt, er stehe mit der höheren Macht, also dem Heiligen, im Bunde. Für Girard lässt sich am Beispiel des Schmieds in den vorstaatlichen Gesellschaften das Doppelspiel der Gewalt explizit machen, einer Gewalt, welche die Kultur zugleich begründet und gefährdet. Im Falle des Schmiedes und seiner prekärsakralen Stellung kann der Wechsel von Idolisierung beziehungsweise Divinisierung und Opferung im Prinzip beliebig oft und an allen möglichen Schauplätzen durchgeführt werden. Es ist zwar kein religiöses System bekannt, welches im Unterschied zu dem Sakralkönig, der durch die Krönung gleichzeitig zur Opferung bestimmt ist, ein Ritual für die Eliminierung des Schmieds bereithält. Indem aber der Schmied zu denen gehört, die mit dem Heiligen, wie es Girard definiert, in Berührung kommen, ist sein mit dem Risiko eines gewaltsamen Todes verbundener Status chakteristisch für jedwede kulturelle Schöpfung aus dem Geist einer Gründungsgewalt; was mit ihm geschieht oder geschehen kann und sich im Prinzip auf jede kulturelle Differenz und jedes Zeichen ausdehnen lässt, ist para-sakrifiziell und damit para-rituell. Nach dem Girardschen Zyklus von la violence et le sacré ist die Reihe der Schmiedegötter unabschließbar; sie sind es schließlich, die den sozialen Guss besorgen und die Klammern schmieden, die die religiösen und kulturellen Systeme zusammenhalten. La mort violente du forgeron, du sorcier, du magicien et en général de tout personnage qui passe pour jouir d´une affinité particulière avec le sacré, peut se situer à mi-chemin entre la violence collective spontanée et le sacrifice rituel. 516 515 Vgl. Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M 2001, S. 329: „Wenn der Teufel durch das ganze Mittelalter hindurch zaubert, hinkt und stinkt, so aufgrund seiner Ähnlichkeit mit den Schmieden, die in heißen Höllen arbeiten und sich mit verruchten Prozeduren befassen. Der Teufel ist der Erbe der Metallurgen, bei denen das menschliche Können unheimlich wurde. In der zeitgenössischen öffentlichen Meinung sind die Chemiker die typologischen Nachfahren des Teufels, weswegen die Ausdrücke chemisch und widernatürlich in der Umgangssprache konvergieren. Man wundert sich nur, wieso die Chemiker nicht alle einen Fuß hinterherziehen“. 516 René Girard, La violence et le sacré, S. 362 - 363 156 Für die Gemeinschaften, die ihre Schmiedewerkstätten 517 außerhalb ihres Wohnbereichs platzieren, sind nur vordergündig feuerpolizeiliche Überlegungen maßgebend. Eher geht es ihnen wie den Herrschern, die wissen, warum sie das stehende Heer nicht in unmittelbarer Nähe ihrer Residenz dulden. Dem Heiligen gegenüber ist nicht nur eine gewisse Scheu, sondern auch ein sicherer räumlicher Abstand angezeigt. Und sollte eine dosierte Gewaltanwendung in Form einer Opferung notwendig werden, beziehungsweise rituell, das heißt repetitiv und mit dem Einsatz von Schein- oder Ersatzopfern durchgespielt werden, ist es von existenzieller Bedeutung, dass ein abgesperrter Bezirk zur Verfügung steht, der einigermaßen zuverlässig gewährleistet, dass die Grenze des Spiel- oder Ritualraums nicht übertreten und aus dem Opferritual nicht wieder blutiger Ernst wird. 518 Während die Einfriedung der Gewalt in den vorstaatlichen Gesellschaften durch die Religion, in den gesetzlich verfassten Gesellschaften durch die Instrumente des Rechtsstaats erfolgen kann – und im zwischenstaatlichen Bereich durch das Militär erfolgt -, bringt die moderne Technik Schmiedegötter hervor, die sich weder exterritorialisieren noch durch mobilisierten Volkszorn eliminieren lassen. Auch gibt es für sie keine sakralen Sonderzonen, die sich von einer profanen Umwelt abgrenzen lassen, für die Unterscheidung von innen und außen gibt es weder eine interne Marke noch einen äußeren Beobachterstandpunkt. Girard macht darauf aufmerksam, dass die hochkomplizierten politischen Weltsysteme hilflos sind gegenüber den vielen Gewaltausbrüchen unterhalb der nuklearen Schwelle und dass weder die über den Planeten verteilten Nuklearwaffen durch einen sakrifiziell dosierten nuklearen Eingriff entschärft und zu einer beherrschbaren Entladung gebracht werden können, noch die durch die industrielle Produktion imittierten Umweltgifte durch eine sakral kalkulierte und verabreichte Charge von Gegengiften sich unschädlich machen lassen. Während er jedoch den primitiven Gesellschaften ein Wissen um die akute Bedrohung durch die ambivalente Gewalt und einen umsichtigen Umgang mit ihr zurechnet, stellt Girard fast resignierend fest, dass die Moderne, obwohl alle Informationen zugänglich sind, einen sorg- und ahnungslosen Umgang mit den Riesengewalten pflegt und die Drohung einer globalen Katastrophe, einer kriegerischen wie eine ökologischen, im öffentlichen Bewusstsein eher in das Reich des Phantastischen und der Kino-Unterhaltung verdrängt. 519 517 In Das Lied von der Glocke (1799), in dem das Glockengießen zum Symbol der Kulturarbeit wird, platziert Friedrich Schiller die Glockenschmiede mitten in die Stadt. Folglich entfaltet das Feuer als himmlische Kraft eine verheerende Wirkung, wenn beim Anstich des Gusses die Dämme brechen und die Himmelskraft als feuerspeiender Rachen dämonisiert wird: „… Wohltätig ist des Feuers Macht, / Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht / Und was er bildet, was er schafft, / Das dankt er dieser Himmelskraft, / Doch furchtbar wird die Himmelskraft, / Wenn sie der Fessel sich entrafft, / Einhertritt auf der eignen Spur / Die freie Tochter der Natur…[…] Flackernd steigt die Feuersäule, / Durch der Straße lange Zeile / Wächst es fort mit Windeseile, / Kochend wie aus Ofens Rachen…“. in: Friedrich Schiller, Gedichte, Bd. 1, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt 1992, S. 56 518 Als Anspielung auf eine hygienische Grenzziehung zwischen zwischen dem Profanen und dem Sakralen kann in der katholischen Liturgie das Ritual der Händewaschung vor der Gabenkonsekration gedeutet werden. Während jedoch der tridentinische Kanon den Zelebranten noch deutlich als hantierenden Opferpriester markiert (Lavabo inter innocentes manus meas), werden in der nachkonziliären Ordnung der Eucharistiefeier die (blutbefleckten) Hände ausgeblendet, und die abzuwaschende Unreinheit wird psychologisiert (Lava me, domine, ab iniquitate mea), was von den Anhängern der alten Liturgie als Verharmlosung des dramatischen Geschehens kritisiert wird. Vgl. Missel quotidien des fidèles, Tours, S. 809, sowie Der Große Sonntags-Schott, Freiburg u. a. 1957, S. 620 519 René Girard, La violence et le sacré, S. 362 : « La menace que font peser sur nous nos bombes nucléaires et nos pollutions industrielles ne constitue qu´une application assez spectaculaire, certes, mais une application parmi d´autres d´une loi que les primitifs n´appréhendent qu`à demi, sans doute, 157 7. Das Opfern und das Erzählen In dem Spruch des Tempelpriesters Kajaphas am Beginn des Prozesses gegen Jesus: Quia expedit, unum hominem mori pro populo 520 zeigt sich das sakrifizielle und differenzielle System, auf das sich Kultur und Politik sowie die Verfahren der Zeichenbildung, Symbolisierung und Abstraktion stützen, in ungeschönter Nacktheit. Dieser Eine, der bei Ausbruch der Krise oder zur Verhinderung der Krise im Interesse der Vielen geopfert und sakralisiert wird, ist der Tupinamba-Gefangene als homöopathische Impfdosis gegen den drohenden kollektiven Suizid, es ist dies auch der Schmied, den man eliminiert in dem Bemühen, die Glut des Feuers und die Härte des Eisens zu bändigen und heimisch zu machen, sowie der Sakralkönig, den man bei der Krönung gleichzeitig in die Opferrolle initiiert. Aus der Sicht des Kajaphas, der befürchten muss, dass eine von der Jesus-Bewegung religiös aufgeladene Volkserhebung mit verheerenden Folgen für seine jüdischen Mitbürger verbunden wäre, ist die Überantwortung des den Tempelkult kritisierenden Wanderpredigers an die Besatzungsmacht eine Geste der Loyalität und der Staatsraison. Dass nach Girard zwischen der Gewaltbändigung durch das stellvertretende, emissäre Opfer und der Zeichen- und Bedeutungsbildung eine unauflösliche Beziehung 521 besteht, hängt damit zusammen, dass der Opfervorgang, angefangen von der Auswahl des Opfers und seiner Präparierung bis hin zur finalen Ausführung und vor allem deren Folgen, eine Aufmerksamkeit erregt, die insofern neuartig ist, als sie die Ebene des Gegenständlichen übersteigt. Was immer wieder geschieht und zu geschehen hat, ist mit sächlichen Kriterien nicht fassbar: Ab einem bestimmten Grad der krisenhaften Verdichtung und des sozialen Deliriums polarisiert sich aufgrund der mimetischen Logik die kollektive Gewalt gegen das eine Opfer, und nachdem sich die kollektive Gewalt an diesem gesättigt hat und es in seinem Blut liegt, hält sie plötzlich inne, und es folgt auf das chaotische Treiben eine seltsame Ruhe, 522 und das ganze Geschehen findet einen Abschluss, dem nichts mehr hinzuzufügen ist und der die aristotelische Erzählanforderung von Anfang, Mitte und Ende trefflicher als jede Argumentation illustriert. Dieser ungeheure Kontrast zwischen dem entfesselten Wüten und der auf unerklärliche Weise eingetretenen Ruhe, zwischen der aufgewühlten und aufgereizten Stimmung und der friedlichen Stille, dieses Umschlagen von einem Extrem ins andere erzeugt bei den Umstehenden eine Aufmerksamkeit, die nicht dem Gegenständlichen, sondern ihrem eigenen betroffenem Schweigen 523 und der neuen Befindlichkeit gilt, in der sie sich mais qu´ils devinent réelle, alors que nous la croyons imaginaire. Quiconque manipule la violence sera finalement manipulé par elle ». 520 Joh. 18, 14: „Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt“. Eine wörtlichere Übersetzung von expedit wäre: Man räumt das Problem aus dem Weg, wenn… 521 René Girard, Des choses cachées, S. 109 : « Il faut montrer qu´on ne peut pas résoudre le problème de la violence par la victime émissaire sans élaborer du même coup une théorie du signe et de la signification ». 522 Von Jean Anouilh ist diese Stille – sie wird bei Sophokles nicht thematisiert - im abschließenden Chorgesang einfühlsam interpretiert in: ders. , Antigone, Paris 1946, S. 127: « C´est fini. Antigone est calmée maintenant, nous ne saurons jamais de quelle fièvre. Son devoir lui est remis. Un grand apaisement tombe sur Thèbes et sur le palais vide où Créon va commencer à attendre la mort ». 523 Vgl. Georges Bataille, L´érotisme (1957) dt. Die Erotik, München 1994, S. 24: „In der Opferhandlung findet nicht nur eine Entblößung, sondern eine Tötung des Opfers statt. […] Das Opfer stirbt, und die Anwesenden partizipieren an einem Element, das sein Tod offenbart. Dieses Element ist das, was man, mit den Religionshistorikern, das Heilige nennen kann. Das Heilige ist eben die Kontinuität des Seins, die denen offenbart wird, die ihre Aufmerksamkeit in einem feierlichen Ritus auf 158 wahrnehmen. Was sich da, in diesem commercium ereignet hat und was dies bedeutet, davon gibt es zunächst kein Wissen. Was sich ihrem Anblick und ihrem Erleben darbietet, ist ganz und gar verschieden von den Dingen, nach denen sie sich üblicherweise und instinkthaft umsehen, wie nach etwas Essbarem, einem möglichen Sexualpartner, einem überlegenen oder schwächeren Stammesangehörigen. Das Neue, was sie mit neuen Augen sehen, ist die Leiche des kollektiven Opfers, und diese Leiche hat etwas Anderes zu bedeuten als die anderen Dinge in ihrem Blickfeld; sie steht für etwas, das eine neue Aufmerksamkeit und eine neues Gedächtnis erforderlich machen. So gerät das Opfer als mécanisme fondateur 524 für Girard nicht nur zur erstmalig erlebten und in der Folge rituell wiederholten Gründungssequenz der menschlichen Gemeinschaft; es ist der Handlungskontext, aus dem das Zeichen hervorgeht. Wie im Opfer die Versöhung der Antagonisten erfolgt und aus den bis dahin unverbunden Umstehenden sich auf unerklärliche Weise die erste soziale Zelle bildet, so erfahren die an der gemeinsamen Opferung Beteiligten das vor ihnen liegende Opfer als ein Medium ihrer Verständigung und als einen ersten Zeichenbaustein einer Sprache: Le signifiant, c´est la victime. Le signifié, c´est tout le sens actuel et potentiel que la communauté confère à cette victime et, par son intermédiaire, à toutes choses. 525 Da die Menschen, wenn sie die Krise heil überstanden haben, am Fortbestehen des Friedens und der Versöhnung interessiert sind, versuchen sie auch dieses versöhnende Opfer als sacrifice réconciliateur zu wiederholen und damit das Zeichen ihrer Verständigung zu reproduzieren. Indem sie in Funktion der gruppenintern nicht zu widerlegenden Tötungslogik das ursprüngliche und erstmalige Opfer als victime originaire in ihren Riten durch neue Opfer ersetzen und dennoch den gleichen versöhnenden Effekt erzielen, reproduzieren sie das Eingreifen der höheren Macht und bringen das Sakrale hervor, dem sie die Einmütigkeit sowohl bei der Bestimmung des Opfers, als auch bei dessen Liquidierung verdanken. Wenn die Menschen das Sakrale hervorbringen, müssen sie es, um sich seines Schutzes und Segens zu versichern, auch darstellen und dingfest machen. Und dies bedeutet, dass sie nach Opfern Ausschau halten müssen, die sich dafür eignen, die erstmalige Hierophanie wieder und wieder geschehen zu machen. In einem langen Lernprozess geschieht es dann, dass das erstmalige Opfer, nachdem es von Ersatzopfern 526 abgelöst wurde, schließlich durch andere Dinge als die Opfer repräsentiert wird, durch verschiedenartige Dinge, die, wenn sie auch den Blick auf das ursprüngliche Opfer verstellen und andere Formen und Namen annehmen, dennoch dieses erste Opfer bezeichnen und bedeuten. Die Abstraktion der Ersatzopfer vom erstmaligen Opfergeschehen wird jedes Mal von neuem als ein ‚wunderbarer Tausch’ im Sinne des Irenäischen admirabile commercium erlebt, der für beide Parteien einer win-winden Tod eines diskontinuierlichen Wesens richten. Durch den gewaltsamen Tod wird die Diskontinuität eines Wesens gebrochen: das, was bleibt und was in der eintretenden Stille die angstvollen Seelen spüren, ist die Kontinuität des Seins, der das Opfer zurückgegeben wurde“. 524 René Girard, Des choses cachées, S. 112 525 René Girard, Des choses cachées, S. 112 526 Vgl. Michel Serres, Georges Rémi ou René Girard, in : Maria Stelle Barberi (Hg.), La spirale mimétique, S. 148 : « Mesurez alors, et le plus sérieusement du monde, le plus authentique des progrès humains. Religion d´abord : ne vaut-il pas mieux sacrifier une bête qu´un homme ? Droit, en second lieu : ne vaut-il pas mieux condamner un coupable qu´un innocent ? Jeux, enfin : ne vaut-il pas mieux une boule de bois qu´un chien, un misérable ou un homme intègre sans cœur ni tête ? Il n´y a d´avancée dans l´histoire que les remèdes à notre violence. Tout le reste, comme en retour, se déduit de la Violence et le Sacré ». 159 Situation gleichkommt, mehr noch, in der die Opfernden insofern im Vorteil sind, als sie nicht nur die höhere Macht auf ihre Seite bringen, sondern durch die stete Neuwahl von Opferobjekten einen Zeichen- und Differenzierungsgewinn erzielen, der den Vorrat an Kommunikationschancen, Medien und Techniken kontinuierlich erweitert. Auch die Entstehung der Lautsprache als gleichsam digitalisierbares Zeichensystem führt Girard auf die Opfersequenz zurück. In seiner Rekonstruktion der sprachlichen Urszene lässt er das Hin und Her der Laute und Worte in der mimetischen Krise erfolgen, die in der rituellen Vertonung nachgespielt und aufgeführt wird und in der im Umsetzen des gesamten akustischen Materials das Getöse und die Schreie reproduziert werden, die die Opfersuche und schließlich die feierliche und heilbringende Opferung begleiten. Während die Rufe und Schreie anfangs ebenso unartikuliert sind, wie das krisenhafte Treiben chaotisch ist und keine angemessene Raumaufteilung sich abzeichnet, wird nach und nach – im mimetischen Sog - ein Punkt erreicht, wo die Laute sich in dem Maß zu rhythmisieren und zu strukturieren beginnen, wie die Körperbewegungen, beziehungsweise im Ritus die Tanzbewegungen, im Hinblick auf den Opferakt, welcher ohne Kooperation und Abstimmung nicht gelingen kann, zielführende choreographische Formen annehmen und an Schlüssigkeit und Eindeutigkeit 527 gewinnen. Wie die Konfusion der Gesten, wird auch die Konfusion der Laute auf die Opfersequenz eingestimmt; dem schrittweisen Vorgehen, vom rituellen Tanz nachgespielt, entspricht eine Prosodie der Stimmen und deren Aneinanderreihen zu einem Text. So ist also der Zyklus von violence et sacré, bei dem die Kopula eine höchst dynamische Rolle spielt, nicht nur das Programm für die von der animalischen Basis ausgehenden Entstehung der menschlichen Gemeinschaft aus dem Geist der durch die Opferung erzielten Übereinstimmung, das Programm für das Aufkommen der religiösen und kulturellen Riten und Institutionen; auch die Sprache hat ihren Ursprung in der Emergenz des Sakralen aus der frühmenschlichen Weltlosigkeit: Il n´y pas de culture au monde qui n´affirme comme premiers et fondamentaux dans l´ordre du langage, les vocables du sacré. 528 In dem Essayband Der Untergang von Kasch vertritt der Schriftsteller und italienische Girard-Verleger Roberto Calasso eine gegenüber dem Autor von La violence et le sacré Girard mehrfach erweiterte Opfertheorie. Er verlegt die hypothetische Genese des Opfers in eine vorsoziale, animalische Sphäre, in der jedes Lebewesen, bevor das Bedürfnis nach Sozialisation wach wird und der Prozess der Hominisation einsetzt, ein stoffwechselbedingtes Sättigungsbedürfnis verspürt und, um zu überleben, seinen Hunger stillt. Dabei erfordert das Stillen des Hungers, da ein 527 Zu der Illustration des Begriffs des Konzerts und der konzertierten Aktion Vgl. Hermann Hesse, Musik, Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe, hg. von Volker Michels (1976), erw. Aufl. Frankfurt/M 1986, S. 79: „Gleich dem Tanz und gleich jeder Kunstübung nämlich ist die Musik in vorgeschichtlichen Zeiten ein Zaubermittel gewesen, eines der alten und legitimen Mittel der Magie. Beginnend mit dem Rhythmus (Händeklatschen, Aufstampfen, Hölzerschlagen, früheste Trommelkunst ) war sie ein kräftiges und erprobtes Mittel, eine Mehrzahl und Vielzahl von Menschen gleich zu stimmen, ihren Atem, Herzschlag und Gemütszustand in gleichen Takt zu bringen, die Menschen zur Anrufung und Beschwörung der ewigen Mächte, zum Tanz, zum Wettkampf, zum Kriegszug, zur heiligen Handlung zu ermutigen“. Aus der Sicht Girards wäre diese Passage als ethnologisch einzustufen; Hesse beschreibt den Übergang der Vielstimmigkeit zur Übereinstimmung, übersieht jedoch das opfertheoretische Programm, von dem dieses konzertierende Verfahren gesteuert wird. 528 René Girard, Des choses cachées, S. 11 160 Lebewesen dies immer auf Kosten eines anderen tun muss und lange bevor es zu dem Girardschen Ausgangspunkt des Konflikts der Begierden kommt, einen Eingriff in das kosmische gedachte Ganze, welches im Kern eine Gewaltanwendung ist. Paradigmatisch für dieses Eingreifen sind die beiden nicht zurücknehmbaren Akte des Essens und Tötens, denen die umkehrbaren und wiederholbaren Akte des Atmens, des Eros 529 und der Musik nachgebildet sind und die ihre Entsprechung sowohl in den – allerdings beschönigenden - Mythen als auch in den symbolisch konkludierenden, das heißt: mit Ersatzopfern agierenden Riten finden. Durch dieses Eingreifen wird das kosmische Ganze beschädigt, es entsteht in ihm ein Riss und eine durch den Pfeil der Zeit geschlagene offene Wunde, 530 und nur dadurch, dass in einem opferökonomischen Sinn das gewaltsam vom Ganzen Getrennte dem Gott geweiht, also wieder mit dem Ganzen vereinigt wird, kommt es zu einer Entschädigung. Indem der Akt der Vernichtung und Verstoßung als ein Akt der Wiedereingliederung und Wiedervereinigung begangen wird, erhält auch hier das Opfer einen Doppelcharakter. Während es jedoch für Girard ohne den Zyklus von violence und sacré, also ohne Opfer keine Religion, keine Gesellschaft und keine Kultur gibt, verknüpft Calasso, der die soziogenetische Engführung der Girardschen Opfertheorie kritisiert, 531 bereits die Entstehung und Erhaltung des nackten Lebens mit dem Opfer und schafft durch das Opfer die Voraussetzung, dass der profane Bereich der Kulturen von einer sakralen Zone ausgespart wird, der nun wachsen kann, ohne in jedem Augenblick vom Heiligen bedroht zu werden. Jede Ordnung – und nach Calasso ist es nicht nur die soziale Ordnung, sondern das Leben, welches über sich das kosmische Zelt [hat], dieses unermessliche Gewebe, das alles mit allem verbindet und alles in allem wiederholt - beruht auf einer Aussonderung, denn die Ordnung muss kleiner sein als das Ungeordnete und bedarf zu ihrer Erhaltung mehr als nur des Gesetzes. In dem Kapiteln Elemente des Opfers und law and order formuliert er lapidar: ‚Order’ ist das, was ’law’ allein nicht zu leisten vermag. ‚Order’ ist ‚law’ plus Opfer, die ewige Ergänzung, der ewige Überschuss, der vernichtet werden muss, damit ‚order’ existieren kann. Verweist Girard auf das verschwiegene Fundament der Gesellschaft, so ist für Calasso das Opfer der archetypische Übergang von der Naturgeschichte zur Humangeschichte und der Auftakt zur Eroberung eines kulturellen Spiel- und Freiraums. Im Akt der Vernichtung wird – auch wenn es sich nur um Kräuter handelt – die Schuld bestätigt, auf der die Kultur beruht: ihre Ablösung, ihre Isolierung von allem übrigen, insofern dabei eine Sache, ein Opfer, isoliert und ausgestoßen wird. Dadurch, dass die Gesellschaft das Opfer einer von ihr selbst verschiedenen Instanz weiht, anerkennt sie die eigene Abhängigkeit von dem, wovon sie sich gelöst hat. Zur gleichen Zeit hält sie das Äußere auf Distanz und bietet ihm das Opfer anstatt ihrer selbst. Das ist die Verehrung. Das ist die Schlauheit der Aufklärung. Damit werden die Opfer zu einer Größe, die nicht nur in der modernen, angeblich opferlosen Zeit – nach Girard steht diese Zeit, quasi mit dem Rücken zur Wand, vor 529 Zur Analogie des Liebesakts mit dem Opfer und der Entblößung als gefahrlosem Äquivalent der Tötung vgl. Georges Bataille, L´érotisme (1957), dt. Die Erotik, München 1994. 530 Roberto Calasso, Elemente des Opfers und Law and order in: ders., Der Untergang, S. 162 - 205 531 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194: „Darin, dass Opfer und und kosmische Physiologie derart vollkommen zur Deckung gebracht werden, sieht Girard ein bloßes Täuschungsmanöver, denn sein Blick lässt sich nicht einmal für einen kurzen Moment von der Physiologie der Gesellschaft ablenken. Daher entgeht ihm, dass die soziale Physiologie vor allem deshalb so unwiderstehlich wirkt, weil sie sich zunehmend der kosmischen Physiologie bemächtigt, bis sie sich diese schließlich restlos einverleibt hat“. 161 der Alternative des finalen, nuklearen Opferschlags beziehungsweise der religiös motivierten, globalen Absage an jede Gewaltanwendung -, sondern auch im ganzen Kosmos allgegenwärtig ist. An vielfältigen Phänomenen ist dies abzulesen. Wo immer das Göttliche ins menschliche Bewusstsein eindringt, dort herrscht Extase, Sexualität und Gewalt, wie dies beispielsweise durch die griechischen Mythen belegt ist, in denen menschliche Frauen durch Götter vergewaltigt werden. Während nach Calasso die frühzeitliche Gesellschaft als fortwährendes Opfer begriffen werden kann, sieht die Neuzeit geradezu den normativen Kern der Kultur darin, die Moral des öffentlich zugemuteten sacrificium abzuschaffen. 532 Dennoch lebt das Opfer unerkannt in zahlreichen Metamorphosen weiter. Nicht nur die ganze Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ist zutiefst gequält vom Opfer und dessen schrecklicher Wahrheit. In Hegels Dialektik, sie ist in seinen Augen eine Abschrift, eine verfälschte Übersetzung des Opfers, sieht Calasso ebenso eine unausgesprochene Opferbewegung am Werk, wie sie in der Abraham-Deutung das Denken Kiergegaards beherrscht und in der Gegenüberstellung des Dionysosopfers mit dem des Gekreuzigten die Humanismuskritik von Nietzsche motiviert, welcher das Zurückdrängen des Opfers in der christlichen Religion als für die Menschengattung bedrohlich und geradezu als Kulturverlust und als Geste der Entartung brandmarkt. 533 Besteht die Opferkrise bei Girard darin, dass im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten die zum sozialen und nationalen Druckausgleich eingesetzte Gewalt unkontrollierbar zu werden droht und sich verbietet, weil taktische sakrifizielle Präzisionsschläge sogleich apokalyptische Ausmaße annehmen würden, sieht Calasso den Grund für das Fehlschlagen der für die Heilung des kreatürlichen Risses, der Zeitwunde und der kosmischen Wiedervereinigung zuständigen Opfer nicht in der Brisanz ihres Gegenstands, sondern im Ausbleiben oder Verlust ihrer Adressaten. Da nun einmal das Opfer über unser Atmen und Essen und alle, auch geistigen und kulturellen, Stoffwechsel- und Kommunikationsvorgänge hinaus in unsere Physiologie eingeschrieben ist, reicht das Gesetz - es neigt zur Monotonie, seine Variationen sind kläglich - zur Erhaltung des individuellen und sozialen Organismus nicht aus. Am Ende seiner Emanzipationsgeschichte, konstatiert Calasso, vermag das Abendland nichts außer sich selbst anzuerkennen und weiß nicht, wem es sich hingeben soll. Da die Götter zwar gestürzt sind, aber mit den Hypostasen der Vernunft, der Freiheit, der Menschlichkeit und vor allem der Wissenschaft und Technik beziehungsweise der jeweils ‚guten Sache’ es noch lange nicht vorbei ist, gleicht die Moderne in ihrer hinter der Unrast der Praxis verborgenen Lähmung zum einen einer Ordnung ohne sichtbare Aussonderung, also einer Ordnung wie der des pflanzlichen Stoffwechsels, die vom Rascheln eines Baumes nicht zu unterscheiden wäre. Da aber andererseits Vernichtung – bei zynischer Betrachtung: als ob der 532 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Politische Essays, Frankfurt/M 1998, S. 152 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 13, München 1980, S. 470: „Der Einzelne wurde durch das Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, dass man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer. Vor Gott werden alle Seelen gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Werthschätzungen! […] Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, dass Niemand geopfert wird“. 533 162 Glaube an das Opfer ungebrochen wäre wie zu besten Sakralzeiten 534 - in großem Maßstab geschieht, drängt sich die Deutung auf, diese Vernichtungen seien nichts anderes als Opferhandlungen auf der verzweifelten Suche nach den verloren gegangenen göttlichen Weihe-Adressaten. Für Calasso ist mit der Abschaffung des Opfers als Institution keinesweg die opferlose Zeit angebrochen. Vielmehr zieht sich das Opfer als Strategie der Machterhaltung und –steigerung unter dem kosmischen Zelt auf alternative Schauplätze zurück, wie zum Beispiel den Krieg, wo allerdings im Europa des August 1914 die ganze liturgische Apparatur des Opfervorgangs noch einmal in Gang gesetzt wurde und wo nach dem nächsten Weltkrieg mit dem Holocaust wiederum mit einer sakrale Vokabel die massenhafte Tötung von Menschen mit einem Schleier von kosmischer Wiedervereinigung abgedeckt wurde. Während der Opfervorgang das Schuldbewusstsein nicht etwa unterdrückt, sondern eine sich verarbeitende Schuld ist, entzieht die säkularisierte Welt die Vernichtung dem Blick, wie etwa der Pilot nach dem Ausklinken der Bombe im Augenblick des Einschlags schon jenseits aller Sichtweite ist. Den im großen Stil vorgenommenen gewaltsamen Eingriff, aus dem jede Schuld vertrieben ist, sieht Calasso im wissenschaftlichen Experiment, das er ebenso mit einem riesigen Schlachthof vergleicht wie die getarnten militärischen Versuchsanlagen in den Wüstengebieten. Die ganze industrielle Produktion und der damit verbundene Massenkonsum beruhen auf der in diesem Kult der Präzision und der Dezision – die Wortgeschichte von lt. caedere erinnert wie auch frz. trancher an den kultischen Ursprung - praktizierten Kraftverteilung, bei der wie im Opfer gerade der unwiderruflich vernichtete Teil, la part maudite und la part du feu, 535 das Überleben gewährleistet. Nur von der im Finstern durchgeführten Forschung und von der ungeheuren Vergeudung durch das Experiment kann das Gesamt der gesellschaftlichen Produktion zehren. Daher muss auch der Versuch scheitern, die Grenzen der experimentellen Forschung zu bestimmen. Auch wenn die säkularisierte Welt den Blick von der Vernichtung 536 abwendet, gilt: Um etwas Neues zu produzieren, muss zuvor eine unbekannte Materialmenge verbrannt werden. Und da das Verbrannte in der immanenten Perspektive der Neuzeit den Status des Geopferten ablegt – weil die Opferadresse abhanden gekommnen ist -, muss, seit Durkheims Entdeckung, dass das Religiöse das Soziale ist, die produzierende Gesellschaft zugleich die Adresse ihrer Opferhandlungen sein. Mit dem Aufkommen des Gesetzes verlagert sich die dem Opfervorgang und in erster Linie dem Opfer zugehörende Schuld von Anfang an auf das Geopferte, das jetzt allerdings nicht mehr ‚Opfer’, sondern ‚der Schuldige’ heißt. […] In der Zeit zwischen dem König Ödipus und den Evangelien hat der Opfervorgang seine Verwandlung zum Prozess 534 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 164: „Die Azteken führten ständig Krieg, aber nicht weil sie auf Eroberung aus waren. Bei ihnen diente der Krieg vor allem dem Zweck, Gefangene zu machen, die dann geopfert werden konnten. Nach den Berechnungen einiger Gelehrter waren es zwanzigtausend im Jahr. Im Vergleich mit dem Opfer war der Krieg Nebensache“. 535 Vgl. Maurice Blanchot, La part du feu, Paris 1980 sowie Georges Bataille (1949), La part maudite, Paris 1967. Bataille versucht den Kult der Menschenopfer im vorkolumbianischen Mexiko im Rahmen einer allgemeinen Ökonomie zu erklären. In dieser Ökonomie gilt es, nach dem Mythos der göttlichen Erschaffung der kosmischen Energiequelle, die Sonne zu ernähren. Das Opfer, welches den höchsten Nutzen für das Leben darstellt, nennt er la part maudite. Es ist die Energie, die als Gegenleistung für die solare Präsenz verbraucht werden muss. Ein Nichtverbrauch würde den energetischen Tausch zwischen Himmel und Erde unterbrechen. 536 Der Gebrauch der Pathos-Formel in den unterschiedlichsten Vernichtungskontexten liest sich unter dem Aspekt des atmenden Nehmens und Gebens wie eine unerhörte suscipiat-Bitte und eine Suche nach dem verlorenen göttlichen Gegenüber: Terroropfer, Kriegsopfer, Aidsopfer, Verkehrsopfer, Kündigungsopfer, Flutwellenopfer, Erdbebenopfer… 163 vollzogen. Nun obliegt die Wahl des Opfers dem Gesetz. Doch der sich vollends bewährende, da vom Heiligen befreiende Prozess ist ausschließlich dasjenige Verfahren, bei dem der Unschuldige verurteilt wird. Und obwohl das Heilige als solches nicht mehr wahrgenommen wird und das spezifisch moderne Opfer ein gewaltiges Industrieunternehmen ist, das die Bezeichnung Opfer ebenso zurückweist wie die Erinnerung ans Opfer, wirken nach Calasso die abgeschafften Mächte namenlos in der Finsternis und hinterlassen ihre Spuren. Mit anderen Worten: Da zur Stabilisierung der Ordnung die Aussonderung eines verfemten Teils nicht vollzogen wird, kann alles zum verfemten Teil werden und sich die Situation der ursprünglichen Schreckens wieder einstellen, in der etwas Diffuses, Allgegenwärtiges dazu anspornt, beinahe grundlos zu töten, sich selbst oder beliebigen anderen grausame Qualen zu bereiten. Denn das Gesetz allein ist nach Calasso nicht in der Lage, der vom Geben und Nehmen bestimmten Physiologie der Gesellschaft wie auch des Individuums zu entsprechen. Es kann nicht die Rolle des Opfers übernehmen, eine auf langfristige Wirkung berechnete List, um, wie es auch der Theorie von Girard entspricht, die Ausscheidung und Bändigung des Heiligen zu erreichen. Die Erwartung der Neuzeit, ein Leben ohne das Heilige und ohne die gegenseitige Rückbindung von violence und sacré sei ein vollkommener, unbeschwerter und wünschenswerter Zustand, erfüllt sich nicht. Auf das Gesetz zu setzen, erweist sich, wie der Blick in die Tageszeitung zeigt, zumindest als riskant. Dass das Gesetz von jeher und für immer von etwas Älterem und Stärkeren mitgerissen wird, illustriert der in den Evangelien erzählte Prozess gegen Jesus. Obwohl in den Ermittlungen kein ungesetzliches Verhalten nachweisbar ist, resigniert Pilatus und wäscht sich die Hände, weil ihm klar ist, dass das Gesetz trotz der Nichtigkeit der Anschuldigungen nicht zu einem Freispruch führen kann. Jesus wird nicht vom Gesetz verurteilt, sondern weil das Gesetz von etwas Stärkerem dominiert wird. Schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt wird er nicht kraft Gesetzes, sondern von der Volksmenge und ihren Priestern. Die Kraftlosigkeit des Gesetzes statuiert Calasso mit Vehemenz und erzählerischer Eleganz am Beispiel des Charles Maurice Talleyrand, der als Sproß eines biologischen Adels, der es nicht zulässt, Gründe oder Rechtfertigungen anzuführen, 537 nach seinem Verzicht auf das Bischofsamt eine erstaunliche Karriere als Staatsmann unter Napoleon, Ludwig XVIII., Karl X. und Louis Philippe zurücklegt und allein durch seine formvollendete Anpassung an diese heterogenen Stationen der Macht das Prinzip der Prinzipienlosigkeit verkörpert. Als Angehöriger eines großen Geschlechts aus dem Périgord steht er in einer Tradition, in der das Individuum hinter dem Namen und dem Wappen zurückzustehen hat, zumal es sich bei Talleyrand um den hinkenden Erstgeborenen handelt, der aus der Familie ‚ausgeschieden’ und der Kirche überlassen werden muss, weil er dem einzigen ebenbürtigen Dienst, dem der Waffen, nicht gewachsen ist. In die Rolle des Geopferten gezwängt, wird er hineingeboren in eine Welt, die nach der Zerschlagung des Ancien Régime durch den vom Willensprinzip beseelten Napoleon den vergeblichen Versuch macht, in einer Heiligen Allianz sich wieder auf den sakralen Ursprung der Macht zu berufen, aber die Erfahrung machen muss, dass letztlich nur von einer fiktiven Legitimität getragene Konventionen erzielt werden und somit nach Tocquevilles Diagnose die Revolution ein Dauerzustand wird, in dem von Fall zu Fall eine Verbindung von Doktrin und Gewalt zustande kommt. Talleyrand war der erste, 537 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 26 164 der begriff, dass die neue Welt, die auf der Suche nach einem Gleichgewicht, aus der napoleonischen Ära hervorgegangen war, kein Gesetz mehr erwartete oder verlangte, sondern den Anschein eines Gesetzes. […] So begann das Gesetz ein bloßes Ornament der Tatsachen zu werden, ein emphatischer Schnörkel, ein nützlicher Topos, um Denkmäler einzuweihen. 538 Da in historischer wie aktueller Perspektive Gesetze und Gesellschaftsverträge im Zeitalter der Massen- und Machtpolitik sich als höchst unzuverlässige Mittel der Gewalteindämmung herausstellen und man sich in Calassos zugespitzter Formulierung ohne Liturgie 539 schon ein einem riesigen Schlachthof bewegt, 540 übernimmt Talleyrand, stets in höflicher Distanz zum Gesetz, auf der diplomatischen Bühne Europas die Rolle eines Zeremonienmeisters: Seine Politik, ungreifbar, ständig im Fluss, dient dazu, diesen Schrecken zu mildern, ihn für eine Weile noch mit dem Hauch seiner edlen und blutigen Vergangenheit zu überziehen. 541 Der Aufschub um diese Weile noch ist sowohl Talleyrands diplomatische Praxis als auch seine Botschaft an die Zeit, in der die bürgerlichen Konventionen zur absoluten Macht gelangen. Diese Botschaft besteht in der Lebensweise, die nach der Niederlage des Opfers zum Vorschein kommt, vom Opfer jedoch den Gestus bewahrt, der jetzt aber über alle Gebärden verstreut ist. 542 Wie die nach dem Wegfall der sakralen Bindung entgrenzte Macht als diffuse Gewalt fortbesteht, so ist jetzt das vormals rituell gebundene Zeichensystem emanzipiert, entgrenzt und quasi digitalisiert, so dass es keinem bestimmten, liturgischen Signifikat gilt, sondern alles und jenes, und gerade auch das Alltägliche, bezeichnen kann. Und dennoch, und da geht Calasso mit großer Entschlossenheit über die von Girard suggerierte Analogie von Opfer- und Erzählsequenz hinaus, konserviert dieses neue Sprechen die Opferbewegung. Dieses neue Sprechen hat in seiner konservierenden Funktion jedoch nicht den Status einer Entsprechung der Opferhandlung; es übernimmt die Opferleistung als solche und mutet sich zu, den Opferzweck, der darin besteht, dass man sich vor dem drohenden Ungeheuren in – jedenfalls vorläufige - Sicherheit bringt und das Heilige auf Abstand hält, tatsächlich zu erfüllen. Am Ende der Erzählung, die im Zentrum der Essaysammulng steht und die als Fortsetzung der Talleyrand-Diplomatie mit Mitteln des Märchens gedacht werden kann, umreißt Calasso mit seiner Deutung der von Leo Frobenius 543 im Jahr 1912 538 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 22-23 Vgl. Peter Sloterdijk, Requiem für eine verworfenes Organ in: ders., Sphären I. Hier wird auf der Basis einer phänomenologischen Ontologie die Homineszenz ab utero entfaltet, wonach die ursprüngliche Dyade von Foetus und Plazenta bei der Entbindung aufgebrochen wird und wo die Plazenta zugunsten des neuen Lebens als eine Art part maudite entsorgt wird. S. 386: „Die vier Hauptmethoden der Plazenta-Versorgung – Beerdigung, Aufhängung, Verbrennung und Versenkung im Wasser – entsprechen den Elementen, denen als Mächen der Schöpfung das Ihre zurückgegeben werden soll. Plazenta-Asche galt bei bei den Völkern des Nordens als mächtiges Zaubermittel. […] Erst seit dem späteren 18. Jahrhundert setzt, von der höfisch-bürgerlichen Sphäre und ihren Ärzten ausgehend, eine durchgreifende Plazenta-Entwertung ein. […] Tatsächlich breitet sich erst seit dieser Zeit bei Klinik- wie bei Hausgeburten in den Städten die Gewohnheit aus, die Plazenta als Abfall zu behandeln. […] Im 20. Jahrhundert beginnt die kosmetische und pharmazeutische Industrie sich für plazentales Gewebe zu interessieren, weil es als Rohstoff für Kurmittel und regenerative Hautmasken in Betracht gezogen wird“. 540 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 16 541 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 27 542 Roberto Calasso, In den Ruinen von Kasch, in: ders., Der Untergang von Kasch, S. 152 - 162 543 Leo Frobenius (1873 – 1938), seit 1934 Direktor des Museums für Völkerkunde Frankfurt/M. Sein Hauptgebiet: die Eingeborenenkulturen Afrikas, wohin er mehrere Forschungsreisen unternahm. 539 165 von einer Afrika-Expedition mitgebrachten Geschichte vom Untergang eines früheren ostafrikanischen Königreichs eine Literaturtheorie, die sich dezidiert in den Bezug zu seiner und anderen Opfertheorien 544 stellt und ohne diesen Hintergrund völlig unverständlich wäre. Wird in den vorausgehenden Beobachtungen im Wechsel von literaturkritischen, mythologischen und ethnologischen Ansätzen der Zusammenhang von Handlungsprogramm und Erzählstruktur mehr suggeriert als behauptet, lässt Calasso keinen Zweifel an einer analogischen Phasierung von Opfer und Erzählung, die er als Systeme mit identischer Aufgabenstellung versteht und deren Unterschied nur in der Wahl der Mittel besteht, mit denen sie das Ziel der Gewaltprävention und – protektion und damit der kollektiven Immunisierung anstreben. Auf das Reich des Blutes folgt das Reich des Wortes. In diesem Reich wird nicht nach Maßgabe des Ritus getötet, sondern der Tod wird durch eine rasch und unbezähmbar aufkommende Unordnung beschworen. Die Worte […] ersetzen das Opfer. Wie diese haben sie die Macht, sich Gehorsam zu verschaffen. […] Das Erzählen hat etwas an sich, was sich der Aburteilung zutiefst widersetzt, den von ihr ausgehenden Zwang überwindet und der herabsausenden Klinge entgeht. Das Erzählen ist ein Voranschreiten und ein Zurückwenden, ein Wogen der Stimme, ein ständiges Tilgen der Grenzen, ein Umgehen der stechenden Spitzen. Der Untergang von Kasch ist der Ursprung der Literatur. 545 In wenigen Worten ist hier der Unterschied zwischen der erzählerischen Prosodie und der sakralen Prozession markiert. Die Unerbittlichkeit des Opfergangs und seiner rituellen Begehung unter priesterlicher Führung wird dem voranschreitenden, zurückwendenden, umweghaften und Grenzen überschreitenden Erzählen mit seiner freien Zeit- und Raumeinteilung gegenübergestellt. In beiden Fällen ist das Fortschreiten ein Vorangehen zum Untergang und zur Zerstörung, wobei aber etwas sich dieser Zerstörung entzieht: die Worte des Erzählers und eine Stimme, die weiter vom Untergang von Kasch erzählt. In der von Frobenius notierten Geschichte, die ihm von einem sehr alten Kamelversorger aus El Obeid erzählt wurde und die Calasso seit seiner Jugend beschäftigt hat, heißt es, der König von Naphta in Kordofan, dem heutigen Sudan, der sich vor dem Volk stets verhüllt hat, sei der reichste Mann der Welt gewesen, aber auch der traurigste, denn jeder König sei nach einer Reihe von Jahren zusammen mit einem Gefährten, der er sich auswählen durfte, geopfert worden. Den Priestern, die ständig die Sterne beobachteten, wurde der Zeitpunkt des Opfers enthüllt. Einmal habe ein König als seinen kommenden Begleiter im Tod den Geschichtenerzähler Far-li-mas ausgewählt. Dieser konnte so spannend erzählen, dass alle, die ihm zuhörten, die Zeit vergaßen. Far-li-mas begann zu erzählen. – Der König Akaf hörte. Die Gäste hörten. Der König und die Gäste vergaßen zu trinken. Sie vergaßen zu atmen. Die Sklaven vergaßen 544 Vgl. Georges Bataille, La littérature et le mal (1957), dt. Die Literatur und das Böse, München 1987, S. 61: „…ich muss jedoch daran erinnern, dass jene Künste, die in uns Angst und die Überschreitung der Angst lebendig erhalten, Erben der Religionen sind. Unsere Tragödien, unsere Komödien sind die Fortsetzung der ehemaligen Opferhandlungen…“. 545 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 160 - 161 166 die Bedienung. Sie vergaßen zu atmen. Far-li-mas’ Erzählung war wie Haschisch. Als er geendet hatte, waren alle wie von einer wohltuenden Ohnmacht umfangen. 546 Sali, die Schwester des Königs, verliebte sich in Far-li-mas, und dabei wurde in ihr der Wille wach, ihren Geliebten zu retten und nicht mit ihm in den Tod zu gehen. Sie lud daher viele Menschen zu den Erzählungen von Far-li-mas ein – schließlich auch die Priester, die beim Zuhören die Betrachtung der Sterne vergaßen. Die Priester begingen die sämtlichen Opfer und Gebete. Vielen Ochsen wurden die Fesseln durchschlagen. Den ganzen Tag über wurden die Gebete im Tempel nicht unterbrochen. Am Abend kamen wieder alle Priester in den Palast des Königs Akaf. Am Abend saß Sali wieder bei ihrem Bruder, dem König Akaf. Am Abend begann Far-li-mas wieder seine Erzählung. Und ehe noch der Morgen graute, waren alle: der König Akaf, seine Gäste, seine Gesandten und die Priester in Verzückung und Zuhören eingeschlafen. 547 Die Priester wollten daher den gefährlichen Geschichtenerzähler wegen seiner revolutionären Theologie: Gottes Werke sind groß. Das größte ist aber nicht seine Schrift am Himmel, sondern das Leben auf der Erde 548 töten. Durch ihren Bruder, den König, erreichte Sali aber, dass ihr Geliebter vor dem ganzen Volk auftreten durfte. Far-li-mas hat die Ordnung in Naphta zerrissen. Diese Nacht wird es zeigen, ob dies Gottes Wille war. 549 In der entscheidenden Nacht der Erzählung rührt Far-limas die Herzen der Menschen so sehr, dass am Morgen die Priester tot am Boden liegen. Glück erfüllte die Gemüter der einen, Entsetzen die Herzen der anderen. Je näher der Morgen kam, desto gewaltiger stieg die Stimme, desto lauter war der Widerhall in den Menschen. Die Herzen der Menschen bäumten sich gegeneinander auf wie im Kampf. Sie stürmten gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer Gewitternacht. Blitze und Schläge der Wut trafen einander. Als die Sonne aufging, endete die Erzählung des Far-li-mas. Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten Verstand der Menschen. Denn als die Lebenden um sich sahen, fiel ihr Blick auf die Priester. Die Priester lagen tot am Boden. 550 Nun enthüllte sich der König zum ersten Mal vor dem ganzen Volk, das ihm zujubelte und die heilige Tradition, den König zu opfern, preisgab. Die bisherigen heiligen Haine wurden zu fruchtbarem Ackerland umgepflügt, und für den König von Kordofan begann – zusammen mit seinem Volk – ein neues, langes und glückliches Leben. Seitdem wurden in Naphta keine Menschen mehr getötet. 551 Nach seinem natürlichen Tod wurde Far-li-mas selber König, und unter ihm erreichte Naphta den Höhepunkt des Glücks, aber auch sein Ende. Der Ruhm von Far-li-mas erfüllte nämlich alle Länder vom Osten bis zum Westen, was den Neid der Menschen weckte. Die Nachbarvölker verbündeten sich gegen Naphta, besiegten das Reich des Far-li-mas und vernichteten es. 546 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 144 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 147 - 148 548 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 148 549 ebenda 550 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 150 551 Roberto Calasso, Der Untergang, S, 151 547 167 Naphta wurde zerstört und damit das stärkste Schloss in dem großen Reiche. Das große Reich zerfiel in Stücke. Es wurde von wilden Völkern überschwemmt. Die Menschen vergaßen die Kupfer- und Goldminen. Die Städte verschwanden. Von der Zeit Naphtas blieb nichts übrig als die Erzählung Far-li-mas’, die dieser vom Lande jenseits des Meeres im Osten mitgebracht hatte. 552 Für Frobenius selber besteht zunächst das Sensationelle dieser Geschichte darin, dass ein König aus dem fernen Indien einen Sendboten an den Hof von Naphta sendet, der herrliche Märchen erzählt und dann die Staatsform umbildet […] und auf einem Präsentierbrett in nicht mehr als einer halben Stunde die ganze Weisheit, Jahrtausende umfassende Weisheit serviert. 553 Einige Jahre später bemerkt er jedoch, dass dieses Untergangsmärchen über die politische Deutung hinaus an einen kulturellen Umbruch erinnert, in dem die Menschen in der Ergriffenheit matt geworden waren und dem Bedürfnis nach Begriffsbildung zu weichen begannen, ihre Vitalität einbüßend. 554 Calasso knüpft an diese Deutung an und sieht in dieser Geschichte nicht nur den Übergang von einer Welt zur anderen und von einer Ordnung zur anderen, sondern die Diagnose der Anfälligkeit einer jeden Ordnung, gleichgültig, ob sie das Opfer praktiziert oder es verstößt. Der Untergang von Kasch erscheint bei Calasso als eine Parabel für das Geschick des Abendlands. Danach haben zunächst die griechischen Philosophen, dann die christlichen und später die naturwissenschaftlichen und aufklärerischen Erzähler die Menschen durch ihre neuen Geschichten so gefesselt, dass sie darüber die Opfer vernachlässigten Zunächst brachte diese Abkehr vom Opfer Glück und einen im globalen Vergleich unerreichten Wohlstand, aber auch den Neid, der den Untergang vorbereitet. Die abendländische Zivilisation zeigt sich als ein einmaliges und äußerst zerbrechliches Gebilde, das nach dem Verlust der Opfer und der Götter vorläufig nur durch Ersatzkonstruktionen, durch Erzählungen, Diskurse und durch einen quasi-religiösen Schein, den der Legitimität 555 zusammengehalten wird. Die esoterische Seite des Opfers ging nach ihm ins Geschichtenerzählen über, weshalb sich Calasso selber als Geschichtenerzähler versteht. 556 Aus der exoterischen Seite wurde das Gesetz und im politischen Bereich die Legitimität und die Konvention, deren Prekarität in der Gestalt des Talleyrand, des Bischofs und Zeremonienmeisters, also eines Nachfahren der alten Opferpriester allein schon darin enthüllt wurde, dass dieser Diplomat es verstand, unter Ludwig XVI., dem Terror und der napoleonischen Diktatur wie auch unter der Restauration und unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe zu dienen. Der Untergang von Kasch ist der Ursprung der Literatur. Far-li-mas beendet das Opfersystem und ersetzt es durch den Diskurs und durch Visionen. Er kann jedoch den Untergang von Kasch nicht verhindern; es gelingt ihm nur, den Tod aufzuschieben, der nicht mehr als Blutopfer kommt, sondern als finsterer und verstrickender Untergang des Reichs, welches seinen verbündeten Nachbarn zum 552 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 152 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 152 - 153 554 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 155 555 Roberto Calasso, Die geheimnisvolle Kraft der Legitimität in: ders., Der Untergang, S. 67 - 71 556 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 156: „Das Gesetz kann vom Einzelsubjekt respektiert werden. Das Opfer verlangt ein Doppelsubjekt. Im Gesetz erkenn wir daher die exoterische Seite des Opfers. Auf seinem esoterischen Boden kann das Opfer eigentlich nur der Erzählung unterliegen, von der es beim Gottesgericht besiegt wird. Geschichtenerzählen ist das Esoterische des Esoterischen, das Geheimnis des Geheimnisses; es lehrt, wie man außerhalb des Zyklus lebt, in der HaschischSchwebe des Wortes“. 553 168 Opfer fällt. Was sich dem Untergang entzieht, sind die Worte des Erzählers. Der Untergang von Kasch lehrt indes, dass das Opfer – ebenso wie das Fehlen des Opfers – Ursache des Untergangs ist. In beiden Formen beziehungsweise Zeichensystemen zeigt sich – und hier kehrt Calasso an den gemeinsamen physiologischen Ort von Opfern und Erzählen zurück -, dass diese beiden Funktionen auf eine dunkle Wahrheit verweisen, nämlich dass die Gesellschaft den Untergang bedeutet, weil in ihr der Klang – das unaufhörliche verzehrende Brummen – der Welt widerhallt. 557 Wenn der verzehrende Klang der Welt in seiner physiologisch dem gebenden und nehmenden Atmen nachgebildeten Gestalt im Opfer ebenso ertönt wie in der Erzählung und wenn die Erzählung den jetzt aber über alle Gebärden verstreuten Opfergestus bewahrt, erhält die Frage nach dem Inhalt des Erzählten ein erste, summarische Antwort. Was im Einzelnen von Far-li-mas erzählt wird, wird weder von Frobenius berichtet noch von Calasso interpretatorisch rekonstruiert. Wenn aber Calasso feststellt, dass die Worte von Far-li-mas das nach dem Beobachten der Sterne fällige und für die Sicherung der kollektiven Existenz notwendige Töten ersetzen, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass in der Erzählung der gleiche Mechanismus am Werk ist wie im Opfer, dass in beiden Fällen der gleiche soziale Aggregatszustand erreicht wird, dass der opfernden wie der erzählenden Sequenz eine und dieselbe Ereignisabfolge zugrunde liegt. Girard, der die ethnologischen Arbeiten von Frobenius möglicherweise kennt, sie jedoch nicht erwähnt, beschreibt diesen Mechanismus als den selbstgesteuerten Prozess des Alle-gegen-einen und identifiziert diesen Einen sowohl mit dem realen oder rituellen Opfer als auch mit dem Lebenslauf des Helden der Erzählung. Auch im Ablauf dieses Prozesses parallelisiert er die sakrifizielle, auf der Zeichenebene rituell begangene Krise, mit dem mimetischen und zur Konklusion drängenden Konflikt der Erzählung. Verlängert man diese Parallelisierung, lässt sich, auch wenn man das Gehörte nicht kennt, an den Reaktionen der Zuhörer mit einiger Sicherheit erschließen, was Far-li-mas ihnen erzählt und womit er sie zu einer zustimmenden und gehorsamen Gemeinschaft formt. Zwar wird mehrmals erwähnt, auch in der entscheidenden Nacht, als seine Erzählung zum Gottesgericht über den Vorrang des Opfersystems gegenüber dem Repräsentationssystem beziehungsweise der Priester gegenüber dem Dichter wird, dass Far-li-mas seine Erzählung am Abend beginnt und am Morgen beendet; vom Inhalt ist keine Rede. Er ist aber an den Gesichtern und an Stimmungen der Zuhörerschaft abzulesen und offenbart eine Dramaturgie des sakrifiziellen Alle-gegen-einen, die mit derjenigen der im ethnologischen Corpus aufbewahrten zur Passung zu bringen ist, welche wiederum in den Mythen sowie den großen musikalischen Formen, in veränderter Form dann in den Romanen durchscheint. Wie das Opfer ist auch die Erzählung die Begegnung mit dem Heiligen, ausgehend von der Liminalität einer dürstenden Erde, sich steigernd in einem Antagonismus von Glück und Entsetzen, sich schließlich auflösend in einem unsagbaren Erstaunen über den wiedergefundenen Frieden und die Bändigung der gruppeninternen Gewalt. Far-li-mas begann seine Erzählung. Die Worte aus dem Munde des Far-li-mas waren erst süß wie Honig. Seine Stimme durchdrang die Menschen wie der erste 557 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 161 169 Sommerregen die dürstende Erde. […] Far-li-mas’ Erzählung war erst wie Haschisch, der den Wachenden beglückt. Dann ward sie wie Haschisch, der den Träumer umnächtigt. Gegen Morgen aber erhob Far-li-mas die Stimme. Sein Wort schwoll wie der steigende Nil in die Herzen der Menschen. Sein Wort ward für die einen beruhigend wie der Eintritt in das Paradies, für die andern aber erschreckend wie die Erscheinung Azrails (des Todesengels, d. Verf). Glück erfüllte die Gemüter der einen, Entsetzen die Herzen der andern. Je näher der Morgen kam, desto gewaltiger stieg die Stimme, desto lauter ward der Widerhall in den Menschen. Die Herzen der Menschen bäumten sich gegeneinander auf wie im Kampf. Sie stürmten gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer Gewitternacht. Blitze des Zornes und Schläge der Wut trafen einander. […] Als die Sonne aufging, endete die Erzählung des Far-li-mas. Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten Verstand der Menschen. Denn als die Lebenden sich umsahen, fiel ihr Blick auf die Priester. Die Priester lagen tot am Boden. 558 Obwohl die Sequenz alle Phasen des Opfergangs enthält und sich auch die SpielStufen von Caillois in ihr wieder finden, stellt sich das unsagbare Erstaunen nicht wegen der versöhnenden göttlichen Macht ein, die von dem in seinem Blut liegenden Opfer ausgeht und seine Idolisierung begründet. Nicht die Menschen stürmen gegeneinander, und nicht das Aufblitzen des Opfermessers beendet den Tumult; es sind die Emotionen, von denen die Zuhörer hin und her gerissen werden, und es ist der kathartische Schluss, der die Verwirrung auflöst und zu dem von Anouilh einfühlsam geschilderten grand apaisement qui tombe sur Thèbes führt. Niemand vermag das Phänomen objektiv zu beschreiben. Was sich im funktionierenden Opfersystem vor aller Augen unter der Leitung der Priester abspielte, wird jetzt, auf der Ebene der Zeichen, aber mit dem gleichen Effekt, in die Wirkung der Drogen, in das Anschwellen des Nils, in das Bild vom Paradies, das Spiel der Wolken, in das Phänomen von Blitz und Donner, das Aufgehen der Sonne projiziert und bringt die Priester um ihre Macht und ihre Daseinsberechtigung. Wie in einem romantischen Gemälde – eine musikalische Fassung ist ebenso denkbar wird das antagonistische Wogen und Ringen in die Wolkenbilder und Himmelserscheinungen verlegt. So ist es nicht das von den Mitgliedern der Kultgemeinde begangene Opfer, sondern die von den Mitgliedern der Hörgemeinschaft erlebte Geschichte, die alle Züge eines übernatürlichen Eingreifens trägt. Auch an dieser Geschichte suggeriert alles eine die hilflose Menschheit transzendierende Macht. Auch sie ist der Prototyp der Epiphanie des jäh wie der Blitz, also ohne menschliches Zutun intervenierenden Heiligen. Die das real begangene Opfer ersetzende Erzählung gerät im Verlauf der Untergangsgeschichte zur szenischen Aufführung, die Passion zu einem nicht weniger ergreifenden Passionsspiel, der Erzähler zum Schauspieler. Die szenische Aufführung stellt Handlungen dar, die sich an das vorstellende Bewusstsein der Umstehenden und an deren Bereitschaft zu emotionalen Aktionen und Reaktionen wenden. Um das Blutopfer zu verdrängen, muss die Erzählung etwas enthalten, was nicht weniger Kraft hat als die geheimnisvolle Substanz des Opfers. Es ist das Wort des Far-li-mas, das auf die Zuhörer wie Honig und Haschisch wirkt, aber auch das hierogamische Liebesspiel mit der Königsschwester Sali, das den Zuschauern den Ausweg aus dem Blutopfer anzeigt. Far-li-mas endete. Er erhob sich. Far-li-mas schritt auf Sali zu. Sali sagte: „Lass mich diese Lippen küssen, von denen so süße 558 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 150 170 Worte kommen“. Sie sogen sich fest an den Lippen. Far-li-mas sprach: „Lass mich diese Gestalt umschlingen, deren Anblick mir die Kraft gibt“. Und sie umschlangen sich mit Armen und Beinen und lagen wachend zwischen all den friedlich Schlummernden und waren glücklich bis zum Zerbrechen des Herzens. Sali aber jubelte und sprach: „Siehst du den Weg?“. Far-li-mas sagte „Ich sehe ihn.“ 559 Der Erzähler weiß den Weg. Doch dieser Weg ist nicht nur der Übergang vom Opfersystem, mit dessen Hilfe die Schrift am Himmel entziffert werden kann, in das System des restlosen, das heißt keinen Opferrest fordernden Verbrauchens, Kapitalisierens und Genießens des Gegebenen; dieser Weg führt weiter, er führt in den sicheren Untergang. Und der Untergang von Kasch, das lässt sich erahnen, ist zugleich der Aufgang einer neuen Zivilisation, derjenigen der siegreichen und verbündeten Nachbarvölker, die wiederum ein am Himmel verankertes Reich bilden werden, welches sich auf ein Opfersystem stützt, das sich, je weiter es sich von seinem Gründungsereignis entfernt, durch die rituelle Routine abnützt, sich transzendental entsichert und im Erzählmodus an sein Ende kommt. Die Parabel des Untergangs von Kasch lässt Calasso nicht los, weil sie eine unendliche Geschichte ist und sich die durch die Erzählung in das Opfersystem gerissene Wunde, ähnlich der des Prometheus, nicht schließen lässt; sie kommt nicht zu dem aristotelisch geforderten Ende, das so beschaffen wäre, dass darauf nichts mehr folgen könnte. Es mangelt dieser Geschichte sowohl die mythische Bewegung, die sich in einem Gründungsakt aufhebt, als auch die romaneske Bewegung, die in der Auflösung des Spiels, der Desillusionierung des Protagonisten zur Ruhe kommt. Als durch den Tod der Priester dem alten Kult ein Ende gesetzt wird, entsteht keine stabile Ordnung, wie es in den Zeiten der Königsopfer immer wieder geschah, wenn aufgrund der von den Priestern interpretierten kosmischen Konstellation eine Herrscherzeit zu beenden und eine neue zu begründen war. Das mythische Muster der periodisch aufbrechenden und durch dosierten Gewalteinsatz überwundenen Krise wird ebenso durchbrochen wie die romaneske Bewegung, wie sie sich exemplarisch in der Sequenz von Crime et châtiment verdichtet beziehungsweise dem Programm von Si le grain ne meurt folgt. Steht am Ende der mythischen Bewegung der neue und neu erstarkte Held und mit ihm, in der Girardschen Perspektive, das wiedergefundene Gruppengleichgewicht, bildet sich im romanesken Experiment auf der individuellen Ebene das ab, was dem Taufvorgang der Christen oder dem Initiationsritus anderer Erlöserreligionen entspricht: der Fall und das Eintauchen in das lebensbedrohende Element und das mit der Läuterung verbundene Umkehren, Aufstehen und erneute Menschwerden. Die Wahrheit des Romans steht bei Girard in allernächster Nähe zur Wahrheit der Erlösung, wie sie in der Reichgottesbotschaft des neuen Testaments und am Beispiel von Tod und Auferstehung des Gekreuzigten verkündet wird. Die Frage nach der Wahrheit des Untergangs von Kasch wird weder mit dem Hinweis auf eine mythische noch auf eine romaneske Konklusion beantwortet. Diese Frage wird mit dem Namen des Talleyrand beantwortet, dessen persönliches und politisches Wirken nach Calassos Darstellung die personifizierte Absage an Wahrheitsanspruch, Jenseitsvergewisserung und Prinzipientreue ist und einer rein ästhetischen Existenzweise sehr nahe kommt. Mit dem Adorno-Zitat Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein 560 deutet Calasso an, dass der Erzähler der 559 560 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 147 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 189 171 Untergangsgeschichte nicht den Weg der kollektiven Ordnung und nicht den Weg der persönlichen Erlösung weist, vielmehr dass es einen dritten Weg, den der Kunst gibt, der zwar nicht am Untergang vorbeiführt, diesen jedoch im Ersatz der Immolation durch ein literarisches oder musikalisches Opfer um eine unendlich kostbare Frist hinausschiebt. Wenn Calasso postuliert: Der Untergang von Kasch ist der Ursprung der Literatur, löst er die Erzählung ab von der Bindung an reale Ereignisse oder von rituell geforderten Rücksichten auf historische Vorgaben. Obwohl bisweilen eine derartige Übertragung als nahe liegend vermutet werden kann, findet sich kein direkter Beleg für die Annahme, Calasso betrachte die Erzählung als Fortsetzung der Opferung mit anderen Mitteln. Der Zusammenhang von Opfer und Literatur wird differenziert gedeutet: Die Literatur bricht auf in Richtung auf eine absolute Literatur, macht sich zu einer Kunstform nach Art der Musik und der abstrakten bildenden Kunst und wird entbunden von politischen und religiösen Anforderungen, und wenn auch in allen ihren Gebärden die Opferspuren noch sichtbar sind und sich nicht auslöschen lassen, kann sie sich den Luxus leisten, mit den Opfergegenständen, Reliquien und Ritualen zu spielen und damit neue, poetische Dimensionen aufzuschließen und neue Handlungsräume zu erobern. Calasso würde keiner Auffassung von vérité romanesque zustimmen, die das literarische Schaffen und Rezipieren, wie es Girard praktiziert, anthropologisch vereinnahmt, handlungsprogrammatisch definiert und soziologisch überwölbt. Es ist zwar nicht zu übersehen und zu überlesen, dass das Opfer immer und überall präsent ist. Aber: Aus der Kunst spricht die Stimme des Opfers, das in höchster Not für immer der Tötung entronnen ist, als der Ritus schon alles Heilige in es hatte zurückströmen lassen. Die Kunst ist leichtfüßig, weil sie im Wald umherirrt. Der Altar ist jetzt leer. 561 Die Opferspuren, die der Schiffbruch der magischen Welt an den Gestaden der Psyche zurückgelassen hat, 562 sind über unser ganzes Imaginarium verstreut und reklamieren von dort aus ihren Wahrheitsanspruch. Nach Calassos radikaler Diagnose erinnert die Mehrdeutigkeit der Kunst, ihre von Aristoteles beschriebene kathartische Funktion und die von Kant formulierte ästhetische Interesselosigkeit an die abgeschaffte und sozusagen in den Untergrund abgedrängte Macht des Opfers. Aber das Schöne, da es die Schlinge um den Hals des Opfers gelockert hat ,563 ist in der Lage, vor der Lüge, die Wahrheit zu sein, zu fliehen, ja sogar vor der Wahrheit die Flucht zu ergreifen. 8. Die Vorder- und die Rückseite des Mythos In Der Untergang von Kasch spiegelt sich nach Calasso der Untergang einer Zivilisation, der abendländischen, die in ihrer Opfervergessenheit nicht nur ihre Kohäsion aufs Spiel setzt, sondern auch und vor allem die Kriterien für die Unterscheidung von Verausgabung und Vernichtung, für Hingabe und Zerstörung verloren hat. Da das Heilige sich im Geopferten konzentriert, wird es auch im Geopferten beseitigt, wo es zugleich unschädlich gemacht und divinisiert wird. Wichtig ist, dass die ständig drohende Ansteckung durch das Heilige, die das Leben unmöglich machen würde, unterbunden wird. In der profanisierenden Neuzeit wird 561 ebenda ebenda 563 ebenda 562 172 das Heilige nicht mehr gesehen, und da es seine Funktion der Gewaltamortisation eingebüßt hat, wird diese Gewalt von neuem freigesetzt und entgrenzt und wird wahllos bei der Bestimmung ihrer Opfer. Weil er den eingeschlagenen Weg der Profanierung für unumkehrbar hält, ist Calassos stark gnostisch getönte Prognose überaus pessimistisch. Am Beispiel von Kasch zeigt er, dass das 0pfer, ebenso wie das Fehlen des Opfers, Ursache des Untergangs ist. Weil die beiden entgegengesetzten Wahrheiten, die des Opfers und die der Abkehr vom Opfer durch opferfreie Diskurse, gleichzeitig gelten und sich somit wie in einer tragischen Kollision zueinander verhalten, deutet für ihn alles auf eine einzelne, dunklere und in der Stille der tragischen Spannung ruhende Wahrheit hin, wonach die Welt zusammen mit ihrer Entstehung den Prozess ihres Metabolismus und Verzehrs eingeleitet hat und alle Diskurse, die literarischen, die religiös-philosophischen, die wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen nur das Ziel verfolgen, den Blick von dem physiologisch bedingten Programm des Lebens abzuhalten. 564 Da Calasso seine Opfertheorie auf eine physiologische Basis stellt, ist es nicht überraschend, wenn er Girard, dessen soziologischer Ansatz durch die Beobachtung tierischer Sozietäten bis ins Animalische reicht, heftig kritisiert. Ihm und mit ihm der Durkheim-Denkschule, die mit dem Axiom Das Religiöse ist das Soziale für die erneute restlose Einverleibung der göttlichen Wolke in das von Platon und Simone Weil gekennzeichnete Große Tier 565 verantwortlich zu machen ist, wirft er vor, über den Rand des soziologischen Laboratoriums nicht hinauszusehen und die gesellschaftsbezogene Funktion des Opfers in unzulässiger Weise zu verabsolutieren. Nach Calasso begeht Girard den Fehler, in unzulässiger Vereinfachung den sozialen Horizont mit dem kosmischen zur Deckung zu bringen und in der Autonomie und der Selbstbezüglichkeit der Gesellschaft eine Art kosmischer Ordnung zu sehen, deren Störungen durch die gewaltsamen Folgen der mimetischen Konflikte ausgelöst und jeweils durch ein Opfer beziehungsweise durch Opferrituale zu beheben seien. Es ist für ihn eine wahnhafte, anmaßende und spezifisch abendländische Vorstellung, die den Gestirnen dargebrachten Opfer als Beschwichtigungsmittel im Dienst des Gruppengleichgewichts anzusehen 566 und alle Spannungen, Krisenzustände und Bedrohungen sowohl auf ihren gesellschaftlichen Ursprung als auch auf ihre gesellschaftlichen Folgen hin zu erklären. Wenn für Girard der Urvorgang des Opfers darin besteht, dass zur Zähmung der gesellschaftlichen Gewalt ein Mord, genau gesagt: ein Lynchmord, begangen wird und immer wieder – und in unendlichen Metamorphosen - begangen werden muss, beginnt für Calasso der unendliche Opfergang mit dem Hunger, welcher zum Töten führt und mit der Einwilligung zum Töten auch die Einwilligung zum Getötetwerden ausspricht. Aber vorm Lynchmord kommt der Hunger. Der Hunger ist der Tod. Im Hunger sind Tod und Mord vereint. Ohne Nahrung, also ohne Tötung – denn auch das Abschneiden einer Pflanze bedeutet Tötung – kann man nicht überleben… 567 Diese kosmische Physiologie, von Calasso als Grundmuster allen Nehmens und Gebens expliziert, wird von Girard nicht ernsthaft in Betracht gezogen, dessen Blick durchgängig auf die 564 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 163: „Die Schöpfung ist der Leib des ersten Opfers. Bei der Schöpfung schneidet Gott ein Stück von sich selbst ab und gibt es preis. Von nun an bleibt Gott nichts anderes übrig, als den abgeschnittenen Teil in den Händen der Notwendigkeit zu beobachten. […] Die Wahrnehmung am Ursprung des Opfers läuft darauf hinaus, dass jedes Pflücken zugleich ein Morden, jede Entwurzelung […] ein Töten ist. Doch wenn das Leben von Dauer sein soll, muss etwas gepflückt werden“. 565 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 190 566 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 193 567 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194 173 soziale Physiologie geheftet bleibt. Girard kann den Konflikt der mimetischen Begierden erklären, aber nicht die Existenz der Begierde, den Mord aber nicht den Tod, das Zyklische der Zeit aber nicht die Unumkehrbarkeit der Zeit. Es muss ihm entgehen, dass es das vorsoziale Gebärdenpaar von Geben und Nehmen ist, dem im Opfer eine kanonische Form verliehen wird; er übersieht in seiner Fixierung auf das Soziale, dass der erste Vertrag kein Gesellschaftsvertrag ist, sondern ein Vertrag, der mit Tier und Pflanze geschlosssen wird sowie im Hintergrund mit den Mächten, die in ihnen zur Erscheinung kommen. Was sich uns darbietet, um genommen zu werden, fordert, demjenigen gegeben zu werden, der es uns dargeboten hat. 568 Die List des Opfers besteht darin, dass wir uns nicht selbst darund in den Kreislauf der Tauschvorgänge einbringen und uns substituieren lassen. Mit der Opferung eines Stellvertreters wird, wie es auch in Girards Zeichentheorie formuliert wird, die eigentliche Maschinerie der Sprache und der Algebra – die auf Eroberung bedachte Digitalität – in Gang gebracht. Und am Ende wird die Notwendigkeit des opfernden Gebens vergessen, und die kultische Substitution wird ersetzt und systematisiert durch den reinen Tausch mit der Folge, dass sogar die Erinnerung an das Uropfer verblasst, was wiederum zur Folge hat, dass der Opferbegriff sich in den Formen der enthemmten Zerstörung und Vernichtung auflöst. Die Literatur hat es nicht einmal nötig, vom Opfer zu reden. Denn in einer ihrer Formen – der absoluten Literatur (mit dem Stammbaum der Décadence: Baudelaire, 569 Mallarmé, Benn; oder: Flaubert, Proust) – nimmt sie selbst die Züge des dargebrachten Opfers an, das irgendeine Form der Vernichtung des Autors nach sich zieht. 570 Trotz der scharfen Kritik an der paradigmatischen Einengung des violence-et-sacréVerfahrens würdigt Calasso die leidenschaftliche Einseitigkeit 571 von Girard, die es diesem ermöglicht, den Weg der Homineszenz aus der Natur- und Vorgeschichte bis zur Gegenwart zu beschreiben und eine insofern schlüssige Antwort auf die Frage nach den seit Anbeginn der Welt verborgenen Dingen zu geben. Und er anerkennt, auch wenn er seine soziologische Engführung nicht teilt, dass es ihm gelungen ist, das verschwiegene Fundament, das wir dann in jeder Gesellschaft wieder finden, 572 freizulegen, die offene Wunde des Opferrituals 573 zu streifen und auch der gravierendsten und stets vermiedenen Frage nicht auszuweichen, wer denn unter welchen Umständen und mit welchem Recht wen beziehungsweise was opfern kann. Voll und ganz einig sind sich Calasso und Girard darin, dass es zum Charakteristikum der auf gewaltsamem Fundament aufgebauten Kulturen gehört, dass diese die Gründungsgewalt verschweigen und kaschieren. Dass dem Opfer, etwa in der Person der aztekischen Gefangenen, Unrecht und Gewalt angetan wird, ist offensichtlich. Und wenn Calasso die auf einer tyrrhenischen Amphore dargestellte Opferungsszene beschreibt, wird das blanke Entsetzen deutlich, das die 568 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 200 Baudelaires intuitives Erfassen einer im bürgerlichen Zeitalter untergegangenen Existenzweise ohne Große Sache, mithin ohne Opfer und sinngebende Opferadresse ist unter dem bezeichnenden Tagebuchtitel Mon cœur mis à nu belegt, in: Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1961, S. 1287 : « Il n´y de grand parmi les hommes que le poète, le prêtre et le soldat, l´homme qui chante, l´homme qui bénit, l´homme qui sacrifie et se sacrifie. Le reste est fait pour le fouet. Défionsnous du peuple, du bon sens, du cœur, de l´inspiration, et de l´évidence ». 570 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 201 571 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194 572 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 191 573 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 192 569 174 im kosmischen Austausch intendierte freudige Zustimmung 574 des Geopferten unterläuft. 575 Andererseits hängt die durch die sakrale Gewaltanwendung angestrebte Heiligung des Opfers und der in der Opferung manifestierten Gewalt davon ab, dass es zu keiner rächenden Gegengewalt kommt. Mit anderen Worten: Es muss entweder gelingen, einstimmig das Opfer zum Schuldigen zu erklären oder seine Zustimmung zur Opferung zu erhalten. Wenn Calasso bemerkt: Die vorchristliche Vergangenheit ist insgesamt ein langer Prozess der Beschönigung und Versüßung der Opferhandlung, 576 trifft er sich mit Girard in einer eingehenden Kritik der Mythen, die naturgemäß gleichzeitig eine Kritik der vorchristlichen Religionen ist. Unter allen möglichen Gründungsereignissen, die für das Auslösen eines gemeinschaftlichen Empfindens, Wollens und Tuns in Frage kommen, besteht Girard auf dem kollektiv begangenen Gründungsmord als der einzig vertretbaren Hypothese. Selbst da, wo er Kenntnis nehmen muss von Riten, in denen eine Gemeinschaft Opfer darbringt, um den für das Gedeihen der Feldfrüchte notwendigen Regen zu erbitten, deutet er die prekäre Versorgungslage nicht als Folge einer klimatischen Ursache, sondern als Ausdruck von sozialen Spannungen. Daher entfaltet das Opfer, auch wenn es in ritueller Entfremdung einem Himmelsoder Regengott gilt, seine heilbringende, Gewalt entsorgende und insofern versöhnende Wirksamkeit innnerhalb der Gemeinschaft und nicht etwa in der Aktivität der am Himmel vorüberziehenden Wolken. Die nächste Ernte wird gesichert, nicht weil man durch Opfer für ausreichend Sonnenschein und Regen gesorgt hat, sondern weil die durch ein Opfer befriedeten Menschen ihre mimetischen Rivalitäten überwinden und wieder in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und zu kooperieren. 577 Nach Girards Theorie ist es ausgeschlossen, dass das Opfer eine andere als gruppenintene Funktion hat. Wo ihm eine andere Funktion zugeschrieben wird, handelt es sich um ein Verkennen. C´est le dieu qui est censé réclamer les victimes. 578 Dieses Verkennen ist aber notwendig, denn wenn die Gläubigen wüssten, dass es im Opfermechanismus um die Überwindung ihres mimetischen Rivalisierens geht, wären sie nicht bereit, von sich selbst abzusehen und das Nachahmungsbegehren des Alle-gegen-einen in Richtung auf das Opfer zu entwickeln. Folgerichtig müssen 574 Die Notiz Baudelaires zur Todesstrafe enthält erstaunliche Parallelen zur Opferhandlung und unterstreicht die salvierende und divinisierende Funktion des Hingerichteten/Geopferten. Vgl. Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1961, S. 1278 : « La peine de Mort est le résultat d´une idée mystique, totalement incomprise aujourd´hui. La peine de Mort n´a pas pour but de sauver la société, matériellement du moins. Elle a pour but de sauver (spirituellement) la société et le coupable. Pour que le sacrifice soit parfait, il faut qu´il y ait assentiment et joie de la part de la victime. Donner du chloroforme à un condamné à mort serait une impiété, car ce serait lui enlever la conscience de sa grandeur comme victime et lui supprimer les chances de gagner le Paradis ». 575 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 192 - 193: „Wir vermögen aber nicht den Blick von der tyrrhenischen Amphore zu lösen, auf der die Opferung der Polyxena dargestellt ist. Unter den Armen dreier Krieger wird das Mädchen wie ein zusammengerollter Teppich an den Fesseln, an den Knien und an der Brust festgehalten. Alle drei Krieger sind mit Helmen und Beinschienen angetan und zeigen ihr scharfgeschnittenes Profil. Helm und Beinschienen trägt auch Neoptolemos, der mit der Rechten ein großes Messer in die Kehle von Polyxena sticht, während er mit der Linken an ihren Haaren zerrt, um den Kopf wieder zu heben und den Hals besser zu entblößen. Das Blut ergießt sich spritzend auf den Altar. Hinter Neoptolemos steht Diomedes und schaut zu. Daneben ist eine weitere Figur zu erkennen, die den Blick abwendet“. 576 Roberto Calasso, Der Untergang, S. 205 577 René Girard, La violence et le sacré, S. 22 : « Le sacrifice polarise sur la victime des germes de dissension partout répandus et il les dissipe en leur proposant un assouvissement partiel ». 578 René Girard, La violence et le sacré, S. 21 175 von Girard auch jene Opfertheorien auf das Soziale heruntergerechnet werden, die im Hereinbrechen kosmischer Katastrophen und den auf sie folgenden kultischen Reaktionen das religiöse und kulturelle Gründungsereignis sehen. 579 Diese dem Darwinistischen Gradualismus mit seinen langen Zeiträumen und kleinen Schritten widersprechenden Theorien rechnen mit Impakten von riesigen Kometen oder Meteoriten, die in der Vergangenheit nicht nur das Entstehen von Flutsagen in allen Regionen der Erde, sondern auch das Aussterben der Saurier und der Ammoniten erklären. In der Reaktion auf diese himmlischen Einschläge, die nicht nur geologische und evolutionäre, sondern auch kulturelle Veränderungen bewirken, werden die Opferkulte als kollektive Heilungsrituale für Gemeinwesen interpretiert, die durch globale Katastrophen halb wahnsinnig beziehungsweise vor Unglück völlig orientierungslos werden. Da auf die siegreiche Natur nicht konstruktiv durch Angriff, Flucht oder Verhandlung geantwortet werden kann, fügt das der Heilung bedürftige Kollektiv menschlichen oder tierischen Darstellern der Naturgewalt das Übel zu, das ihm selbst widerfahren war und rächt sich so im Hinschlachten der Stellvertreter der aus dem Himmel herabstürzenden Mächte und Gestalten, so dass angesichts der sterbenden Erlösergötter die krank machende Wut verdampft. Wie die den Menschen übersteigende und überwältigende Macht sich als eine Macht nicht von dieser Welt in herabstürzenden Himmelskörpern zeigt – die MagellanMission der NASA 1994 fotografierte Einschlagkrater auf der Venus und beschäftigte sich mit irdischen Impaktrisiken - , kann sie dem Frühmenschen auch im Raubtier 580 begegnen, das er imitiert, und seine Reaktion im apotropäischen Opfer des do ut abeas provozieren, im Fluchtopfer – einer aus der Gruppe wird als pars pro toto dem Verfolger als Beute überlassen, damit die anderen sich in Sicherheit bringen können - und, für den Jäger, im Erstatten des geschuldeten Dankopfers, damit der Bestand der gejagten und erlegten Tiere symbolisch ausgeglichen wird. Wie vielfältig und unübersehbar die Opferphänomene 581 auch sein mögen, Girard reduziert sie in seiner Deutung auf das Sündenbock-Konzept, in dem die Gewalt auf das sakrale Opfer einer victime émissaire projiziert und damit aus der Gemeinschaft, wenn auch nur vorübergehend und bis zum Ausbruch der nächsten mimetischen Krise, verbannt wird. In gleicher Weise, wie er dem Opferkomplex ein reduziertes aber äußerst griffiges Erklärungsmodell abgewinnt, entziffert Girard die Mythen auf direktem Weg als die diesem Sündenbock-Konzept entsprechende Erzählform. Und mit der gleichen Kompromisslosigkeit, mit der er darauf besteht, dass die Opferteilnehmer im Ungewissen gelassen werden über das im Opfervorgang verborgene und nur als solches wirksame Umschlagen des Gewaltigen ins Heilige, denunziert er die 579 Vgl. Gunnar Heinsohn, Die Erschaffung der Götter, Hamburg 1997 sowie Fred Hoyle, The origin of the universe and the origin of religion, dt. Kosmische Katastrophen und der Ursprung der Religion , Frankfurt/Leipzig 1997 580 Vgl. Georg Baudler, Erlösung vom Stiergott, S. 101: „Der Stier und das Wildpferd, Tiger und Panther – die Vitalität und Stärke des großen und starken Tiers hat sicher schon vor dem Übergang zum Großwildjäger den Menschen fasziniert – und tut es heute noch, wie z. B. an vielen Werbesymbolen […] abzulesen ist“. 581 Vgl. Josef Drexler, Die Illusion des Opfers (Diss.), Ein wissenschaftlicher Überblick über die wichtigsten Opferthorien ausgehend vom deleuzianischen Polyperspektivismusmodell, München 1993. Drexler sieht die Opferdiskussion in einem Theorien-Labyrinth verhaftet, wirft Girard unreflektierte Übertragung von Beobachtungen aus mehreren Disziplinen vor und hält dessen Konstrukt für einen – nicht sehr aussichtsreichen – Beitrag zur Krisenbewältigung in der von Herbert Marcuse so genannten aggressionsbegünstigenden Industriegesellschaft. 176 Lügenhaftigkeit der Mythen, die aber auch nur dann in der Lage sind, den Gründungslynchmord zu erzählen und zu tradieren, wenn sie sich dem Gewaltmanagement der Opferhandlung anschließen und deren mörderischen Aspekt mit dem Schleier des Sakralen verhüllen, was für die einzelne Erzählung bedeutet, dass, jeweils angetrieben durch die mimetische Polarisierung, ein spezifisch mythischer Rollenumschlag erfolgt, in welchem der Verfolgte und Geopferte die Verwandlung zum Helden erfährt. Wie die von den Ethnologen aufgezeichneten Riten auf in der Vergangenheit tatsächlich geschehene Opferhandlungen verweisen, an deren Beginn ein erstes wundersames und heilbringendes derartiges Ereignis vermutet werden muss, berichten auch die Mythen von einem Lynchmord, der sich tatsächlich ereignet hat und demzufolge als der konstituierende Akt einer menschlichen Gemeinschaft zu gelten hat. Aus den erzählten Hinrichtungen und vor allem aus den gegen das Opfer vorgebrachten seltsamen und wenig stichhaltigen Anschuldigungen, wie zum Beispiel dem häufig anzutreffenden bösen Auge, dem Inzestvorwurf oder dem Einschleppen der Pest wie im Fall des Ödipus, folgert Girard, dass der Lynchmord tatsächlich stattgefunden hat, und, was für die Mythenkonstruktion bedeutsam ist, dass er in der vorliegenden Form nicht vom Standpunkt des unbeteilgten Beobachters, sondern von dem der Lynchmörder aus erzählt wird. Als Beispiel für eine mythische Erzählung, die er als eine Stammesgründung nach dem Muster des mörderischen Alle-gegen-Einen, gefolgt von dem divinisierenden und den Mord kaschierenden Alle-für-Einen deutet, zitiert 582 Girard einen Mythos der Tikopia im Pazifischen Ozean, den er bei Lévi-Strauss 583 findet. Il y a très longtemps, les dieux ne se distinguaient pas des hommes, et les dieux étaient, sur la terre, les représentants directs des clans. Or il advint qu´un dieu étranger, Tikarau, rendit visite á Tikopia et les dieux du pays lui préparèrent un splendide festin ; mais, auparavant, ils organisèrent des épreuves de force et de vitesse pour se mesurer avec leur hôte. En pleine course, celui-ci feignit de trébucher, et déclara qu´il s´était blessé. Mais, alors qu´il affectait de boiter, il bondit vers la nourriture entassée, et l´emporta vers les collines. La famille des dieux se lança à sa poursuite ; cette fois, Tikarau tomba pour de bon, de sorte que les dieux claniques purent lui reprendre, l´un une noix de coco, l´autre un taro, le troisième, un fruit d´arbre à pain et les derniers, une igname... Tikarau réussit à gagner le ciel avec la masse du festin, mais les quatre aliments végétaux avaient été sauvés pour les hommes. Das Schema der Entdifferenzierung von Göttern und Menschen in der Schwellenphase und der dadurch ausgelösen mimetischen Krise ist ebenso deutlich ausgeprägt wie das der kollektiven Gewaltanwendung gegen das Opfer Tikarau, das für die unheilvollen Folgen der Krise, den Raub des ganzen Kultursystems, verantwortlich gemacht wird. Auch die Kraft- und Schnelligkeitsübungen, die von den göttlich-menschlichen Akteuren veranstaltet werden, können – durchaus auch in Anlehnung an die Spiele-Theorie von Caillois - als Beleg für die Konfliktsituation gedeutet werden, die das mythische Drama aufzulösen hat. Wären diese Übungen als organisierte Prüfungen vorgesehen, die veranstaltet werden, damit der Prüfling gestärkt und erneuert aus ihnen hervorgeht, würde es sich um eine ritualisierte, also 582 583 René Girard, Des choses cachées, S. 115 Claude Lévi-Strauss, Le Totémisme aujourd´hui, Paris 1961, S. 36 177 nachgespielte Krise handeln. Im vorliegenden Fall aber laufen die Wettspiele auf die spontane kollektive Gewalttätigkeit hinaus; es wird Jagd gemacht auf einen Gott, und diese Jagd endet ganz offensichtlich mit einem Lynchmord. Wenn der künftige Gott am Anfang zu stolpern und zu hinken vorgibt, stürzt er am Ende tatsächlich. In dem Versuch, seinen Verfolgern in die Berge zu entkommen, schimmert Tikaraus Hinrichtung durch, denn in den Gesellschaften, die kein Gerichtssystem kennen, ist der Sturz über die Klippen eines Berges die bevorzugte Hinrichtungsart. 584 Der Verurteilte wird auf dem Hang, der zur Klippe führt, losgelassen, und die Gemeinschaft rückt halbkreisförmig langsam vor und blockiert jede Ausweichmöglichkeit außer dem Sprung in den Abgrund. In den meisten Fällen wird wohl die Panik den Unglückseligen dazu treiben, sich in den Abgrund zu stürzen, ohne dass man Hand an ihn legt. Wenn er dann über die Klippen in die Tiefe stürzt, ist dieser Sturz zugleich wie ein Abheben zu einer Fahrt in die Lüfte beziehungsweise in den Himmel. In rituell-religiöser Hinsicht besteht der Vorteil darin, dass im Sinne des Alle-gegen-einen die gesamte Gemeinschaft an der Hinrichtung beteiligt ist und, wie bei der Lapidation, niemand das Risiko eines verunreinigenden Kontakts mit dem Opfer eingeht und, was für die Geschlossenheit der Opfernden von größter Bedeutung ist, keiner als Einzeltäter in Erscheinung tritt und in Erinnerung behalten wird. Wird der rituelle Vorbehalt außer Acht gelassen, schildert der Tikarau-Mythos die Ermordung eines ersten Opfers, die versöhnend wirkt, weil sie spontaner Einmütigkeit entspringt. Bezeichnend für das mythische Vorgehen ist, dass der Mord an einer anthropomorphen Gottheit, obwohl er das Gründungsgeschehen der Gemeinschaft ist und den Eintritt in ihre kulturelle Existenz bedeutet, recht flüchtig und uneindeutig erzählt, ja beinahe verschwiegen wird. Weiterhin ist typisch, dass der Mythos das Opfer von draußen kommen lässt und es nach Erfüllung der heilbringenden und konstituierenden Funktion wieder nach draußen gehen lässt. Verständlich wird dies indes, wenn man bedenkt, dass die Erzählung, wenn sie die Sicht der Mörder übernehmen soll, das individuelle Verhalten, nämlich des Opfers, als negativ und das kollektive Verhalten, nämlich der Mörder, als positiv bewerten muss. Folgerichtig wird Tikarau als Dieb gezeichnet, der die Totem-Pflanzen raubt, die zum festlichen Anlass herbeigeschafft und für das Mahl zubereitet wurden, während die positive kollektive Reaktion darin besteht, dass Tikarau von der ganzen Gemeinschaft gejagt und zur Strecke gebracht wird. Entscheidend ist, dass die als positiv bezeichnete kollektive Handlung immer in der kollektiven Gewaltanwendung besteht, dass ein Opfer gelyncht wird. Ob der Diebstahl der Totem-Pflanzen wirklich begangen wurde, ist vielleicht nicht einmal sicher. Jedenfalls ist nicht erkenntlich, worin der von ihm angerichtete Schaden hätte bestehen können. Seine Verfehlung, selbst wenn sie mehr als eine bloße Unterstellung wäre, würde niemals eine aktuelle oder potenzielle Bedrohung für die Gemeinschaft als ganze darstellen. Möglich ist, dass Tikarau nur des Diebstahls verdächtigt beziehungsweise angeklagt wurde und dass man nur eine plausible Rechtfertigung für die gewaltsame Vertreibung brauchte. 584 Vgl. Lk 4, 28 - 29: „Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen…“. Auch in Rom war diese Hinrichtungsart bei bestimmten Verbrechen üblich, die durch Herabstürzen vom Tarpejischen Felsen, dem Westabhang des Kapitols, gesühnt wurden. 178 Im Unterschied zu Lévi-Strauss, der in den Mythen das individuelle negative und kollektive positive Verhalten herausarbeitet, um eine topologische und in der Folge strukturelle Differenzierung zu generieren zwischen dem beseitigten Rest und der ursprünglichen Totalität, und der insofern der Mythologie die Funktion einer poetischphilosophischen, Zeichen und Bedeutung schaffenden Verstandesoperation zumisst, besteht Girard darauf, dass der Mythos eine historische Realität bezeugt und zwar den Gründungslynchmord. Er gesteht Lévi-Strauss zu, dass die von den Mythen erzählte opfermäßige Beseitigung eines Restes aus dem Ganzen eine valable Erklärung für das primäre Differenzieren und damit für das Entstehen des menschlichen Denkens bietet, sieht jedoch die Überlegenheit seiner eigenen Mythenanalyse darin, dass diese erklären kann, wie und warum es zu dem Prozess kommt, in dem nicht nur die Differenzierung und das Denken, sondern die menschliche Kultur mit allen ihren Institutionen und normgebenden Instanzen – in den frühen Gesellschaften sind die Riten als das soziale Regelwerk zu betrachten entstehen. S´il y a quelque chose de juste et de profond dans l´ idée lévi-straussienne, c´est l´ idée que la naissance de la pensée est en jeu dans le mythe. Elle est même plus directement en jeu que n´ose penser le structuralisme parce qu´il n y a pas de pensée humaine qui ne naisse du lynchage fondateur. Là où Lévi-Strauss a tort, cependant, [...] c´est de prendre cette naissance pour une immaculée conception. Il voit dans le lynchage partout répété une simple métaphore ‘fictive’ d´une opération intellectuelle seule réelle. En réalité tout est ici concret ; à partir du moment où on s´en aperçoit, l´imbrication de tous les éléments mythiques devient trop parfaite pour laisser le moindre doute. 585 Girard tritt der strukturalistischen Mythendeutung entschieden entgegen und ist von der Erschließungskraft seiner eigenen Lesart als einer – vorläufig - endgültigen Erklärung überzeugt: C´est ici, je n´hésite pas à l´affirmer, l´explication dernière de la mythologie… 586 Der Mythos sagt stets etwas anderes als das, wovon er im Wortsinn spricht. Wenn er erzählt, dass Tikarau von der Klippe aus in den Himmel aufsteigt und dafür bürgt, dass den Menschen das Wesentliche ihrer Kultur zur friedlichen Nutzung zurückbleibt, vertritt er den Standpunkt der Gemeinschaft, die durch ihn zustande kam und die ihn als Heilbringer verehrt. Wenn das Abheben von der Klippe als Lynchmord gedeutet wird, erscheint in vollem Licht der gewaltsame Ursprung einer jeden Kultur. Girard gründet seine Sequenz auf der Lesart, dass der Mythos – jenseits der Annahme von Sigmund Freud, dass er die Komplexe des Unbewussten sichtbar mache, und jenseits der Annahme von Claude Lévi-Strauss, dass er die Geburt des Denkens symbolisiere – den Mimetismus des menschlichen Beziehungen spiegele, welcher zuerst die Strukturen der Gemeinschaft gewalttätig auflöse und dann den Sündenbock-Mechanismus in Gang setze, der zu ihrer Wiederzusammensetzung führe. Der Mythos ruft, wie Girard nicht müde wird zu wiederholen, die Krisen und den Gründungsmord in Erinnerung sowie die Ereignisfolge, die für die Konstitution und gegebenenfalls erforderliche Rekonstitution einer jeden Kulturordnung maßgebend ist. Wie der Mythos an die séquences événementielles 587 der Soziogenese erinnert, demonstriert er mit der gleichen Direktheit, aus welchem Anlass es überhaupt zu 585 René Girard, Des choses cachées, S. 129 ebenda 587 ebenda 586 179 dem dramatischen Start kommt. Stets bemüht, seine kulturtheoretischen Überlegungen mit naturgesetzlichen Analogien abzusichern, vergleicht Girard den sakrifiziellen Gewaltausgleich innerhalb der menschlichen Gemeinschaften mit dem übergeordneten ökologischen Gleichgewicht, das in der Natur angestrebt wird, wenn ein Raubtier aus der verfolgten Herde dasjenige Tier als Beute erlegt, welches sich von der Gleichförmigkeit der Herde abhebt 588 und macht die typisch mythischen Gebrechlichkeiten aus, die ein Individuum als Opfer prädestinieren. Wie in einer menschlichen Gruppe sich nicht jeder zum Prügelknaben eignet und zum souffredouleur wird – in den Gruppen von Kindern wird üblicherweise das zuletztgekommene, das fremde oder das durch ein körperliches Merkmal auffällige zur Zielscheibe von Verfolgung -, werden auch den mythischen Helden gewisse, wiederkehrende physische Merkmale zugeschrieben. Häufig ist es der hinkende Gang wie bei Tikarau, Ödipus, 589 Jakob 590 in der Genesis, Hephaistos, hin und wieder der Buckel, das Stottern wie bei Moses, 591 was die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich zieht, die, indem sie einander nach dem Werfen des ersten Steins nachahmen, zur geschlossenen und schließlich gewaltbereiten Gruppe werden, die, wenn das Opfer seine Wirkung getan hat, sich in eine Anbetungsgemeinschaft verwandelt. Wie diese Anbetungsgemeinschaft den gewaltsamen Grund ihres Zusammenschlusses und die mit etlichen Risiken begleitete Sequenz ihres Zusammenkommens ignoriert, unterschlägt und kaschiert und ihren Status als auf natürliche oder vertraglich-legale Weise gegeben und nicht als geworden begreift, unterdrückt auch jede kulturelle Institution ihren gewaltsamen Ursprung. Da jede kultuelle Institution sich als Absage an den Naturzustand versteht, folglich als ein Mittel der Gewalteindämmung, vor allem der reziproken Gewalt und der Privatrache fungiert, ist es einleuchtend, dass sie sich nicht zu ihrem gewalttätigen Ursprung bekennt. So wird Tikaraus Hinrichtung zur Himmelfahrt umgeschrieben, er wird verehrt als Stifter der Gemeinschaft, als Kulturbringer, als Garant für die Existenz des Stammes. Ein weiteres Mal kann und braucht er nicht umgebracht werden; es genügt, wenn bei einer drohenden oder einer abzuwendenden Krise in Erinnerung an sein heilsames Wirken ein Stellvertreter über die Klippen gestoßen wird. Dann ist es auch nicht mehr erforderlich, dass sich alle Mitglieder des Stammes an der tödlichen Hetze beteiligen. So wie das erste Opfer durch ein Ersatzopfer vertreten werden kann, kann sich auch die Gemeinschaft durch opferkundige und ritenfeste Priester vertreten lassen, welche in der Folge das Verfahren kanonisieren und nach und nach die Gewaltspuren zeremoniell bis zur Unkenntlichkeit überarbeiten. Das Projekt der Entmythifizierung besteht für Girard weder in der archetypischen Reduktion auf das menschliche Motiv- oder Komplexrepertoire, noch im Nachvollzug der durch diese Erzählungen gesteuerten strukturalistischen Differenzierung; ihm geht es um das Aufdecken der kaschierten Gewaltspuren, um den Beleg der 588 René Girard, Des choses cachées, S. 133 : « C´est toujours la bête qui tranche sur l´uniformité générale qui est choisie, et cette différence visuelle, c´est toujours l´extrême jeunesse qui la cause, ou au contraire la vieillesse, ou une infirmité quelconque, qui empêche l´individu choisi de se mouvoir exactement comme les autres, de se comporter en toutes choses exactement comme les autres ». 589 Der Name bedeutet Schwellfuß 590 Gen 32, 26: „Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang“. 591 Ex 4, 10: „Doch Mose sagte zum Herrn: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig“. 180 Parteinahme der Mythen gegen die Opfer und für die Gewalttäter und damit um den Nachweis, dass die Mythen nicht nur die gewaltsame Entstehung der Kultur erzählen, vielmehr an der Fortschreibung der Gewalt interessiert sind. Als ersten Schritt zur Begründung einer alternativen Erzählweise und zur Markierung einer mythenkritischen Erzähltradition führt er den Begriff des Verfolgungstextes 592 ein, dessen Sequenz weitgehend parallel zum Mythos verläuft, sich aber in der Konklusion radikal von ihm absetzt. Mit der Kategorie des Verfolgungstextes besorgt sich Girard gewissermaßen einen Kronzeugen, der alle Informationen über das mythologische Verfahren besitzt, gleichzeitig aber in der Lage ist, die Mauer des Schweigens, die den Mythos umgibt, zu durchbrechen. Zum Denunzianten gegenüber dem Mythos wird der Verfolgungstext dadurch, dass er bei aller Komplizenschaft im Auf- und Erzählen der Ereignisabfolge die historische Realität des unschuldigen Opfers nicht divinisierend überformt, sondern offen ausspricht und dadurch die exklusive Perspektive der Verfolger aufgibt. Dass auch der Mythos von einem historischen Ereignis, nämlich dem gewaltsam-heiligen Gründungsereignis des jeweiligen erzählenden Kollektivs spricht, ist für Girard unzweifelhaft. Während aber der Mythos im vermeintlich wohlverstandenen, weil auf das Funktionieren der Sündenbockmechanik angewiesenen kulturellen Interesse das Bloßstellen der Gewalt scheut, deckt der Verfolgungstext die Rolle des annähernd zufällig und durch virtuelle Schuldzuweisungen designierten Opfers auf und erlaubt einen gegenüber der mythischen Schließung immunen, quasi berichterstattenden und von jedem Rechtfertigungsdruck weitgehend entlasteten Blick auf das Geschehen. Der Verfolgungstext eröffnet den historisch-kritischen Zugang zum Mythos; er verrät, indem er sie scheinbar übernimmt, am Ende aber hinter sich lässt, die Arbeitsweise des Mythos. Dies ist seine entmythologisierende Leistung. Zu dieser Kategeorie von Texten zählt Girard Berichte über antisemitische Ausschreitungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart sowie über Pogrome aller Art und allerorten, Gerichtsprotokolle der spanischen Inquisition und der Hexenprozesse und literarische Dokumente zur Verfolgung von Minderheiten aus rassischen beziehungsweise ethnischen Gründen etwa in den Romanen von William Faulkner. In der 1982 veröffentlichten Studie Le bouc émissaire 593 expliziert Girard die Typologie des Verfolgungstextes anhand einer Erzählung in Versform aus dem 14. Jahrhundert, Le Jugement du Roy de Navarre, 594 in welcher der Verfasser Guillaume de Machaut seinem im höfischen Stil verfassten Gedicht einen Bericht vorausschickt, der sich mit der katastrophalen schwarzen Pest befasst, die um 1350 den Norden Frankreichs verwüstete. Wie die mittelalterlichen Gemeinschaften auf die existenzielle Bedrohung durch die Pest reagieren, ist hinlänglich aus der Geschichte des europäischen Antisemitismus bekannt. So auch bei Guillaume de Machaut: Après ce, vint une merdaille Fausse, traître et renoïe: Ce fu Judée la honnie, La mauvaise, la desloyal, Qui bien het et aimme tout mal, Qui tand donna d´or et d´argent 592 René Girard, Des choses cachées, S. 143 : « Il se peut qu´il y ait mille lectures possibles d´un texte de persécution. [...] La lecture qui affirme la réalité de la persécution est seule valable à nos yeux ». 593 René Girard, Le bouc émissaire, Paris 1982 594 Œuvres de Guillaume de Machaut, ed. Ernest Hopffner, Paris 1904, S. 144 - 145 181 Et promist a crestienne gent, Que puis, rivieres et fonteinnes Qui estoient cleres et sereinnes En plusieurs lieus empoisonnerent, Dont plusieurs leurs vies finirent ; Car trestuit cil qui en usoient Assez soudeinnement moroient, Dont, certes, par dis fois cent mille En moururent, qu´a champ, qu´a ville. Ensois que fust aperceuë Ceste mortel deconvenue Mais cils qui haut siet et louing voit, Qui tout gouverne et tout pourvoit, Ceste traïson plus celer Ne volt, enis la fist reveler Et si generalement savoir Qu´ils perdirent corps et avoir. Car tuit Juif furent destruit, Li uns pendus, li autres cuit, L´autre noié, l´autre copée La teste de hache ou d´espee. Et maint crestien ensement En moururent honteusement. [...] Ne fusicien n´estoit, ne mire Qui bien sceüst la cause dire Dont ce venoit, ne que c´estoit (Ne nuls remede n´y metoit), Fors tant que c´estoit maladie Qu´on appelloit epydemie. Der Verfolgungstext verfährt durchaus in einer Art, die sich von der mythischen Sequenz nicht unterscheidet. Die Gemeinschaft ist in einer Krise. Die Pest, 595 im wörtlichen, klinischen wie im übertragenen, sozial entdifferenzierenden Sinn ist verheerend. Die Institutionen und Hierarchien brechen zusammen, jeder infiziert potenziell jeden. Die Pest pflanzt sich fort wie die Gewalt: Wer ihr unterliegt, infiziert sich ebenso wie derjenige, der mit Gegengewalt antwortet. Die Lage ist aussichtslos. Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Verzweiflung und in der höchsten Gefahr naht die Rettung. In dem Moment, wo das soziale Delirium seinen Höhepunkt erreicht, schlägt plötzlich die bösartige Reziprozität in die gutartige Reziprozität um. Im Unterschied zu der mythischen Situation, wo die Auswahl des Opfers oft auf den minimalen Unterschied gegenüber den Gruppenmitgliedern oder auf das entweder vorhandene, oder auch nur zugeschriebene Gebrechen zurückgeführt wird, wird hier, dem mittelalterlichen religiösen Kontext entsprechend, die Opferwahl direkt durch die himmlische Gerechtigkeit vorgenommen. Diese schafft Ordnung, indem sie die vermeintlich schädlichen Elemente an die erregte Volksmenge verrät, von der sie umgebracht werden. So findet sich ein Sündenbock, durch dessen Intervention die Gewalt aus der Gemeinschaft evakuiert wird. Die Juden, man erinnert sich an den 595 Vgl. René Girard, La peste dans la littérature et le mythe, in : ders. To Double Busines Bound (1978), London 1988, S. 136 - 153 182 Prozess Jesu und den tödlichen Ausgang, haben sich am wahren Gott schuldig gemacht. Da sie außerdem für so widernatürliche Verbrechen wie Kindesmord, Inzest, rituelle Profanation, Brunnenvergiftung durch eigene Hand oder mittels gedungener Helfershelfer in Frage kommen, steht für Guillaume de Machaut als Vertreter der öffentlichen Meinung fest, dass sie für die Pest verantwortlich sind. Folglich muss in aller Härte gegen die Juden vorgegangen und die Gemeinschaft von dieser Verunreinigung gereinigt werden. Guillaume de Machaut ist bei der Zurüstung des Sündenbocks wahrlich nicht besonders zurückhaltend. Er wiederholt alle denkbaren Vorurteile, die für die Erklärung des Pestausbruchs dienlich sein können und die doch offensichtlich, wie sich später herausstellen sollte, damit, nämlich mit dem pathologischen Phänomen der epydemie, in keiner Weise in Verbindung gebracht werden können. Als aber trotz der an den Juden verübten Massaker die Pest nicht abflaut und die Menschen weiterhin massenweise sterben, bekennt sich Guillaume de Machaut, ohne es auszusprechen, zu der Haltlosigkeit der in der mimetischen Krise vorgebrachten Vorwürfe. Dadurch werden aus den zuvor nach der mythischen Opferlogik Umgebrachten unschuldig Verfolgte. Die quasi wissenschaftliche Erklärung der epydemie ist unter dem erzähltechnischen Aspekt ein Aufgeben des Standpunkts der sich um die Rettung des Gemeinwesens verdient machenden Verfolger und Mörder. Zwar ergreift der Verfasser nicht offen Partei für die unschuldigen Opfer, sein Text wird aber lesbar als ein Verfolgungstext, der die Unwirksamkeit, ja den Placebo-Charakter der kollektiven Gewaltanwendung bloßstellt. Ein weitergehender, gravierender Unterschied zur mythischen Erzählung besteht jedoch darin, dass das versöhnende Opfer nicht sakralisiert wird. Ereignet sich im Mythos das sacrificium in der zweifachen Wortbedeutung als Opferung und als Heilgmachung, als eine opferlogische Verknüpfung von kollektivem Mord und Inthronisierung des Idols, einhergehend mit der Hierophanie, die darin erfahrbar wird, dass aus dem Chaos der Krise die Einmütigkeit der Lynchmörder hervorgeht und aus dieser wiederum die Einmütigkeit der Adoranten, so endet der Verfolgungstext mit der enttäuschenden Feststellung, dass das eingeleitete Verfahren zur Krisenbewältigung versagt hat. Obwohl Guillaume de Machaut möglicherweise daran glaubt, dass die Juden die Brunnen vergiftet haben, und obwohl er ihnen die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion zuschreibt, präsentiert er sie am Ende nicht als das heilbringende Opfer, dem Dank und Verehrung schuldig wäre. Er versucht es, aber es gelingt ihm nicht wirklich, seine Leser von der Schuld der Juden am Ausbruch der Pest zu überzeugen. Und so bleibt es dabei, dass die Juden umgebracht werden, weil sie theologisch nicht integrierbar sind und sie sich wegen dieses mythischen Gebrechens in besonderer Weise eignen für die Übernahme der Außenseiter- und Opferrolle. Im Unterschied aber zur mythischen Sequenz endet die Verfolgungssequenz – die mittelalterliche Hexenverfolgung kann dies anschaulich belegen - im Hass und in der Vernichtung; sie ist nicht der Ort der Hierophanie und der Hervorbringung des Sakralen. 596 Der Verfolgungstext erzählt nicht die wunderbare Metamorphose vom fast zufällig bestimmten Opfer zum göttlichen Wesen und seiner Heilswirkung für die Menschen; er produziert jedoch stumme 596 René Girard, Le bouc émissaire, S. 58 : « Les mythes exsudent le sacré et ils paraissent incomparables aux textes qui ne l´exsudent pas ». 183 Zeugen, 597 welche an den seit Anbeginn der Zeit praktizierten Opfermechanismus erinnern, auf dem die Hominisation und die Soziogenese beruht und der doch zugleich unter den Bedingungen der Moderne einen für die Menschheit tödlichen Ausgang nehmen kann. Indem der Verfolgungstext sich wohl des Instrumentariums der mythischen Sequenz bedient, jedoch die mythische Konklusion verfehlt, dekonstruiert er auf die wirksamste Art die Gültigkeit dieser Erzählweise und stellt die Frage nach einer alternativen Ereignisfolge und ihrer narrativen Entsprechung. Dass der Verfolgungstext in der Abkehr vom violence-et-sacré-Verfahren die Sakralisierung des Opfers vermeidet, ist indes nicht allein dadurch erklärbar, dass er von wahren Begebenheiten, der Judenverfolgung, den Hexen- und Inquisitionsprozessen, spricht. Den Mythen gehen nach Girard Überzeugung ebenso reale, wenn auch weit zurückliegende, Ereignisse, die im kollektiven Mord gipfeln, voraus, und dennoch beharren sie auf der Schuld des Opfers und auf der positiven Wirkung der gemeinschaftlichen Aktion. Dass es solche zunächst paramythische und zunehmend antimythischeTexte gibt, die in der mythischen Literatur selbst nicht zu finden sind, hängt aus der Sicht von Girard mit einem Prozess der Entmythologisierung zusammen, der sich auf die griechische und jüdische Welt lokalisieren lässt, vor allem aber das biblische Textcorpus beherrscht. 598 Dass Guillaume de Machaut in der Lage ist, die Jagd auf die Juden entgegen der Suggestion einer himmlichen Gerechtigkeit zu entsakralisieren und sie als sinnloses Verfolgungsphänomen zu behandeln, macht deutlich, dass er sich einer Leserschaft gegenübersieht, die in der Lage ist, die Kette von Geschehnissen, die in frühen Gesellschaften nur in mythischer Form verarbeitet werden konnten, als willkürliche Gewalttätigkleit zu durchschauen. Für Girards Literaturbetrachtung sind die Verfolgungstexte von ganz besonderer Bedeutung, weil in ihnen die beiden Erzähltypen aufeinandertreffen, die in der Folge und in literarhistorischer Hinsicht getrennte Wege gehen werden. In diesen Texten verbinden sich und beginnen gleichzeitig sich von einander zu lösen die Aspekte der himmlischen Gewaltheiligung und die der desillusionierten Bloßstellung der kollektiven Gewalt. Damit trifft Girard eine Unterscheidung, die jene dupliziert, die er am Beginn seines literaturkritischen Vorgehens mit der Gegenüberstellung der romantischen Lüge und der romanesken Wahrheit vorgenommen hat und die es ihm ermöglichte, alle Erzählungen in solche einzuteilen, die entweder das mimetische Verlangen abbilden und die Individuen der mimetischen Faszination unterwerfen oder aber dieses Verlangen durchschauen und die Protagonisten aus dieser Faszination befreien. In Verfolgungstexten können die beiden konkurrierenden Erzähltypen koexistieren, kann etwa ein Lynchmord, aus der Sicht der Verfolger, als reinigendes Ritual oder, aus der Sicht des Opfers beziehungsweise eines externen Beobachters, als Massaker erzählt werden. In den Mythen, daran lässt Girard keine Zweifel, gibt es keine Alternative zur Sehweise des durch das Hindurchgehen durch die Krise stabilisierten Kollektivs, wie es auch in den Riten keine Alternative gibt zur Handlungsweise des Priesters. 597 René Girard, Le bouc émissaire, S. 292 : « Ce que disent les martyrs n´a pas beaucoup d´importance parce qu´ils sont les témoins, non d´une croyance déterminée, comme on se l´imagine, mais de la terrible propension des hommes en groupe à verser le sang innocent, pour refaire l´unité de leur communauté ». 598 René Girard, Des choses cachées, S. 147 : « Nous ne pouvons pas donner un seul exemple de texte de persécution qui n´appartienne à notre univers ou aux univers dont nous sommes directement issus, le grec et le judaïque. [...] Nous verrons bientôt qu´il y a des textes plus anciens encore et plus décisifs qui ne sont pas grecs ». 184 Villém Flusser kommentiert den Girardschen Bouc émissaire mit dem Essay Vom Fremden, den er mit dem Motto ODI ET AMO versieht, einem Wort aus dem Catullschen Carmen 85 599 , welches prägnant auf die Ambiguität des Heiligen hinweist, das im Sündenbock hervorscheint. Der Sündenbock, insofern er als Schuldiger für die Krise und das Chaos gilt, ist teuflisch, und als Gründer der neuen Ordnung, des Kosmos, ist er göttlich. Wie bereits der Akt der personalen Selbstbestimmung 600 auf der Verstoßung des Fremden gegründet ist, ist auch die soziale Re-Differenzierung der Chaosbewältigung ein ‚kriminaler’ Vorgang, der vom mythischen Denken gelenkt wird. Die ursprüngliche Situation ist nicht die paradiesische, sondern die chaotische. In solchen Situationen kommt – wie beim ersten Mal - Rettung vom Fremden, vom Unheimlichen, vom Ungeheuer. Bei der Suche danach kommt jede Anomalie gelegen: Behinderung, Haarfarbe, fremdes Aussehen, fremde Sprache, fremde Religion. Ist der Unterschied einmal gesetzt, ist der erste Schritt zur Identifikation getan. Der Sündenbock, der von außen kommt, ist das Ab- und Enorme, das im Inneren Herrschende ist das Normale. Obwohl Guillaume de Machaut mit der epydemie über eine rationale Ursache für den Ausbruch der Pest verfügt, distanziert seine Erzählung sich nicht von der Zuweisung einer Schuld und von der Nominierung von Schuldigen, auf die sich die Masse stürzen kann, um durch den gemeinschaftsstiftenden Massenmord die Krise zu überwinden. Obwohl er es hätte besser wissen und von der Unschuld der Juden hätte sprechen können, lässt der Erzähler dem Mythischen seinen Lauf, denkt er letzten Endes nicht kausal, sondern mythisch. Wenn auch Flussers Urteil an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Machaut, die Thebaner, die Mexikaner sind Kriminelle, die das Bewusstsein von ihrem Verbrechen vor sich selbst und den anderen vertuschen. Das mythische Bewusstsein ist ein kriminelles Bewusstsein 601 . , so ist doch die Verantwortung eines Machaut – und aller späteren historischen Fremdenmörder für die verbrecherischen, viktimären sozialen Stabilisierungsversuche ungleich größer als die der Thebaner und Azteken, welche noch nicht das Bewusstsein von dem unschuldig hingemordeten Sündenbock haben konnten. Dieses Bewusstsein, darin übernimmt Flusser Girards kultur- und erzählgeschichtliche Diagnose, konnte sich erst durch das Christentum formieren, welches in den Evangelien das seit der früheren biblischen Literatur sich entfaltende antimythische Modell zur vollen Lesbarkeit gebracht hat. Würden die Mythen von der Unschuld des Opfers wirklich nichts wissen, würden sie diese nicht verdrängen. Da sie die Stimme des unschuldigen Opfers unterdrücken, geben sie die Kenntnis von dieser Unschuld indirekt zu. Wie die Riten, in denen die Mythen inszeniert werden, sich einer ästhetischen Zensur unterwerfen, durchlaufen die Mythen eine poetische Zensur, in der die Sakralisierung des Fremden im Interesse der jeweils neu stabilisierten sozialen Ordnung begangen wird. Die Evangelien hingegen sind die Offenbarung der verborgenen Dinge, das heißt dessen, was die Mythen verdecken und wider besseres Wissen verschweigen. Und doch dringt die christliche Botschaft nur zögerlich ins Bewusstsein. Die Menschen handeln alle immer noch mythisch: sie 599 Das geflügelte Wort von der Hass-Liebe lautet: Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. 600 Villém Flusser, Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, hg. von Stefan Bollmann, Mannheim 1995, S. 101: „Denn sich identifizieren ist, sich von einem anderen unterscheiden, den anderen diskriminieren. Die Worte ‚Krise’, ‚Kritik’. ‚Kriterium’ und ‚crimen’ stammen alle von einer Wurzel, welche ‚Unterschied machen’ bedeutet. Daher ist Identität Folge einer Krise, einer Kritik, eines ‚Verbrechens’ im genauen Sinn dieses Wortes. ‚Wer bin ich?’ ist eine kriminale Frage“. 601 Villém Flusser, Jude sein, S. 103 185 schieben die Schuld auf den anderen, um sich selbst behaupten zu können. Aber das Verhalten der Menschen und der Gesellschaften ist durch die in den Verfolgungstexten aufgekommene Unschuldsvermutung gegenüber dem Sündenbock kritisierbar geworden: Machaut (und Hitler) sind dank des Christentums fähig, unmythisch zu denken, und doch handeln sie mythisch 602 . Die Frage, wie es zu Verfolgungstexten und zur persekutiven Lesart der Mythen kommen konnte, wird von Girard nur andeutungsweise beantwortet, beispielsweise dadurch, dass anders als in frühen Gemeinschaften, die aufgrund ihres geringen Umfangs mit dem singulären Opfer kurzen Prozess machen konnten und mussten, die größeren Verbände – mit dem Anwachsen des Kollektivs nimmt auch der Vorrat an potenziellen Opfern zu - sich mit immerhin respektablen Minoritäten auseinandersetzen mussten und konnten, um ihre Stabilität zu sichern und daher die Stimmen der Verfolgten nicht mehr spur- und geräuschlos zum Verstummen zu bringen waren. 603 Der historische Befund wird jedoch nicht weiter geprüft. Wie er bei der Entfaltung seiner Erzähltheorie die Grenzen der Textgattungen unbefangen überschreitet und etwa Augustinus und Dostojewski unter ein und derselben Tradition verbucht, holt Girard in seinem Unternehmen der Entmythifizierung weit aus und postuliert in einer allumfassenden Geste die Identität der spezifischen Botschaft der westlichen Kultur mit dem Projekt der Entmythologisierung, 604 deren beider Kern darin besteht, dass der Opfermechanismus zunehmend durchschaut und auch in seinen historischen, gesellschaftlichen und politischen Äußerungen nach und nach der Glaubwürdigkeit, die er in früheren Gesellschaften hatte, beraubt wird. In einer geschichtsphilosophischen, ja geradezu geschichtstheologischen Vision, deren Erkenntnisgewinn für ihn so evident ist, dass ihre Position weder ableitbar noch hintergehbar erscheint, sieht er seit Anbeginn der Welt eine Dynamik der Entsakralisierung am Werk, die sich in den bisherigen Kulturen nicht gegen die sakralisierenden Tendenzen durchsetzen konnte, deren Verwirklichung aber gerade unter den Bedingungen der Moderne unausweichlich und auch unaufhaltsam ist. Gerade weil die Moderne zur Kenntnis nehmen muss, dass mit den vorhandenen Vernichtungskapazitäten die Fortsetzung der sakrifiziellen Konfliktlösungen in den planetarischen Suizid münden kann, wird sich, mit wissenschaftlicher Notwendigkeit, wie Girard meint, die Erkenntnis aufdrängen, dass kollektive Kohäsion und kulturelle Identität nicht mehr auf Kosten eines ausgeschlossenen, vertriebenen oder umgebrachten Dritten zustande kommen. L´humanité entière se trouve déjà confrontée à un dilemme inéluctable. Il faut que les hommes se réconcilient à jamais sans intermédiaires sacrificiels ou qu´ils se résignent à l´extinction prochaine de l´humanité. 605. 602 Villém Flusser, Jude sein, S. 104 René Girard, Des choses cachées, S. 146 : « La plupart des communautés productrices de mythologie sont trop petites et trop homogènes pour abriter les minorités qui fournissent aux sociétés plus vastes leurs réservoirs de victimes collectives ». Dazu auch ders., La voix méconnue du réel, S. 59 : « La plupart des sociétés productrices de mythes sont trop petites et trop homogènes pour posséder les minorités religieuses ou ethniques qui servent d´ordinaire de viviers aux grandes civilisations hétérogènes en quêtes de boucs émissaires ». 604 ebenda : « La persécution démystifiée, monopole du monde occidental et moderne ». 605 René Girard, Des choses cachées, S. 160 603 186 9. Die biblische Dynamik der Entsakralisierung Wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen das Aufkommen und die Auflösung des kritischen Zustands einer sequenziellen Regelung unterworfen sind, in der die Positionen von Anfang, Umschlag und Ende definierbar und insofern erzählerisch auf die Reihe zu bringen sind, verläuft nach Girards Geschichtsverständnis auch das Weltgeschehen nicht etwa katastrophisch oder gar in Reaktion auf einen ungeordneten Rhythmus von Meteoriteneinschlägen. Es wird vielmehr gesteuert von einem evolutiven Prinzip, einer séquence événementielle, 606 deren erste Phase in einer Desakralisation der Natur und beginnenden Aufklärung durch die Mythen, die Kulturen und die Naturwissenschaften besteht und in deren zweiter Phase, der jetzigen, es darum geht, den Menschen in einer Art science de l´homme über sich selber aufzuklären. 607 Wenn also Geschichte einem Prozess gleicht und das Fortschreiten in Etappen, Stadien und zu überschreitenden Schwellen nicht primär die politischen Veränderungen und die technischen Realisierungen bezeichnet, sondern den Gang der Hominisation meint, wird gewissermaßen ein dramatischer Bogen aufgespannt, der ein Wissen um den Anfang und das Ende behauptet und teleologische Kompetenz beansprucht. 608 Daher muss auch die Diagnose der Gegenwart dem Verlaufs- und Übergangscharakter entsprechen und, wie es eine lineare und somit eschatologisch orientierte Zeit- und Geschichtsauffassung erfordert, den dramatischen Moment eines einmaligen Hier und Jetzt betonen: Je crois que nous vivons une mutation proprement inouïe, la plus radicale qu´ait jamais subie l´humanité. 609 Geschichte ist für Girard eine Annäherung an die Bestimmung des Menschen, une avance toujours plus accélérée […] vers la vérité de toute culture, 610 und dieses Fortschreiten ist identisch mit dem Prozess der Entsakralisierung und der Entmythologisierung. Die größte Überraschung besteht jedoch darin, dass die immer schon vorhandene und in der Geschichte der Menschheit nie ernst genommene, ja in der Regel ausgestoßene und verfolgte Instanz der Entsakralisierung und Entmythologisierung dort zu finden ist, wo niemand sie vermutet, nämlich in der Religion, genauer: in der von den Autoren der jüdischen und christlichen Bibel tradierten Gottes- und Menschenlehre. Während der Mythos in allen seinen Metamorphosen und Wirkungsweisen daran festhät, dass auftretende Krisen sakrifiziell, also durch Einsatz der victime émissaire, gemeistert werden, sind allein die Verfolgungstexte in der Lage, die Unschuld der Opfer zu beteuern. Und das Corpus dieser Texte, mit deren Hilfe der Mythos entziffert und entzaubert und der in der jetzigen geschichtlichen Situation erfoderliche nächste Schritt der Entsakralisierung reflektiert werden kann, ist die Bibel, für Girard l´Ecriture judéochrétienne. 606 René Girard, Des choses cachées, S. 148 René Girard, Des choses cachées, S. 160 : « Mais la désacralisation de la nature n´est qu´une première étape ; le franchissement du seuil scientifique par toutes les disciplines qui vont réllement mériter, désormais, l´appellation de science de l´homme, constitue quelque chose de beaucoup plus difficile et conduit à un stade plus avancé du même processus de désacralisation ». 608 Michel Serres tituliert Girard mit Darwin des sciences humaines und Jean-Marie Domenach mit Hegel du christianisme, in: Le Nouvel Observateur vom 17. April 1978 und L´Expansion vom selben Tag. 609 René Girard, Des choses cachées, S. 158 610 René Girard, Des choses cachées, S. 159 607 187 In der Frage, woher denn die Sequenz sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als auch auf der planetarischen Ebene ihre Antriebskraft bezieht, bleibt Girard seinem in der conversion romanesque formulierten Muster treu. In dem romanhaft verdichteten Mikrokosmos wie in der Weltgesellschaft brechen die durch die Nachahmungsbegierde angefachten und durch die Überwältigungsbegierde und Unterlegenheitsängste teleskopierten mimetischen Rivalitäten aus, die, wenn der kritische Punkt des Alles-oder-nichts erreicht ist, mit quasi physikalischer Notwendigkeit in eine neue Einmütigkeit übergehen, aus welcher, wie Girard immer wieder betont, sich eine neue Ordnung organisiert. Je situe le principe organisateur, scandaleusement, dans les rivalités mimétiques et leur résolution paroxystique que j´attribue à l´unanimité d´un mécanisme victimaire dont l´étude de la foule montre le caractère automatique et, par définition, jamais conscient de lui-même, mais réellement efficace. 611 Da nun aber in der gegebenen weltgeschichtlichen Situation sich die Fortsetzung der sakrifiziellen Lösungen auf dem Rücken von victimes émissaires verbietet und gerade die historischen Großexperimente mit der Verfolgung von ganzen Klassen und Rassen die Ausweglosigkeit solcher Lösungen mitsamt der Unkalkulierbarkeit der damit verbundenen Risiken auch für die Täter demonstriert haben, muss die résolution paroxystique, ohne dass der Mechanismus außer Kraft gesetzt würde, in eine andere Richtung als die holocaustförmige oder die mit dem Klippensturz verknüpfte weisen. Es genügt demnach nicht, die Bemühung um die Identifizierung eines stellvertretenden Opfers, das zum Nutzen und Segen der Gemeinschaft die Gewalt absorbiert, vorübergehend einzustellen. Entscheidend ist, dass der Opfermechanismus aufgedeckt wird, vor allem dass die Unschuld des Opfers proklamiert und dadurch die Opfergewalt als solche entheiligt und entzaubert wird. Der Prozess der Enthüllung des Opfermechanismus steuert notwendigerweise zunächst auf den Paroxysmus zu, in dem immer wieder, in kürzeren Abständen und auch bei nichtigeren Anlässen zu sakrifiziellen Lösungen gegriffen wird, und, da diese sich immer weniger als hilfreich erweisen und die Dosis an Opfergewalt erhöht wird, sich schließlich die Illusion einer solchen Ordnungsstiftung erschöpft und die Menschen einander nur noch als feindliche Brüder und ohne viktimäre Protektion gegenüberstehen. Mit der gleichen Unbefangenheit, mit der er die Gattungsgrenzen von Mythen, Riten und ethnologischen Dokumenten ignoriert, 612 vergleicht Girard die aus den mythischen Erzählungen herausgearbeiteten Sequenzen mit denen der Bibel, isoliert er die jeweiligen Konklusionen und transferiert die von ihm als Beweisstücke der antimythischen Auflösung angerufenen romanesken Erzählungen in die Tradition der Evangelien. Indem er seinen mimetischen Konflikt als Leseraster für die Bibel anwendet, formuliert er die Erkenntnis, dass die ganze jüdisch-christliche Tradition in der Tat als eine durchgehende Offenbarung zu verstehen ist, und dass darin das Rätsel über den Menschen als Gewaltwesen enthüllt wird und dass es diese unaufhaltsame, unabgeschlossene, jedoch sich gegenwärtig abzeichnende 611 François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, New York 1994, S. 194 612 Das Ignorieren der Gattungsgrenzen kann ebenso als unvermeidlich betrachtet werden, da dort jenseits der Deskription und der Spekulation keine einheitlichen Kriterien und Leitunterscheidungen zu Verfügung stehen. Für die zahlreichen Landkarten hat sich keine einheitliche Legende herausgebildet. 188 Enthüllung ist, une révélation en cours, die in einem immense travail historique 613 den Gang der westlichen Kultur und damit der Moderne beherrscht. Er plädiert für einen kühnen lecture-Wechsel und schlägt vor, die biblischen Erzählungen nicht als ethnologische, mythologische oder historische Befunde zu lesen, sondern umgekehrt die ethnologischen, mythologischen und geschichtlichen, in aller Regel geschichtsoptimistisch gedeuteten Dokumente und Fakten nach biblischen Kriterien zu interpretieren, das heißt sie nach dem biblischen Offenbarungsgehalt und ihrer Nähe zur jüdisch-christlichen Reich-Gottes-Lehre und deren Heilsökonomie zu befragen. Biblische Aufklärung wäre demnach und in Umkehrung des philosophiegeschichtlichen Aufklärungsbegriffs nicht mehr darin zu sehen, dass durch denkerische Anstrengung das Vernunftwidrige der biblischen Texte belegt würde, vielmehr dass sich die Literaturen einer biblischen relecture unterziehen müssten, um Licht in ihre verborgenen und unterdrückten Motive zu bringen. Während die ethnologisch-mythologische Betrachtung davon ausgeht, dass der weltgeschichtliche Elan der biblischen Offenbarung, la lancée judéo-chrétienne, 614 lediglich eine Variante des Mechanismus darstellt, welcher in dem kollektiven Gewalttransfer gegen ein zuerst geächtetes, dann sakralisiertes Opfer das Religiöse hervorbringt und die aufklärerische Perspektive die jüdisch-christliche Religion über ihren mythischen Ursprung aufzuklären und ihren singulären Charakter zu widerlegen vermeint, entdeckt Girard den Ursprung und den Fortgang dieses nunmehr zweieinhalbtausend Jahre währenden Prozesses der Entmythologisierung in eben dieser biblischen Tradition, einer Entmythologisierung, die, obwohl sie in den Passionsberichten der Evangelien am klarsten zum Ausdruck gebracht wird, ständig von Rückfall und Verfinsterung bedroht ist und dennoch – nach Girards paroxystischer Deutung der Weltverhältnisse am Beginn des 21. Jahrhunderts – sich wider allen Anschein und wider jedes Erwarten durchsetzen wird. Ce n´est pas seulement une analogie supplémentaire que nous apporte cette découverte (du mécanisme producteur du religieux, d. Verf.), c´est la source de toutes les analogies, située derrière les mythes, cachée dans leur infrastructure et finalement révélée, parfaitement explicite, dans le récit de la Passion. 615 Nicht erst in den Perikopen der Evangelien, sondern bereits seit den frühen Erzählungen des so gegannten Ersten Testaments sieht Girard einen vom mythischen Verfahren abweichenden Sozialisations- und Hominisationsprozess am Werk. An der Textoberfläche jedoch unterscheidet sich das biblische Krisenmanagement nicht von der dreischrittigen mythischen Sequenz: hier wie dort beginnt die liminale Phase mit der konfliktiven Desagregation, mit dem Verwischen der gesellschaftlichen Differenzen und Hierarchien, hier wie dort erfolgt durch das Alle-gegen-einen eine wie durch die Intervention einer höheren Macht erlangte Befriedung, und hier wie dort entstehen mit präventiver oder kurativer Zielsetzung die zur Kontaktpflege mit der wundertätigen Macht geeigneten Verbote und Riten. Wie die Welt vor der Siebentageschöpfung als ununterschiedene Wirklichkeit präsentiert wird, sind auch die Erzählungen vom Turmbau zu Babel, von den 613 René Girard, Des choses cachées, S. 200 ebenda 615 ebenda 614 189 korrupten Zuständen in Sodom und Gomorrha, von den zehn ägyptischen Plagen sowie von der Sintflut Belege der Entdifferenzierung, deren dramatische Funktion derjenigen der thebanischen Pest in der sophokleischen Tragödie entspricht. Auch die häufig wiederkehrenden Szenen der rivalisierenden doubles, von Kain und Abel, Jakob und Esau, Joseph und seinen elf Brüdern oder der Mütter im Salomonischen Urteil variieren das Thema der Auflösung der sozialen Ordnung infolge der mimetischen Krise. Ebenso eindringlich wie der Vorgang der Desagregation wird in den frühen biblischen Texten die Redifferenzierung und Wiederaufrichtung der Asymmetrie dargestellt, welche sich stets als eine die Krise bewältigende Gewalttat in Form einer Ermordung oder einer Vertreibung ereignet. In der Erzählung von Adam und Eva ist es Gott selber, der Gewalt anwendet und die Menschheit gründet, indem er die beiden Geschlechter aus dem Paradies vertreibt. Schließlich lässt sich die ritualisierende und sakralisierende Substitution der Gründungsgewalt belegen, etwa wenn Isaak in extremis nicht seinen einzigen Sohn Abraham, sondern den von Gott gesandten Widder als Opfer darbringt oder wenn Jakob dank des Fells der von ihm geschlachteten Ziegen sich als Esau zu erkennen gibt, um so der Verfluchung durch seinen Vater Abraham zu entgehen. Bei aller formalen Ähnlichkeit der biblischen und der mythischen Ereignisabfolge gelingt es Girard, das spezifisch biblische Verfahren zu bestimmen und in umfangreichen Einzeluntersuchungen 616 die Besonderheit der biblischen Erzählsequenz nachzuweisen. Wie bei vielen Gründungsereignisse lässt sich beispielsweise bei den Bruderkonflikten von Kain und Abel und dem von Romulus und Remus auf den ersten Blick kein Unterschied in der Ereignisabfolge feststellen: Einer der beiden Brüder ermordet den anderen, und das Kollektiv des Überlebenden ist gegründet. In beiden – und vielen anderen Fällen, die den gewaltsamen Ursprung einer jeden Kultur verraten - hat die Tötung des Rivalen als der archetypische Akt einer jeden Differenzierung die gleiche stabilisierende und alle weitere intrakollektive Hierarchisierung legitimierende Wirkung. 617 Während jedoch, was leicht zu übersehen ist, in der römischen Gründungserzählung die Ermordung des Remus damit gerechtfertigt wird, dass dieser die Grenze des – noch nicht einmal existierenden Stadtbezirks – übertreten und sich dadurch schuldig gemacht habe, erfährt der biblische Brudermord insofern eine moralische Bewertung, als der Herr sich bei Kain mit der Frage Wo ist dein Bruder Abel? nach dem Verbleib des Opfers erkundigt. Und im Unterschied zu Romulus, dessen Status als Gesetzgeber, Richter, Opferpriester und Befehlshaber, das heißt als Inkarnation der sakralen und profanen römischen Macht durch diese Gründungstat etabliert wird, wird Kain als gewöhnlicher Mörder beschrieben, der, obwohl er durch seine Tat zum Kulturstifter geworden ist, von seiner Schuld nicht freigesprochen wird. Schließlich beinhaltet die biblische Bearbeitung der kulturellen Sequenz eine entschiedene Kritik des violence-et-sacréVerfahrens. Sie bildet dieses bei der Bewältigung der mimetischen Krise allseits erprobte Verfahren nicht nur ab, sondern erhebt einen ersten Einspruch gegen eine derartige gewalttätige Konklusion; Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde, 618 und mit dieser Markierung wird 616 Eine komparative Untersuchung von Themen des Neuen Testaments und von Mythen findet sich in: René Girard, Le bouc émissaire, ein Vergleich der Hiob-Erzählung mit dem Ödipus-Mythos in: ders., La route antique des hommes pervers, Paris 1985 617 René Girard, Des choses cachées, S. 170 : « C´est à un meurtre analogue que mille communautés rapportent leur propre fondation. Rome, par exemple. Romulus tue Remus et la ville de Rome est fondée. Dans les deux mythes le meurtre d´un frère par l´autre a la même vertu fondatrice et différenciatrice. A la discorde des doubles se substitue l´ordre de la communauté nouvelle ». 618 Gen 4, 15 190 signalisiert, dass gemäßt der Intention des Genesis-Verfassers 619 aus der gewaltsamen Konfliktbewältigung nach der kulturell üblichen, sakrifiziellen Methode der route antique des hommes pervers keine endlose und den Bestand des Kollektivs bedrohende Spirale von Gewalt und rächender Gegengewalt werden soll. Girard macht darauf aufmerksam, dass ebenso wie Nietzsche 620 auch Max Weber in den biblischen Texten die Tendenz ausmacht, für die Opfer Partei zu ergreifen. Was jedoch für Girard das Proprium der biblischen Botschaft ist, ist für den Religionssoziologen eine eher den historischen Umständen geschuldete Neigung der biblischen Autoren, die darauf zurückzuführen ist, dass in der Geschichte des Judentums, die selbst dem Muster des Verfolgungstextes folgt, die Brüche und Katastrophen überwiegen, dass es dort nie zu Reichsgründungen nach Art der Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen und Römer gekommen ist, was wiederum zur Folge hatte, dass in dieser kulturellen Atmosphäre keine Gründungserzählungen aus der Sicht der Täter, Sieger und Verfolger entstehen konnten. Was Weber lediglich als ein Vorurteil deutet, un préjugé analogue à tant d´autres, le préjugé en faveur de la victime, 622 gestaltet sich bei Girard zum Perspektivenwechsel, in dem sich die biblische von der mythischen Erzählweise absetzt. Dank der durch die Verfolgungstexte möglich gewordenen historischen Gegenprobe kann die mythische Sequenz, bei aller Übereinstimmung mit dem persekutiven Text auf der Ebene der Ereignisabfolge, nicht mehr an der Behauptung festhalten, dass das Opfer schuldig und die Mörder unschuldig sind, dass die Vergehen des Sündenbocks die Existenz der Gemeinschaft bedroht haben und dass seine Hinrichtung einen Vorgang der Erlösung darstellt, für den ihm Lobpreis und göttliche Verehrung gebührt. Der in beiden Texten anzutreffenden Identität der Ereignisabfolge von Entdifferenzierung, anarchischer Krise und Redifferenzierung durch Gewaltanwendung steht nun in zunehmender Klarheit die Nichtübereinstimmung in der Bewertung der Akteure und ihrer Motive gegenüber. Girard bescheinigt dem Mythos zwar, dass er insofern die Wahrheit sagt, als er erzählt, wie sich dem gewaltsamen Alle-gegen-einen der kulturelle Anfang verdankt; er weist aber nach, dass der mythische Text verfälscht ist durch den Glauben der Mörder an die Schuldhaftigkeit ihres Opfers wie auch an dessen Göttlichkeit, dass die Mythen den Standpunkt des Kollektivs wiedergeben, welches durch den gemeinschaftlich begangenen Mord versöhnt worden ist und an der kultisch gesicherten Überzeugung festhält, dass dieser Mord eine berechtigte, heilige, von der Gottheit selbst gewollte Tat ist, die im Interesse des Kollektivs nicht hinterfragt werden darf. 621 Girard ist sich der subversiven Wirkung dieser Mythendekonstruktion bewusst, die in der Rehabilitierung der Opfer und der Überführung der Mörder besteht. Er ist sich im Klaren darüber, dass seine Bibel-Analyse nicht nur das Mythenverständnis betrifft, sondern in der Freilegung des gewaltsamen Ursprungs der menschlichen Ordnungen den Anstoß zu einer weit reichenden Kulturdiagnose gibt. 619 Girard macht darauf aufmerksam, dass Abel als Schafhirt in der Lage ist, blutige tierische Ersatzopfer darzubringen und so die Gewalt aus der Gemeinschaft zu vertreiben, während Kain als Ackerbauer in Ermangelung eines tauglichen Ersatzopfers die Gewalt nicht überlisten kann und das Blut seines Bruders vergießt. Vgl. René Girard, La violence et le sacré, S. 17 : « L´un des deux frères tue l´autre et c´est celui qui ne dispose pas de ce trompe-violence que constitue le sacrifice animal ». 620 s. Anmerkung Nr. 530 621 Vgl. Max Weber, Das antike Judentum, 6. Aufl. Tübingen 1976 622 René Girard, Des choses cachées, S. 171 191 C´est à l´initiative des rédacteurs juifs, c´est à leur remaniement critique, certainement qu ´ íl faut attribuer l´affirmation que la victime est innocente et que la culture fondée sur le meurtre garde d´un bout à l´autre un caractère meurtrier qui finit par se retourner contre elle et la détruire, une fois épuisées les vertus ordonnatrices et sacrificielles de l´origine violente. 623 Remus wird von seinem Zwillingsbruder erschlagen, weil er sich angeblich an einer ‚großen Sache’ schuldig gemacht hat; folglich besteht kein Grund, seinen Tod zu beklagen. Keine Stimme erhebt sich, um den Romulus mit der Kains-Frage zu konfrontieren: Wo ist dein Bruder? Und niemand hält ihm vor: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. 624 Die Kains-Geschichte kulpabilisiert die kainitische Kultur, in dem sie zeigt, dass diese Kultur auf der durch nichts zu rechtfertigenden Ermordung Abels beruht. In der Geschichte von Romulus und Remus jedoch fällt kein kulpabilisierender Schatten auf die römische Kultur; die Ermordung des Bruders erscheint dort nicht als verbrecherische Bluttat, sondern als notwendige Bestrafung im Interesse und im Namen des in der Gründung begriffenen Kollektivs. Wie diese werden auch viele andere mythischen und biblischen Erzählungen in gleicher Weise von dem Mechanismus der chaotischen Entdifferenzierung – Zwillinge eignen sich als monströse doubles in besonderer Weise zur Evokation der reziproken Gewalt und halluzinatorischen Panik – und der gewaltsamen Redifferenzierung gesteuert. Girard legt eine eindrucksvolle Liste von Opfern vor, deren Unschuld in den biblischen Texten beteuert wird, während in den mythischen Paralleltexten das violence-et-sacré-Verfahren in allen möglichen Anwendungen durchgespielt wird. Die Arbeit der Bibel besteht in der Umwertung des designierten und hingerichteten Opfers, seiner Entdämonisierung und Desakralisierung und damit seiner Rehumanisierung; das ist ihre besondere Leistung: la singularité radicale de la Bible face aux mythologies de la planète entière 625 . Unter anderen am Beispiel des gegen Ödipus beziehungsweise Joseph von Ägypten 626 erhobenen Inzestvorwurfs und der unterschiedlichen Bewertung kommt Girard zu dem Schluss, dass es unabdingbar ist, von einer biblischen Inspiration zu sprechen, die alle die Verfasser dieser Texte beseelt, wobei die Erklärung dieser Inspiration aus der historischen Verfolgungserfahrung des fragil organisierten Judentums in der Auseinandersetzung mit den umgebenden Imperien nahe liegt. Wie die thematischen Übereinstimmungen belegen, sind die Erzählungen selbst nicht originell, sondern greifen auf eine bereits vorhandene Mythologie zurück, die von den biblischen Verfassern jedoch mit einer eigenständigen Intention interpretiert, nach ihren Bedürfnissen umgearbeitet und für ihr Publikum erzählbar gemacht werden. Und diese besondere Intention ist, wie es Girards durch keine Einwände beirrbare lecture non sacrificielle von der kainitischen Gründungsgeschichte bis zur Steinigung des Stephanus in der Apostelgeschichte aufzuzeigen versucht, die große Alternative zu dem auf dem Opfer – dem willkürlich designiertem, dem rücksichtslos dargebrachten und dem anschließend verschwiegenen beziehungsweise divinisierten - beruhenden Kulturverständnis. Saulus aber war mit dem Mord einverstanden, 627 so resümiert die Apostelgeschichte den Lynchmord und entzieht dem Verbrechen gegenüber dem Unschuldigen jede Rechtfertigung und jede historische und gesellschaftliche Bedeutung. Im Ödipus-Mythos findet sich keine 623 René Girard, Des choses cachées, S. 172 Gen 4, 9 - 10 625 René Girard, Des choses cachées, S. 177 626 Gen 37, 3 – 36; 39, 7 - 20 627 Apg 7, 60 624 192 Stimme, die sich angewidert vom Doppelmord der Brüder distanziert und das violence-et-sacré-Verfahren bloßstellt. Und Kreon hieß den Etheokles, als Verteidiger Thebens, mit königlichen Ehren beisetzen, alle Bewohner der Stadt folgten dem Leichenzuge, während Polyneikes unbegraben und in Unehren dalag, 628 lautet die sakrifizielle Bilanz der für eine weiteres Mal erfolgreichen Redifferenzierung, welche die Logik des Tötens bestätigt. Dieser Logik des Opferns zugunsten einer höheren Sache hält Girard eine die biblischen Texte inspirierende und alle kulturelle Ordnung subvertierende Idee entgegen: Et cet esprit consiste, de toute évidence, à intervertir les rapports entre la victime et la communauté persécutrice. 629 Den von den antiken Pfaden abweichenden Weg zur Bewältigung des mimetischen Konflikts zeigt Girard in einer exegetischen, nichtsakrifiziellen Bibellektüre auf, die den weitaus umfangreicheren Teil seines Werks ausmacht. Exemplarisch ließe sich die alternative Art der Homineszenz und Soziogenese zwar an der biblischen Konklusion, das heißt an der Passionserzählung nachzeichnen; da Girard aber das biblische Modell mit seiner Menschen- und Gesellschaftslehre seit Anbeginn der Welt in Konkurrenz zum mythischen Entwurf an der Arbeit sieht, entfaltet die Leidensgeschichte ihre Offenbarungskraft vor allem dann, wenn sie in ein Phasenmodell eingepasst wird, in dem die Progression der opferkritischen Alternative dargestellt wird. On peut distinguer une série d´étapes trés différentes par leur contenu et par leur résultat mais toujours identiques par leur orientation générale et par la forme qu´elles assument, toujours bien entendu celle de la désintégration préalable d´un système antérieur, d´une crise catastrophique mais heureusement conclue par l´intermédiaire du mécanisme victimaire aboutissant, chaque fois, à l´établissement d´un système sacrificiel de plus en plus humanisé. La première étape, c´est le passage du sacrifice humain au sacrifice animal à l´ époque dite patriarcale; la seconde étape, c´est l´ Exode, marquée par l´institution de la Pâque, qui met l´accent non sur l´immolation mais le repas en commun et ne constitue plus déjà un sacrifice à proprement parler. La troisième étape, c´est la volonté prophétique de renoncement à tous les sacrifices et elle ne s´achève, bien sûr, que dans les Evangiles. 630 Die Geschichte vom Salomonischen Urteil, 631 für Girard un des plus beaux textes de l´ Ancien Testament, expliziert einmal mehr die soziodramatische Sequenz von Desintegration, Krise und Konklusion und beleuchtet die kulturgeschichtliche Phase, in der die Krisenbewältigung vom Menschen- zum stellvertretenden Opfer übergeht. Sie setzt ein mit einem triangulären Konflikt, der alle Anzeichen einer enthierarchisierenden mimetischen Krise aufweist. Der double-Status der beiden sich um das überlebende Kind streitenden Frauen wird markiert durch das Wohnen im gleichen Haus, durch die fast gleichzeitige Geburt ihrer Kinder, dadurch, dass sie zur Tatzeit allein im Haus sind und dass beide, was die Ununterscheidbarkeit zusätzlich betont, Dirnen sind und keine eigenen Namen haben; sie werden mit die eine Frau und die andere Frau angesprochen. Auch die Argumente, die sie in ihrem Streit vor 628 Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des Altertums, 9. Aufl. Bayreuth 1986, S. 183. In der Antigone-Fassung von Jean Anouilh wird die Zufälligkeit bei der Auswahl des Opfers dadurch unterstrichen, dass offen gelassen wird, welcher der beiden zur Unkenntlichkeit entstellten Leichname ein Staatsbegräbnis erhielt beziehungsweise unbestattet blieb. 629 René Girard, Des choses cachées, S. 175 630 René Girard, Des choses cachées, S. 260 - 268 631 1 Kön 3, 16 – 28 (Entstehungszeit vermutlich zwischen 560 und 538 v. Chr.) 193 dem König bemühen, sind identisch. Beide sagen: Mein Kind lebt und dein Kind ist tot. Indem auch der König, an den sich die beiden Frauen mit der Bitte um ein Urteil wenden, die Worte und Argumente der doubles lediglich wiederholt: Diese sagt: Mein Kind lebt, und dein Kind ist tot! Und jene sagt: Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind lebt, wird deutlich, dass die Konfliktsituation des nachahmenden Begehrens mit rationalen Mitteln nicht lösbar ist. Da es aus der Sicht des Königs keinen nachvollziehbaren Grund für den Besitzanspruch der einen oder der anderen Bittstellerin gibt und da das Objekt des Begehrens nicht teilbar ist, müsste nach dem Verfahren der route antique eine Redifferenzierung dadurch erfolgen, dass eines der doubles ausgeschaltet wird. Der Streit wäre dann auf Kosten eines Opfers beendet. Es würden wieder Ruhe und Ordnung vor und im Palast herrschen, und man würde sich noch lange in kurativer oder präventiver Absicht die Geschichte von dem tatkräftigen König erzählen beziehungsweise rituell aufführen, dem die Integration seines Volkes am Herzen lag und der als Friedensrichter stets für klare Verhältnisse sorgte… Die Weisheit des Königs besteht jedoch darin, dass er den mimetischen Konflikt dadurch dekonstruiert und durchschaubar macht, dass er ihn gewissermaßen auf die Spitze treibt. Er bekräftigt durch den Verzicht auf den differenzierenden Eingriff und durch die unreflektierte Reproduktion ihrer Argumente nicht nur die ausweglose Rivalität der doubles, sondern überträgt mit seiner Weisung die blockierende Doppelung auch auf das strittige Objekt: Holt mir ein Schwert! […] Schneidet das lebende Kind entzwei, und gebt eine Hälfte der einen und eine Hälfte der anderen! Erst die Verschärfung des Konflikts auf die unmittelbar bevorstehende tödliche Dezision hin – ‚decidere’ signifie trancher par l´épée - überwindet die lähmende Äquidistanz des rivalisierenden Begehrens. Indem die zweite Frau in die Tötung des Kindes einwilligt und so zu erkennen gibt, dass aus ihrer Sicht das Streitobjekt sogar zum Verschwinden gebracht werden kann, dass es ihr also nicht um das lebende Kind und das Leben des Kindes, sondern um die Überwältigung der Rivalin geht: Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es…, eröffnet sich, da nun auf die Identität der wahren Mutter geschlossen werden kann, eine nichtsakrifizielle und annähernd rational fassbare Konfliktlösung. In dem langen und geduldigen Zuwarten des Königs kann die Suggestion des Erzählers gesehen werden, das Kindesopfer zur Versöhnung der streitenden Parteien durchaus in Betracht zu ziehen, was in einer kulturellen Umgebung, die das Menschenopfer sowie das Erstlingsopfer mitsamt seinen Ableitungen in Form des Tieropfers und der Beschneidung kennt, nicht allzu sehr überraschen würde. Für Girard indes ist es ein dynamisme anti-sacrificiel, der alle biblischen Erzählungen kennzeichnet und antreibt, eine Dynamik, die zwar in unterschiedlicher Lesbarkeit zutage tritt und auch Rückfälle aufweist, jedoch sich in den erzählten Sequenzen von den ersten biblischen Szenen bis hin zu den Evangelien unaufhaltsam und in immer größerer Deutlichkeit offenbart. Das Salomonische Urteil markiert in diesem Offenbarungsprozess sowohl die Substitution des Menschenopfers durch ein – nach antiken Vorstellungen - Opfer minderen Werts, als auch den Verzicht auf das Opfer als einem Mittel der Konfliktlösung. Gleichzeitig, und dies dürfte als die bedeutendere Offenbarungsleistung dieser Erzählung gelten, wird hier ein Weg aufgezeigt, wie die mimetische Faszination der doubles überwunden beziehungsweise vermieden werden kann. Die wahre Mutter, die ja die überlegene Weisheit des Königs nicht voraussetzen kann, will ihr Kind retten und am Leben erhalten, indem sie bereit ist, auf es zu verzichten. Da diese Verzichtserklärung noch lange kein Beweis für ihre Mutterschaft ist, geht sie das Risiko ein, als Lügnerin zu gelten, die nur ihre Haut retten will. Ein Risiko also, das ihr 194 Leben kosten kann, sicher aber mit ihrer Vertreibung zu enden droht. Die wahre Mutter setzt also ihr Leben ein. Sie ist bereit, ihr Kind für immer ihrer Rivalin zu überlassen und, falls es sein muss, sogar zu sterben, um das Kind vor dem Tod zu retten. Die wahre Mutter drängt es nicht danach, sich zu opfern, im Unterliegen masochistisch zu triumphieren oder gar einem morbiden Todestrieb zu folgen. Ihr Verzicht ist kein Opfer im sakrifiziellen Sinn, er ist eine Umkehr, eine Befreiung von der mimetischen Faszination. In einer Grenzssituation, in der sie, um den Gegensatz der doubles zu beenden, sich entscheiden muss zwischen der tragischen Alternative des Tötens und des Getötetwerdens, entscheidet sie sich für letzteres, womit für Girard die signification christologique des Salomonischen Urteils feststeht. Damit ist die gutgesinnte Dirne eine figura christi 632 auf dem langen Weg der biblischen Offenbarung, deren Kern die Aufdeckung und Überwindung der Opferlogik, die Analyse des Menschheitsverhängnisses 633 und das Aufzeigen eines Auswegs aus der Spirale der Gewalt ist. In dem opfergeschichtlichen Modell von Girard verschärft sich in der zweiten Phase – sie beginnt mit der Gründung der Pascha-Institution beim Auszug aus Ägypten und endet mit dem Auftreten des Jesus von Nazareth – die insbesondere von den Gesetzesbüchern und den Propheten vorgebrachte Kritik an der viktimären Logik. Die im Umfeld der griechischen Mythen anzutreffende rituelle Figur des pharmakos 634 als eines Sündenbocks, 635 der die Funktion des stellvertretenden Opfers, der victime émissaire erfüllt, wird mit dem Gottesknecht 636 des Jesaja (etwa 740 – 701 v. Chr.) verglichen und festgestellt, dass in beiden Fällen das für das kollektive Wohl erforderliche Opfer dargebracht wird. Bei aller Übereinstimmung in der Phasierung der von der sozialen Krise zur gewaltsamen kathartischen Lösung führenden Sequenz, besteht der biblische Text auf einer abweichenden Bewertung sowohl bei der Designation des Opfers als auch der rettenden Gewalt. Obwohl der Gottesknecht 637 wie auch der pharmakos den Tod erleidet, um die Vielen zu versöhnen und zu retten, besteht der Unterschied zu den mythischen Verfolgungstexten nicht nur darin, dass seine Unschuld außer Frage steht. Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten 632 Im Unterschied zu Simone Weil, La source grecque, Paris 1995, anerkennt Girard die Antigone des Sophokles nicht als figura christi. Obwohl sie sich der mythischen Lüge der aus Gründen der Staatsraison erforderlichen sakrifiziellen Differenzierung der beiden Brüder widersetzt, stirbt Antigone nicht für ein lebendiges Kind, wie die Dirne es tun würde, sondern für ein schon gestorbenes Wesen beziehungsweise für die Aufrechterhaltung der Bestattungsriten. Da Antigone letzten Endes dem Opferdenken verhaftet bleibt, trifft nach Girard auf sie der Satz aus dem Evangelium (Mt 8, 22) zu: Lass die Toten ihre Toten begraben! 633 So lautet der Untertitel der deutschen Übersetzung von Des choses cachées. 634 René Girard, La violence et le sacré, S. 137 – 138 : « Prévoyante, la ville d´Athènes entretenait à ses frais un certain nombre de malheureux pour les sacrifices de ce genre (lapidation de déesses étrangères, d. Verf.). En cas de besoin, c´est-à-dire quand une calamité s´abattait ou menaçait de s´abattre sur la ville, épidémie, famine, invasion étrangère, dissensions intérieures, il y avait toujours un pharmakos à la disposition de la collectivité. [...] Comme Œdipe, la victime passe pour une souillure qui contamine toutes choses autour d´elle et dont la mort purge effectivement la société puisqu´elle y ramène la tranquillité. C´est pourquoi on promenait le pharmakos un peu partout, afin de drainer les impuretés et de les rassembler sur sa tête ; après quoi on chassait ou on tuait le pharmakos dans une cérémonie à laquelle toute la populace prenait part ». 635 Vgl. René Girard, La violence et le sacré, S. 139, wo in der Fußnote auf Untersuchungen hingewiesen wird, die sowohl den mythischen als auch den sophokleischen Œdipus als pharmakos beziehungsweise bouc émissaire identifizieren. 636 Jes 52, 13 – 53, 12 637 René Girard, Des choses cachées, S. 177 - 181 195 und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. Es wird auch unmissverständlich festgestellt, dass seine Hinrichtung nicht mit einer Hierophanie in Verbindung gebracht wird, also keine sakrale Bedeutung hat und das Mordopfer somit nicht die mythische Trajektorie vom Dämon zum Idol zurücklegt: Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden. Weil jedoch das Lied vom Gottesknecht hinsichtlich der Autorschaft der Tötungsgewalt uneindeutige, ja gegensätzliche Aussagen macht, Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht) (in der Lesart von Girard: Yahvé s´est plu à l´écraser par la souffrance) kommt Girard zu dem Schluss, dass in dieser Etappe der biblischen Arbeit, das heißt an diesem Punkt des seit den ersten Genesis-Erzählungen im Gang befindlichen Entmythologisierungs- und Desakralisierungsprozesses die Rolle des Herrn noch ambivalent ist und die Ablösung des alttestamentlichen Gottesbildes zögerlich voranschreitet. Die Gewaltzuweisung im Lied vom Gottesknecht schwankt zwischen der göttlichen und der menschlichen Adresse; ob der Leidensknecht von Gott geschlagen oder von seinen Mitmenschen misshandelt wird, bleibt offen, für Girard ein Beleg für die Nichterfüllung der biblischen Agenda im Zustand eines inachèvement vétéro-testamentaire, deren Orientierung gleichwohl erkennbar und deren schrittweise Annäherung an einen gewaltlosen Gott unumkehrbar ist. Cette ambiguïté dans le rôle de Yahvé correspond à la conception de la divinité dans l´Ancien Testament. Dans la littérature prophétique, cette conception tend de plus en plus à se nettoyer de la violence caractéristique des divinités primitives. […] Jamais, toutefois, on n´arrive dans l´Ancien Testament à une conception de la divinité complètement étrangère à la violence. In dieser Übergangsphase, in der das Alte kritisiert wird, aber nicht erledigt ist, in der das Neue sich ankündet, aber noch nicht offenbar ist, werden die Opferhandlungen zwar in Frage gestellt und bleiben dennoch gängige Praxis, wird das Gesetz zwar vereinfacht und mit der Nächstenliebe 638 zur Deckung gebracht, bleibt aber in Geltung. Und obwohl Jahwe immer weniger als ein zu fürchtender Gott in Erscheinung tritt, bleibt er derjenige, der sich die oberste Strafgewalt vorbehält und der das Prinzip der göttlichen Vergeltung behauptet. Noch immer bleibt die Ausübung der Tötungsgewalt im Bannkreis des Mythos und dessen Opferlogik, wonach die Frieden stiftende Gewalt – auch wenn der erreichte Friedenszustand nur bis zur jeweils nächsten mimetischen Krise reicht - das Heilige ist. 638 Lev 19, 18: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. 196 Durchbrochen wird diese sakrale Opferlogik in den Evangelientexten, die nach Girards relecture das violence-et-sacré-Verfahren endgültig diskreditieren, die Ordnung bringende Gewalt von jeglicher göttlichen Affinität reinigen und dadurch dem Menschen als dem humanen Sitz der Gewalt die Wahrheit über sich selbst und seine Kultur offenbaren. Das Vorhaben, die Menschen- und Gesellschaftslehre des Mythos von ihrem gewaltverherrlichenden Aspekt zu befreien, wird von der jüdischen Bibel in Gang gesetzt, aber nicht von ihr vollendet, vorbereitet, aber nicht abgeschlossen. Dieses Vorhaben der Aufklärung der Menschen und ihrer Gemeinschaften über sich selbst, welches als forme parfaite d´une entreprise que la Bible judaïque n´a pas menée jusqu´à son terme beide Botschaften, die des jüdischen und des christlichen Testaments, miteinander verbindet, gelangt nach Girards Überzeugung sowohl in den Texten des Neuen Testaments als auch – wenngleich mit zeitweiligen Verirrungen und Rückfällen – in der christlichen Tradition zu einem anthropologischen Entwurf, in dem alles von der Beibehaltung oder Überwindung der Opferlogik und des Sündenbock-Konzepts abhängt, das heißt von der Fage, ob die Menschen auf Kosten anderer zum Frieden mit sich selbst und in der Gemeinschaft kommen oder ob es auf dem Weg der Homineszenz und der Soziogenese andere Lösungen gibt. Der Gründungsmord wird bereits vom Erzähler der Kainsgeschichte dadurch im Ansatz entmythologisiert, dass sich niemand findet, der den Abel für schuldig hält oder ihn gar a posteriori für die Wiederherstellung der Einmütigkeit verehrt. Ohne die Schuldfrage in diesem Konflikt zu kommentieren, spricht Jesus offen aus, dass das Morden von unschuldigen Menschen seit jeher das unausgesprochene und verheimlichte Funktionsgeheimnis aller Kulturen ist und dass nichts an diesem Geheimnis göttlichen Ursprungs ist. In der Interpretation der Worte gegen die Schriftgelehrten und die Pharisäer 639 - in der Girardschen Übernahme: malédictions contre les Pharisiens -, die in die Analyse der Passionserzählungen sowie des Berichts über die Ermordung des Stephanus einmündet, wird herausgestellt, dass Jesus sowohl nach Matthäus 640 als auch nach Lukas 641 die Ermordung Abels als ein Gründungsdatum der Menschheitsgeschichte versteht, dass aber sowohl nach dem Text des Lukas als auch dem des Matthäus dem Datum des Brudermords eine weitergehende Datierung vorgeschaltet wird, die nicht nur den mythisch-historisch zurückverfolgbaren Teil der menschlichen Kultur, sondern jede denkbare Kultur umfasst. Verfolgen beide zunächst die Spur des unschuldigen Opfers zurück vom Blut Abels des Gerechten bis zu dem des Zacharias, Barachias’ Sohn, den ihr im Vorhof zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt, geht Lukas über Abel hinaus, indem er das Gewaltergreifen gegen den Unschuldigen in eins setzt mit dem Anfang schlechthin und an das Blut aller Propheten, das seit der Erschaffung der Welt vergossen worden ist, erinnert. Matthäus hingegen markiert den offenen Vergangenheitshorizont mit einem Zitat aus dem Psalm 78, das Jesus auf sich selbst anwendet: Ich öffne meinen Mund und rede in Gleichnissen, ich verkünde, was seit der Schöpfung verborgen war. 642 In Anlehnung an die Übersetzung der Vulgata: a constitutione mundi wird von der bibilischen Tradition das Opfergeschehen als konstitutiv für die Weltordnung betrachtet, und es wird offen als ein Verhängnis angesprochen, als ein Übel, dessen Tragik darin besteht, dass es Zerstörung bringt, 639 René Girard, Des choses cachées, S. 181 – 202 Mt 23, 34 - 36 641 Lk 11, 50 - 51 642 Mt, 13, 35 (vgl. Psalm 78: „Ich öffne meinen Mund zu einem Spruch; ich will die Geheimnisse der Vorzeit verkünden“.) 640 197 jedoch zur Chaosbewältigung unabdingbar ist. Wird die von Girard im Titel seines Hauptwerks verwendete Zeitangabe depuis la fondation du monde auf den griechischen Text: apò katabolês kósmou bezogen und der ursprüngliche, auch in der Genesiserzählung zu beobachtende Katabolismus 643 als ein Übergang vom Chaos zum Kosmos verstanden, wird einmal mehr zum Ausdruck gebracht: Die Ordnung aber auch Unheil stiftende Gewalt bricht nicht ereignishaft in die menschliche Geschichte ein; sie ist das Proprium dieser Geschichte, ihr Anfang und möglicherweise auch ihr – aus heutiger Sicht technisch realisierbares – Ende. Wie Abels Ermordung nicht als historisches Ereignis, sondern als Prototyp des mécanisme victimaire anzusehen ist, gilt auch die Mahnung, aus der Spirale der Gewalt herauszutreten, nicht nur den als Jesu Zeitgenossen auftretenden Pharisäern, sondern den in deren Geist operierenden Söhnen der Prophetenmörder, das heißt denen, die zu den Kulturgründern und - bewahrern nach Art des Kain gehören und denen das Strafgericht der Hölle angedroht wird, wenn, sie sourds et aveugles à la nouvelle qui leur est annoncée, sich der Botschaft des Evangeliums verschließen. Das in den Drohworten vorgetragene antisakrifizelle Plädoyer erfährt seine Verschärfung und seine metaphorische Kristallisation in der Funktion, die Jesus dem Grab als dem im doppelten Sinn sakrifiziellen Ort, das heißt dem Ort zugleich der Gewalt und der Heiligung zuschreibt: Weh euch! Ihr errichtet Denkmäler für die Propheten, die von euren Vätern umgebracht wurden. Damit bestätigt und billigt ihr, was eure Väter getan haben. Sie haben die Propheten umgebracht, ihr errichtet ihnen Bauten (Lk, 11, 47 – 48). Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der Prophetenmörder seid (Mt 23, 29 – 31). Gräber, vom einfachen Tumulusgrab bis zur pharaonischen Pyramide, werden errichtet, um den Toten zu ehren und sein Andenken zu erhalten. Gleichzeitig verbergen sie ihn und verwischen, indem sie den Leichnam unsichtbar machen, die Spuren des Todes, des natürlichen wie des gewaltsamen. Vor allem aber verdecken die pompös geschmückten Denkmäler das Geschehen des Gründungsmords und entlarven somit die Erbauer der Grabstätten als Lügner. So wie das Grabmal über dem Toten errichtet wird, gründen sämtliche Kulturen, sämtliche Religionen auf dem Gründungsmord, vor allem dem kollektiv begangenen, welchen sie jedoch kaschieren, ja zur Vermeidung von Rache und Gegengewalt kaschieren müssen. Nicht nur der kollektive, auch der individuelle Mörder muss töten und immer wieder töten, um sich nicht als Mörder zu verraten. Indem die Pharisäer sich von der Gründungstat der Väter distanzieren, ohne jedoch deren unschuldige Opfer zu rehabilitieren, gestehen sie ein, dass sie bereit sind, die Gründungstat von neuem zu vollbringen. Sie verdrängen und ‚verbauen’ bei jedem neuen Denkmalbau die Einsicht, dass die Menschheit als ganze auf dem mythischen Unsichtbarmachen ihrer Gewalttätigkeit beruht. 643 Für die Biochemie sind Katabolismus und Anabolismus Teile des Metabolismus. Werden im Katabolismus komplexe Makromoleküle zu einfachen Einheiten abgebaut, dient die anabole Reaktion der Zusammensetzung von kleinen zu großen Einheiten. 198 Girard resümiert entschlossen den Zusammenhang von Mord und Kultur und dessen Aufdeckung in den Evangelien: Le meurtre appelle le tombeau et le tombeau n´est que le prolongement et la perpétuation du meurtre. […] ’ Eux ont tué, et vous, vous bâtissez’: c´est l´histoire de toute la culture humaine que Jésus révèle et compromet de façon décisive. Aus der Heftigkeit der Drohworte gegen die Pharisäer, welche er selbst mit Gräbern vergleicht, außen weiß angestrichen; […] innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung, 644 kann geschlossen werden, dass Jesus nicht mit ihrer Umkehr rechnet. Sie hatten alle Voraussetzungen, um die jesuanische Aufklärung zu begreifen; das Wissen um die Lügenhaftigkeit des sakrifiziellen Verfahrens war, wie Lukas (Lk 11, 52) notiert, durchaus in ihrer Reichweite: Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel (der Tür) zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert. Sie wenden sich aber von Jesus ab, der sich als Träger dieses Schlüssels versteht und der mehrmals andeutet, dass wegen der Hartherzigkeit 645 seiner Zuhörer seine Mission nicht durch sein Sagen und Handelnd zu bewahrheiten ist, sondern durch das, was ihm geschieht, indem er zum Opferobjekt wird, die Opferlogik zur Schau stellt und ihre Wirkungslosigkeit vorführt. In dem Gleichnis von den bösen Winzern 646 werden nach und nach die drei Boten, die vom Besitzer des Weinbergs zur Regelung der Pachtabgaben ausgesandt wurden, von den Pächtern verprügelt und verjagt. Als der Herr des Weinbergs schließlich seinen geliebten Sohn mit der Mission beauftragt, kommt es zur tödlich endenden Auseinandersetzung zwischen dem Sohn, der die legitimen Interessen seines Vaters, des Eigentümers, vertritt und den Pächtern, die sich gegen ihne zusammenschließen, um ihre gewaltsam erkämpfte Unabhängigkeit zu verteidigen. Sie wissen, der Sohn könnte ihre an den Knechten begangenen Verbrechen aufdecken; er muss zum Schweigen gebracht werden, sonst können sie ihrer Sache nicht sicher sein: Als die Winzer den Sohn sahen, überlegten sie und sagten zueinander: Das ist der Erbe; wir wollen ihn töten, damit das Erbgut uns gehört. Und sie warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und töteten ihn. Sie töten den, der sie hätte richten und überführen können. Sollten sie ihm ein Grab errichtet haben, wäre dieses Grab das Zeichen, durch welches die neu gefundene Güter- und Rangordnung besiegelt wird und gleichzeitig die Wahrheit über das Gewaltfundament dieser Ordnung unterdrückt wird; das Grab wäre die Keimzelle für eine Mythenproduktion und für eine Gründungserzählung, späteren Generationen könnte es als erbauliche Pilgerstätte dienen. Die Erzählung von der einigenden und einmütigen Gewaltaktion der Winzer gegen den geliebten Sohn des Herrn wird von Jesus mit einer exegetischen Frage zum Psalm 118a beendet, die er den Schriftgelehrten stellt und deren Aktualität sie offensichtlich verstehen: Was bedeutet das Schriftwort: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden? Lukas kommentiert folgerichtig: Sie hatten gemerkt, dass er sie mit diesem Gleichnis meinte, weshalb sie auch sofort Anstalten machen, ihn zu verhaften. Der Evangelist macht aber auch deutlich, dass 644 Mt 23, 27 Vgl. Mk 13, 15, wo Jesus die Weissagung des Jesaja (Jes 6, 9) als erfüllt betrachtet: Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden, und mit ihren Ohren hören sie nur schwer, und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile. 646 Lk 20, 9 - 19 645 199 Jesus sich mit dem Sohn des Weinbergbesitzers und dem aus dem sozialen Mauerwerk herausgebrochenen Element identifiziert, dessen Geheimnis indes nur dadurch erhellt werden kann, dass man dieses Element einem Sündenbock gleich verstößt, ja dass es keine andere Möglichkeit gibt, den Opfermechanismus bloßzustellen, als sich hinauswerfen zu lassen und so sein Wissen und sein Betriebsgeheimnis nach außen zu tragen und öffentlich zu machen. Mit anderen Worten: Gegen die Gewaltlogik kann nicht offensiv vorgegangen werden. Ein Vorgehen gegen sie wäre ein weiterer Akt der Gewalt und ein Weiterdrehen der Gewaltspirale. Nur indem die Gewalt bis zum Ende erlitten wird, kann die Opferlogik außer Kraft gesetzt und der Schleier der sakrifiziellen Illusion gelüftet werden. Obwohl die Evangelisten übereinstimmend bezeugen - nicht zuletzt durch die Betonung des leeren Grabs am Ostermorgen -, dass die jesuanische Passion nicht zur Errichtung einer geschmückten Grabstätte und zu einer die vorausgehende Gewalt verheimlichenden Grabkultur 647 führt, von der Girard sagt: La religiontombeau n´est rien d´autre que le devenir invisible de son propre fondememnt, de son unique raison d´ être, entgehen die frühen und, wie die Kirchengeschichte eindrucksvoll belegt, späteren Christen nicht der Versuchung, die Sündenbockjäger zu jagen, das heißt die jüdischen Bauleute wegen des Verwerfens des tragenden Steins zur Rechenschaft zu ziehen und sich wiederum wie die Prophetenmörder zu verhalten, die, indem sie beteuern, dass nicht sie es waren, sondern ihre Väter, die die Propheten umgebracht haben, sich vom Prophetenmord nicht distanzieren, sondern sich in die vom Evangelisten auf den Punkt gebrachte Logik des Tötens und Bauens einpassen. Wie der biblische Gottesknecht bei aller Übereinstimmung in der Ereignisabfolge sich in der Bewertung vom antiken pharmakos absetzt, verfehlt auch im Gleichnis von den bösen Winzern das Opfer des geliebten Sohnes die sakrifizielle Funktion. Das Versagen des Opfersystems löst die sakrifizielle Krise aus und damit die Frage nach anderen Strategien zur Bändigung der periodisch ausbrechenden Gewalt. Sind es bei Lukas drei ausgesandte Knechte, von denen bereits der dritte gesteinigt wird, erweitert Markus die Reihe der ausgesandten und umgebrachten Boten um andere Knechte und formuliert damit gewissermaßen die Regelhaftigkeit, wonach in Gesellschaften, die keine Zentralgewalt kennen, die interne Gewalt durch stellvertretende Opfer unter Kontrolle gebracht wird. Da das alternative Verfahren, nämlich der Verzicht auf das Opfer und dessen Heiligung, nach Girard das Leitmotiv der ganzen biblischen Bortschaft und ihrer historischen Arbeit ist und da dieses Motiv immer klarer und mit der größtmöglichen Klarheit in den Texten des Neuen Testaments aufscheint, sind diese Texte vor allem als Alternative zur mythischen Erzählstruktur zu lesen und damit auch im Licht der Entdeckung zu verstehen, die Girard bei seiner Romananalyse gemacht hat. So lässt sich mit Hilfe der Girardschen vérité romanesque das Gleichnis von den bösen Winzern als eine Sequenz zur Entstehung und Bewältigung des mimetischen Konfliks entziffern, in der die einzelnen Phasen markiert sind und wo in der Konklusion sowohl die mythische als auch die romaneske Option explizit gemacht werden kann. Der präliminare, triangulär stabile Zustand ist jener der médiation externe, in dem die Distanz zwischen dem nachahmenden Subjekt und ihrem Modell 647 Girard hält es für möglich, dass die Verwendung der Grab-Metapher für die kulturelle Kaschierung des Gründungsmords im Zusammenhang steht mit archäologisch nachgewiesenen Baumaßnahmen zur Errichtung von Prophetengräbern im damaligen Palästina. 200 so groß ist, dass keine Appropriationskonflikte beziehungsweise Statuskonflikte entstehen können. Erst als der Weinbergbesitzer in Gestalt der Knechte näher kommt und ihnen in Augenhöhe gegenübertritt, verwandelt sich in der médiation interne die Triangulierung in Polarisierung, die Statusdifferenz in Rivalität der doubles, die aus der Sicht der Pächter unerträglich ist und ihre Aggression auslöst. Sie wollen ihren Herrn beerben, so sein wie er, und sie lösen den mimetischen Konflikt, da sie den Herrn nicht treffen können, mit einem stellvertretenden Opfer. Während nun der mythischen Konklusion entsprechend der Umschlag von der Gewalt am Opfer zur Heiligung und Befriedung durch das Opfer führen müsste, tendieren die Evangelisten zu einem eher romanesken Ausgang. Dieser Ausgang besteht zwar nicht in einer Konversion der Akteure, lässt aber den Opfermechanismus sich gewissermaßen im Leerlauf drehen, enthüllt ihn und führt seine Wirkungslosigkeit vor. Und vor allem schließt sich in dieser Konklusion das Grab über dem Opfer nicht. Als verworfener - und als nicht zu verbauender - Stein bewahrt dieses das Wissen um den Vorgang, um die Motive der Täter und um die Unschuld des Opfers auf. Und auf dieses Wissen wird man bauen können. Zwar einigen sich die Winzer, weil sie den Besitzer des Weinbergs beerben wollen, gegen dessen Sohn und bringen ihn um, es folgt daraus aber weder der heilende Umschlag des Alle-gegen-einen zu einem Einer-für-alle noch die Wiederherstellung einer gesellschaftlichen Ordnung über dem Grab des Opfers. Nichts ist gewonnen, denn, obwohl Jesu Zuhörer protestieren: Das darf nicht geschehen, wird der Weinbergbesitzer kommen und diese Winzer töten 648 und den Weinberg anderen geben. Was also wegen der Ähnlichkeit mit der pharmakos-Sequenz wie ein Gründungsereignis oder ein sakrifizielles Ritual zur Kommemoration des Gründungsereignisses aussieht, wird zu einem banalen Verbrechen dekonstruiert, in dem der Gewalteinsatz, anstatt einen therapeutischen sakrifiziellen Ertrag abzuwerfen, nichts als rächende Gegengewalt produziert. Aus der Sicht der Zuhörer, die keine andere Lösung wissen als die, dass der Weinbergbesitzer die rebellischen Winzer töten und den Weinberg anderen geben wird, steht der Funktion des mécanisme victimaire und damit der Wiederkehr des kulturellen Gleichen, der immer wieder gründenden Gründungsgewalt nichts im Weg. Das Gleichnis eröffnet jedoch eine weitere Perspektive, die von den Zuhörern erahnt, jedoch gleichzeitig abgelehnt wird, weil sie ihre Position in Frage stellt. Es ist die Perspektive des verworfenen Steins, dem bereits der Prophet Jesaja vorausgesagt hatte, dass er als Eckstein zum Fundament einer neuen religiösen und kulturellen Ordnung 649 werden sollte. Während das Neue dieser Ordnung, kulturhistorisch betrachtet, die Domäne der christologischen und ekklesiologischen Deutung wird, betont Girard mit großer Entschlossenheit deren anthropologischen und soziologischen Aspekt. Wenn das Verwerfen des Steins dem Verwerfen der sakrifiziellen Lösungen entspricht, ist der Einsatz der Gründungsgewalt zum Unterbechen der mimetischen Raserei in den 648 Während bei Lukas auf die Frage: Was wird der Weinbergbesitzer mit solchen Winzern tun? von Jesus beantwortet wird, kommt bei Matthäus (Mt 21, 40 – 41) die Antwort von den Zuhörern. Die rächende Gewalt wird also nicht dem Herrn zugeschrieben, sondern den in sakralen Kategorien denkenden Zuhörern. Sie sagten zu ihm: Er wird diesen bösen Menschen ein böses Ende bereiten. 649 Vgl. 1 Petr 2, 4- 8: „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen. Denn es heißt in der Schrift: Seht her, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre. Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an den man anstößt, und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt“. 201 menschlichen Beziehungen – innerhalb der Gruppe, zwischen den Geschlechtern, Generationen und Völker – abzulösen durch den Einsatz von geistigen Opfern, und der Übergang vom Alten zum Neuen Testament ist für Girard der historische Augenblick des paroxystischen Umschlagens, wo entschieden werden kann zwischen der Konfliktlösung, die auf der Ausstoßung des Opfers sowie der Versöhnung auf seinen Kosten beruht, und der nichtsakrifiziellen Konfliktlösung im Geist der Nächstenliebe. C´est la crise elle-même qui mûrit, c´est un moment historique jamais possible auparavant, le moment du choix absolu et conscient entre deux formes de réciprocité, à la fois proches et radicalement opposées l´une à l´autre, le moment où la désagrégation culturelle et la vérité de la violence en sont arrivées à un point de maturation tel que tout doit bientôt basculer soit dans la violence infiniment destructrice soit dans la non-violence du Royaume de Dieu, seule capable désormais de perpétuer la communauté. 650 Dass die Gründungsgewalt, auch wenn sie die Überlebensvoraussetzung der frühen Gesellschaften war und wenn ihr als Erklärung und als Kompensation für ihre segensreiche Wirkung ein göttlicher Ursprung bescheinigt und kultische Verehrung zugesprochen wurde, dass diese Gründungsgewalt nichts mit göttlichem Willen zu tun hat und schon gar nicht mit dem Willen eines biblischen Gottes, dies wird in den Erzählungen von Jesu Leben und Sterben enthüllt. Und wenn es ein Göttliches gibt und wenn die Verkündigung von Christus als einer göttlichen Person sinnvoll sein soll, dann ist dieses Göttliche für Girard nicht als ontologisch existent aufzufassen. Dieses Göttliche hat die Form eines Wissens, das unendlich viele biblische Metamorphosen durchlaufen hat, eines Wissens um den Ursprung der Gewalt als einer menschlichen Gewalt, eines Wissens, das den Menschen und ihren Kulturen den Spiegel vor Augend hält und sie über ihre Gewalt, die sie stets kaschieren, aufklärt, eines Wissens schließlich, dessen Evidenz auf lange Sicht nicht zu unterdrücken und zu verheimlichen ist und das nach Girards Überzeugung allein den Weg aus der Gewaltspirale weist. Le fait qu´un savoir authentique de la violence et de ses œuvres soit enfermé dans les Evangiles ne peut pas être d´origine purement humaine. 651 Wie schwierig es für die Menschen ist, dieses Wissen zu verstehen, kann in der Erzählung von den bösen Winzern nachvollzogen werden. Jesu Zuhörer ahnen, aber können nicht begreifen, dass das Verwerfen des Steins zwar ihre Ordnungsvorstellungen bekräftigt, aber gleichzeitig ihre Gewaltbereitschaft bloßstellt und dass das Sichverwerfenlassen des Steins die Option der Gewaltlosigkeit eröffnet. Würde sich der Sohn der gegen ihn gerichteten Gewalt widersetzen, würde er das Spiel der Gewalt treiben und diese in ihr Recht einsetzen. Widersetzt er sich nicht, schließt diese ihm den Mund. Und doch gibt es eine, wenn auch flüchtige Chance, hinter die Maske der Gewalt zu schauen, und diese Chance setzt voraus, dass es ein Opfer gibt, welches die Wahrheit über die Gewalt verkörpert und in seinen Köper einschreibt, und dass dieses Opfer in dem kurzen Moment, bevor es für immer zum Schweigen gebracht wird, sich Gehör verschafft und dass dieses Gehör von Zeugen vernommen, beglaubigt und über den Augenblick hinaus aufbewahrt wird. 650 651 René Girard, Des choses cachées, S. 224 René Girard, Des choses cachées, S. 242 202 Le régime de la violence est tel, en d´autres termes, que sa révélation est impossible. Puisque la vérité de la violence ne peut pas séjourner dans la communauté, puisqu´elle doit nécessairement s´en faire chasser, elle pourrait se faire entendre, à la rigueur, en tant, justement, qu´elle est en train de se faire chasser, dans la mesure seulement où elle devient victime et dans le bref instant qui précède son écrasement. Il faut que cette victime réussisse à nous atteindre au moment où la violence lui ferme la bouche. Il faut qu´elle en dise assez pour pousser la violence à se déchaîner contre elle mais pas dans l´obscurité hallucinée de toutes les fondations religieuses, qui pour cette raison, restent cachées. Il faut qu´il y ait des témoins assez lucides pour rapporter l´événement tel que, réellement, il s´est produit. 652. Die hellsichtigen Zeugen dieser Gewaltenthüllung sind die in den Evangelien benannten Anhänger Jesu, die, obwohl sie nach seiner Hinrichtung enttäuscht auseinandergelaufen waren, erkennen, dass dieser ein außerordentliches Wesen war, welches in der Konfrontation mit der sakrifiziellen Logik die Stelle des Opfers einnahm und diese Logik durch seinen Tod außer Kraft setzte. Wäre der Tod Jesu ein von seinem Vater gefordertes Opfer – eine Vorstellung, die besonders in der Theologie des Mittelalters einflussreich war -, wäre dieser Vater nicht der Gott der Liebe. Wäre dieser Tod ein Selbstopfer, müsste man sich fragen, welche sublimierende Absicht damit von Jesus verfolgt werden sollte. Während in den früheren – und weitgehend den außerbiblischen - Religionen und Kulturen die Gewalt als das die Menschen Übersteigende gefürchtet, divinisiert und verehrt wird, wird Jesus als das einzige Wesen erkannt, das in der Lage ist, diese Gewalt zu transzendieren, wobei die Bewegung des Übersteigens dem Sieg 653 über die Gewalt eine zu triumphalistische Färbung verleiht und dieser Art von Transzendenz die Bewegung des Unterlaufens eher entspricht. Schließlich könnte hinter dem Selbstopfer ein gnadenökonomischer Mechanismus vermutet werden, der, ähnlich wie der Gabentausch im Potlatsch, die Menschen verpflichten würde, das von Jesus gebrachte Opfer ihrerseits mit Opfern zu beantworten und so, anstatt die sakrifizielle Kettenreaktion zu unterbrechen, den mécanisme victimaire zu perpetuieren. Girard ist sich bewusst, dass seine konsequent antisakrifizielle Lesart der Evangelientexte mit opfertheologischen Tendenzen in Konflikt gerät, die der Auffassung des Selbstopfers etwa in der Form des Sühnopfers nahe stehen. Er besteht aber darauf, dass die Verkündigung des Reiches Gottes mit dem Selbstopfer nicht in Verbindung gebracht werden kann: A la lumière de nos analyses, il faut pourtant conclure que toute démarche sacrificielle, même et surtout retournée contre soi-même, ne correspond pas à l´esprit véritable du texte évangélique. 654 Ohne das Phänomen des Selbstmordattentäters direkt anzusprechen, macht er darauf aufmerksam, dass das Selbstopfer in vielen Fällen wenig altruistisch motiviert ist und dass es einen Masochismus des Selbstopfers gibt, hinter dem sich das Verlangen der Selbstvergottung verbirgt, ja dass die Idee des Sichopferns häufig auch als christliches Alibi für die schlimmsten Formen der Unterdrückung missbraucht 655 wurde. 652 René Girard, Des choses cachées, S. 241 - 242 Vgl. 1 Kor 15, 55; Hos 13, 14: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel“? 654 René Girard, Des choses cachées, S. 259 655 Zur Perversion des Opferbegriffs s. Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 841 – 842, wo auf die Bewirtschaftung der moralischen Sensibilität der Öffentlichkeit durch das herrschende Opfer, 653 203 Auch wenn im jüdischen Tempelkult das rituell geregelte, versöhnende Opfer zu Jesu Zeit längst nicht mehr im Menschenopfer besteht, ist die mythische und kulturelle Opferlogik und die darauf beruhende Gottesvorstellung, wie aus zahlreichen, von Jesus erzählten Gleichnissen abzulesen ist, noch wirkungsvoll. Insofern ist absehbar, dass Jesu öffentliches Reden und Wirken gegen Tempel- und Opferkult, wollte er seine Mission nicht verraten, den dramatischen Verlauf nehmen würde, der mehrmals in Erzählungen antizipiert wurde und in der Kreuzigung seine – im Sinn der Umwandlung vom Stein zum Eckstein zu verstehende – Vollendung gefunden hat. Als er Anstoß nimmt an der Opferpraxis und die Tempelwirtschaft in Frage stellt, wird einmal mehr deutlich, wie unüberbrückbar die Kluft ist zwischen den, wenn auch tierischen Ersatzopfern, die die sakrifizielle Logik vertreten: Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus, und ihre Tische stieß er um. 656. und den – in der paulinischen Fassung - ohne Gewaltanwendung gottgefälligen Leistungen, die ein nichtsakrifizielles Mensch-Gott-Verhältnis ankünden, in dem die liturgisch-vertikale um eine diakonisch-horizontaleTranszendenz ergänzt wird: Durch ihn also lasst uns Gott allezeit das Opfer des Lobes darbringen, nämlich die Frucht der Lippen, die seinen Namen preisen. Vergesst nicht, Gutes zu tun und mit anderen zu teilen; denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen. 657 Mit den so besetzten Positionen und so formulierten Gegensätzen nimmt die Passionserzählung den vom violence-et-sacré-Verfahren vorgezeichneten soziodramatischen Verlauf. Jesus steht einer in die Krise geratenen Gemeinschaft gegenüber, welche, nachdem die mimetisch erzeugte Begeisterung umschlägt in eine nicht weniger mimetisch formulierte Ablehnung, in der Einmütigkeit gegen ihn ihre Einheit wieder finden soll. Wenn auch die Vollstreckung des Todesurteils nach rechtlichen Kriterien erfolgt, geht das Todesurteil gegen Jesus nicht auf die legalen Autoritäten zurück; vielmehr geben alle, die es einzeln oder im Kollektiv mit Jesus zu tun haben, ihre ausdrückliche oder implizite Zustimmung zu seinem Tod: das Volk von Jerusalem, die jüdischen religiösen Autoritäten, die römischen politischen Instanzen und sogar seine Anhänger, da diejenigen, die Jesus nicht aktiv verraten oder verleugnen, schlicht davonlaufen oder sich abwartend verhalten. Girard erinnert daran, dass im Ereignisbereich kaum Unterschiede zwischen der Passion und einem mythischen Gründungsmord festzustellen sind, weswegen diese Passion auch in ethnologischer Perspektive als Ritualmord an einem Sakralkönig 658 gedeutet werden konnte. Was in der Passion im Einzelnen passiert, unterscheidet sich nicht von der Szenerie der von sämtlichen Gründungsriten nachgestellten hingewiesen wird, welches einen eigenen, medial verstärkten victimspeak praktiziert, um das eigene Dasein optimal im Licht von erlittenen Benachteiligungen darzustellen und sich so viktimologische Prämien zu sichern. 656 Joh 2, 14 - 15 657 Hebr 13, 15 - 16 658 Vgl. James Georges Frazer, Le bouc émissaire (Übers.), Paris 1925 204 Gründungsereignisse: Die applaudierende Menge am Tag vor dem Prozess, die Bezeichnung und Isolierung des Opfers, der Prozess als Scheinprozess, dessen Ausgang von vorne herein feststeht, die Verspottung durch die Menge, die höhnische Verehrung mit Kniefall und Krönung, die Demonstration mythischer Gebrechen beim Tragen des Kreuzes, die Rolle des Zufalls, die durch das Verlosen der Kleider angedeutet wird, schließlich die Hinrichtung in einer entehrenden Exekution – Tod durch Ersticken am Kreuz – vor den Toren der Stadt, damit diese nicht etwa durch einen überspringenden Funken dieser blutigen Gewalt, sei es in nachahmnder oder rächender Absicht, kontaminiert wird. So steht für Girard fest, dass die Passion die mythische Sequenz reproduziert und insofern eine weitere Kopie der universellen Gründungserzählung ist: C´est bien parce que´elle reproduit l´événement fondateur de tous les rites que la Passion s´apparente à tous les rites de la planète. 659 Doch im Unterschied zu der Konklusion der mythischen Erzählungen bleibt die versöhnende Funktion dieser Hinrichtung aus. Es erfolgt aus ihr keine Riten bildende oder gar mythogene Übertragung, kein transfert créateur und kein transfert sacralisant, und die Gemeinschaft der Verfolger findet nicht ihren Frieden am Grab eines heilbringenden Getöteten. Die Verfolger haben keinen Grund, dem Opfer dankbar zu sein und seinen Friedensdienst durch kultische Verehrung zu kompensieren. Obwohl alles unternommen wurde, um das Opfer für schuldig zu erklären und die Akteure auf ihre Rolle einzustimmen, ist es weder gelungen, das Opfer zum Schweigen zu bringen, noch die luziden Zeugen auszuschalten, die von der Unschuld des Opfers überzeugt sind und die nach und nach, im Licht der mit Jesus gemachten Erfahrungen, begreifen, dass diese Passion den Mythos dekonstruiert und entsakralisiert. Und obwohl die Erzählungen dieser Passion und die daran anschließenden Traditionen immer wieder in sakrifizielle Denkbewegungen zurückfallen und in der Passion ein Eingreifen Gottes auf der Täterseite sehen wollen, besteht die antimythische subversive Botschaft der Passion darin, dass Jesus auf einen Gott hinweist, der konsequent als Opfer in das Geschehen eingreift beziehungsweise sich eingreifen lässt und dadurch den Menschen zu erfahren gibt, dass die Tötungsgewalt keinen göttlichen Ursprung hat und ohne göttliche Rechtfertigung ist, dass vielmehr diese Gewalt ihnen selbst zuzuschreiben und allein von ihnen zu verantworten ist. Um der mythischen Sequenz jenseits der Ereignisebene zu folgen, müssten die Evangelien sich den gegen Jesus vorgebrachten Anschuldigungen anschließen und in der Bilanzierung der Jerusalemer Ereignisse den Standpunkt der in der kollektiven Gewalt geeinten und neugegründeten Gemeinschaft vertreten. Stattdessen stellen sie die Passion als schreiende Ungerechtigkeit dar. Mit dem Psalmwort: Ohne Grund haben sie mich gehasst, 660 markiert der Evangelientext Jesu Distanz von der Rolle eines Sündenbocks, eines pharmakos oder einer Iphigenia, die alle nach der kathartischen antiken Methode durch ihre Vertreibung oder Hinrichtung die angestrebte purgierende und rettende Wirkung entfalten. Mit Jesu Gebet am Kreuz: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, 661 gibt der Evangelist in aller Deutlichkeit zu erkennen, dass sich für die Passion neben der mythischen in der Tat ein zweite Lesart aufdrängt. Während alle Beteiligten sich so verhalten, wie es die Regie der Gründungsgeschichte vorsieht, entziehen sich allein das Opfer als victime, welches weiß, dass es kein Opfer als sacrifice ist, und die wenigen durch den früheren Umgang mit Jesus initiierten Zeugen, denen allmählich die Augen 659 René Girard, Des choses cachées, S. 190 Joh 15, 25, vgl. Ps 35, 19 661 Lk 23, 34 660 205 aufgehen, dem mythischen Sog. Was die Akteure nicht wissen, obwohl sie es wissen könnten, ist die in der langen antisakrifiziellen Tradition der Bibel herangereifte Lektion, dass dieser Gott nichts mit den Stammes- und Staatsgöttern gemein hat, deren Autorität auf der Heiligung der Opfergewalt gegründet ist. Dieses Wissen um die Versöhnbarkeit der Menschen ohne viktimäre Konklusion 662 sowie um die soziale Synthese ohne aufbauendes Feindbild, das Jesus mit seinem Gott, den er Vater nennt, teilt, lässt sich indes nicht in Lehrsätzen explizieren oder gar in einem Streitgespräch durchsetzen. Dieses Wissen wird offenbart im radikalen Verzicht auf jede Geste der Überwältigung und des Rechtbehaltens. Der in den Erzählungen des Neuen Testaments aufgedeckte Gründungsmechanismus wird in der Passion erneut in Bewegung gesetzt, und zwar um diese Entdeckung zu unterdrücken und um die Stimme dessen, der ihn durchschaut und denunziert hat, zum Schweigen zu bringen. Nach der Auskunft der Evangelientexte lässt sich jedoch die Erkenntnis, dass alle Gewalt einen menschlichen Ursprung hat und dass alle Opferlogiken auf Täuschung und Selbsttäuschung beruhen, nicht mehr unterdrücken. Kein Gott trägt Schuld daran, dass es Krankheiten, Seuchen, Katastrophen und Kriege gibt. Girard notiert, dass Markus und Lukas am Ende ihrer Passionsberichte ein Wunder geschehen lassen, il n´y en a qu´un, et il a une portée symbolique remarquable: 663 Im Augenblick des Todes des Gekreuzigten reißt der Tempel des Vorhangs von oben bis unten entzwei. Dies ist wie die Enthüllung der choses cachées depuis la fondation du monde, die Enthüllung und Bloßstellung der Gewalt als dem Grund der alten Religionen und Kulturen. Der Vorhang ist die Sichtblende, die den Menschen den Blick auf das Opfergeheimnis versperrt; er kleidet den Gewaltkern in eine Aura der Heiligkeit. Mit Jesu Tod – und dem Zerreißen des Vorhangs - ist nun der Blick freigegeben, und keine Illusion sollte mehr diesen Blick trüben. Mit der antimythischen und nichtsakrifiziellen Deutung des Passionstextes verlässt Girard den engeren Bereich der Literaturkritik und verarbeitet seine Theorie von der konfliktiven Mimesis und ihrer Folgenbewältigung zu einem geschlossenen anthropologischen und soziologischen Konzept, das sich auch als kritische Apologie des Christentums 664 versteht. Indem er das Prinzip der Triangulierung der menschlichen Verhältnisse von der Literatur auf weitere Kulturbereiche anwendet, zum Beispiel auf die Ökonomie, 665 die Pädagogik ,666 die Psychologie, 667 die Geschichtsschreibung 668 kommt er zu überraschenden Einsichten und gibt Anstöße zu einer Kulturbetrachtung, die trotz der eher pessimistischen Befunde zur 662 Lk 23, 12 liest sich wie eine viktimäre Konklusion, die erzielte Einigung ist aber historisch folgenlos: „An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren se Feinde gewesen“. 663 René Girard, Des choses cachées, S. 257, vgl. Mt 15, 38 ; Lk 23, 45 664 Untertitel der mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk versehenen Übersetzung von: René Girard, Je vois Satan tomber comme l´éclair, Paris 1999 665 Vgl. Paul Dumouchel et Paul Dupuy, L´enfer des choses, Paris 1979. Paul Dupuy spricht von der spirituellen Dimension des Kapitalismus, dessen Anliegen entgegen der soziologischen Deutung von Max Weber nicht materieller, sondern symbolischer Art sei. Seine Dynamik verdanke sich weniger der simplen Aneignung von Objekten, sondern dem Neid, und die Objekte des Begehrens seien Symbole des Neids, in denen der Vermittler oder der Andere gegenwärtig sei. 666 Vgl. Giuseppe Fornari, Les marionnettes de Platon, « L´anthropologie de l´éducation dans la philosophie grecque et la société contemporaine», in : Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale mimétique.Dix-huit leçons sur René Girard. 667 Vgl. Livingston Paisley, Models of Desire, René Girard and the Psychology of Mimesis, Baltimore 1992 668 Vgl.Nicolaus Sombart, Wilhelm II., Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996 206 Ausgangslage der condition humaine von der Hoffnung auf ein Ende der Gewalt beseelt ist. 669 Peter Sloterdijk, der bekundet, dass sein Beschreibungsversuch für moderne Mediengesellschaften durch Anregungen von René Girard und Gabriel Tarde motiviert ist, 670 formuliert in der ihm eigenen philosophierenden Erzählweise die aktuelle kulturhistorische Herausforderung, die darin besteht, dass ein Ausweg aus der sakrifiziellen Logik mit all ihren kulturtechnischen Derivaten, die immer wieder zur mimetischen Krise und zur Konfrontation der doubles führt, gefunden wird. Seine Erkundungen nach wohnbaren Sphären, in denen sich auch im planetarischen Maßstab atmen und wohnen lässt, lesen sich geradezu als einfühlsamer Kommentar zu Girards Welt der harmonischen und opferfreien Beziehungen. Beide Denkbewegungen konvergieren im Aufzeigen von Möglichkeiten zur mythischen Entspannung und Abrüstung und im Hinweis auf neue, beziehungsweise aus dem religiösen Fundus neu gehobene Formen der colle collective, einer sozialen Immunisierung mit durchlässigen Grenzen. In der zur Abwendung der ultimativen Katastrophe unabdingbaren Absage an metaphysische Statik und in der Vision von selbsttragenden und flexiblen Verbindungen plädieren beide – mit unüberhörbarem apokalyptischen Unterton - für das Erproben alternativer Architekturen, nicht nur im Bereich der gesellschaftlichen Zellen und Körper – Sloterdijk stellt dem viktimologischen Kollektiv eine Gesellschaft der durchlässigen Wände 671 gegenüber - , sondern auch und vor allem im Denken: Die Denkaufgabe besteht aber in etwas viel Umfassenderem – in der Notwendigkeit, die opferholistische Denkform als solche aufzuheben, und mit ihr das gesamte Paradigma der zweiwertigen Weltauslegungen. Von diesen stammt unser Erbe an Paranoia, von der wiederum der militante Ernst abhängt und dessen ganzes Gefolge an Auslöschungsbereitschaft nach innen und außen. Was klinisch Paranoia heißt, ist bewusstseinstheoretisch die Folge aus dem allzu engen Sichanketten von Kultursubjekten an ihre Weltbilder, ihre Gemeinschaften und ihre Moralen – Luhmann würde von Weltbeschreibungen erster Ordnung sprechen. Die überfällige Abkehr vom Opfersystem gelingt nur dann, wenn man die Kampfmetaphysik und den Militärholismus, allgemeiner: den politischen Holismus der historischen Gruppen außer Kraft setzt, ohne in die individualistische und nihilistische Falle zu laufen – das ist die Wette der zeitgenössischen Philosophie, wo sie auf der Höhe der Probleme denkt. Natürlich ist das auch das Engagement des ‚Sphären’-Projekts. Unser Ernstfall besteht darin, dass wir den Ernstfall der Zweiwertigkeit, die tötet, unterwandern. Jedes Weltalter hat eine Idee von dem, was ihm als das Ernsteste gelten soll – und für uns ist die Überwindung der Feindlogik der Gedanke, ernster als welcher nichts gedacht werden kann. Der Feind ist die eigene Zweiwertigkeit als Gestalt. 672 Dass Girard in seiner menschheits- und kulturgeschichtlichen Perspektive den Passionsberichten die exklusive Funktion zuweist, den Opferholismus außer Kraft zu setzen und im Hinblick auf die Ahnungslosigkeit der Täter die folgenlose Absorption der Gewalt durch das Opfer und besonders das leere Grab die Ohnmacht des 669 Titel der Übersetzung von Girards Hauptwerk Des choses cachées depuis la fondation du monde Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrich, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M 2001, S. 76 671 P. S. Im Weltinnenraum des Kapitalismus, Frankfurt/M 2005, S. 239 - 241 672 Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrich, Die Sonne und der Tod, S. 314 670 207 kulturell vielfach erprobten und mythengestützten violence-et-sacré-Verfahrens zu demonstrieren, mag angesichts der theologischen, dogmatischen und kirchengeschichtlichen Tradition, die an das Passionsgeschehen anknüpft, als völlig inakzeptable Reduktion erscheinen. Auch darf es nicht überraschen, dass er, wenn er die nach seiner Passionsauslegung erfolgte Aufdeckung und Zerschlagung des Opfergedankens als den geoffenbarten göttlichen Willen bezeichnet, sich den Vorwurf einhandelt, ein Gnostiker im Gewand des Kulturtheoretikers 673 zu sein, der die christliche Lehre zu einem bloßen Beispiel für seine mimetische Theorie und für die Erklärung der Gewaltentstehung und –bändigung herabsetzt. Da es bei der gegebenen Aufgabenstellung nicht um eine fachtheologische Bewertung von Girards Exegese, sondern um die strukturelle Unterscheidung der biblischen und der mythischen Erzählsequenz geht – sowie um die Brauchbarkeit der gewonnenen Kriterien für die Entzifferung von Erzählungen am Ende des 20. Jahrhunderts -, sei abschließend auf einen neutestamentlichenText verwiesen, in dem sich wegen seiner Kürze und vor allem seiner im Vergleich mit den Passionsberichten geringeren theologischen Befrachtung die Typologie der antimythischen und desakralisierenden Erzählung in fassbarer Weise zu erkennen gibt. Mit Stephanus präsentiert der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte einen jener hellsichtigen Zeugen, die in der Hinrichtung am Kreuz eine Fortsetzung der Prophetenmorde sehen, welche wiederum als Handlungs- und Erzählvorlage für die Ermordung des ausgesandten Sohnes durch die bösen Winzer gedient hatten. Da er um die Unschuld Jesu ebenso weiß wie um die Unschuld der Propheten, und da er genau beobachtet hat, dass von der Entladung der kollektiven Gewalt gegen Jesus zwar eine vorübergehende Einmütigkeit ausging, dass aber die freigesetzte Energie zu keinem transfert créateur führte, der die Täter hätte dekulpabilisieren sowie das Opfer hätte sakralisieren und in einen mythischen Helden verwandeln können, da er also Träger eines Wissens ist, das den mörderischen Autoritäten gefährlich werden könnte, muss er von diesen zum Schweigen gebracht werden. Obwohl alle Modalitäten des Verfahrens mit ritueller Gründlichkeit beachtet werden, stellt sich am Ende der erhoffte Konsensus nicht ein. Und Stephanus legt in seiner Rede vor dem Hohen Rat das Gewalfundament der bestehenden Ordnung bloß und prangert die neuerliche Gewalttätigkeit gegen den an, der die Perfidie dieser Ordnung durchschaut hatte. Mit diesem Wissen gibt es zwischen ihm und dem Hohen Rat keinen Kompromiss. Auch kann dieses Wissen nicht argumentativ dargelegt werden. Daher endet der Text, wie er endet. Indem er stirbt, wie Jesus gestorben ist, und aus dem gleichen Grund wie er, wiederholt Stephanus als erster in einer langen Reihe von Zeugen die Aufdeckung der Gründungsgewalt. Für Girard ist damit die Wende von der Mythologie zum Verfolgungstext endgültig vollzogen. Die Evangelien markieren für ihn den Punkt, von dem an die mythische Überhöhung des Opfers zum Opferhelden unglaubwürdig ist und von dem an der Gründungsmechanismus durchschaut und für alle durchschaubar ist. Il faut comprendre qu´il n´y aura pas de victime, désormais, dont la persécution injuste ne finisse par être révélée en tant que telle, car aucune sacralisation ne sera possible. Aucune production mythique ne viendra transfigurer la persécution. 674 673 674 René Girard, Ich sah den Satan, Nachwort von Peter Sloterdijk, S. 251 René Girard, Des choses cachées, S. 196 208 Sollten also Sakralisierungen nicht mehr funktionieren, stattdessen hinterfragbar werden oder gar nur bei entsprechender ideologischer Konditionierung oder auf autoritäre Anordnung hin durchsetzbar sein, kann das nicht ohne Folgen für die Sache des Erzählens sein, wenn das Anliegen des Erzählens darin besteht, dass die Möglichkeiten der menschlichen Beziehungen, der Gemeinschaftsbildung, der Wohnbarkeit und der Atembarkeit der Sphären reflektiert und ausgeleuchtet werden. Die Fernwirkung – jedenfalls in der vom Evangelium berührten Welt der westlichen Zivilisation -, die Girard der Stephanus-Erzählung und mit ihr allen Märtyrerlegenden prognostiziert, ist daher eindeutig: C´est pourquoi nous avons toujours moins de mythes proprement dits dans notre univers évangélique et toujours plus de textes de persécution. 675 Die Stephanus-Erzählung ist der Typ des Verfolgungstextes, der die Steinigung als Lynchmord, das heißt als Massenmord mit der Masse in der Rolle des Mörders zu erkennen gibt, der für die Brutalität der Täter keinerlei Rechtfertigung liefert und dem Protagonisten jede soziale Bedeutung und Anerkennung versagt. Aber auch ein Verfolgungstext, der weder die Absichten der Verfolger teilt noch die Blindheit des Schicksals bemüht, sondern sich auf die Seite des Verfolgten stellt und seine völlig illusions- und ausweglose Lage gleichzeitig als Moment der Erleuchtung und der Gottesbegegnung schildert. Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, aber es nicht gehalten habt .[…] Als sie das hörten, waren sie aufs äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur rechten Gottes stehen und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. 676 Die Stephanuserzählung verdeutlicht Girards Annahme, dass die Alternative zur mythischen und rituellen Sequenz in einem im christlichen Sinn heilsgeschichtlichen Verlauf besteht, der wiederum auf die in den Romananalysen entdeckte Verwandtschaft zwischen der romanesken und der religiösen expérience verweist. Daher ist Stephanus kein mythischer Held, der sein Leben für eine ‚gute Sache’ eintauscht, und es wird ihm keine Grabstätte errichtet, die seine Verletzungen kaschiert und sein Andenken bewahrt. Sein Ende ist aber auch nicht das des absurden Helden. Er ist der erste Märtyrer. Er bezeugt, nicht durch seine Verlautbarung, sondern durch seinen Tod, dass die erlittene Gewalt weder einen heiligen Ursprung noch eine heiligende oder auch nur heilende Wirkung hat, dass sie vielmehr Menschenwerk ist und dass immer wieder und geradezu zwanghaft zur Verheimlichung dieses ihres Ursprungs zu ihr gegriffen wird. Während der Frieden dieser Welt, also die kulturelle Ordnung als solche über die Verstoßung und Opferung des Sündenbocks erreicht wird, verweisen die evangelischen Texte in Präzisierung der hebräischen Bibel auf den ungerechten und heuchlerischen Aspekt 675 676 ebenda Apg 1, 51 - 58 209 des sakrifiziellen Systems. Sie verkünden, dass die auf diesem antiken Pfad gefundene Ordnung eine böse und zugleich fragile Ordnung ist, weil sie auf die ewige Wiederkehr des Sakralen in Form des sakrifiziellen Zyklus angewiesen ist. Soll es nach den Entdeckungen von Girard eine vérité romanesque geben, die die Aussicht eröffnet, dass sich in der Verfolgung der Stationen des Begehrens und bei der Klärung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens andere Ergebnisse als die im mythologischen Umkreis erhobenen erzielen lassen, wird zu zeigen sein, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die von ihm gemachten literarischen Entdeckungen sich zur Decodierung von Erzählungen verwenden lassen, welche explizit nicht unter die von Girard immer wieder angesprochenen Meisterwerke subsumiert werden können. Von Girard selbst sind keine Äußerungen zur aktuellen Romanproduktion bekannt außer der, dass es solche geben soll, die das mimetische Begehren abbilden und andere, die es durchschauen. Die abbildenden Varianten würden nach Girards Analyse das mythologische System perpetuieren, während die letzteren, ebenso bewusst oder unbewusst, dem Projekt der im westlichen Kulturkreis insbesondere von der Bibel propagierten antisakrifiziellen Aufklärung verpflichtet wären, welche darin besteht, dass den Ritualteilnehmern ein Wissen darüber aufgeht, dass sie in Wirklichkeit Verfolger sind, dass sie nicht länger guten Gewissens sich um ein von ihnen zum kollektiven Nutzen schuldig gesprochenes Opfer scharen können und dass sie, wenn sie es dennoch tun, wissen müssen, was sie tun. Nach François Lagarde - ehemaliger Girard-Schüler und seit 1995 auf dem Lehrstuhl für französische Literatur in Stanford (Kalifornien) – ist Girards mimetische Theorie in der Literaturkritik vor allem der USA von großem Einfluss. Mit Hilfe des Girardschen Konzepts der durch die Begehrensnachahmung ausgelösten, sich zuspitzenden und gewaltsam beziehungsweise durch Begehrensverzicht auflösenden Rivalität werden literarische Werke erschlossen, wird die Ereignisabfolge zu einer schlüssigen Handlung gedeutet, werden die Motive der Protagonisten offen gelegt. So begreiflich es ist, dass diese Theorie als literaturkritischer Ansatz sich solchen Texten zuwendet, bei denen sie auf ausformulierte konkurrierende Interpretationsansätze trifft und sich mit ihnen messen kann, dass sie also ihre Leistungsfähigkeit an den kanonisierten Werken der Literatur 677 nachzuweisen sucht, so lohnend mag es sein, dieses in den romanesken Erzählungen entdeckte, in den ethnologischen Befunden erhärtete, in der biblischen relecture bewahrheitete und zu einer allgemeinen Kulturtheorie erweiterte Modell als Leseraster für solche narrativen Werke zu verwenden, die zum einen – zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit - außerhalb des von Girard direkt bearbeiteten erzählerischen Materials liegen, zum andern durch ihren Entstehungsort, ihren jeweiligen kulturellen Hintergrund und die gegebene Autorensituation in den USA, Frankreich und in Russland eine gegenseitige Einflussnahme oder Abhängigkeit nicht ohne weiteres vermuten lassen. 677 François Lagarde, op. cit., S. 182 erwähnt als Beispiele die spanische comedia, Cervantes, Léon Bloy, Bernanos, Racine, Molière, Harold Pinter, Valéry und besonders die Literatur des 18. Jahrhunderts. 210 10. Zusammenfassung Die Girardsche Methode ist die des mimetischen Realismus. 678 Dieser Realismus nimmt die aristotelische Feststellung über die menschliche Nachahmungsfähigkeit und Nachahmungsbedürftigkeit beim Wort und entfaltet die weitestgehenden anthropologischen, intersubjektiven und sozialen Konsequenzen. Auf Grund der Dynamik der mimetischen Relation sowohl im Mikro- als auch im Makrobereich kommt es zu der Infragestellung der vorherrschenden – Girard nennt sie auch die romantischen – Auffassungen des autonomen Subjekt und seines Begehrens aus eigenen Stücken. Unser Begehren, so Girard, verdankt sich immer dem Begehren eines anderen, welches wir nachahmen. Wenn es der Gruppe der Zusammenlebenden nicht gelingt, eine hierarchisierende Differenz zwischen dem begehrenden Subjekt und und seinen Rivalen zu errichten, nimmt die Nachahmung, zumal sie pandemisch verläuft, antagonistische Formen an und beschwört in letzter Konsequenz den kollektiven Suizid herauf. Dabei verliert das Objekt der Begierde in dem Maß an Bedeutung, wie die Rivalen an- und gegeneinander geraten und ihr Hasspotenzial sich auflädt. Die Annahme einer mimetischen Mechanik lässt nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen in einem neuen Licht erscheinen; auch die Frage nach der persönlichen Identität wird neu gestellt sowie die der psychopathologischen Verwicklungen. Von größter Bedeutung ist indes die Rückwirkung des unkontrollierten Mimetismus auf das Kollektiv, wenn dieser zur Matrix von Konflikten wird, die sich in Ressentiments, Rachereaktionen und im Ausbruch von kollektiver gegenseitiger Gewalt äußern. Die einzige Möglichkeit, der kollektiven Selbstauslöschung zu entgehen, besteht darin, dass die gegenseitige in eine einseitige Gewalt transformiert wird. Daher setzt jede kulturelle Emergenz voraus, dass es eine Kontroll- und Schaltinstanz gibt, die die von dem mimetischen Begehren immer wieder von neuem ausgeschiedene Gewalt neutralisiert und in sozial unschädliche Formen überführt. Insofern gilt die Formel, dass die Erforschung des Mimetismus einem priviliegierten Zugang zur Erforschung der condition humaine gleichkommt. Da die mimetische Theorie zunächst über die Lektüre der großen Romane gewonnen wurde, in denen naturgemäß die konfliktiven menschlichen Beziehungen thematisiert werden, überwiegen in Girards Analysen die negativen und zerstörerischen Konsequenzen des mimetischen Begehrens. Eher beiläufig wird zum Ausdruck gebracht, dass die Imitation zwar als solche eine anthropologische Konstante ist, dass sie aber wesentlich ambivalent ist. Während sie einerseits die Nachahmenden in die Kollision treibt, ist sie gleichzeitig die Basis jeder kulturellen Tradition und der erste Schritt einer jeden Kooperation. Bevor es aber zur positiven Nachahmung beispielsweise in den Prozessen des Erziehens, Lernens, in der Kunst, im Erkennen und in der emulativ-enthusiastischen Vergemeinschaftung kommen kann, muss der soziale Raum der Kooperanten quasi entmimetisiert, eingefriedet und somit erst hergestellt werden. Überwunden wird das mimetische Chaos nicht durch die rationale Konstruktion eines Vertragsschlusses, wenngleich die Übertragung der allseitigen Gewalt auf einen absoluten Souverän eine formale Ähnlichkeit mit Girards Sündenbock-Verfahren 678 René Girard, Les origines de la culture, S. 38 : « Georges Poulet a également lu mon manuscrit (Mensonge romantique, d. Verf.) et a réagi avec une certaine violence. [...] J´étais content, au fond, d´une réaction qui confirmait à mes yeux la valeur de protestation de mon réalisme mimétique ». 211 aufweist. Girards bouc émissaire dient als Kollektor, der die sich pest-, flut- und feuerförmig ausbreitende Gewalt – im Hegelschen Doppelsinn – aufhebt und sie in rituell überwachter Dosierung in kultische Energie umsetzt. Der Sündenbockmechanismus kanalisiert die kollektive Gewalt und verwendet deren Energie, von Mal zu Mal, das heißt Opfer um Opfer, zur Konstruktion des prekären Gebäudes der Institutionen und zur Begründung jener ethischen Normen, welche, indem sie die konfliktive und appropriative Nachahmung als Sünde beziehungsweise als Delikt ausgeben, gleichzeitig die positiven Aspekte der Nachahmung kulturell prämieren. Wenn Michel Serres die auf dem bouc émissaire gründende Kulturtheorie als darwinistisch 679 bezeichnet, bedeutet dies, dass diese sich auschließlich aus ihren Resultaten erklärt und daher nicht falsifizierbar ist sowie dass das sie konfigurierende Urereignis kontingenter, von Zufall und Notwendigkeit bestimmter Art ist. Während die Anthropologen, die Historiker, die Soziologen und die Naturwissenschaftler ihre Kulturtheorie einem empirischen Gegenstand über die jeweilige Feldforschung abgewinnen, erlaubt die darwinistische Hypothese einen Zugriff auf die Dinge seit Anbeginn der Welt. Dort muss am Ende einer längeren Phase von Versuch und Irrtum und gegebenenfalls nach dem Scheitern von magischen Praktiken zufällig der Opfermechanismus, der sich als geeignet für die Pazifizierung der frühmenschlichen Gruppe herausgestellt hat, herausgefunden worden sein, und dieser Opfermechanismus muss sich ebenso als notwendig und unerlässlich erwiesen haben für die Herausbildung von Verhaltensmustern, die dem Kollektiv Bestand und Dauer versprechen. Von diesem Mechanismus aus müssen sich sowohl die symbolischen Formen, also Sprache und Riten, entwickelt haben, die die Menschen zur Orientierung in einem Verband mit wachsender Komplexität benötigen und die diesen Verband stabilisieren, als auch die kognitiven und technischen Instrumente, die die Adaptionschancen der Gruppe erhalten und perfektionieren. Kontingent ist also dieses rettende Proto-Ereignis insofern, als einerseits keine Notwendigkeit zu seiner Entdeckung führt, andererseits ohne seine akzidentelle Erfindung die anstehende Selektionsschwelle nicht überschritten worden wäre und die betreffende Gruppe aus dem Regelkreis der Selbstzerstörung nicht herausgefunden hätte. Schließlich ist Girard durch die Betonung der Kontingenz des Urereignisses in der Lage, den Vorwurf zurückzuweisen, das von ihm formulierte Sündenbockverfahren sei überdeterminiert durch seine religiöse Grundeinstellung. Der Sündenbockmechanismus, der für die Mitglieder der frühmenschlichen Gruppe den Rang einer Hierophanie hat, enthüllt sich als ein quasi natürlicher Vorgang. Wenn die Theorie der natürlichen Selektion die Entwicklung der tierischen Arten erklärt, fungiert die Girardsche Sündenbocktheorie als eine Theorie der Gewaltkontrolle und damit der kulturellen Emergenz oder Fitness und gibt eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung und der Evolution der Kulturen. Wie die jeweiligen Arten, sind nach dieser evolutionären Kulturtheorie auch die jeweiligen Kulturen das Ergebnis eines prinzipiell offenen Selektionsprozesses, der in seiner jeweils aktuellen Phase zu einer Passung der Umwelt gegenüber geführt hat - und weiter führen wird. Indem der Girardsche Mimetismus durchweg als ein mécanisme vorgestellt wird, kann die mimetische Theorie als eine erzählende Theorie verstanden werden, die eine geregelte und gerichtete Ereignisabfolge beobachtet und abbildet. In Anlehnung 679 Vgl. Michel Serres, Atlas, Paris 1994, S. 220 : « En ce qui concerne les groupes humains René Girard serait à Darwin ce que Georges Dumézil est à Linné, parce qu´il propose une dynamique, montre une évolution et donne une explication universelle ». 212 an die formalistische Formulierung von Vladimir Propp ist sie daher als Sequenz, Serie, Parcours, Prozess oder Prozedur, keinesfalls als Zyklus zu bezeichnen. Der referenzielle Kern dieser Sequenz, deren phänomenologische beziehungsweise narrative Ausgestaltung ähnlich wie in den von Propp untersuchten Märchen unabschließbar weit und für unzählige Kombinationen offen ist, lautet: Es entsteht ein mimetischer Konflikt mit kumulativer und kontaminierender Wirkung, der in dem Augenblick erlischt, wo sich ein letztes Opfer findet, gegen das sich alle zusammen tun, das alle verachten, das alle für die drohende soziale Katastrophe haftbar machen und das sie schließlich umbringen. Liegt das Opfer in seinem Blut, kommt die kollektive Raserei zur Ruhe. Plötzlich ist der Frieden in die Gemeinschaft zurückgekehrt, welche jedoch das Verdienst für die allgemeine und wundersame Versöhnung sich nicht selbst zurechnet. Die Menschen betrachten die eingekehrte Harmonie als eine segensvolle Gabe des Wesens, das sie gerade getötet haben, weil sie in ihm den Urheber allen Übels sahen. Nun erweist sich der Übeltäter als ein Wohltäter, und der Sündenbock wird zur Gottheit – im archaischen Sinn umgedeutet, das heißt zu der einen und unteilbaren, für das Wohl und das Übel zuständigen Allmacht. In äußerster Abstraktion weist diese Sequenz eine drei Phasen umfassende Morphologie auf, die schon Aristoteles in der Tragödienproduktion seiner Zeit ausgemacht hat: den anfänglichen Konflikt, die dem Höhepunkt entgegendriftende Krise in der Mitte, die kathartische Lösung am Ende. Katharsis in diesem Sinn hat eine streng soziodramatische, keine theologische und keine psychologische Funktion. Sie ist der Moment der Reinigung der Gemeinschaft von der reziproken Gewalt, morphologisch auf einer Stufe mit der Konfiguration des Exekutionskommandos und des Todeskandidaten, mit dem Spruch des Strafrichters im Namen des Volkes oder des Gesetzes gegenüber dem Angeklagten, mit der Szene der Menge, welche den Einzelnen durch ihren Applaus isoliert, mit dem show down des Kriminalfilms oder des Westerns, aber auch mit dem Werk des Künstlers oder der Theorie des Wissenschaftlers in dem Moment, wo diese ihre Vorgänger überwinden und einen Schaffensprozess abschließen. Ebenso kontingent wie das Auftreten des Sündenbockmechanismus als solcher ist die Wahl des Sündenbocks. Es können die im nachhinein von der mythischen Bearbeitung festgestellten spezifischen Gebrechen sein, die ein Wesen geeignet erscheinen lassen, den mimetischen Furor gegen sich zu entfachen und durch seinen Tod das Kollektiv von der Gewalt zu purgieren und zu re-harmonisieren. Es genügt aber auch, dass einer kommt und dieses Sündenbockverfahren lautstark kritisiert und dadurch als fauteur de troubles sich plötzlich isoliert und dem Hass der Vielen ausgesetzt sieht, die sich nicht vorstellen können, dass man jemals auf das bewährte Mittel der Pazifizierung und die Basis der kollektiven Integrität verzichten könnte. Das prominente Beispiel für diesen Verrat an der archaischen Befriedungspraxis und für die – im Rahmen der Girardschen Sequenz – vorhersehbare Reaktion des herausgeforderten Kollektivs stellt der Prozess Jesu dar, wie ihn die Evangelien erzählen. 680 Gleichzeitig aber wird durch diesen Prozess und die Passion die viktimäre Logik auf irreversible Weise erschüttert und einer ihrer Grundvoraussetzungen beraubt, nämlich der Annahme, dass das Opfer schuldig sei und dass es besser sei, dass einer für das ganze Volk sterbe. Formuliert man die Passion als eine neuartige, christliche Sequenz, dann beginnt mit ihr die Phase, wo die Menschen sich bei der Bewältigung ihrer Konflikte und Krisen frei machen von 680 René Girard, Les origines de la culture, S. 79 : « Si quelqu´un dénonce le mécanisme du bouc émissaire, et si celui-ci finit par prévaloir, ce fauteur de troubles en sera la victime toute désignée ». 213 der Notwendigkeit, auf die Schuldigsprechung und Opferung von Sündenböcken zurückzugreifen. Während die Evangelien davon berichten, dass die Passion Jesu keinen solidarisierenden Effekt hat und insofern kein ‚perfektes Verbrechen’ darstellt, halten die Mythen daran fest – und in den Riten wird diese Überzeugung planmäßig nachgestellt und -, dass das Opfer schuldig ist, die Ausstoßung verdient und eben dadurch sich um das Kollektiv verdient macht. Dabei bildet das Corpus der Mythen und der Riten, denen Girard als autodidaktischer Anthropologe nachgeht, eine einzige Indizienkette, die den Nachweis zu erbringen hat, dass in ihnen seit Anbeginn der Welt eine schreckliche und aus Gründen der kulturellen Selbsterhaltung stets unterdrückte Wahrheit verborgen ist, die Wahrheit nämlich, dass die Menschen Begehrensnachahmer sind und daher ihre Gesellschaften, sofern sie nicht historisch untergegangen sind, sich der Tötung von Sündenböcken verdanken. In der Tat haben die Mythen und Riten ein und denselben Referenten und erzählen immer die gleiche Geschichte: die Geschichte von einem Gründungsmord, der sich tatsächlich ereignet hat, aber immer von einer mythologischen Struktur kaschiert wird, welche zugleich der Ursprung der Kultur ist. Und dieser Mord kann nur in verhüllter Form vergegenwärtigt werden, denn die Kultur und deren soziale Ordnung können im Interesse ihrer Stabilität und des inneren Friedens nicht mit dem Gedanken leben, dass sie ihre Gründung einem Lynchmord verdanken. Girard aber, indem er die Mythen und Riten vergleicht und ihre Konstanten herausstellt, beobachtet gewissermaßen den Mörder, der immer wieder zum Tatort zurückkehrt, nimmt seine Spuren auf und ermittelt gegen ihn. Dieses Beobachten und das Festhalten an einer bis auf Mensonge romantique zurückgehenden Intuition ist nicht etwa das Derivat einer auf Grund biographischer Notizen vermutbaren religiösen Option. Girard betont die Wissenschaftlichkeit seines mimetischen Realismus, den er als Leseraster bei seinen literarischen Analysen anwendet und dessen Erschließungsleistung er als den konkurrierenden Decodierungen überlegen betrachtet. Da nicht die Fachwissenschaften, sondern die Werke der Literatur das Wissen um das menschliche Verhalten thesaurieren, gilt es, die Literatur als Untersuchungsinstrument zu betrachten und mit empirischen Methoden die in sie eingelassenen anthropologischen und ethnologischen Konstanten zu ermitteln. Literatur wird für Girard zur Materialsammlung, die ihm die Beweise für die Richtigkeit seiner Sequenz bereitstellt. Allerdings liegen diese Beweise nicht in einer Art Paragraphensammlung vor; sie sind keine direkten Beweise, sondern als Indizienbeweise in Erzählungen eingeschlossen, und die Ermittlungskunst des mimetischen Realisten besteht darin, die unter der bisweilen faszinierenden und die analytische Aufmerksamkeit blockierenden erzählerischen Oberfläche verborgenen mimetischen Prinzipien aufzudecken und die immergleiche Sequenz wiederzuerkennen und zu rekonstruieren. Im Rückblick auf sein Schaffen räumt Girard ein, dass sein Literaturbegriff als littérature comme preuve wegen der Engführung auf das Mimetische und wegen der Einfachheit des begrifflichen Apparats angreifbar ist. Je suis toujours à la recherche de preuves circonstantielles, et certains critiques trouvent cette constante assez détestable. 681 Dennoch sieht er sich nicht in der Rolle des Notars, der die angetroffenen Sachverhalte bloß zu registrieren und zu archivieren hätte. Da jeder 681 René Girard, Les origines de la culture, S. 228 214 Erzähler seinen eigenen geschichtlichen Hintergrund und den seiner Gesellschaft miterzählt, bearbeiten die verschiedenen Autoren den mimetischen Mechanismus auf jeweils eigene Art, wobei hinzukommt, dass, wie Propp es auch in der Märchenforschung festgestellt hat, die intrasequenziellen Kombinationen wie auch die sprachlichen Variationen prinzipiell unbegrenzt sind. Doch wenn sich auch die Mimesis von Autor zu Autor auf unterschiedliche Weise äußert und es keine einheitliche Schablone zu ihrer Erkennung gibt, ist es für den über die mimetische Logik Bescheid wissenden Leser ein offenes Geheimnis: Jede Erzählung, will sie ihren Anspruch als Erzählung erfüllen, folgt dieser mimetischen Logik und dient als Indizienbeweis für die Gültigkeit der mimetischen Theorie: Si les écrivains sont tellement différents et que pourtant les mêmes principes fondamentaux sont identifiables dans leurs œuvres, alors on tient là une preuve indirecte solide de la viabilité des hypothèses mimétiques. 682 Die bereits in Mensonge romantique diagnostizierte Identität von romanesker mit religiöser Erfahrung ist für Girard das leitende Kriterium zur Einteilung der narrativen Formen in solche, die den mimetischen Prozess durchschauen und überwinden, und solche, die ihn lediglich abbilden und damit die Illusionen über die Autonomie des Subjekts und die Unbedingtheit seines Begehrens perpetuieren. 683 Diejenigen, die den mimetischen Prozess durchschauen, enthüllen den Begehrensvermittler als Begehrensrivalen und entwinden sich dessen Faszination durch einen Akt der Bewusstmachung und der Umkehr. Die anderen, die den Vermittler präsentieren, ohne die Rivalität der doubles zu überwinden, kommen nicht los von dem gegenseitigen Überwältigungszwang und treiben unaufhaltsam auf den Punkt zu, wo die mimetische Krise in Zerstörung oder Selbstzerstörung endet. Daher bezeichnet der Begriff der conversion romanesque nicht nur die finale Konklusion, in der der Protagonist nach dem Vorbild des Don Quixote sich lossagt von seinen Illusionen und Verirrungen. Ein konvertierter Autor ist beispielsweise Shakespeare, dessen ganzes Werk bereits diesseits der Konklusionen der Aufdeckung des mimetischen Mechanismus dient und dem Girard mit Feux de l´envie eine detaillierte Studie widmet, in welcher auch James Joyce als Vertreter jener vérité romanesque gewürdigt wird. C´est pourquoi l´on retrouve toujours, chez les grand auteurs, une sorte de conversion à la théorie mimétique. 684 Der konvertierte Erzähler kennt die mimetische Natur des Begehrens und kalkuliert sie in das Verhalten seiner Personen ein. Daher entfällt für diese die Unterscheidung zwischen authentischem und unauthentischem Verlangen. Sie leben in Anerkennung ihrer selbst und des Anderen, in dem, was für Girard die vérité romanesque ist; sie brauchen nicht die opferbasierten Konklusionen des Entweder-Du-oder-Ich eines mensonge romantique. 682 René Girard, Les origines de la culture, S. 228 René Girard, Mensonge romantique, S. 31 : « Nous réserverons désormais le terme romantique aux œuvres qui reflètent la présence du médiateur sans jamais la révéler, et le terme romanesque aux œuvres qui révèlent cette présence ». 684 René Girard, Les origines de la culture, S. 229 683 215 IV. Romanlektüre mit Girard: Die Girardsche Sequenz als Deutungsmuster Elementarteilchen und Der himmelblaue Speck für American Psycho, Vorbemerkung: Da die Girardsche Sequenz mit dem triangulären Begehren beginnt, zur mimetischen Krise führt und mit der Konklusion – in Form der Konversion oder Katastrophe endet, ist in Erinnerung zu rufen, wie und warum das trianguläre Begehren entsteht und sich immer wieder auf neue Konfigurationen übertragen lässt. In der Auseinandersetzung mit dem Freudschen Ödipus-Komplex räumt Girard ein, dass Sigmund Freud die Dreieckskonstellation von Subjekt, Objekt und Rivale erkannt und die Begrifflichkeit zu dessen Beobachtung geschaffen hat, hält diese Grundfigur aber nicht für generalisierbar, weil sie sich nicht von den Positionen des Kindes, der Mutter und des Vaters ablösen lässt und mit dem familialen Archetypus verhaftet bleibt. Wo dann dennoch der Versuch gemacht wird, dieses ödipale Begehren auf ein konfliktives Szenario außerhalb dieses familialen Archetyps zu übertragen, benötigt Freud mit dem Unbewussten und dem Todestrieb weitere instinktive Steuerungsinstanzen, die den Ödipuskomplex als solchen zwar beschreibbar halten, aber seinen Anspruch auf eine originäre Analyse des Begehrens und seiner pathogenen Folgen stark einschränken. Im Unterschied zum ödipalen, familialen Dreieck lässt sich das Dreieck des mimetischen Begehrens, welches als Aneignungsbegehren ein vorgängiges animalisches Fundament aufweist, auf alle möglichen Situationen übertragen. Es strukturiert ebenso die erotischen Beziehungen wie die literarischen Handlungen, seien diese komisch oder tragisch, dramatisch oder romanesk. Die Frage also, wie ein literarischer Text zu entschlüsseln sei, lässt sich mit Girard auf die Frage nach den triangulären Figuren reduzieren. Comment reproduire un triangle? 685 ist demnach die Kurzformel für seine grille de lecture, welche darauf angelegt ist, die Figuren des Begehrens aus dem Text herauszulesen, das heißt die Spitzen des Dreiecks zu markieren und zu besetzen, den Verlauf des Konflikts von der externen zur internen Begehrensvermittlung zu beobachten und von seiner Lösung her die Unterscheidung zwischen der mythologischen und der romanesken Intention der Erzählung zu treffen. Festzuhalten ist dabei, dass der mimetische Konflikt keinen Enstehungsprozess durchläuft. Er ist vielmehr immer schon da, wenn ein Begehren anhebt, denn jedes Begehren – im Unterschied vom triebhaften Bedürfnis – ist immer schon das Nachahmen eines präexistierenden anderen Begehrens, es existiert nur als Parasit eines Begehrens und besetzt gewissermaßen die dritte Spitze des Dreiecks. Und insofern ist beim Eintreten des begehrten Objekts in den Horizont des Begehrens auch der mitbegehrende Andere als Vorbild und Rivale von Anfang an im Spiel, und seine Anwesenheit ist konstitutiv für das Begehren. Wird beim Begehren ein Vorbild imitiert und dadurch übergangslos der Rivale auf den Plan gerufen, können, was die Distanz des Rivalen betrifft, verschiedene Stufen 685 René Girard, Des choses cachées, S. 378 - 391 216 beobachtet werden. Wie oben ausgeführt, unterscheidet Girard zwischen einem entfernten Vorbild-Rivalen in der médiation externe und einem nahen Vorbild-Rivalen in der médiation interne, wobei es der Kunst, der Phantasie und vor allem der Beobachtungsgabe des Erzählers aufgetragen ist, die Übergangszone zu nutzen und zu definieren. Daher liegt es nahe, bei der Analyse der vorliegenden Erzählungen nach dem Girardschen Verfahren das trianguläre mimetische Begehren aufzuzeigen, die konfliktive Verschärfung beim Übergang von der externen zur internen Vermittlung zu beobachten und in der Konklusion die Frage nach der Konversion oder der Katastrophe zu beantworten und damit den Nachweis zu versuchen, dass dieses Verfahren generalisierbar ist und die gängigen literaturkritischen Methoden um einen originellen Ansatz erweitert. Sollte dies gelingen, wäre zugleich der Nachweis einer Analogie zwischen der Erzählsequenz und der nach mythischem Muster verlaufenden Handlungssequenz erbracht, wie sie sich im Opferritual abbildet – die umgekehrte Reihenfolge wäre ebenso gültig - , wobei die opferkritische Erzählung den gleichen mythischen Spuren folgt und eben nur in der Bewertung der Schuld und der Diviniserung des Opfers eine andere Position vertritt. Eine Erzählung in der Girardschen Festlegung würde daher nur dann die Anforderungen einer Erzählung erfüllen, wenn sie dem Schema der den Mythen und Riten abgewonnenen Sequenz entspricht, wenn sie also mit der mimetischen Entdifferenzierung startet und mit der entweder sakrifiziellen oder antisakrifiziellen, der biblischen Entsakralisierung nachgebildeten, romanesken Redifferenzierung endet. Mit anderen Worten: Eine Erzählung würde nur dann den Leser – wie auch den Verfasser - befriedigen, wenn sie sein Interesse an ihr auslösen würde, was wiederum bedeutet, dass sie ihm als ein Dokument begegnet, welches einen an ihn gerichteter Vorschlag zur Menschwerdung, zur Soziogenese und zur Kulturwerdung enthält und ihn in eine Konklusion verwickelt, in der die Alternative zwischen der romantischen und der romanesken Lösung erkennbar ist. 1. American Psycho von Bret Easton Ellis (1991) Der Handlungsrahmen: Alle mögen ihn, den Patrick Bateman: Er ist jung, gut aussehend, elegant, sportlich und Nichtraucher. Für ihn ist immer ein Tisch in den angesagtesten Restaurants von Manhattan reserviert. Er ist der Typ des im Beruf erfolgreichen Yuppies, der einem sowohl auf der Wall Strett als auch in den Werbekatalogen von Calvin Klein und Hugo Boss begegnet. 217 Er weiß, welche Gadget-Artikel zu welchem Preis wo zu haben sind und ist seinen Arbeits- und Partykollegen ein stil- und markensicherer Ratgeber in allen Out-FitAnliegen. Darüber hinaus ist er ein unübertrefflicher Experte für Fragen der Körperpflege, des Bodybuilding und der Herren- und insbesondere der Haarkosmetik, weil diese für das jugendliche Aussehen von erhöhter Bedeutung ist. Auffallend ist seine Verehrung für Stars und Bands der Popmusik wie Huey Lewis and the News, Genesis und Withney Houston, denen er in seinem Tagebuch schwärmerische Artikel widmet. Obwohl er als Analyst in einer renommierten Broker-Agentur, bei Pierce & Pierce arbeitet, die vermutlich von ihm täglich den vollen Einsatz abverlangt, erlebt man ihn nicht direkt in seiner beruflichen Umgebung. American Psycho zeigt ihn vielmehr bei den abendlichen Streifzügen durch die eleganten Restaurants und Bars, vor allem aber bei den scheußlichsten Grausamkeiten, die er nächtens begeht: Er reißt bettelnden Clochards die Augen aus, ersticht streunende Hunde, schläft mit Prostituierten, die er dann in Stücke schneidet, um davon zu essen, benützt Ratten als Tötungswerkzeuge, aber auch Schlagbohrer, Salzsäure, Messer mit gezackter Klinge und Bolzenschussgerät. American Psycho ist das Tagebuch, in dem Patrick Bateman seine Taten notiert, ohne sie zu begründen oder wie etwa die Figuren des Marquis de Sade auf ein philosophisches System und eine Weltanschauung zu beziehen. Er beschreibt mit der gleichen Anteilslosigkeit einen gemusterten Anzugsstoff, einen ToshibaDigitalreciever und die Folterung einer Prostituierten, so dass der Leser, wenn sein Ekel auch nicht unterdrückbar ist, die Gewaltexplosionen dieses Verrückten auch mit einem Schuss schwarzen Humors verfolgen kann. Dass dies kein Kriminalromen ist, wird indes bereits nach den ersten Stationen der Grausamkeit deutlich: Patrick Bateman stürzt sich in seinen Blutrausch – bisweilen flankiert von reichlich Alkohol und Kokain -, ohne jemals selber in Gefahr zu geraten oder gar entdeckt und mit Strafverfolgung konfrontiert zu werden. Er ist ein Mensch, der die Frauen hasst, auch seine Eltern und seinen Bruder, der die Clochards unausstehlich findet, der alles, was sich ihm als andersartig darbietet, verfolgt und zerstört. Gleichzeitig ist er ein Mensch, der perfekt integriert ist in eine Gesellschaftsschicht, die sich als modern versteht und Macht ausübt. Da er als Glied dieser Gesellschaft einfach nur dazugehören…will (330),686 ohne sich an ein transsoziales Wertesystem zu binden, führt er ein rein ästhetisches Dasein, in dem seine Identität zunehmend prekär wird: Er beginnt von sich in der dritten Person zu reden, einige seiner Kollegen sehen ihn an Orten, die er nach seinem Bekunden nie aufgesucht hat, man spricht ihn unter fremden Namen an, und er antwortet, ohne dass er die Verwechslung bemerkt. Mit dem Dante-Zitat Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren beginnt die Tagebuch-Erzählung ohne Inhaltsverzeichnis, und sie endet nach 60 Kapiteln mit der Inschrift KEIN AUSGANG an der Sicherheitstür des New-Yorker Restaurants von Harry’ s, wo sie nach den Auftakt-Kapiteln Aprilscherze (13 –42) und Morgen (42 – 50) auch begonnen hat. Sie endet also topologisch an ihrem Anfang. Der Protagonist, der keine Kindheit hatte, stirbt auch keinen Tod. Patrick Batemans Leben und Treiben geht weiter. Der aristotelische Katharsis-Moment bleibt aus, das 686 Die Zahlen in Klammern sind die jeweiligen Seitenangaben der betreffenden Werke von Ellis, Houellebecq und Sorokin, die in den vorliegenden Ausgaben kursiv gesetzten Stellen sind durch Unterstreichen gekennzeichnet. 218 Ende der Erzählung ist die Mitteilung, dass der Giftstoff nicht ausgeschieden werden kann. Und diese Mitteilung ist frei von Resignation. Mit dem Begriff der Aprilscherze in Verbindung mit dem Eintauchen in die New Yorker Wall Strett gibt American Psycho einen ersten, präambelhaften Hinweis auf die Geometrie des Begehrens. Der maßgebende Börsenplatz der Welt ist der Ort par excellence, an dem sich Begehren als Imitat von Begehren herausstellt. Wie die im Aprilscherz vorgespiegelten falschen Tatsachen eine Reaktion des Gefoppten auslösen, ergibt sich der Kurs eines Wertpapiers nicht aus dessen Substanz, sondern aus dem Interesse oder Desinteresse, das andere ihm gegenüber an den Tag legen. Es ist Aufgabe des Analysten, gleichsam eine Wette auf den Kursverlauf des Wertpapiers abzuschließen und bei seinen Einsätzen das Begehren der Konkurrenten rascher und besser als diese selbst zu erkennen. Der Analyst trifft keine souveränen Entscheidungen; seine Kunst besteht in einer datengestützten und die Konkurrenten beobachtenden Mimesis, seine durch die Einsätze anderer konditionierten Einsätze üben auf wiederum andere einen Nachahmungssog aus. Die Börse ist nicht der Ort der statischen Werte, sie ist ein diskursives Verfahren zu einer immer vorläufigen Bewertung auf Grund von vorläufigen Bewertungen. Da nach Girard die Natur des Begehrens immer eine mimetische ist, ergeben sich schwerwiegende Folgen für den Begehrenden, wenn sein Bestreben sich auf nichtmaterielle und nichtteilbare Güter wie Ehre, Ansehen, Macht oder gar den Sexualpartner richtet. In allen diesen Fällen, besonders in dem Fall des Sexualpartners ist nicht nur der Konflikt mit dem oder den Mitbewerbern, sondern mit dem ‚Objekt’ des Begehrens selbst programmiert. Ist der gegengeschlechtliche Partner nicht ‚börsennotiert’, erweckt er kein Interesse. Ist er aber deswegen interessant und attraktiv, weil andere ihr Begehren auf ihn fokussieren, kann niemand ein Exklusivrecht auf ihn geltend machen, mit der Folge, dass in jedes Liebesverlangen eine tiefsitzende Kränkung eingewoben ist. Das ist die Wirklichkeit, und, wie mein verhasster Bruder Sean sagen würde, damit muss man leben können (363). Denkbar ist eine andere Reaktion auf diese Kränkung: Tatsächlich will ich, dass meinen Schmerz auch andere erleiden. Ich will, dass keiner davonkommt (519), und dies bedeutet, dass gegen alle Widerstände, sowohl gegen den Widerstand der Konkurrenten als auch gegen den des ‚Objekts’ ein Begehrensmonopol behauptet und die Alleinverfügung durchgesetzt wird. American Psycho macht aus dem Erwachen aus dem Aprilscherz, beginnend mit dem darauf folgenden Morgen, blutigen Ernst. a.) Begehrensdreiecke Unter der Annahme, dass seine Ereignisabfolge einer sequenziellen Ordnung gehorcht und einer Konklusion zustrebt, muss nach Girard sowohl der Startimpuls der Erzählung wie auch ihr weiterer Antrieb in der durch den mimetischen Konflikt freigesetzten Energie zu sehen sein. Patrick trifft sich zu einem Dinner mit Freunden in der Wohnung von Evelyn Richards, mit der er verlobt ist. Als die übrigen Gäste gegangen sind, ist er mit Evelyn und 219 Timothy Price allein, die beide wie er als erfolgreiche Börsenmakler tätig sind. Das erste mimetische Dreieck konstituiert sich: Price liegt jetzt auf den Knien und riecht und schnüffelt an Evelyns nackten Beinen, und sie lacht. Die Wut steigt in mir hoch. […] Ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden ein Verhältnis haben. Timothy ist der einzige interessante Mensch, den ich kenne (39). Aus dieser Konstellation entwickelt sich jedoch weder eine amouröse Affäre, noch überlässt Patrick dem bewunderten Rivalen seinen Platz als Prätendent. Die Minisequenz endet ohne Konklusion, ohne eine Wendung, die die Beteiligten engagieren würde: Nachdem ich gut fünfzehn Minuten lang versucht habe, sie zu ficken, gebe ich es auf. […] Ich greife nach dem Glas Brandy. Ich trinke es aus. Evelyn ist abhängig von Parnate, einem Antidepressivum. Ich liege neben ihr und verfolge mit abgestelltem Ton den Home Shopping Club. […] Evelyn döst langsam weg. […] Ich gehe nach Hause. […] Ich masturbiere, denke erst an Evelyn, dann an Courtney, dann an Vandem und wieder an Courtney, aber kurz bevor ich komme - ein schlapper Orgasmus – an ein halbnacktes Model in einem Trägertop, das ich heute in einer Calvin-Klein-Anzeige gesehen habe (41 – 42). Das sexuelle Begehren verdankt sich dem Dritten, der es als Vorbild stimuliert und gleichzeitig als Rivale blockiert. Weil es, da es letztlich ein metaphysisches, nicht objekt- sondern statusbezogenes Verlangen ist, sein Ziel durch Inbesitznahme und durch objektale Bemächtigung verfehlt und verfehlen muss, werden Strategien zur Ersatzbefriedigungen entworfen, die in dieser Szene dargestellt werden, aber auch darüber hinaus die zerstörerischen Konsequenzen ahnen lassen, mit denen die sich wiederholenden mimetischen Krisen zu lösen versucht werden. Das in der Appropriationsmimesis ausagierte Habenwollen kann nicht erkennen, dass es metaphysisch blind ist. Umsomehr vervielfacht es seine Anstrengungen und investiert in die Konkurrenz mit den Mitbewerbern, selbst dann, und dies mit gesteigerter Intensität, wenn das Begehrensobjekt aus dem Blickfeld verschwindet. Neben den Möglichkeiten, auf physische Weise den Rivalen zu eliminieren, das Begehrensobjekt zu substituieren oder das Begehrenssubjekt auszuschalten, lässt sich aus dem zitierten abendlichen Auftakt auch die Alternative extrapolieren, auf dem Weg der toxischen Persönlichkeitsveränderung die Akteure aus der heißen Zone des Dreiecks herauszulösen. Es wäre ein tautologisches Vorgehen, die Entwicklung Patrick Batemans zum Serienkiller mit einer dämonischen Potenz, einer pathologischen Tag- und Nachtseite oder mit dem Hinweis auf die Gewaltneigung seiner Gesellschaft zu erklären. Dass der sich im Lauf der Erzählung wiederholende triangulär aufgeladene Antagonismus schließlich zur Senkung der Gewaltschwelle führt und, gerade auch wenn das Objekt der Begierde an Bedeutung abnimmt, die Konfrontation der doubles zu einer mörderischen beziehungsweise suizidalen Lösung drängt, findet im mimetischen Konflikt eine im Vergleich zu den psychologischen oder soziologischen Ansätzen weit plausiblere Erklärung. Da es in der Auseinandersetzung um einen Sexualpartner um ein Begehrensobjekt geht, welches nicht teilbar ist, ist die Position des modell- und maßgebenden Rivalen besonders stark ausgeprägt. American Psycho verleiht dem Imitationskonflikt aber 220 gerade dort eine kaum zu überbietende Schärfe und macht diesen Konflikt zu seinem Generalthema, wo geradezu banale Begehrensobjekte die Kontrahenten in eine rivalitäre Stellung bringen. Wie die meisten Kapitel, wird auch Pastels nach dem Namen eines Restaurants benannt, in dem die Schickeria der Wall Street verkehrt und nur mittels guter Beziehungen zum Empfangschef, dem Maître d´, ein Tisch reserviert werden kann. Da die Wahl des Restaurants eine Prestigefrage ist, die über Konkurrenzvorteile entscheidet, bildet bereits auch der Maître d´ eine Spitze im Begehrensdreieck der Bewerber um einen gut platzierten Tisch, wobei die gute Platzierung wiederum eine trianguläre Konfiguration im Verhältnis zu anderen Tischen erzeugt, wohin und von wo aus neidende, vergleichende, triumphierende, gedemütigte oder frustrierte Blicke geworfen werden können. McDermott kennt bei Pastels den Maître d´, und obwohl wir unsere Platzreservierung erst vor ein paar Minuten aus dem Taxi durchgegeben haben, werden wir umgehend durch die überfüllte Bar in den pinkfarbenen, hell erleuchteten Speisesaal geführt und in einer erstklassigen Nische für vier Personen ganz vorn plaziert. Es ist absolut unmöglich, bei Pastels einen Tisch zu bekommen, und ich glaube, Van Patten, ich selbst und sogar Price sind von McDermots Talent, sich einen Tisch zu sichern, beeindruckt, wenn nicht gar neidisch (62). Nach dem Bestehen der relativ konfliktfreien Rivalitäten um das angemessene Restaurant und um den aussichtsreichen Tisch, sollte sich alsbald in dem YuppieQuartett der Streit an einem Objekt von unüberbietbarer Banalität, den jeweiligen Visitenkarten, entzünden, ein Streit, der die Schwelle der Gewalt zwar nicht überschreitet, jedoch Einblick in die Motivationsstruktur des Protagonisten bietet und den Grund seiner Gewaltexzesse ahnen lässt. Patrick sieht sich McDermot gegenüber in einem vielleicht von einem/einer Dritten verursachten Nachteil, macht den Versuch, seinen Stand auf der Prestigeskala zu verbessern und muss dabei eine Niederlage einstecken, die ihn schmerzt und möglicherweise an Revanche denken lässt. Ich weiß nicht, woher McDermot Alain so gut kennt – vielleicht Cäcilia? – und das nervt mich ein bisschen, deshalb zeige ich allen meine neue Visitenkarte, um einigermaßen gleichzuziehen. Ich hole sie aus meiner Brieftasche aus Gazellenleder (Barney´s, 850 Dollar), klatsche sie auf den Tisch und warte auf Reaktionen. […] „Die ist sehr cool“, sagt Van Patten zurückhaltend, der neidische Hund, „aber das ist noch gar nichts…“. Er zückt seine Brieftasche und klatscht eine Karte neben den Aschenbecher. „Sieh dir das an“. Wir beugen uns alle vor und inspizieren Davids Karte, und Price sagt leise: „Die ist wirklich nett“. Kurz durchzuckt mich Eifersucht, als ich die Eleganz der Farbe und die noble Schrifttype sehe. Ich balle die Faust zusammen… […] Benommen nippe ich an meinem Drink und hole dann tief Luft. […] „Klasse, was?“ Prices Tonfall lässt erkennen, dass er sich über meinen Neid im Klaren ist. „Klar“, sage ich leichthin und schnippe die Karte zu Price zurück, als wäre sie mir schnuppe, aber der Brocken ist hart zu schlucken“ (68 – 70). Wenn auch der Brocken hart zu schlucken ist, die aufzuckende Eifersucht nicht so rasch verglüht und die geballte Faust die Erinnerung an die Demütigung wach hält, stellen die nacheinander wieder eingesteckten Visitenkarten doch ein Begehrensobjekt dar, welches die Nachahmensrivalen auf Distanz zueinander hält und die imitierende Energie neutralisiert. Anders verhält es sich dort, wo die doubles nicht mehr durch die Fixierung auf ein Drittes sich gegenseitig in Schach halten und 221 gewissermaßen ungebremst und ungedämpft sich in den Kampf um den Vorrang stürzen. Das im Idealfall regelmäßige und daher krisenunanfällige Begehrensdreieck mit gleichen Winkeln und gleichen Distanzen wird durch den weiter unten darzustellenden, gleitenden Übergang von der externen zur internen Begehrensvermittlung im Extremfall so verschoben, dass die Vermittlerposition unklar wird und eine face- to-face-Situation eintritt, die in eine von Vernichtungswillen erfüllte Konfrontation einmündet. Das Scheitern des Versuchs, durch Appropriation eine Status-Sicherung zu erreichen, wie es beim Dinner in Evelyns Wohnung inszeniert wurde – von Girard als désir métaphysique und insofern als ontologisch unmöglich bezeichnet – bringt den Protagonisten nicht zur Einsicht. Im Gegenteil: Dieser erhöht den antagonistischen Einsatz, und obwohl er sich selbst beobachtet und dabei feststellt, dass er in Zuckungen verfällt, von Panikattacken eingeholt wird und die Kontrolle über sich verliert, steigert er die Mittel, die er für erforderlich hält, um Gegenspieler und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wenn auch weder die erotischen noch die beruflichen Ambitionen des Protagonisten die originäre Arena von American Psycho darstellen, lässt sich doch auf diesen Feldern der Lauf der konfliktiven Imitation exemplarisch und in seiner unerbittlichen Konsequenz abbilden und registrieren, wie der Erzähler die Girardsche Anforderung: comment reproduire un triangle? in immer neuen Varianten einlöst. Am Beginn der zweiten Hälfte der Erzählung, also in einem Stadium, in dem das antagonistische Potenzial des Protagonisten sich in dem Maß gesteigert hat, wie sein Status-Begehren sich als unerfüllbar erwiesen hat, kommt es in einem Restaurant, das wohl nicht zufällig Vanities heißt, zu einem Wiedersehen mit Bethany, die während des gemeinsamen Studiums in Harvard - wo ich ihr immer Gedichte geschrieben hatte, lange, düstere, ehe wir uns trennten (321) und ich ihr alles Schöne dieser Welt zeigen wollte (335) - seine Geliebte gewesen war. Lunch mit Bethany kann in der Tat als Lehrstück im Aufbau von triangulären Konfigurationen gelesen werden, die in einem als Energiequelle für das konfrontative Finale dienen, zum andern das letzte Duell der Konkurrenten verzögern und über kurzfristige Ablenkungen und Umwege eine jeweils prekäre Ordnung zu stabiliseren suchen. Schon der erste Satz: Heute treffe ich mich mit Bethany zum Lunch bei Vanities, dem neuen Bistro von Evan Kiley in Tribeca (321) entwirft insofern eine dreipolige Situation, als die Begegnung der ehemaligen Liebenden, in der die Hoffnung auf einen Neuanfang zumindest mitschwingt, aus der Sicht von Patrick Bateman überwölbt wird durch das Interesse an einem neu eröffneten Lokal, wobei dieses Interesse wiederum umgelenkt wird durch den Bezug auf den Eigentümer und den Standort des Bistros. Weil Patrick, wie der Leser erfährt, die Zurückweisung fürchtet (321), wird die Annäherung an Bethany immer wieder verzögert und auf Zwischenstationen umgelenkt. Dies gilt sowohl für die Vorbereitung: Damit uns beim Lunch nicht der Gesprächsstoff ausgeht, versuche ich, eine schicke neue Kurzgeschichtensammlung…zu lesen (321), als auch für die wohl berechnete Verspätung: Gott, denke ich bei mir, als ich, nur fünfzehn Minuten zu spät, bei Vanities eintrete (321) sowie auch der ersten Schritte im Bistro, wo der Vermittler in der Gestalt des unvermeidlichen Maître d´ die dritte Stelle einnimmt: Als ich mich hinter dem Maître d´ dem Tisch nähere (322). Nachdem aber der Begegnung mit Bethany weder durch die szenische Hereinnahme des Pärchens am Nachbartisch noch des Kellners ausgewichen werden kann und auch ein Zwanzigdollarschein für 222 den Maître d´ aus der Gazellenleder-Brieftasche sich als ein nutzloses, weil keine aufschiebendes Wirkung erzielendes apotropäisches Opfer herausstellt, steigert sich die innere Unruhe von Patrick Bateman zu einer Panik, die sich auch auf körperliche Reaktionen erstreckt. Auf eine Welle der Übelkeit (322) folgen fiebrige, romantische Anwandlungen (323), unkontrollierte Äußerungen wie: ich bin hurig, ich meine ruhig (323), die Feststellung, dass sich in mir alles zusammenzieht (326) und mein Bein unterm Tisch unkontrollierbar auf und ab zuckt (326). Das Bekentnis: Ich gerate in Panik (329) wird verdeutlicht mit der schreckhaften Reaktion auf Bethanys Konversation: Jede Silbe dringt in langem Abstand an mein Ohr und explodiert wie ein Überschallknall in meinem Kopf (330). Als Patrick dann sich im Selbstgespräch gelegentlich an eine Erstsemester-Studentin in Harvard erinnert, die er, weil sie seine Lebensauffassung nicht teilte, enthauptete und in den Fluss warf, und dazu bemerkt, dass seine Wut in Harvard weniger grausam als jetzt (336) war, sind die letzten Zweifel beseitigt, dass das Zusammentreffen bei Vanities mit Bethanys Tod enden würde. Während das Personal – „Weiter“, sage ich und sehe mich nach dem Kellner um (325) - und die Gäste bei Vanities – Sie fällt anderen Männern auf, wenn sie an unserem Tisch vorbeigehen (331) – nur Spielfiguren des Werbens sind, ist mit Robert Hall ein äußerst chancenreicher Mitbewerber um Bethany als ernst zu nehmender Dritter im Bund, der als vermögender Harvard-Absolvent sowie anerkannter Koch und Teilhaber des Spitzenrestaurants Dorsia dem Patrick Bateman einiges voraus hat und wiederum einen schwer zu schluckenden Brocken darstellt. Daher seine entsetzte psychosomatische Reaktion: Richtig, mein Kopf explodiert, und es zerreißt mir den Magen – eine krampfhaft gastritische Übersäurung; Sterne und Planeten, ganze Galaxien kleiner weißer Kochmützen rasen vor meinem inneren Auge vorbei. Ich presse eine weitere Frage hervor. „Warum Robert Hall?“ fragte ich. „Warum er?“ (333). Um das mimetische Verlangen anzufachen und es unstillbar zu machen, braucht Robert Hall jedoch nicht persönlich zu intervenieren. Der Blick, den er von fern auf Bethany wirft, genügt, um diese in den Augen von Patrick Bateman derart aufzuwerten und begehrlich zu machen, dass sie am Ende ihm sogar überlegen wird und ihm als sein double entgegentritt, dessen Existenz als das schlechthin Andere er nicht zulassen kann. In diesem Fall tritt das ein, was Girard mit der bei Dostojewski beobachteten Identifizierung des Rivalen mit dem Wunschobjekt meint und wo sich beide, der Rivale und das Objekt der Begierde zu einem einzigen Hindernis zusammenschließen, welches das begehrende Subjekt alternativlos herausfordert und als solches in Frage stellt. Um Bethany mit ausreichenden Herausfordererqualitäten auszustatten, hätte es sicher genügt, wenn der Erzähler neben ihrer persönlichen Erscheinung und ihres beruflichen Erfolgs: Ihr Körper, ihr Teint, wirkt straff und rosig. „Milbank Tweed“, sagt sie. „Da arbeite ich“ (329) sowie ihrer erotischen Attraktivität: Ihr Mund […] zieht mich an wie ein Magnet voller Lippenstift (331) den Begehrensvermittler Robert Hall entsprechend stark gemacht hätte. Um Patrick Bateman in die ausweglose Situation zu manövrieren, in dem er sein Heil nur noch im kompromisslosen Zurückschlagen finden kann, erscheint Bethany nicht nur begehrenswert, sondern in einer Überlegenheit und Unerreichbarkeit, die die eher geschmacklichen Dimensionen der mit dem Fäusteballen endenden Visitenkarte-Episode weit übersteigt. Bestand der Dissens mit der ermordeten Harvard-Kommilitonin darin, dass diese meinte, dass das Leben voller unendlicher Möglichkeiten steckt (336) und nicht, wie Patrick Bateman, alles ausblendete, was sich jenseits der Grenzen meines unmittelbaren 223 Horizonts abspielt (336), baut sich mit Bethany ein Kräfteverhätnis auf, das als double-bind-Beziehung das Programm zur gegenseitigen Erhöhung wie zur gegenseitigen Vernichtung ist. Da American Psycho als Vorwort ein Zitat aus den Auszeichnungen aus dem Kellerloch nimmt, ist Patrick Bateman durchaus den von Dostojewski als für die Massen- und Warengesellschaft typischen Menschen zuzurechnen, die unausbleiblich (sind), wenn man jene Verhältnisse in Betracht zieht, unter denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat (11). In Abwesenheit des Dritten – in Analogie zu Dostojewski: eines transzendenten, göttlichen Maître d´, der respektiert wird, sich aber nicht einmischt in die irdischen Begehrensverhältnisse – sind die doubles aneinander gekettet, und jeder ist des anderen Begehren und Verbot. Weil Bethany in jeder Hinsicht attraktiv ist, und weil sie das in den Augen Patricks nur dann ist, wenn neben Robert Hall alle anderen sie attraktiv finden – Bethany sieht absolut bezaubernd aus, ganz wie ein Model (323) -, muss Patrick sie zugleich lieben und hassen. So kommt es schließlich, dass Patrick nach einigen Demütigungen, die er durch Bethany erfahren muss – sie verwechselt die Marke seines Anzugs, sie besteht darauf, die Restaurant-Rechnung zu bezahlen und benutzt dazu eine ihren herausgehobenen Status markierende Platin-AmericanExpress-Karte: Ich schweige, beobachte dann, wie sie die Karte auf das Tablett mit der Rechnung legt. Ein Krampfanfall scheint unausweichlich, falls ich nicht aufstehe. (337) – , sich mit einem Bolzenschussgerät in der Hand auf Bethany stürzt und eine abscheuliche Bluttat begeht, bei der die Rolle des Dritten insofern eine fiktive Besetzung aufweist, als Patrick eine handtellergroße Sony-Handycam in Position bringt und die tödliche Quälerei an seinem Opfer fortsetzt, sobald die Kamera auf dem Stativ steht und auf Automatik läuft (342). Die auf dem dreibeinigen Stativ stehende Kamera hat die technischen Voraussetzung zu einer Überwachungs- und Dokumentationskamera und könnte daher sowohl eine beschützende als auch bei der Tataufdeckung dienliche Funktion haben. Zu diesem Zweck müsste sie jedoch mit einem externen System verkabelt sein, welches den Tatort transzendiert und über Interventions- oder Sanktionskapazitäten verfügt. Da sie aber, obwohl automatisch ablaufend, mit dem Täter kurzgeschlossen ist, wird der Raum der Immanenz nicht verlassen. Die Kamera ist also ein filmender Als-ob-Zeuge, ein Alsob-Vermittler, eine Daten speichernde Als-ob-Instanz zur ethischen Bewertung und zur Differenzierung von Gut und Böse, ein blindes Schauen. Sie ist als Abstraktion des Dritten der Beleg für die Unausweichlichkeit der double-bind-Situation. Eine letzter Triangulationsversuch schlägt fehl, als Patrick die widerstrebende Bethany, die vorher noch telefonieren will, mit dem Angebot: Ich habe ein vierteiliges Durgin Gorham Tee- und Kaffeeset aus Sterlingsilber, das ich dir gern zeigen würde (338) in seine Wohnung zu kommen überredet, sie aber auf die Frage nach der Präsenz eines Vermittlers hintergeht. „Bei dir gibt´s einen Portier, stimmt´s?“ fragt sie misstrauisch. „Ja“. Ich lächle, es reizt mich, wie ahnungslos sie ins Verderben läuft. (339) Nachdem der letzte mögliche Vermittler ausfällt und Bethany mit der Bemerkung, Patrick habe ein abstraktes Bild wohl verkehrt aufgehängt, ihm gegenüber eine letzte Überlegenheitsgeste ausführt, verwirklicht dieser seinen Plan. Mit dem Schrei: „Was hast du Nutte mit Robert Hall?“ (341) schlägt er sie mit dem Bolzenschussgerät nieder, das er in seinen behandschuhten Händen hält, und nagelt sie an Händen und Füßen – die Analogie zur Kreuzigung auf Golgatha ist ebenso wenig zu übersehen wie das silberne Kaffeeset, mit dem Patrick sein Opfer an den Tatort und in seine Hände lockte, mit dem Judas-Lohn - auf dicke Holzbretter, blendet sie mit 224 Tränengas, beißt ihr die Finger bis auf die Knochen ab, schneidet ihr die Zunge aus dem Mund und penetriert sie in den Mund, als sie bereits im Todeskampf liegt. Dann ficke ich sie in den Mund, und nachdem ich abgespritzt und meinen Schwanz rausgezogen habe, gebe ich ihr noch mehr Tränengas. […] „Kennst du den noch?“, rufe ich, als ich über ihr stehe (343). Patrick Bateman handelt nicht im Blutrausch, die Vorbereitungen erfordern ein hohes Maß an Planung, die einzelnen Schritte sind durchdacht und lassen sich als ein Vergeltungsritual deuten. Liest man American Psycho als Anwendung des Girardschen mimetischen Realismus, erscheint Patrick Bateman nicht als der Killer, der seine Instinkte nicht unter Kontrolle hat. Die Tötung von Bethany, seiner füheren Geliebten, die er an Robert Hall verloren hat, mit dem sie eine Familie zu gründen gedenkt – „Ich will Kinder haben“ (333). - erfolgt über den Angriff beziehungsweise Gegenangriff in der Form eines Präzisionsschlags gegen strategische anatomische Ziele. Weil Bethany aus der Sicht Patricks diesen verlassen und sich Robert Hall zugewandt hat – Ich berühre ihre Hand, sie zieht sie weg (335) -, werden, nachdem Patrick sich vergewissert hat, dass seine Wohnungstür verriegelt (340) ist, ihre Gliedmaßen immobilisiert. Mit dem Tränengas, das in die Augen, den Mund und in die Nasenlöcher gesprüht (341) wird, werden die Sinne ausgeschaltet, mit dem Herausschneiden der Zunge – Blut schießt aus Bethanys Mund, und ich muss ihren Kopf halten, damit sie nicht erstickt (343) - wird sie mundtot gemacht, mit der Scherenattacke auf das Geschlecht wird sie als Sexualpartnerin eliminiert. Bethany fängt wieder an zu schreien, als ich ihr das Kleid vom Leib gerissen habe und ihr nur den BH, das rechte Körbchen dunkel von Blut und den uringetränkten Slip lasse, die ich mir für später aufhebe (342). Da die in anderen Tagebucheinträgen notierten tödlichen Frauenschändungen sich zu einem Tatprofil zusammensetzen lassen, kann der Leser wissen, dass jeweils die Penetration in den Mund erfolgt, weil die Vaginas bereits amputiert, aus verschiedenen Frauen geschnitten (510) sind und als Trophäen aufbewahrt werden. Durch das wiederholte Einsprühen von ätzendem Tränengas soll auch verhindert weden, dass Bethany vor Schmerzen bewusstlos wird oder gar stirbt, bevor ihr Peiniger seinen Triumph ihr gegenüber zur Schau stellen kann und die Kompensation des Begehrensnachteils registriert bekommt. Nachdem er dann mit der Richtigstellung bezüglich seiner Anzugsmarke, bei der er selber die Namen verwechselt – „Es ist auch nicht Garrick Anderson. Der Anzug ist von Armani! Giogio Armani. […] Und du hast ihn für Henry Stuart gehalten“ (343) – und mit dem demonstrativen Anzünden einer Zigarre auf ihre im Restaurant gemachten Vorhaltungen zum Rauchen seine letzten Konterattacken praktiziert, notiert er, dass Bethany gestorben ist. Dies geschieht jedoch nicht etwa in der Feststellung, dass ihr Tod eingetreten ist, sondern in der am eigenen Leib gemachten Beobachtung, dass der Brennpunkt des Begehrens, der auch der Schmerzpunkt des Zurückweisens ist, erloschen ist: … und versuche dann, sie noch mal in den Mund zu ficken, aber ich kann nicht kommen, also lass ich´s (343). Es sind nicht Morde, die Patrick Bateman etwa aus Mordlust begeht, es sind verzweifelte Versuche, die im Begehrenswettbewerb erlittenen Demütigungen und Verluste, und seien sie auch imaginärer Art, auszugleichen und sich an den Verursachern schadlos zu halten. In den Reaktionen auf die erlittenen Kränkungen, wird deren Natur in aller erzählerischen Deutlichkeit gespiegelt. Wäre die HarvardKommilitonin aus dem ersten Semester etwa Patricks Geliebte gewesen, hätte sie mit einer Behandlung rechnen müssen, wie sie Bethany, ein Mädchen, mit dem ich in Harvard gegangen bin und die mich später abservierte (294) erleiden musste. Da es 225 aber eine theoretische Auseindandersetzung um abstrakte Lebensfragen ging, ist durch den mimetischen Realismus eine andere Lösung angezeigt: Im selben Winter fand man ihren Körper im Charles River treibend, enthauptet, ihr Kopf baumelte drei Meilen entfernt an den Haaren von einem tiefhängenden Ast (336). Für die Beseitigung der Leichen hat Patrick Bateman in einem verlassenen Lagerhaus eine Etage gemietet, wohin er per Taxi die zerfetzten Körper in Kleideroder Müllsäcken transportiert und sie in einer Badewanne mit Kalk bedeckt, damit sie sich restlos auflösen. Bethanys Knochen und der größte Teil ihrer Innereien werden wohl durch den Müllschacht im Flur vor meinem Apartment wandern und in der Verbrennungslanlage landen (347). Wird die double-bind-Situation der Liebespartner zwischen dem Protagonisten und Bethany inszeniert – wie bei dem Menschen aus dem Kellerloch führt das Liebesverlangen zwangsläufig zur hochkonfliktiven Paarbildung mit einem aus der Wahrnehmung Patricks heraus prostituierten Model -, kommt es auf dem Terrain der beruflichen Konkurrenz zu einer derartigen Konstellation mit dem mit 27 Jahren gleichaltrigen Paul Owen, welcher wegen seiner Erfolge an der Börse zugleich der intensivst nachgeahmte und bestgehasste Berufskollege ist. „Er handelt den FisherAccount“, sagt irgendwer. „Verdammter Glückspilz“ murmelt irgendjemand anders. „Verdammter jüdischer Glückspilz“, sagt Preston. (58) Da auch hier die Agenda der Triangulation befolgt wird, muss festgehalten werden, dass Paul Owen nicht aus eigener Tüchtigkeit einen gewissen Vorsprung vor Patrick Bateman hat, sondern weil er, wie die Wall Street-Experten wissen und sich in den eleganten Klubs erzählen, in seiner Vermögensverwaltungsagentur ein besonders gut platziertes Depot, den myteriösen Fisher-Account (301), betreut, um den ihn alle beneiden. Unter einem falschen Namen reserviert Patrick Bateman einen Tisch in dem Restaurant, in dem er sich mit Paul Owen trifft, der ihn, da er bereits nicht mehr nüchtern ist, tatsächlich für den hält, unter dessen Namen er reserviert hat. Vergeblich versucht er, von ihm Informationen über den Fisher-Account und die so erfolgreiche Anlagestrategie zu erhalten. Immer dann, wenn er als Marcus Halberstam dem Paul Owen kaum mehr als nur rudimentäre Informationen entlocken will, lenkt dieser ab und bringt entweder Sonnenstudios ins Gespräch oder Zigarrenmarken, bestimmte Fitnessclubs oder die besten Joggingstrecken von Manhatten (302). Am Ende des Dinners ist Paul Owen so betrunken, dass Patrick ihn nicht nur dazu bringt, die Rechnung über 250 Dollar zu bezahlen, sondern noch auf einen Drink mit ihm nach Hause zu gehen. Dort ist alles für die finale Abrechnung vorbereitet: die zur Beruhigung benötigten ValiumTabletten, die in der Dusche verstaute Axt, die auf dem Parkettboden aus weißer Eiche (303) ausgebreiteten Zeitungen. Die Axt trifft mitten ins Gesicht, bevor er den Satz beenden kann, die dicke Klinge fährt seitwärts in seinen offenen Mund und bringt ihn zum Schweigen (303). Bevor Patrick Owens Wohnung mit der Leiche im Kleidersack verlässt, manipuliert er, da seine Stimme der von Owen sehr ähnlich ist, dessen Anrufbeantworter so, dass man erfahren soll, dass er sich in London aufhält und übergießt in dem angemieteten Lagerhaus den in eine übergroße Porzellanwanne gelegten Körper, nachdem ich ihn gründlich nass gemacht habe, mit zwei Beuteln Kalk (306). Während im Fall von Bethany das Objekt der Begierde sich nach und nach mit der Position des Rivalen identifiziert, kommt es im Dreieck von Patrick, Owen und dem Fisher-Account zu keiner Positionsverschiebung. Als Unterlegener im Börsengeschäft schafft Patrick seinen stärksten Rivalen aus dem Weg, kommt 226 dadurch aber dem Objekt seiner Begierde, dem von allen aufmerksam beobachteten Fisher-Depot, keinen Schritt näher. Er müsste im Sinne einer denkbaren Verschiebung glaubwürdig vor aller Welt die Stelle seines ermordeten Konkurrenten einnehmen, das heißt sich als Paul Owen ausgeben und nicht nur den gleichen Geburtsjahrgang und die gleiche Stimme wie dieser präsentieren, um an das begehrte Dossier heranzukommen. Da Patrick intelligent genug ist, um um auf einen solchen aussichtslosen Täuschungsversuch zu verzichten, gibt es für den Mord an Paul Owen kein Vorteilsmotiv. Es handelt sich, von außen betrachtet, um einen Mord um nichts. Indem aber gerade weder der Haben-Status noch der Sein-Status eine Erhöhung erfährt, führt American Psycho vor, dass das Töten das ständige Bestreben darstellt, einen Status-Vorteil zu erzielen, wohl wissend und daran verzweifelnd, dass sich dieser Vorteil dem Tötenden immer entzieht. Die Zahl der Opfer, die Batemans Weg säumen, steigt unaufhörlich, und die Tötungs- und Foltertechniken überbieten sich von Mal zu Mal an Grausamkeit. Das Töten wird zu einem Töten auf Vorrat, um alle denkbaren kommenden Kränkungen und Unterlegenheitserfahrungen zu kompensieren; es antizipiert das Zurückschlagen auf Zurückweisungen, die noch nicht eingetreten sind, auf Zurückweisungen auf dem Feld des beruflichen und gesellschaftlichen Ansehens, vor allem aber auf Niederlagen sexueller Art, das heißt überall, wo man mit Rivalen zu rechnen hat. Mit Rivalen, die man andererseits so bitter nötig hat, gilt doch in allem die mimetische Grundregel: ohne Rivalen kein Verlangen. Zwar erzielt Patrick in der Beseitigung von Paul Owen einen taktischen Gewinn, aber er entwickelt sich, und dessen wird er sich selber klar, zu einem Serienmörder, zu einem Mörder, dessen Motiv nicht im jeweiligen Opfer zu suchen ist, dessen Motiv die unabschließbare Serie ist. „Ich habe Owens verdammten Kopf abgesäbelt. Ich habe Dutzende von Mädchen gefoltert. Die ganze Nachricht, die ich hinterlassen habe, war wahr. Ich bin ausgelaugt, wirke unruhig und frage mich, warum ich so wenig Erleichterung spüre“ (534). Opferlogisch ausgedrückt: Es tritt keine sakrifizielle Wirkung ein, es kommt nicht zu der von den Mythen praktizierten divinisierenden beziehungsweise heroisierenden Umwertung, es kommt nicht zur Erneuerung der individuellen oder kollektiven Identitäten. Es geschehen Opfer ohne Wert, und der sich steigernde und sich beschleunigende Opferwahn wird durch keinen kathartischen Eingriff gestoppt. Die endlose Zyklizität, zu der sich die Triangulierung des Begehrens dehnt, spiegelt sich schließlich im unaufhörlichen Tag- und Nachtwechsel und dieser wiederum in Patricks Tag- und Nachtaktivitäten, wobei das berufliche Tun in American Psycho bis auf wenige Büroszenen ausgeblendet wird, in denen in der Regel außergeschäftliche Angelegenheiten wie Tischbestellungen oder abendliche Verabredungen erledigt werden: Sie (die Sekretärin, d. Verf.) schüttelt gutmütig den Kopf, als sie geht, und schließt die Tür hinter sich. Ich ziehe einen Panasonic-Watchman mit 9-ZentimeterBildröhre und AM/FM-Radio hervor und versuche, etwas Interessantes reinzukriegen, vielleicht ‚Jeopardy’!, ehe ich mich meinem Computer-Terminal zuwende (100). In äußerster Verkürzung ergibt sich die Trajektorie eines Protagonisten, dem sich am Tag die Begehrensrechnung mit den stets von neuem offenen Posten des Objekts und des oder der Rivalen präsentiert und der in der Nacht diese Rechnung begleicht. Dabei gibt es Zonen der Dämmerung und des Übergangs, die – in Analogie zu Baudelaires abendlichem Stoßgebet: Sois sage, ô ma Douleur – mit Alkohol und Drogen aller Art überbrückt werden. Und wie auf jede Nacht ein neuer Tag folgt, wird nach der sexuellen, genitalen und voyeuristischen Inbesitznahme: Sex (in der Regel mit zwei Girls, d. Verf) findet statt – eine Hard-Core-Montage (419), der Ent- und teilweisen Einverleibung der Opfer und der Entsorgung der Reste der Reigen des 227 désir mimétique wieder einsetzen, der die in das Gesichtsfeld kommenden, allein oder in Begleitung auftretenden Frauen mit repetitiver Monotonie in Hardbodies, Fickfleisch verwandelt, deren uniforme Attribute große Titten, blond, toller Arsch, Stöckelschuhe (50) sind und die jenseits der detailliert beschriebenen Kleider-, Accessoire- und Parfümmoden gesichts- und ausdruckslos sind: Modeltyp, dünn, Titten okay, kein Arsch, hohe Absätze -, und sie trägt einen Rock aus Wollcrêpe und ein Veloursjackett aus Wolle und Kaschmir und über dem Arm einen Veloursmantel aus Wolle und Kaschmir, alles von Louis Dell´Olio. Schuhe mit hohen Absätzen von Susan Bennis Warren Edwards. Sonnenbrille von Alain Mikli. Tasche aus geprägtem Leder von Hermès. […] Nicki lächelt höflich, wie ein Roboter. […] Montgomery hat den Raum schon halb durchquert. Nicki schleicht hinter ihm her. Ich habe mich geirrt: Sie hat einen Arsch (65 – 66). Wohin der Blick auch fällt, schon konstituiert sich ein Begehrensdreieck, welches die mimetische Energie erzeugt für die Auseinandersetzung mit dem Vorbild, dem Hindernis, dem Rivalen, dem Gegner. Würde Courtney mich weniger lieben, wenn Luis (ihr Freund, d. Verf.) tot wäre? Das ist die Frage, der ich mich stellen muss, die unterschwellig an mir nagt…[…] Würde Courtney mehr Zeit mit mir verbringen?[…] Erregt sie mein Körper, meine Schwanzgröße oder der Kitzel, dass sie sich hinter seinem Rücken mit mir trifft? Und warum, da wir schon dabei sind, möchte ich Courtney gefallen? […] Würde ich alles zerstören, wenn ich Luis erwürge? (222 – 223). Wird die Objektspitze in diesen Dreiecken mit dem vorgestellten Sexualpartner besetzt, wird die gewaltsame Lösung der mimetischen Spannung in gewisser Weise verbal vorbereitet und antizipiert, wenn die Wall Street-Yuppies sich zum abendlichen Essen, Trinken und Koksen in ihren Szene-Klubs treffen. Er legte eine dramatische Pause ein. „Sie wollte mir nur einen runterholen, und stellt euch vor…sie hat ihren Handschuh anbehalten“. Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück und nippt mit selbstgefälliger, zufriedener Miene an seinem Drink. Wir nehmen dies mit gebührendem Ernst zur Kenntnis. Keiner erlaubt sich einen Scherz über McDermots Enthüllung oder seine Unfähigkeit, die Kuh härter anzufassen (55). Während die Entladung der mimetischen Spannung in nahezu ritueller Formenstrenge erfolgt, wobei die Ritualanalogie dadurch unterstützt wird, dass die designierten Opfer als Models, als beim Begleitservice bestellte und bezahlte Girls und als Prostituierte alle Stellvertretermerkmale auf sich vereinigen, die das rituelle Ersatzopfer auszeichnen, geschieht das Aufladen dieser Spannung in fast unbemerkten Triangulationen, deren Objektspitze keine sexuelle Besetzung aufweist. Was die Entladung des mimetischen sexuellen Begehrens betrifft, schließt American Psycho keinen Kompromiss. Es werden anstatt der Mädchen nicht Fetische zerfetzt, Puppen verbannt oder tierische Substitutionen geschlachtet. Wer auch immer den Protagonisten herausfordert und sein Ich durch den Anblick des Anderen relativiert und verunsichert, ist vor seiner vergeltenden, ja die Vergeltung antizipierenden Gewalt nicht sicher. Bei manchen Morden jedoch kommt Patrick im Nachhinein zu der Erkenntnis, dass sie nutzlos waren, weil das Opfer seinem Begehren nicht direkt im Weg stand. So geschehen bei der Hinrichtung einer Prostituierten, die in ihrer Unbedarftheit die Agentur Pierce & Pierce für ein Schuhgeschäft hält und die er zu Tode quält, in dem er eine ausgehungerte Ratte durch ein Rohr in ihre Scheide kriechen lässt: Mir ist jetzt bereits klar, dass das einer der üblichen nutztlosen, sinnlosen Tode sein wird, aber ich bin nun mal den Horror gewöhnt (454), oder auch 228 bei der Ermordung eines fünfjährigen Kindes, das er im Zoo: Möchtest du…ein Plätzchen?“ (413) von seiner Mutter weg und hinter eine Mülltonne lockt und das er mit einem Messerstich tötet: Obwohl ich zuerst zufrieden mit mir bin, durchfährt mich plötzlich klägliche Verzweiflung darüber, wie sinnlos, wie außerodentlich schmerzlos es ist, ein Kind ums Leben zu bringen.[…] Wieviel schlimmer (und erfreulicher) ist es, jemandem das Leben zu nehmen, der auf der Höhe des Lebens steht, der Ansätze einer echten Geschichte hat… (415). Ein Opfer ist nur dann sinnvoll, wenn es fütr den Opferer eine Rendite abwirft in der Form eines Leidens, das für andere eine solche Streuung hat, dass es den eigenen Schmerz zu kompensieren vermag. Zu den außerordentlich schmerzlosen Tötungen gehören demzufolge die Abtreibungen, sowohl diejenigen, die Patrick veranlasst, als auch die beiden, die er eigenhändig ausführt: Das ist, glaube ich, das fünfte Kind, das ich habe abtreiben lassen, das dritte, das ich nicht selbst abgetrieben habe… (525). Sinnvolle Opfer hingegen sind jene Kontrahenten, die dem Begehren des Patrick Bateman jenes Maß an Widerstand entgegensetzen, das erforderlich ist, um ihm das Objekt des Begehrens streitig zu machen, sei es, dass sie ihm wie im Fall des Paul Owen als rivalisierende Dritte entgegentreten, sei es, dass sie, wie im Fall des sexuellen Begehrens, sich ihm als Verheißung und Verhängnis in einer einzigen Person darbieten. Zu den Opfern zählen jene, die tagtäglich Patricks Weg kreuzen: jene versammelte Mannschaft, welche weiter über intelligente Aktiva diskutiert, darüber, welche Aktien vielversprechend fürs kommende Jahrzehnt aussehen, über Hardbodies, Immobilien, Gold, […] Depots, wie man Macht sinnvoll einsetzt, neue Trainingsmethoden, […] wie man bei VIPS am besten Eindruck schindet, ständige Wachsamkeit, die Sonnenseiten des Lebens (478). Sie alle sind potenzielle Opfer und Beute, und wenn die Umstände zwar die panikhafte Opfersituation beschwören, die Exekution jedoch verhindern, hat das Ersatzopfer zumindest von der Art zu sein, dass sein Auslöschen einen Verlust bedeutet: Ich scheine mich hier im Bouley (ein Restaurant, d. Verf.) kaum zügeln zu können, hier in einem Raum, in dem es vor Opfern nur so wimmelt; ich kann mir nicht helfen, in letzter Zeit sehe ich sie überall – bei Meetings, in Nachtclubs, Restaurants, in vorbeifahrenden Taxis und in Aufzügen, aufgereiht vor Geldautomaten und auf Pornovideos, in David´s Cookies und auf CNN, überall, und alle haben sie eins gemeinsam: sie sind Beute, und während des Dinner gehe ich fast aus dem Leim, verfalle in einen Zustand, der an Höhenangst grenzt […], und dann kommt der Moment, wo ich auf der Herrentoilette eine Line Kokain nehme, meinen Giorgio-Armani-Wollmantel und die schlecht verborgene 357er Magnum darin von der Garderobe abhole, ein Schulterhalfter anlege, und dann bin ich draußen. […] und als das Opfer die Augen öffnet und auf die Waffe blickt, hört es zu spielen auf, das Mundstück des Saxophons noch zwischen den Lippen […], und dann hebe ich die Waffe an sein Gesicht und ziehe den Abzug mitten in einem Akkord (478 – 480). Wo es um nicht sexuell markierte Begehrensobjekte geht, ist anzumerken, dass der Fall des Paul Owen insofern singulär und kein durchgehendes Motiv ist, als die Auseinandersetzung mit den beruflichen Konkurrenten und Kollegen in American Psycho nicht mit dem gezackten Messer und in der abgeriegelten Wohnung, sondern mit erlesenen Artikeln und auf dem Terrain des Lifestyle, der Geltungssucht, des Luxuskonsums geführt wird. Mit anderen Worten: An die Stelle der sexuellen Markierung tritt der Markenartikel, und das obsessive Verlangen in Form einer ‚Besessenheit für’ und einer ‚Besessenheit von’ vertauscht die Wachsamkeit für den Sexualpartner mit der Expertise für den Konsumartikel. In formaler Hinsicht gleicht 229 der Mord an Paul Owen jedoch den Sexualmorden, weil weder durch die eine noch durch die andere Tötung das Objekt der Begierde in Patricks Besitz gebracht werden kann. Weder wird durch die Tötung des Konkurrenten der Fischer-Account erobert, noch wird durch die Prostituiertenmorde eine sexuelle Autonomie begründet. Obwohl der Leser gerade auch wegen der schockierenden Inszenierung der bewusst jede kathartische Wirkung verfehlenden sexuellen Abrechnungen die MarkenVersessenheit des Protagonisten für einen zwar originellen, doch eher spleenigen und nebensächlichen Einfall halten mag, summiert sich die sich an den modischen Artikeln einspielende Triangulation zu einer Gesamtwirkung, die dem Werk eine besondere Aussagekraft verleiht. Dies vor allem deswegen, weil im Unterschied zu den sexuell markierten Objekten der Blick auf die Dinge des Bedarfs oder des Luxuskonsums kein geschlechtsspezifischer Blick ist. Aber auch, weil im mimetischen Verlangen den Dingen gegenüber, die Position des Vorbilds, des Rivalen, des Neiders und Bestreiters im Prinzip von jedermann zu besetzen ist und dieses Begehren im Prinzip jeden angeht und auch ansteckt. Ob sexuell markiert oder als Markenprodukt präsentiert, die betroffenen Objekte – wie die Markenprodukte sind auch die zum Sex in die Wohnung bestellten Girls käuflich - sind immer zum Endverbrauch bestimmt. Die nächtlichen DreikörperArrangements in Patricks Wohnung – diese werden jeweils gefilmt, bei der nächsten Sex- und Gewaltorgie zur Stimulierung wiedergegeben und betonen so deren kurzschlüssigen und seriellen Aspekt – sind von einer solchen Grausamkeit, dass kaum plausibel ist, dass sie einem individuellen Vorstellungsbereich entstammen. Die auf den Kamerablick ausgerichteten Positionen und Genitalien, die nicht lösende, sondern Gewalt auslösende Funktion der sukzessiven Orgasmen, der Übergang der körperlichen Berührungen in werkzeugbewehrte Über- und Eingriffe, dies alles scheint weniger einer eigenen, auch imaginären Erfahrung zu entspringen, als dem Drehbuch und besonders dem Schneidetisch von einschlägigen Videoproduzenten, denen es darum geht, die Tötung des Opfers und, wie es dazu kommt, ins Bild zu setzen. Wie die Logik des Endverbrauchs kann auch die Logik des Opfers sowie die Logik der Serie es nicht zulassen, dass gegen den Täter ausgesagt wird. Da der Mörder mit seiner Tat nur leben kann, wenn er die Spur, die zu ihm führt, durch einen neuen Mord verwischt, darf es wie in dem Gleichnis von den bösen Winzern keine Zeugen geben, die für die Schuld des Täters einstehen, auch keine auf einem Datenträger gespeicherten Aufzeichnungen, die von einem Dritten gelesen werden könnten: Elizabeth treibt es mit Christie, beide nackt auf meinem Bett, das Zimmer hell erleuchtet, während ich in dem Louis-Montoni-Stuhl neben dem Futon sitze, ihnen sehr genau zusehe und ab und zu ihren Körper neu in Position bringe. Jetzt lasse ich Elizabeth auf dem Rücken liegen und beide Beine hochhalten, offen, so weit gespreizt wie möglich, und dann stoße ich Christies Kopf runter und lasse sie an ihrer Fotze lecken – nicht saugen, sondern schlabbern, wie ein durstiger Hund – und dabei die Klitoris befingern…[…] Elisabeth läuft nackt aus dem Schlafzimmer, schon voll Blut, mühsam taumelnd, und kreischt irgend etwas Gurgelndes. Mein Orgasmus hat sich lange hinausgezögert, die Entladung war intensiv, und meine Knie sind wacklig. […] … und ich versetze ihr einen ungezielten Hieb mit dem schon nassen Schlachtermesser, das ich mit der rechten Hand umklammere, schlitze ihren Nacken hinten auf und durchtrenne irgendwas, irgendwelche Adern. […]…und ich halte ihren Kopf unten und reibe meinen Schwanz, steif und mit Blut bedeckt, an ihrem röchelnden Gesicht, bis sie regungslos daliegt. In meinem Schlafzimmer liegt Christie noch auf dem Futon…[…] An eine Batterie angeschlossene Jumperkabel sind an ihre Brüste geklemmt, die langsam braun werden. […] Ich knete ihre Brüste mit einer 230 Kombizange durch, zermalme sie, und dann geht alles ganz schnell…[…]… ich lache, als sie stirbt, vorher fängt sie noch an zu weinen… (399 – 403) Zum Endverbrauch bestimmt sind auch die Markenprodukte. Dies sind Konsumartikel, die weniger ein Bedürfnis als einen künstlich erzeugten Bedarf befriedigen. Sie sind begehrenswert, weil sie mit einigem Aufwand und massenmedial beworben, das heißt als von anderen begehrt oder bereits in Besitz genommen dargestellt werden. Wenn die Werbung über Produkte informiert, so primär darüber, dass diese Produkte in der Hand der Schönen, Reichen, Jungen und Erfolgreichen sind und dass folglich ihr Nichtbesitz ein Nachahmungsdefizit und ein Zukurzgekommensein gegenüber den Inkarnationen des Lifestyle zum Ausdruck bringt. Für Patrick Bateman sind die Angst des Zukurzgekommensein und die Furcht vor dem Zukurzkommen unerträglich. Er ist wie der gefallene oder der fallende Engel, den das Fallen, das erlebte wie auch das befürchtete, in Panik versetzt und der mit allen Mitteln gegen den Höhenverlust ankämpft. Es ist die Stärke von American Psycho – und die mimetische Lektüre bringt diese Stärke zum Vorschein -, dass die Erzählung die Endverbrauchsartikel, durch deren Konsum der Protagonist sich auf der Höhe hält, explizit macht und dass sich die Frage des Konsums immer auch als Frage der Rivalenabwehr stellt, wobei die objektalen wie auch die personalen ‚Artikel’ dem Patrick Bateman in einer geschlossenen Front gegenüberstehen und kein Unterschied gemacht wird, ob es gastronomische oder sexuelle Events sind, Boutique-Moden oder high-tech-Geräte, Drogen oder Musikerlebnisse: Ich kippe meinen Drink herunter, kaum dass er da ist, winke sofort nach einem neuen und denke, Courtney ist definitiv Fickfleisch, aber kein Sex kann für dieses Essen entschädigen. Während ich eine attraktive Frau – blond, dicke Titten, enges Kleid, Satinstiefeletten mit Goldspitzen – gegenüber im Saal bewundere, ändert sich das Gesprächsthema drastisch, als Scott mir von seinem neuen CD-Player erzählt, während Anne ahnungslos einer völlig weggetretenen Courtney etwas über neue Sorten natriumarmen Vollkornreis-Kuchens, frische Früchte und New-Age-Musik, insbesondere Manhatten Steamrolle, vorquasselt (144). Häufig und geradezu mit wahnhafter Penetranz wird diese komsumptive Selbstbehauptung und Selbsterhöhung als Modus der Rivalenerkennung und -bekämpfung dadurch gesteigert, dass Patrick seine Erwerbungen mit der Preisauszeichnung versieht, seinen ganzen Konsum also entdifferenziert und auf einen einzigen, monetären Nenner bringt. Dabei unterlaufen ihm Übertreibungen, die sich damit erklären lassen, dass in der von Girard beschriebenen mimetischen Krise das Objekt der Begierde in dem Maß undeutlich wird, wie der Antagonismus der Konkurrenten zunimmt. Nachdem zum Beispiel das Gespräch auf eine David-Onica-Ausstellung kommt und Patrick zugeben muss, dass er die Ausstellung nicht gesehen hat, prahlt er mit dem Besitz eines Bildes von David Onica, dessen Preis Courtney, seine gelegentliche Geliebte und Rivalin seiner verlobten Evelyn, mit zwanzigtausend Dollar angibt. Obwohl der Onica eigentlich nur zwölf Riesen gekostet hat (143), erhöht Patrick: tatsächlich waren es fünfzigtausend (143) und verblüfft seinen Kollegen Scott und dessen Begleiterin: „Aber fünfzigtausend?“ fragt Scott misstrauisch (143). Ob bei einer Einkaufsstour bei D´Agostinos (228) der wirkliche Preis des Diplomatenkoffers von Louis Vuitton 3200 Dollar beträgt, ein Trenchcoat von Gianfranco Ferré 4000 Dollar kostet oder die Preisangabe mit 300 Dollar im Ausverkauf für einen EtroRegenschirm mit Paisleymuster und Holzgriff von Bergdorf Goedman zutreffend ist, 231 kann zuminderst hinterfragt werden, die in der Hitze des Gefechts mit dem imaginären Rivalen absolvierten Fitness-Übungen in Form von zweitausend Klappmesser und dreißig Minuten Seilspringen (228) sind mit Sicherheit als taktische Aufwertung zu verstehen. Wie der Besitz eines David Onica nicht auf Interesse an der Kunst schließen lässt, dürfen Patricks gymnastische Übungen auch nicht als eine Option auf ein gesteigertes Körperbewusstsein gedeutet werden. Patrick trainiert im Fitness-Center, und die Mitgliedschaft beträgt fünftausend Dollar im Jahr (100). Er investiert in die in den mimetischen Positionswettbewerben erforderliche körperliche Fitness: …ich trinke mittlerweile fast zwanzig Liter Evian am Tag und gehe regelmäßig ins Sonnenstudio (153), so dass auch dieses Gut sich in der Einheitswährung ausdrücken und bewerten lässt und somit wall-street-logisch mit allen anderen Begehrensobjekten verrechnet werden kann. Wenn diese durch Bezahlung angeeignet werden – im Restaurant, in der Boutique, bei den Straßenprostituierten -, wird nicht nur der Rechnungsbetrag beglichen. Handelt es sich um die am Automaten gezogenen Hundertdollarscheine, werden sie dem Leistungsgeber ostentativ aus der extrem teueren Gazellenlederbrieftasche heraus gereicht: …sechs Scheine in einer silbernen Geldklammer von Hughlans (395). Bei bargeldlosen Zahlungen, wo je nach der Position des Gegenübers die einfache American-Express-Karte (396) beziehungsweise ihre goldene (417) Version eigesetzt wird, wird der Handelspartner erforderlichenfalls mit dem prestigehaltigen - und biblisch konnotierten - Silberglanz der Platin-American-Express-Karte geblendet, die als Platin-Am-Ex (417) wie eine Waffe gezückt wird, und ihn symbolisch um den im Preis enthaltenen Mehrwert bringt. So wird in American Psycho jeder simple Kauf zu einem Positionskampf mit Angriff und Abwehr und zu einem submedialen règlement de comptes, zu einem Duell, das auf der Zeichenebene geführt wird, während dessen strategische Impulse von den Überwältigungsphantasien der Jäger wie auch der Gejagten gespeist werden. Dass es dabei keine etwa durch einen tiers garant gesicherte Preis- und Qualitätsstabilität gibt, wird dadurch veranschaulicht, dass der Restaurantführer, der autoritativ über die Szene-Lokale von Manhattan Auskunft gibt und die abendlich ausgehenden Yuppies wie ein Radar (50) steuert: „Ich habe den treuen Mr. Zagat mitgebracht“, meint Van Patten, holt den dunkelroten Restaurantführer aus der Tasche… „Hurra“, sagt Price trocken (53), von dem mimetischen Taumel der Konkurrenten erfasst wird. In der Zagat-Rangliste steht das Dorsia scheinbar unangefochten auf dem ersten Platz: Auf meinem Wunschzettel für Weihnachten steht: 1. eine Tischreservierung für Freitag abend acht Uhr für mich und Courthney im Dorsia (250), den es jedoch verliert, als Patrick von Bethany erfährt, dass ihr Freund und voraussichtlicher Ehemann Robert Hall dort Koch und Teilhaber ist: „Ich will es im Zagat ausstreichen“ (333). Die Zagat-Hierarchie der gastronomischen Pilgerstätten wird jedoch unvermutet zum Einsturz gebracht, als ein Wertevermittler auf den Plan tritt, der für den Protagonisten zum Herr der Maßstäbe schlechthin wird, obwohl das Objekt dieses ersten und rein geschmacklichen Bewertungskonflikts nur eine Pizza bei Pastel´s ist, die er brüchig (157) findet, von der er sich jedoch von seinen Kollegen darüber belehren lassen muss, dass Donald Trump sie in einem Zeitungsartikel als erstklassig bezeichnet: „Was ist das?“ frage ich und falte das Blatt auf. „Ein Artikel über deinen Helden, Donald Trump“. […] „Wo gibt´s Donald Trumps Meinung nach in Manhattan die beste Pizza?“ „Lass mich das lesen“, seufze ich und winke ihn weg. „Du könntest dich irren. Was für ein mieses Foto“. […] Ich tue so, als würde ich den Scheißartikel lesen, aber dabei werde ich wütend, muss McDermot den Artikel zurückgeben…[…] „Ich vermute, ich muss die Pizza da noch mal probieren…“ Ich sage das mit 232 zusammengebissenen Zähnen“ […] „Pass auf, wenn die Pizza mit Donny klargeht…“ Ich hasse es, dies McDermot gegenüber zugeben zu müssen; dann seufze ich und sage fast unhörbar: „…geht sie auch mit mir klar“(158). b. ) Externe und interne Vermittlung Es gibt Begehrensdreiecke, in denen sich, wie Patricks Bruder meint, leben lässt. Dies bedeutet, dass der Konflikt mit dem durch die Nachahmung zum Rivalen und Hindernis gewordenen Modell umso leichter auszuhalten ist, je weiter dieser Dritte vom begehrenden Subjekt entfernt ist. Im Idealfall befindet sich dieser Dritte in einem transzendenten Raum, enthält sich jeder irdischen mimetischen Versuchung und Eifersucht und verspricht den Begehrenden, dass sie dadurch, dass sie ihm allein die höchste Verehrung bezeugen und ihn als ihren Herrn anerkennen, gegenseitig auf Distanz gehalten werden, dass sie, wenn sie zu ihm wie zu einem Vater aufschauen, sich miteinander selbst ohne Zuhilfenahme von Opfern versöhnen und brüderlich und schwesterlich miteinander umgehen. Nach der Diagnose des Augustinus, auf den sich Girard bezieht, ist ohnehin das mimetische Verlangen eine Abart des metaphysischen Verlangens, welches nur in Gott gestillt werden kann. Die Chance auf ein stabiles und nicht konfliktives Dreieck ist also nicht jenseits allen Denkbaren. In American Psycho wird diese transzendentale Position nicht mit einer göttlichen Person, sondern mit einer real existierenden Person besetzt, welche zu dem YuppieProtagonisten etwa die gleiche Entfernung aufweist wie der Amadis von Gallien zu dem verarmten Kleinadligen von La Mancha mit seinen Ritterphantasien oder die glanzvolle Pariser Gesellschaft zur provinziellen Emma Bovary mit ihren romantischen Glücksträumen. Donald Trump ist für Patrick Bateman unerreichbar weit entfernt. Zum einen, weil der Reichtum des größten Immobilienbesitzers von New York schier unermesslich ist, und dann auch, weil dieser Reichtum einen realen, sozusagen grundbuchgesicherten Wert darstellt und nicht auf die spekulative Imitation von Iimitationen angewiesen ist. Außerdem ist seine Frau, Ivana Trump, eine öffentliche Person, die sich zwar von der Boulevardpresse interviewen lässt, aber nicht in den angesagten Yuppie-Lokalen verkehrt: Im Lift erzählt mir Frederick Dibble von einer Meldung auf Page Six oder irgendeiner anderen Klatschspalte über Ivana Trump…(94 – 95). […] „Ist das…Ivana Trump?“ fragt sie und späht über meine Schulter: Ich fahre herum. „Wo? Wo ist Ivana?“ „In der Nische beim Vorderraum, die zweite von… „Nein, o mein Gott, o mein Gott, Evelyn“, ächze ich, enttäuscht und am Boden zerstört… „Wie konntest du die Schlampe für Ivana halten?“ (174). Mit seinen Hotel- und exklusiven Geschäftsimmobilien, besonders mit dem hoch aufragenden Trump World Tower: Bewundernd schaue ich auf zum Trump Tower, hoch, stolz glänzend im Sonnenlicht des Spätnachmittags (530), ist Donald Trump nicht nur in der Skyline von Manhattan präsent, mit seinem Büchern imponiert er auch als intellektuelle Autorität für berufliche und soziale Aufsteiger: 687 Ich denke an nichts. 687 Was American Psycho (1991) nicht wissen konnte, Patrick Batemans Trump-Bild jedoch verifiziert: Donald Trump (geb. 1946, Großvater Trumpf stammt aus Baden-Baden) wurde 2004 in einer Umfrage zum ‚meistgeliebten Milliardär’ gewählt. Der Sieger seiner NBC-Fernsehsendung The Apprentice (in drei Serien von 2003 bis 2005) mit einer Durchschnitsquote von – in der Anfangsserie - 26 Millionen Zuschauern, welche die geflügelte Phras you are fired prägte, erhielt einen mit 250.000 Dollar dotierten Ein-Jahres-Vertrag in Trumps Firmenimperium. Der Sieger von 16 Kandidaten arbeitete in 233 Es ist still im Büro. Um das Schweigen zu brechen, deute ich auf das Buch auf dem Schreibtisch neben der San-Pellegrino-Flasche. Die Kunst des Erfolgs von Donald Trump (384). Obwohl der real existierende Donald Trump in seiner How-to-Get-Rich-Strategie 688 durchaus auch riskante Finanzmanöver praktiziert – 1992 muss er die von Patrick gelobte Fluggesellschaft Trump Shutle: Es war sehr angenehm. Der Service wirklich erstklassig (324) verkaufen - und seine amourösen Abenteuer die Bild- und Textseiten der nationalen und internationalen Regenbogenpresse füllen, ist er für Patrick Bateman, dessen Tagebuch seinen Namen über zwanzigmal erwähnt, die absolute Instanz, die bewertet und nicht bewertet wird, gewissermaßen der oberste Währungshüter nicht nur in Sachen der objektalen Güter, sondern auch in Bezug auf die persönlichen Beziehungen. Auf seinem Wunschzettel für Weihnachten rangiert der Milliardär vor Paul Owen, für dessen legendäres Wertpapierdepot sich Patrick doch so brennend interessiert: 2. zur Weihnachtsfeier von Donald Trump auf seine Yacht eingeladen werden, 3. alles Menschenmögliche über Paul Owens mysteriösen Fisher-Account in Erfahrung bringen (250). Im Gegensatz zu dem erfolgreichen Analysten-Kollegen wird der um vieles vermögendere Donald Trump nicht im Geringsten beneidet. Er ist kein Rivale, der Patricks Begehren im Weg steht, kein Konkurrent, der, nachdem er einen Wetteinsatz provoziert hat, diesen sogleich bestreitet. Er beteiligt sich nicht am mimetischen Stellungsspiel. Er lässt es zu, dass auch andere sich in seinem Licht sonnen und dass von seinem Glanz auf sie abfällt, wenn sie dort verkehren, wo er verkehrt: „Trump isst da“ (433), wenn sie seine Vorlieben teilen: …und in der Limousine […] versucht Carrouthers, alle zu beschwichtigen, indem er lang und breit erzählt, dass Donald Trump ein großer U2 Fan (eine irische Band, d. Verf.) sei… (203) und wenn sie, deren korrekte Bezeichnung beachtend, seine Immobilien als Orientierungsmarken anerkennen und für ihre Verabredungen verwenden: „Hör zu“, sagt sie. „Das Bankett der Young Republicans im Pla…“ Sie unterbricht sich, als sei ihr etwas eingefallen, und fährt dann fort: „… im Trump Plaza ist nächsten Donnerstag“ (463). Wie darauf geachtet wird, dass Trumps Namen ehrfurchtsvoll ausgesprochen und unverkürzt widergegeben wird – allein Patrick imponiert seinen Konkurrenten mit dem distanzverkürzenden und imaginäre Intimität stiftenden Donny -, wird beim Blick auf seine Gattin jede erotische Anzüglichkeit vermieden. Ivana Trump ist in Patricks Tagebuch nur unter ihrem Namen und gewissermaßen in madonnenhafter Ferne präsent. Sie hat für ihn keinen Körper, an dem sich weibliche Formen oder die aktuellen Designermoden ablesen lassen, sie existiert außer Konkurrenz und hält sich heraus aus dem Wettbewerb mit den Frauen der Szenelokale, und wenn seine Verlobte versehentlich einen Partygast mit Ivana Trump verwechselt, reagiert Patrick heftig: …ich explodiere fast (174) und nimmt Evelyns Entschuldigung für diesen Fehltritt mit einer aggressiven Geste an: „Sorry“, höre ich sie zirpen. „Kleiner Fehler?“ „Unverzeihlich“ zische ich, beide Augen zusammengekniffen (174). Donald Trump tritt in American Psycho nicht als Akteur auf. Zusammen mit seiner Frau bildet er vielmehr den absoluten Bezugspunkt, dem gegenüber sich die Akteure selbst verorten und ihre jeweiligen Relationen bestimmen. Wie eine Sonne steht er der Projektleitung des neuen Trump-Towers in Chicago. Diese Sendung wurde von RTL kopiert unter dem Namen Big Boss mit Rainer Calmund, in der Schweizer Version als Traumjob mit Jürg Marquard. (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Donald_Trump, Stand: 25.02.2005) 688 Vgl. Donald Trump, TRUMP How to Get Rich, Random House 2004 234 über dem Treiben der Irdischen, eine Lichtgestalt, deren Strahlen, obwohl sie den Pfad des how-to-get-rich beleuchten, nicht als Feuer des Neides zu ihr zurückkehren. Donald Trump ist der unermessliche Maßstab, mit dem sich das Haben- und Seinsbegehren messen lässt, er steht für die Skala, auf der sich die Begehrensabstände skalieren lassen, die Referenz- und Leitwährung, an der sich die Bonität der anderen Währungen und Wertungen orientiert. Besteht die analytische Plausibilität von American Psycho darin, dass diese Erzählung im Sinn der Girardschen Vermittlungstheorie eine nach oben geschlossene Donald-Trump-Skala errichtet und deren Fallhöhe bis auf das Niveau des Protagonisten beschreibt, so gewinnt sie eine gesteigerte diagnostische Aussagekraft dadurch, dass sie die Vertikalität dieser Skala vom Protagonistenniveau aus gesehen konsequent nach unten weiterdenkt und mit dem Decknamen Les Misérables 689 einen Kontrapunkt zum sonnenhaften Begehrensvorbild setzt. In Analogie zu der mechanistischen Wirkungsweise des triangulären Begehrens, wie sie der mimetische Realismus formuliert, würde dann einem absoluten Nachahmen, das durch kein Rivalisieren bestritten wird, ein absolutes Rivalisieren gegenüberstehen, das durch keine Nachahmung eingeholt werden kann. Mit anderen Worten: Zeigt sich in Donald Trump, an der transzendentalen Spitze des Begehrensdreiecks, das absolute Vorbild allen Begehrens, formiert sich am entgegengesetzten Pol mit Les Misérables das absolute Vorbild allen Rivalisierens. Erschließt der Blick nach oben alles, was man noch haben kann und haben muss, enthüllt der Blick nach unten das, was man verlieren kann und demzufolge mit aller Kraft verteidigen muss. Im erzählerischen Stellungs- und Verschiebespiel der Begehrensvermittler – nach Girard geradezu die Paradedisziplin des Romans und von keiner theoretischen Abhandlung erreichbar - verfährt American Psycho insofern recht erfinderisch, als sich zahlreiche Zwischeninstanzen in Form von Begehrensagenten oder Begehrensagenturen sowohl auf der Strecke von Donald Trump bis Patrick Bateman, als auch von dort bis zu Les Misérables identifizieren lassen. Die unterhalb des gottähnlichen Trump angesiedelten und ebenfalls für die Folgen nicht belangbaren Begehrensvermittler wären zu Cervantes’ oder Flauberts Zeiten Ritterbücher, Liebesromane, Modezeitschriften oder fahrende Händler mit einem Musterkoffer der neuesten Pariser Moden gewesen. In American Psycho, dessen Protagonist an der Börse selber als Begehrensanalyst und Nachahmungsmanager tätig ist, sind es Fernsehsendungen, Leih-Videos, Lifestyle-Magazine, Schaufenster, Partys, Poster, Programmhefte, die – in Girards Sprechregelung - die fonction séminale übernehmen und für die erzählerische Chiffrierung: comment reproduire un triangle? zuständig sind. Aus beiden Richtungen, sowohl von der Höhe eines Donald Trump als auch aus der Tiefe der Elenden, kommen die externen Vermittlungen und Vermittler auf Patrick Bateman zu, verlassen nach und nach die mediale Zone und rücken ihm schließlich so nahe, dass sie entmediatisiert, ihm unmittelbar präsent sind und seine Reaktion herausfordern. Während in der externen Begehrensvermittlung gewissermaßen ein Sicherheitsabstand die Konkurrenten voreinander schützt, entpuppt sich in der internen Vermittlung der vermittelnde Dritte als Rivale – im Falle des sexuellen Begehrens als Rivale und Streitobjekt in einer Person – und spitzt sich 689 Etwa dreißigmal ist in den Tagebuchaufzeichnungen die Rede von Les Misérables, einem Erfolgsmusical von Alain Boubil und Claude-Michel Schönberg mit Song-Texten von Herbert Kretzmer, das am 12. März 1987 am Broadway-Theater Premiere hatte. Der Bezug zu dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo und dem Protagonisten Jean Valjean wird nicht thematisiert. 235 der Begehrenskonflikt so zu, dass, wenn der Begehrensverzicht durch Ein- und Umkehr nicht erfolgt, der Konflikt in der ausweglosen Konfiguration von Opferer und Opfer zur Entscheidung drängt. Die externen Vermittler in American Psycho umgeben und umkreisen den Protagonisten in einer solchen zeitlichen und räumlichen Dichte, dass eine reflexive Distanz den Wahrnehmungen gegenüber kaum gewonnen werden kann. Schon am Anfang der Erzählung: schiebt sich ein Bus neben uns, und eine Seitenwerbung für Les Misérables versperrt den Blick (13) und reproduziert Patrick schlagzeilenhafte Politikmeldungen: Also zum einen müssen wir der Apartheid ein Ende setzen. Und das nukleare Wettrüsten stoppen, dem Terrorismus und dem Hunger auf der Welt Einhalt gebieten. Eine starke nationale Verteidigung sicherstellen… […] Wir müssen eine Rückkehr zu den traditionellen moralischen Werten propagieren und Sex und Gewalt in Fernsehen, Film und Popmusik, überall, aufs entschiedenste entgegentreten (29 – 31). Wie zu einer morgendlichen Mediendusche schaltet Patrick zum Frühstück die Patty Winters Show ein – sie fehlt in fast keiner seiner Tagebuchaufzeichnungen, ebensowenig wie das nächtliche Pendant in Form der Late Night with David Lettermann 690 -, in der vor einem Studiopublikum sozialvoyeuristische Themen behandelt werden, die, da die Sendung eine hohe Einschaltquote hat, den Konversationen des Tages häufig Horizont und Material liefern. In dieser Sendung, in der die miserablen gesellschaftlichen Phänomene der Gesellschaft ins Bild gesetzt und damit gleichzeitig ihre Abartigkeit und Marginalisierung unterstrichen wird, wird zwar keine direkte Reaktion seitens der Zuschauer ausgelöst, doch wird gerade durch die Anziehungskraft der abseitigen und abstoßenden Themen eine Front aufgebaut, an der das Beunruhigende, weil es nicht begehrt wird, bedrohlich aufbegehrt und daher aus der gesellschaftlichen Mitte verwiesen werden muss. Als beispielsweise Frauen präsentiert werden, die an Persönlichkeitsspaltung leiden und eine unscheinbare übergewichtige Frau von der Moderatorin interviewt wird, antwortet diese: „Oh, nein, nein, nein. Menschen mit multipler Persönlichkeit sind nicht schizophren“ […] „Wir sind nicht gefährlich“ (49). Es ist die medial vermittelte und daher zunächst nur eine Abwehrhaltung und keine offene Aggression erzeugende Welt der Miserablen, die vorgeführt wird, wenn es um Autismus (95) oder Killer-Ufos geht (165), um Mord an Kleinkindern (196), um Opfer von Haiangriffen (203) oder Überlebende KZ-Opfer (309), um den neuen Sport des Zwergenweitwurfs (236) oder um ein Leben mit 700 Pfund (393), um MöchtegernRambos (127), um Missgeburten (306), misshandelte Frauen (357) oder um einen Jungen, der in eine Seife verliebt ist (411). Stets sind es absolut begehrensunwerte Objekte, die vor Augen gestellt werden; sie lassen jedoch den Betrachter nicht gleichgültig, konditionieren seinen Abscheu und bestärken ihn in seiner Auffassung, dass er dem nichtmiserablen Teil der Gesellschaft angehört, ja dass dieser nichtmiserable Teil der Gesellschaft gegen die Elenden verteidigt werden muss, selbst wenn die Methoden zur Verteidigung und gesellschaftlichen ‚Säuberung’ den Rahmen des politisch Korrekten überschreiten sollten: Heute morgen ging es in der Patty Winters Show um Nazis, und ich sah die Sendung unerklärlicherweise mit echtem Gewinn. Obwohl ich nicht gerade angetan war von den Taten der Nazis, waren sie mir andererseits auch nicht unsympathisch ebenso wie, muss ich hinzufügen, dem Großteil des Publikums (221). 690 David Lettermann (geb. 1947), quotenstarker und hochdotierter TV-Komiker, in Deutschland erfolgreich kopiert von Harald Schmidt bei SAT.1 und ARD. 236 Anhand der Patty Winters Show demonstriert American Psycho aber auch, dass die von Girard in Cervantes’ Roman dagnostizierte médiation externe keine exklusive Externalität besitzt. Während Sendungen über Aerobic (281), Salatbars (315), Schoßtiere (404) oder Lady Dis Schönheitstricks (417) wohl eher unbeteiligt und als Füllmaterial für banale Konversationen zur Kenntnis genommen werden, lassen sich bei den Heimabtreibungs-Sets (456) konkrete, die Mediengrenze überspringende und auch erzählte Folgehandlungen vorstellen, wie auch sexuell getönte Morgensendungen ihre Wirkung und auch ihre erzählte Fernwirkung nicht verfehlen: Heute morgen ging es in der Patty Winters Show um schöne Teenager-Lesben, die ich so erotisch fand, dass ich zu Hause bleiben, ein Meeting verpassen, zweimal abspritzen musste (497). Kann das TV-Morgenmagazin als Sammelbegriff für die Abnormitäten verstanden werden, die alltäglich zur Schau gestellt und gleichzeitig, was die unmittelbare Rückwirkung betrifft, medial einigermaßen unter Kontrolle gebracht werden, sind es in American Psycho die Figuren der hungernden, frierenden und ungepflegten Bettler und Obdachlosen, die den Bildschirm verlassen und ihre fordernde und drohende Botschaft aus dem Untergrund – Dostojewskis Kellerloch wird mit underground übersetzt – auf die Straßen von Manhatten tragen und im Blickfeld des Protagonisten auftauchen. Damit entsteht eine face-to-face-Situation, in der kein Rückzugsraum mehr vorhanden ist; es kann ihr nicht mit Abschalten, Aufzeichnen und Überspielen ausgewichen werden. Nach der Logik der médiation interne, wie sie von Girard in den Romanen von Stendhal, Flaubert, vor allem Dostojewski diagnostiziert wird, treibt der Begehrenskonflikt auf eine Lösung zu, die, wenn es kein Umschalten im Sinne einer Konversion gibt, mit dem Ausschalten eines der Kontrahenten endet. Nachdem mehrmals bettelnde Obdachlose: hässlicher Penner…, der unter einem Müllcontainer…lauert (50) , Penner, der vor einem Restaurant kauerte (63), ein Penner, der schmerzgekrümmt vor einem Müllcontainer nach Essen oder Kleingeld jammert (115) Patricks Weg kreuzen beziehungsweise ihm in den Blick kommen, erfolgt eine erste gewaltsame Konfrontation mit einem Obdachlosen, der zudem ein Schwarzer ist und von einem Hund begleitet wird. Zuerst mit einem ZehndollarSchein, dann mit einem Fünfdollar-Schein gefoppt, der ihm hingehalten und wieder weggenommen wird, wird der Obdachlose als Dieb und Parasit beschimpft: „Hören Sie. Finden Sie es fair, Leuten Geld abzunehmen, die Jobs haben? Arbeitenden Menschen“? […] Mein Hass flammt auf…(186) und dann auf brutale Weise geblendet: Ich strecke die Hand aus, berühre sein Gesicht wieder voll Mitleid und flüstere: „Weißt du, was für ein dreckiger Loser du bist“? Hilflos beginnt er zu nicken, und ich ziehe ein langes, schmales Messer mit gezackter Klinge, und darauf bedacht, ihn nicht zu töten, stoße ich die Klinge etwa einen Zentimeter tief in sein rechtes Auge, lasse den Griff hochschnellen, sofort platzt die Netzhaut auf. […] Ich fasse seinen Kopf mit einer Hand und stoße ihn zurück, halte dann mit Daumen und Zeigefinger das andere Auge offen, zücke das Messer und stoße die Spitze in die Augenhöhle…(187 – 188). Nachdem der Obdachlose durch weitere Messerstiche in den Unterleib und die Handrücken gepeinigt wird, wird auch der Hund als potenzieller Angreifer ausgeschaltet: Dann drehe ich mich nach dem bellenden Hund um, trete ihm, als ich wieder aufstehe, auf die Vorderbeine, während er sich mit gebleckten Zähnen zum Sprung duckt, zerschmettere ich mit einem Tritt beide Läufe (188). Für Patrick Bateman endet diese innere Vermittlung eines negativen Begehrens, und er zieht eine positive Bilanz aus diesem Zusammentreffen mit einem real existierenden Vertreter des Miserablen: Als ich ein näherkommendes Taxi sehe, gehe ich langsam davon. Nachher, zwei Block weiter westlich, fühle ich mich 237 beschwingt, beschwipst, aufgeladen, als hätte ich eben trainiert und Endorphine durchfluten mein Nervensystem, oder als hätte ich gerade jene erste Line Koks genommen, den ersten Zug an einer guten Zigarre getan, mein erstes Glas Cristal geschlürft (188). Die direkte Konfrontation mit den Boten aus der Unterwelt, den Homosexuellen – ein alternder Schwuler (231) -, den bettelnden Kindern: Heute habe ich ein Mädchen zusammengeschlagen, das die Leute auf der Straße um Geld gebeten hat (298), dem Obdachlosen, den er demütigt: „Nimmst du American Express?“ (239), dem Bettler, den er als Vertreter der genetischen Unterklasse (369) bezeichnet, schafft Verhältnisse, in denen sich für Patrick Bateman nicht leben lässt, weil sie Verlustangst erzeugt. Wo er nicht persönlich gegen diese aus seiner Sicht parasitären Gestalten vorgehen kann, glaubt er sogar, sich der Staatsgewalt bedienen zu können: Ohne ihn (Luis Carrouthers, d. Verf.) zu beachten, reiche ich der Verkäuferin meine Platin-Am-Ex-Karte und sage: „Vor der Tür sitzt ein Penner.“ Ich zeige durchs Fenster auf den weinenden Obdachlosen… „Sie sollten die Polizei rufen oder so“ (311). Zu diesen internen Vermittlern, deren negative Begehrensvermittlung darin besteht, den Etablierten in einer drohenden feindlichen Übernahme das in Besitz Genommene streitig zu machen, gehören alle jene, die in Patricks Yuppie-Perspektive als Nichtdazugehörige stigmatisiert werden und die in der Lage sind oder in die Lage kommen könnten, sich gegen ihre Nichtdazugehörigkeit aufzulehnen. Sie umfassen die sowohl sozial als auch ethnisch Marginalisierten: die Judenschlampe (216), den Scheißnigger (296), die EurotrashHardbodies …, die verdächtige Ähnlichkeit mit brasilianischen Transvestiten haben (282), …ein Model. Magersüchtige, versoffene, verklemmte Fotze. Absolut französisch (67) oder eine armenische Schnepfe (68), als auch die ökonomischen Aufsteiger in der Gestalt des japanischen Fahrradboten (254), der von Patrick ermordert wird oder der Japsen (433): Sie sparen mehr als wir und erfinden nicht viel, aber eins können sie, unsere Erfindungen stehlen, sie weiterentwickeln und uns dann damit zuscheißen (206). 691 Verläuft an der Miserablen-Front die Bewegung von der externen zu internen Vermittlung auf einem Weg, der – in exemplarischer Verkürzung - von dem TVAbnormitätenkabinett zu den Obdachlosen und den Marginalen führt, lässt sich auf der Trump-Seite eine ähnliche Degradation und konfliktive Erhitzung des Verlangens nachzeichnen. Auch dort agieren Vermittler zunächst in virtuellen Kontakten mit den begehrenden Subjekten, provozieren jedoch ebenso wie im Fall der miserablen Gestalten die antagonistische Situation, sobald sie persönlich die Grenze zu deren Individualsphäre überschreiten. Externe Vermittler sind zunächst sämtliche Agenten und Agenturen, die es verstehen, Produkte, sofern sie nicht der elementaren Bedürfnisbefriedigung dienen, begehrenswert zu machen. Sie verleihen diesen Produkten den Begehrenswert, indem sie sie so bewerben, dass sich ein 691 In dem zitierten Vortrag, den René Girard 1989 in Tel Aviv hielt, in: ders. La voix méconnue du réel, S. 304 - 305, wird die Verwandlung der Imitatoren in Innovatoren ohne Polemik und als eine immer wieder anzutreffende Querelle des Anciens et Modernes beschrieben: « Encore récemment, les Japonais étaient méprisés comme simples imitateurs de l´Occident, incapables de la moindre invention dans aucun domaine. Or ils constituent aujourd´hui, dans des domaines techniques de plus en plus nombreux et diversifiés, la force motrice de l´innovation. […] A l´heure qu´il est, les imitateurs des Japonais – Coréens, Taïwanais – réitèrent le même processus. Les voilà qui se transforment très rapidement à leur tour en novateurs. Ce phénomène ne s´est-il pas déjà produit au XIXe siècle, quand l´Allemagne est entrée en compétition avec l´Angleterre dans la course à la puissance industrielle avant de la surpasser? » 238 inszeniertes Verlangen danach durch Nachahmung in reales Verlangen verwandelt, welches wiederum zu weiterer Nachahmung ansteckt. Sind die Produkte dann mit einem Prestigemehrwert ausgestattet, wirken sie wie die Wertpapiere an der Börse selbst als Vermittler und stimulieren den Wettbewerb der Begehrenden. Endet der Wettbewerb durch Kauf oder Endverbrauch, wird ein Verlust oder Gewinn verbucht, ohne dass damit eine existenzielle Konfrontation ausgelöst wird. Diese externe Vermittlung auf der Trump-Seite ist in American Psycho so allgegenwärtig, dass sich die Erzählung geradezu als Lifestyle-Katalog lesen lässt, dessen gastronomische und Spirituosenabteilung ebenso stilbildend und voller Nachahmens-Wert zu sein beanspruchen könnte wie die Sparte der Designer- und Ausstattungsmoden für Damen und Herren, der Kosmetika, der avantgardistischen Wohnungseinrichtungen, der Unterhaltungselektronik, der Betäubungs-, Aufputschund Fitnessmittel und nicht zuletzt der Popmusik. Fände die Börse der Begehrlichkeiten nicht in Manhattan mit seinen begrenzen Parkmöglichkeiten statt, ist davon auszugehen, dass die großen Luxusmarken in den diversen Statuskämpfen vertreten wären und nicht nur wie im Fall von BMW, Porsche oder Lamborghini äußerst sporadisch zum Einsatz kämen. Es werden in American Psycho über zwanzig Printmedien erwähnt, die beides, Bedrohungsnachrichten aus der Unter- wie Verheißungsbotschaften aus der Oberwelt vermitteln. Was auf der einen Seite die Patty Winters Show ist, sind auf der anderen eher die Hochglanzbroschüren mit ihren detaillierten Produkt- und Anwendungsinformationen. Die auf der Trump-Seite tätigen Vermittler lassen sich pauschal in all den Magazinen verorten, denen Patrick Bateman in seiner Wohnung ein eigenes Designermöbel, einen Zeitschriftenständer von Gio Ponti (43) widmet und von denen wohl Vanity Fair (289) den repräsentativen Titel aufweist. Eine spezielle Rolle ist dabei neben dem Polo-Katalog der Ralph-Lauren-Broschüre (105) vorbehalten, welcher Patrick Bateman wohl sein – auf Nachahmung bestehendes Expertenwissen in Modeangelegenheiten verdankt, um das ihn alle beneiden und das ihm einen beträchtlichen Nachahmens-Wert und Status-Vorteil verleiht. Mit dem gebündelten Katalog-Wissen verblüfft Patrick Bateman seine Konkurrenten. Allein sein Kleidermoden-Repertoire umfasst hundertzwanzig Labels, das ergänzt wird um fünfzehn Schuh-Labels. Wäre die Streuung der Markenprodukte etwas weniger auffällig, läge der Verdacht auf umsichtig praktiziertes product placement oder ein gewolltes branded entertainment nahe. Indem der Protagonist aber nicht nur die Labels der in seinem Gesichtsfeld auftauchenden Bekleidungen identifiziert, sondern zugleich alle einschlägigen technischen Spezifikationen weitergibt, verwandelt er diese Produkte selbst wieder in Vermittler, die die Aufforderung zum Nachahmen, vor allem aber zum Habenwollen, aussprechen, und er macht sie scharf zum Kampf um den Prestigevorteil. Was sich beipielsweise auf den ersten Blick wie eine nuancenreiche, entspannte after-work-Szene ausnimmt, enthüllt sich im Licht der – noch - externen Vermittlung als eine Kampfzone, in der diskrete Waffen in Stellung gebracht werden: Wir drei, Todd Hamlin, George Reeves und ich, sitzen bei Harry´s, und es ist kurz nach sechs. Hamlin trägt einen Anzug von Lubian, ein tolles gestreiftes Baumwollhemd mit Haifischkragen von Burberry, eine Seidenkrawatte von Resikeio und einen Gürtel von Ralph Lauren. Reeves trägt einen zweireihigen Sechsknopf-Anzug von Christian Dior, ein Baumwollhemd, eine gemusterte Seidenkrawatte von Clairborne, Oxfords mit gerader Kappe von Allan-Edmonds, ein Stofftaschentuch in der Brusttasche, höchstwahrscheinlich von Brooks Brothers; eine Sonnenbrille von Lafont Paris liegt auf einer Serviette neben seinem Drink und eine 239 ziemlich schöne Aktentasche von T. Anthony steht auf einem leeren Stuhl an unserem Tisch. Ich trage einen einreihigen Zweiknopf-Anzug aus Wollflanell mit Kreidestreifen, ein mehrfarbiges buntgestreiftes Baumwollhemd und ein seidenes Taschentuch, alles von Patrick Aubert, eine gepunktete Seidenkrawatte von Bill Blass und eine Brille mit ungetönten Gläsern, Gestell von Lafont Paris (127). Die Leichtigkeit, mit der Patrick Bateman die Markenprodukte erzählerisch erfasst, lässt darauf schließen, dass er sich von diesen eine profunde Kenntnis erworben hat. Diese Kenntnis in den verschiedensten Bereichen ist von einer solchen Beschlagenheit, dass sie nicht auf persönlicher Erfahrung beruhen kann. Es ist dies das von den Vermittlern übernommene und insofern nachgeahmte Marken-Wissen, das ihn auszeichnet und wiederum zu dem in seiner Umgebung gesuchten und beneideten Ratgeber macht. Das Nachahmespiel in der nichtkonfrontativen externen Vermittlung wird von ihm perfekt gespielt; in seiner Rolle als gelehrig nachahmender ‚Experte’ wie auch als begierig nachgeahmter Kenner wird er allen Anforderungen gerecht: Was trägt man heute? […] Fragen werden mir beiläufig hingeworfen, unter anderem: Gelten fürs Tragen eines Einstecktuchs dieselben Regeln wie für weiße Dinnerjacketts? Besteht überhaupt ein Unterschied zwischen Deckschuhen und TopSiders? Mein Futon ist jetzt schon durchgelegen und unbequem – was lässt sich da machen? Wie beurteilt man die Qualität von CDs vor dem Kauf? Welcher Krawattenknoten ist zierlicher als der Windsor? Wie bleibt ein Sweater elastisch? Irgendwelche Tips beim Kauf eines Lammfell-Mantels? (543 – 544). Wie einem Ausstellungsprospekt samt Betriebsanleitung entnommen ist die Beschreibung einer Sofaecke in Patricks Wohnzimmer, welche das Verfahren der aus Imitation gewonnenen Innovation aufdeckt: Das Gemälde blickt herab auf eine weiße daunengefüllte Couch und einen Digital-Fernseher von Toshiba mit 75-ZentimeterBildröhre; es ist ein hochauflösendes Modell mit Farbkonturschärferegelung und High-Tech-Cube-Combination von NEC mit digitaler Bild-in-Bild-Funktion (und digitalem Standbild); zum Audioteil gehört ein eingebautes MTS und ein Fünf-WattPro-Kanal-Ausgansgverstärker. Ein Toshiba-Videoredorder steht unter dem Fernseher in einer Glasvitrine; es ist ein Super-High-Band Betagerät mit eingebauter Schnittfunktion, Acht-Seiten-Charaktergenerator, High-Band-Record und Playback sowie einem Drei-Wochen-Timer mit acht Programmplätzen (42). Ergänzt man das Arsenal der Unterhaltungselektronik um die übrigen Einrichtungsgegenstände, vom Maud-Sienna-Teppich bis zum Ettore-Sottsass-Tastentelefon, vom kostbaren Kristallaschenbecher von Fortunoff bis zu den Toiletten- und Pflegeartikeln im Badezimmer (42 – 44), weist Patricks Wohnung nicht weniger als sechsundfünfzig Markenartikel auf. Wie er am Handgelenk seine Rolex trägt, die er nie ablegt, besteht seine Umgebung geradezu aus Markenprodukten, und er demonstriert die Markenfaszination als ein durch das Begehren anderer vermitteltes Begehren, mit dem er wiederum den Neid und das Begehren anderer entfacht. Wer, wenn nicht ein Markenbesessener, kennt schon die Namen von zweiundzwanzig Sorten Mineralwasser? Ich starre gedankenverloren aus dem Fenster des Taxis, von der Stille, die ich auslöse, mit namenoser Furcht erfüllt, und zähle benommen mechanisch die folgenden Marken auf …(344). Wer, wenn nicht ein ein begieriger, auf den Informationsvosprung erpichter Leser von Gastrokritiken und Restaurantführern, verfügt über ein ebenso umfangreiches wie taktisch einsetzbares Repertoire an Menus? Sie sagt kein Wort, bis wir an einem mittelmäßigen Tisch im hinteren Bereich des Hauptspeiseraums sitzen, und dann auch nur, um einen Bellini zu bestellen. Ich bestelle zum Dinner die Shadrogen-Ravioli mit Apfelkompott als Vorspeise und den Fleischkäse mit Chèvre und Wachteljus als Hauptgericht. Sie 240 bestellt Red Snapper mit Veilchen und Pinienkernen und als Vorspeise eine Erdnussbuttersuppe mit geräucherter Ente und Kürbispüree, was sich merkwürdig anhört, tatsächlich aber ganz gut schmeckt. Das New York Magazine nannte es ein „verspieltes, aber geheimnisvolles kleines Gericht“, und ich erzähle das Patricia, die sich eine Zigarette anzündet, dabei mein brennendes Streichholz ignoriert, beleidigt in ihrem Stuhl hängt, mir den Rauch direkt ins Gesicht bläst…[…] Das Dinner dauert zwar nur neunzig Minuten, es kommt mir aber vor, als würden wir schon eine Woche in Barcadia sitzen, und obwohl ich keine Lust habe, anschließend in den Tunnel (Nachtlokal, d. Verf.) zu gehen, erscheint das doch als eine angemessene Strafe für Patricias Verhalten. Die Rechnung beläuft sich auf 320 Dollar – weniger als ich eigentlich erwartet habe -, und ich bezahle mit meiner Platin-Am-Ex (114). Obwohl die Markenfaszination eine starke Abhängigkeit von dem Beispiel gebenden und vorbildlichen Modell darstellt, bewahrt Patrick Bateman insofern und so lange einen Rest von Souveränität, wie dieses an der Markenbörse spekulierende und Wert setzende Modell eine abstrakte und anonyme Größe bleibt und er sich vor allem des Vorsprungs vor den Mitbegehrenden sicher sein kann: „Wie ist die Basswiedergabe bei solchen Lautsprechern?“ fragt er (Scott, d. Verf.) misstrauisch. „Tiefste Grenzfrequenz bei fünfzehn Harz“, säusele ich, jedes Wort betonend. Das bringt ihn für eine Minute zum Schweigen. […] Ich lehne mich zurück, zufrieden, dass ich Scott den Mund gestopft habe, aber leider gewinnt er zu schnell seine Fassung wieder… (145) Von dem Augenblick an, wo diese seinen Vorsprung in Frage stellen oder gar aufholen und, anstatt als ferne Dritte in den Katalogen, in seinem Aktionsraum als direkte Gegenüber und Nachbarn auftauchen, wird aus der externen eine interne Begehrensvermittlung, was zur Folge hat, dass der Funke des Neids und des nachgeahmten Begehrens die kurze und rückraumlose Distanz zwischen den nächsten Umstehenden überspringt. Im äußersten Fall ist die Distanz der Konkurrenten so gering, dass nicht einmal mehr eine Platin-Am-Ex-Geste als Girardsches sacrifice émissaire die notwendige Redifferenzierung zu leisten vermag und die entweder mit der Konversion oder mit der Katastrophe aufzulösende Devise ausgerufen wird: à nous deux! Parallel zu den Obdachlosen und Marginalen, die als gefährliche und daher auszuschaltende Habenichtse Patricks Weg kreuzen, sind es auf der Trump-Seite die Yuppie-Konsorten beiderlei Geschlechts, die entweder tatsächlich oder auch nur vermeintlich in beruflicher und sexueller Hinsicht von Erfolg und Glück begünstigt sind und damit den von Patrick beanspruchten Vormachts-Status in Frage stellen. Da ihre Eliminierung bis auf wenige Ausnahmen sich als nicht machbar erweist, behilft sich Patrick Bateman mit Ersatzopfern in der Gestalt von Models und Prostituierten und lässt sich dabei – analog zu der Patty Winters Show für die Marginalen - von Gewalt- und Horrorvideos anleiten, die er per Abonnement in großen Mengen konsumiert. Wie der Blick auf die Rolex und das Verfolgen der morgendlichen TalkShow gehört der Gang zur Videothek zu den Taktgebern in American Psycho. Die Mitgliedschaft bei VideoVision kostet jährlich nur zweihundertfünfzig Dollar (161), und die Videos, die Patrick ausleiht, She-Male Reformatory und Ginger´s Cunt, werden aus einem Tresor im Hinterraum des Ladens hervorgeholt. Doch eigentlich interessiert er sich nur für einen einzigen Titel, Der Tod kommt zweimal, den er schon 37mal ausgeliehen (161) hat und in dem er am liebsten die Stelle mag, wo die Frau…von diesem Schlagbohrer im Film…durchbohrt wird (162). Wenn nun aber die Hochglanzphotos in den Magazinen: Ich kaufe Lesbische Vibrator-Nutten und Fotze auf Fotze (104) ihre kathartische Funktion nicht mehr erfüllen, wenn neben den 241 Horror-Videos auch die Einnahme der jederzeit verfügbaren Psychopharmaka den drohenden Souveränitätsverlust nicht mehr wettmacht und wenn auch die ‚leichten’ Ersatzopfer der Obdachlosen oder der über einen Begleitdienst in die Wohnung bestellten Girls das mimetische Verlangen nicht mehr ruhig stellen können, erfüllen auch die Markenprodukte und das an ihnen demonstrierte Expertenwissen nicht mehr die ihnen zugedachte Fetischfunktion, und es steht der Konfrontation der Nachbarn als den Akteuren und Aktanten der internen Begehrensvermittlung buchstäblich nichts mehr im Wege. Auf der Jagd nach dem Fisher-Account, die sich wie eine Grals-Suche durch die ganze Erzählung hindurchzieht, stößt Patrick Bateman auf Paul Owen und räumt ihn als Hindernis beiseite. Er tötet ihn jedoch nicht nur, weil er beruflicher Rivale ist. Paul Owen rivalisiert mit Patrick Bateman um Courtney, welche die Geliebte von Luis ist, welcher wiederum Patrick gegenüber seine homosexuellen Neigungen zu erkennen gibt, die dieser nicht erwidert. Paul Owen erhöht also Patrick gegenüber den Begehrens-Wert von Courtney und fungiert als Vorbild und Hindernis in einer Person: Courtney küsst Paul Owen auf die Wange, und schon halten beide Händchen. Ich erstarre und bleibe stehen (261). Nachdem Paul Owen ausgeschaltet ist, ist auch die wichtige Rolle des Mitbegehrenden im Falle von Courtney nicht mehr besetzt, mit der Folge, dass ihr erotischer ‚Kurswert’ so weit sinkt, dass Patrick von der ersehnten Liebesnacht mit ihr enttäuscht ist: Ich bin in Courtneys Bett. Luis ist in Atlanta, Courtney zittert, presst sich gegen mich, entspannt sich. Ich rolle von ihr runter auf den Rücken, lande auf etwas Hartem, das mit Fell bedeckt ist. […] Ich kann kaum ihr Gesicht in der Dunkelheit sehen, aber ich höre das Seufzen, schmerzlich und tief, das Geräusch einer aufschnappenden Medizinflasche, ihren Körper, der sich im Bett umdreht. […] Ich… stehe auf, nehme eine Dusche (496 – 497). Wenn im inneren Kreis des vermittelten Begehrens mit Bethany und Owen nur zwei prominente Opfer zu verzeichnen sind, liegt dies nicht nur daran, dass Patricks physische Möglichkeiten als mörderischer Supermann begrenzt sind; wie die Ökonomie des mimetischen Begehrens einen funktionierenden Markt von Gütern und Interessenten voraussetzt, benötigt Patrick Bateman ein Publikum aus Nachahmern und Vorbildern. Wenn er nur dazugehören will: „Ich will doch…“ Ich sehe die Skyline und murmele wie ein Kind vor mich hin: „… doch nur, dass es weiterläuft“ (542), darf sich dieser innere Kreis nicht auflösen, und an der Stelle der Rivalen und Hindernisse, die sich in diesem Kreis aufbauen, müssen Ersatzopfer die kathartische Wirkung besorgen. Weil diese trotz oder gerade wegen ihrer großen Zahl die erstrebte Wirkung aber stets verfehlen, obwohl oder gerade weil sich am Rand des Kreises die Schwelle zur Gewaltanwendung mehr und mehr senkt, scheint sich der Dante-Satz zu bewahrheiten: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren… c. ) Konversion Die Frage, ob eine Erzählung die Gegenwart des Vermittlers nur abbildet und inszeniert oder sie enthüllt und durchschaubar macht, ist bereits für den frühen Girard des Mensonge romantique der literarturkritische Prüfpunkt schlechthin, die narrative ‚Sollbruchstelle’, an der sich herausstellt, ob der Erzähler den mythischromantischen Traditionalisten oder den antimythisch-romanesken Aufklärern zuzurechnen ist. In der erzählerischen Bewegung, die auf diesen Punkt hin führt, 242 kann und muss die Frage nach dem Wesen des oder der Vermittler offen bleiben; es ist dies die Bewegung, die der den Riten ‚abgelauschten’ mimetischen Sequenz entspricht und wo aus einem zufälligen Anlass durch reziproke Nachahmung ein explosiver kritischer Zustand entsteht, der nach dem seit Anbeginn der Welt kulturell eingespielten violence-et-sacré-Verfahren durch dosierten Gewalteinsatz – stets bis auf weiteres - gemeistert wird. Wohin die Erzählung letztendlich führt, wird in der Konklusion sichtbar. Ob der Protagonist ähnlich dem Initianden in der Wassertaufe aus dem gefährlichen Element wieder auftaucht und im hellen Licht und bei reiner Luft seine Wiedergeburt feiert, oder ob er sich aus dem Sog und der Faszination der Untiefen nicht herauswinden kann, entscheidet sich in der Konklusion. Diese ist entweder der Ort einer Läuterung und Umkehr – prototypisch dargestellt durch den Don Quixote, der sich am Ende seines Lebens und seiner Irrfahrten lossagt von seinem faszinierenden Vermittler, sich mit Gott und der Welt versöhnt und seine Identität findet - oder der Ort der wenn auch versuchten, so doch verweigerten Umkehr und verpassten Auferstehung, wie sie beispielsweise Camus’ Meursault verkörpert. Für Girard ist jedes ernsthafte Romanprojekt gleichzeitig eine religiöse Erfahrung, eine Experiment, welches durch die Beobachtung von menschlichem Verhalten eine Aussage darüber treffen soll, ob es menschengemäß ist, die primären und mimetisch gesteuerten Handlungsimpulse binden zu lassen und Bedingungen und Bindungen für das Zusammenleben zu akzeptieren, oder ob es vielmehr menschengemäß ist, den primären Impulsen, deren animalische Basis Girard immer wieder betont, freien Lauf zu lassen. Im Vorwort zu American Psycho wird die religiöse Dimension des Romanprojekts insofern auf das profan-kulturelle Maß umformatiert, als der Autor die 1938 geborene amerikanische Schriftstellerin Judith Martin 692 - ihr pen name ist Miss Manners - mit einem Wort zur vorherrschenden Zeitströmung der Emanzipation und Selbstverwirklichung am Ende des 20. Jahrhunderts zitiert: Einer unserer Irrwege war die rousseauistisch-naturalistische Bewegung der sechziger Jahre, deren Credo lautete: „Warum nicht einfach aussprechen, was einem durch den Kopf geht?“ Zivilisation erfordert ein Mindestmaß an Beherrschung. Wenn wir alle unseren Impulsen nachgeben würden, würden wir uns gegenseitig umbringen (12). Das gegenseitige Sich-Umbringen, vom symbolischen Ausstechen des Rivalen mit Hilfe der Visiten- oder Kreditkarte bis zum physischen und technisch ausgefeilten sowie teilweise kannibalistisch motivierten Abschlachten des unbezwingbaren Hindernisses, wird in American Psycho dem Leser als unabdingbare Konsequenz der mimetischen Krise mit schonungsloser Härte vor Augen geführt. Was an dem zum Serienmörder gewordenen Protagonisten explizit wird, ist nicht die Banalität des Schrecklichen oder das Agieren in einem ganz eigenen amerikanischern Traum, 693 es ist die erzählerisch schlüssig und bis ins grausame Detail durchgerechnete Reaktion auf seinen immer wieder gescheiterten Versuch, die Anerkennung und Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen, in einer harmonischen Beziehung mit seiner Umwelt zu leben und dadurch auch die für das Selbstakzeptanz notwendige Gelassenheit aufzubringen. Auch wenn das verwendete Metaphernmaterial die apokalyptische Aufladung weitgehend kaschiert, kann American Psycho als ein Endzeitbericht gelesen werden, als Bericht über das Ende einer Epoche, in dem die Quittung für die hedonistischen Heilsversprechungen präsentiert wird, welche in der Kulturrevolution der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts verkündet und mit flower 692 693 Vgl. Judith Winter, Miss Manners Guide to Excruciatingly Correct Behaviour, New York 2005 so die Publizistin Elke Heidenreich im Klappentext der vorliegenden Ausgabe. 243 power gefeiert wurden. In einer Welt des schrankenlosen Begehrens, welchem eine unendliche Produktion von Gütern sowohl vorausgeht als auch nachfolgt, wird ein jeder eines jeden Vorbild, gleichzeitig ein jeder eines jeden Rivale und ein jeder eines jeden Hindernis, das gewaltsam zu beseitigen ist. Und da der mimetische Furor - nach der Analyse von Girard, besonders aber auch von Calasso – nicht mehr wie in den archaischen Religionen durch dosierte Injektionen sakraler Gewalt zu stoppen ist und Gewaltstreiche anderer Art sich wegen der Unabschätzbarkeit der Folgen verbieten, scheint es in der Tat keinen anderen Ausgang zu geben als das finale no exit am Ende der Erzählung, wo es die kontrapunktische Antwort auf den Danteschen Prolog spricht. Zu fragen ist indes, ob die resignative no-exit-Bilanz, die, nachdem alle Opferungen sich als unwirksam erwiesen haben und auch die öffentliche polizeiliche Gewalt der Raserei nicht Einhalt gebieten kann, wirklich unausweichlich ist. Wenn nicht, wird zu zeigen sein, ob und gegebenenfalls in welcher Situation Patrick Batemans Trajektorie in eine andere Richtung hätte weisen können als in die des unersättlichen monströsen Serienmörders. Der innere Kreis um Patrick Bateman öffnet und verliert sich. Die Verlobung mit Evelyn wird aufgelöst. Courtney, von Evelyn gehasst und von Patrick begehrt, heiratet Luis, dessen homoerotische Neigung zu Patrick von diesem mit Demütigung und sogar Morddrohung beantwortet worden war. Die nächstliegenden Anhaltspunkte für das trianguläre Begehren sind also gelöscht. Auch hier kein Anschluss: no exit. Enthielte American Psycho nicht auch den Versuch, dem Lauf der Geschichte um Patrick Bateman eine andere Wendung zu geben, gehörte das Werk zu den récits contemporains, von denen Girard behauptet, dass ihnen das romaneske Format fehlt und sie sich darin gefallen, den mimetischen Rausch abzubilden, anstatt ihn zu durchschauen, dessen Reflex zu sein und nicht dessen Revelation. In äußerster, von mensonge romantique vorgezeichneter Konsequenz wären dies Erzählungen, die, wenn die konversiven Chancen auf dem Weg des Protagonisten nicht sichtbar gemacht werden, nicht nur in dem Sinn mangelhaft sind, dass ihnen etwas fehlt; nach Girards Prüfbestimmungen wären es Werke, die schlichtweg unvollkommen sind, die nicht dem achèvement romanesque der großen Literatur entsprechen und deren inachèvement letzten Endes darauf zurückzuführen ist, dass der Autor in seiner eigenen Biographie die Schwelle zur Desillusionierung und zur Entromantisierung noch nicht überschritten hat. Eine erste potenzielle Wende-Instanz, die aber vergeblich sich darum bemüht, Patrick Bateman zum Umlenken zu bringen, ist seine Verlobte Evelyn. Sie ist es, die Einspruch erhebt gegen die Divinisierung des externen Vermittlers: „Nicht schon wieder Donald Trump“, mault Evelyn. „…Diese Obsession muss aufhören!“ schreit sie fast (273) und den Ikonenstatus von Ivana Trump in Frage stellt, indem sie diese mit einer gewissen Norris Powell (174) verwechselt. Sie ist es, die – mit fast biblischer 694 - Eindringlichkeit die Stimme erhebt und mit der dreimaligen, investigatorischen Frage Rechenschaft über Patricks nächtliches Treiben fordert: „Wo warst du letzte Nacht, Patrick?“ (169). Schließlich ist sie es, die ihre Beziehung mit Patrick auf Dauer stellen, ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen will: Sie berührt meine Hand, meine Rolex, sie atmet noch mal durch, diesmal erwartungsfroh, und sagt: „Wir sollten es tun.“ Ich versuche, einen Blick auf unsere 694 Vgl. Gen 3, 9: „ Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?“, auch Gen 4, 9: „Wo ist dein Bruder Abel?“ 244 Hardbody-Kellnerin zu erhaschen… „Was… tun?“ „Heiraten“, sagt sie und klimpert mit den Wimpern. „Hochzeit feiern.“ […] „Wir sollten es tun“, sagt sie sanft. „Patrick…“ (178 –179) . Patricks Reaktion auf Evelyns Versuch, ihn zu binden und festzulegen, ist jedoch vorhersehbar: „Ich bin siebenundzwanzig. Ich will mich nicht mit einer festen Beziehung belasten. […] Evelyn, ich will nicht, dass du mich irgendwie nennst. Ich finde, wir sollten uns nicht mehr sehen […] Ich will, dass Schluss ist. Ich brauche Sex in regelmäßigen Abständen. Ich brauche Zerstreuungt“ (468 - 469). Evelyn wird zurückgestoßen, weil sie nicht zu denen gehören will, die sich von Patrick ge- und verbrauchen lassen, sondern ihm gegenüber einen eigenen Besitzanspruch anmelden. Sie rivalisiert erfolgreich mit der schönen Courtney, die ihre Konkurrenz fürchtet: „Wo bist du gestern nacht gewesen? Sag bloß nicht bei Evelyn, sonst fängst du dir eine“ (205), der Gefährtin von Luis und der gelegentlichen Geliebten von Patrick: Ich denke an Courtneys Schenkel, gespreizt und um mein Gesicht geschlungen (155), der sich nicht entscheiden will: Courtney hat den etwas besseren Körper, Evelyn die besseren Titten (204). Da Evelyn selbst als Brokerin arbeitet und stabil in die Yuppie-Szene integriert ist, ist sie Patrick gegenüber gleichrangig und ebenso machtbewusst wie er, so dass er befürchten muss, in einer festen Beziehung nur verlieren zu können: Zum ersten Mal geht mir auf, dass ihr Blick in den beiden letzten Jahren weniger mit Anbetung auf mir ruht als mit etwas, das an Habgier grenzt (466). Da Patrick feststellen muss, dass Evelyn ihm die Anbetung verweigert und er sie wegen ihrer Einbindung in die Szene nicht physisch eliminieren kann, praktiziert er an ihr eine symbolische Ausscheidung, die das Scheitern dieses Konversionsversuchs besiegelt. Ein im Männerklo gestohlener und zu Hause mit einer Schokoladencouvertüre eingefrorener Duftstein wird von dem mit einem Fünfzigdollarschein bezahlten Kellner unter einer Silberglocke als Dessert serviert, und Patrick ist befriedigt, Evelyn etwas essen zu sehen, auf das ich und zahllose andere gepisst haben (466). Obwohl die Trennung nicht aufzuhalten ist, erinnert Evelyns Stimme wie ein schwächer werdendes Echo an die vertane Konversionschance und appelliert an die noch verbleibenden Möglichkeiten zu einer auf Desillusionierung und gegenseitige Anerkennung beruhenden Selbstfindung. Parallel zu der dreifachen Frage der investigierenden Gewissenserforschung: Wo warst du? erfolgt der dreifache SinnAppell des quo vadis? in einer Abschiedsszene, die das romaneske Format von American Psycho eindrucksvoll belegt. Nachdem Patrick und Evelyn im Restaurant und mit für die Gäste vernehmlicher Lautstärke sich gegenseitig als Monster tituliert haben, erfolgt Patricks Bruch und Aufbruch: „Ich gehe jetzt“, sage ich besänftigend. „Was mich angeht, ist jetzt alles klar, und ich gehe jetzt.“ „Nicht“, sagt sie und versucht, meine Hand zu fassen. „Geh nicht.“ “Ich gehe, Evelyn.“ „Wo gehst du hin?“ […] „Sag mir, Patrick, wo willst du hin?“ […] „Wo gehst du hin?“ fragt sie wieder. Ich gebe keine Antwort, verloren in meinem eigenen privaten Labyrinth, in Gedanken bei ganz anderen Dingen: Optionsanleihen, Aktienpakete, ESOPS, LBOS, IPOS, Finanzierung, Refinanzierung, Anleihen, Wandelanleihen, proxy statements, 8-Ks, 10 Qs, Nullcoupon-Anleihen, PiKs… (472). Im Unterschied zu Evelyn gehört Jean, meine in mich verliebte Sekretärin (152), nicht zur Schickeria von Manhattan. Ihre Nähe zu ihrem Chef ist über die Akten vermittelt, die sie ihm vorlegt und die Termine, die sie für ihn verwaltet, schließlich über das Vorzimmer, aus dem sie ihm die Telefonanrufe weiterleitet und seine Besucher mit 245 Getränken bedient. Unter dem Gesichtspunkt des triangulären Begehrens definiert sich Jeans Position dadurch, dass sie nicht dem internen Kreis der den Protagonisten umstellenden Vorbilder, Rivalen und Hindernisse angehört, dennoch aber weder auf der Höhe des unerreichbaren externen Vermittlers Donald Trump noch der eines zwar vielbeachteten aber immerhin unter einer gemeinsamen Adresse, fünfundfünfzig West-Eighty-First-Street, American Gardens Haus (375), anzutreffenden ‚Models’ anzusiedeln ist, dem er im Aufzug begegnet: Es ist der Schauspieler Tom Cruise, der im Penthouse wohnt […] Er wirkt in natura viel kleiner und trägt die gleiche schwarze Wayfarer (Sonnenbrille, d. Verf.) wie ich. Er trägt Blue Jeans, eine weißes T-Shirt und ein Armani-Jackett (105). Indem sie sich sowohl aus der inneren mimetischen ‚Kampfzone’ als auch aus dem äußeren Blendungszusammenhang heraus hält, wird sie zur Sekretärin in einer überaus wörtlichen Bedeutung, das heißt zu einer Geheimnisträgerin und confidente an der Schnittstelle der evidenten und der diskreten Vorgänge, wo sich Interesselosigkeit und Engagement gelegentlich überlagern. Die Perspektive einer mimetischen Ruhigstellung durch den Aufbau einer dauerhaften Paarbeziehung ist im Fall von Evelyn getrübt durch eine gewisse Militanz, mit der Evelyn ihre Partnerinteressen vertritt, darüberhinaus auch belastet mit mädchenhaften Illusionen: „Jane Simpsons Hochzeit war so schön“, seufzt sie. „Und der Empfang danach war heiß… Women’s Wear Daily haben eine ganze Seite gebracht.“ […] „Hochzeiten sind so romantisch. Zur Verlobung hatte sie einen Diamantring bekommen. Du weißt, Patrick, ich würde mich nicht mit weniger begnügen“, sagt sie bescheiden. „Es muss ein Diamant sein.“ Ihre Augen werden werden glasig… (177). Im Konversionsexperiment mit der mitwissenden Sekretärin kann das Ausbrechen aus dem mimetischen Zirkel mit größerer Freiheit geprobt werden, weil sich mit Jean die Partnerrolle mit einer Person besetzen lässt, deren Sicht auf Patrick im Unterschied zu Evelyns zwischen Anbetung und Habgier schwankender Hinwendung als authentisch, unmittelbar und unvermittelt verstanden und formuliert werden kann. Ein erstes außergeschäftliches Zusammensein, das noch ganz von Patricks Imponier- und Begehrensgehabe beherrscht ist: Was mag Jean für Bücher lesen? Titel jagen mir durch den Kopf: Der erste Schritt: so lerne ich Männer kennen. Liebe wie am ersten Tag. Geschäftsabschluss: Heirat. In einem Jahr vor dem Altar. Verliebt-Verlobt-Verheiratet. In meiner Manteltasche ertaste ich das Kondometui aus Straußenleder von Luc Benoit, das ich letzte Woche gekauft habe, aber, nein, danke (368), endet mit einer für den in kompetitiven Kategorien befangenen Protagonisten neuen Erfahrung: Und obwohl es keineswegs ein romantischer Abend war, umarmt sie mich und verströmt diesmal eine Wärme, die mir ungewohnt ist (368). Die verwandelnde Wirkung des Dinner in eben dem heiß umkämpften Luxusrestaurant, von dem so oft die mörderischen Eskapaden ausgingen, wird darin spürbar, dass Patrick nach der Verabschiedung von Jean gegen den hässlichen Penner (369) auf dem Weg zur Park Avenue nicht gewaltsam vorgeht, vor allem darin, dass er sich eine harmonische und fröhliche Beziehung mit Jean vorstellen kann: … und dann, hinten im Taxi, auf dem Weg durch die Stadt zu meinem Apartment, sehe ich mich mit Jean an einem kühlen Frühlingsnachmittag durch den Central Park laufen, lachend, händchenhaltend. Wir kaufen Ballons, wir lassen sie fliegen (369). Die zweite Begegnung dieser Art mit seiner Sekretärin findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem Patrick, wie es den Anschein hat, bereits rettungslos in die Mordserie verwickelt ist und die Kontrolle über sich verloren hat: In meiner Garderobe bei Xclusive (Fitnessclub, d. Verf.) liegen drei Vaginas, erst kürzlich aus verschiedenen 246 Frauen herausgeschnitten, die ich in der letzten Woche überfallen habe. Zwei sind abgewaschen, eine nicht. An einer klemmt eine Haarspange, die, die mir am liebsten ist, ziert ein blaues Band von Hermès (510). Anstatt in einem teuren Restaurant treffen sie sich dieses Mal zum Brunch in einem Straßencafé, und ganz unvermutet bringt Jean beim Dessert ihren Chef in allergrößte Verlegenheit, als sie fragt: „Hast du nie den Wunsch gehabt, einen anderen glücklich zu machen?“ (514) Und als Jean die Gesprächsführung übernimmt: „Hör mal, Patrick. Wir müsen etwas besprechen“, sagt sie. „Oder wenigstens möchte ich es besprechen“ (516), sträubt er sich nicht und lässt sich in ein Gespräch verwickeln, das alle Voraussetzungen für eine confessio erfüllt, welche wiederum ein Akt der Reue und ein erster Schritt der Umkehr und Befreiung aus dem Spiegelsaal des mimetischen Begehrens sein könnte: „Ich glaube, es wird… Zeit für mich…mir die Welt, die ich geschaffen habe, anzusehen“, würge ich mit Tränen in den Augen hervor und höre mich plötzlich beichten“. (522) In einem von Jeans Frage angestoßenen inneren Monolog blickt Patrick wie ein plötzlich von allen Illusionen befreiter Don Quixote auf sein Leben zurück, das ihm nun, im Licht einer von Überwältigungsabsicht freien Du-Erfahrung, wie eine unendlich sich dehnende Wüste (516) vorkommt. In dieser Wüste ist es ihm nie in den Sinn gekommen, niemals, Menschen könnten gut sein, oder ein Mann könne sich ändern, oder die Welt könnte schöner aussehen, wenn jemand sich an einem Gefühl, einer Geste, einem Blick erfreut, an der Liebe oder Zuneigung einer anderen Person (516). Einen langen Augenblick erscheint Patrick als der Konvertit, der auf dem Weg ist zur größtmöglichen Annäherung an eine Offenbarung unter der Führung einer Partnerin, entschlossenen, mich in ein neues unbekanntes und Land zu führen (521), zumal es für ihn einen weiteren Grund gibt, sich führen zu lassen: Sie hat einen besseren Körper als die meisten Mädchen, die ich kenne (522), und dieser Körper wird nicht wie sonst üblich als Hardbody und in sexistisch-konsumistischer Weise angesprochen. Um die begonnene Konversion zu vollenden, müsste sich Patrick Bateman allerdings nicht nur gegen sein bisheriges Leben bekennen; er müsste in einem Akt der Lossagung sich gleichzeitig für ein neues Leben entscheiden, in einem Opferakt wenigstens symbolisch die alten mimetischen Markengötzen verbrennen und ein Wendemonument setzen, das die Umkehr – in religiöser Diktion: die Auferstehung - markiert. Wer den Eindruck gewinnt, dass das Konversionsexperiment mit Jean, anstatt einer existenziellen Wette gleichzukommen, eher einen Auswahlcharakter hat und sich demzufolge als eine von mehreren denkbaren Optionen ausweist, wird darauf gefasst sein, dass sein Ausgang ebenso überraschend ist wie sein Anfang. In der Tat entpuppt sich die Affaire mit Jean als ein Sprachspiel, in dem das Ja ihr gegenüber eine von mehreren möglichen Antworten ist. Die weiteren Reaktionen sind: Es ist sowieso jeder austauschbar (522) oder: Ist eh egal. Sie sitzt vor mir, mürrisch, aber hoffend, charakterlos, kurz davor, in Tränen auszubrechen (522 – 523). Wie Jeans Anfangsfrage nach der Glücksmöglichkeit einer enttriangulierten und entmimetisierten Paarbeziehung den Protagonisten verunsichert, konfrontiert dieser am Ende des teils realen, teils imaginären Beichtgesprächs seine confidente ein letztes und entscheidendes Mal mit seiner von fremdmarkiertem Begehren beherrschten Welt. In einem Test, den Jean nicht bestehen wird, obwohl und vielleicht gerade weil das Testobjekt an Banalität kaum übertroffen werden kann, scheiden sich die Geister und klärt sich, warum Patrick über die größtmögliche Annäherung an die Offenbarung nicht hinauskommt und die Wall Street- und 247 Manhattansphäre des uneigentlichen, vermittelten und durch Markierung ausgelösten Begehrens nicht verlassen kann: „Hast du einen Aktenkoffer?“ frage ich schluckend. „Nein“, sagt sie. „Habe ich nicht.“ „Evelyn schleppt immer einen Aktenkoffer mit“, werfe ich ein. „Tut sie das…?“ fragt Jean. „Und was ist mit einem Filofax?“ „Einen kleinen“, gesteht sie. „Designer?“ frage ich misstrauisch. „Nein.“ Ich seufze… (523). Jeans no-name-Organizer hält den Vergleich mit Evelyns Aktenkoffer als Symbol des Dazugehörens zur Welt des pulsierenden Begehrens nicht aus. Und obwohl die Verlobung mit Evelyn aufgelöst ist, kann Jean die freigewordene Position nicht besetzen. Jean hat Patrick einen Blick in ein neues unbekanntes Land werfen lassen, das für einen Augenblick die Faszination eines ‚gelobten Landes’ besitzt: …ich spüre, wie ich mich gleichzeitig nähere und entferne, und alles ist möglich (524), das er jedoch nicht betreten wird, weil er die romaneske Konklusion eines si le grain ne meurt , wie sie Girard den großen Werken der Literatur ablauscht, nicht akzeptiert und sich dafür entscheidet, das Erototop der triangulären Provokation 695 nicht zu verlassen. Das Scheitern der Konversionsversuche mit den beiden aus unterschiedlichen Distanzen operierenden Frauengestalten macht zugleich die Wirkungslosigkeit der anderen von American Psycho ins Spiel gebrachten, jedoch jeweils rasch übergangenen Instanzen plausibel, die hätten als Wendemarken fungieren können. Die Bemerkung An der Ecke der Straße ist eine Kirche. Wen kümmert’s? (525) ließe sich ebenso auf Patricks Elternhaus übertrage: Meine Mutter…versucht zu lächeln, während sie fragt, was ich zu Weihnachten möchte. Es überrascht mich, wie schwer es mir fällt, den Kopf zu heben und sie anzusehen (503), wie auf den Versuch, sich in einem Urlaub in den Hamptons zusammen mit Evelyn vom Kontakt mit der Natur inspirieren zu lassen: Nichts verschaffte mir Erleichterung. Bald wurde alles schal. […] Es wurde Zeit, die Hamptons zu verlassen. […] Auf meinen Vorschlag, eines Morgens beim Frühstück, willigte sie ein, und am letzten Sonntag vor dem Labor Day kehrten wir per Hubschrauber nach Manhatten zurück (391 – 392). Wenn American Psycho den Protagonisten wider alles Erwarten nun doch nicht alle Hoffnung fahren lassen lässt, steht nach den gemachten Erfahrungen fest, dass für etwaige Konversionschancen weder meditative Begegnungen mit der Natur hilfreich sind noch personale Retter in Frage kommen. Dennoch ist es überraschend, wenn Erlösung vom mimetischen Furor sich von einer Seite her anbietet, die permanent dem Verdacht ausgesetzt ist, uneigentliches Begehren zu provozieren und die Begehrenskontamination geradezu zu ihrem Daseinszweck zu machen. Was die Naturbegegnung nicht vermag und die Personen bei aller oder gerade wegen ihrer Attraktivität und Führungsbereitschaft nicht leisten, ist der Musik vorbehalten. Doch wenn es die Ausstiegsschancen sind, die die Musik bietet, legt American Psycho besonderen Wert darauf, dass es nicht Live-Musik: Ich hasse Livekonzerte, doch um uns herum hält es niemand auf den Stühlen, Begeisterungs-Schreie konkurrieren mit dem Radau aus den aufragenden Lautsprecher-Wänden, die sich über uns türmen (204), sondern medial gespeicherte und verbreitete Musik ist, bei deren Wiedergabe Patrick Regie führt und sich nicht der unmittelbaren Konkurrenz mit den Popstars aussetzt. In den drei Tagebucheinträgen, die jeweils einer Pop-Gruppe beziehungswiese einem Pop-Sänger gewidmet sind, Genesis (189 – 195), Whitney 695 Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 406 248 Houston (351 – 356) und Huey Lewis and the News (486 – 496) legt Patrick nicht nur ein musikalisches Expertenwissen an den Tag, das durchaus auf der Höhe der Markenkenntnisse im Bereich der Designermoden und der life-style-Gadgets ist; er spricht dort eine Sprache, die man von ihm nicht kennt. Titel um Titel bespricht er die einzelnen Alben, beschreibt einfühlsam sowohl die musikalischen Arrangements als auch die Themen der Songs, deren jeden er als persönliche Botschaft an die Menschheit und als Minidrama deutet, welches alle angeht und mitnimmt. In diese Welt der Pop-Songs führt Patrick den Leser ein, ohne darauf hinzuweisen, dass alle Hoffnung fahren zu lassen sei. Es ist dies eine Welt der offenen und ehrlichen Kommunikation, in der das Schöne bewundert und bestaunt, das Schmerzhafte beweint und betrauert und das Unerfüllte ersehnt und erhofft werden kann: Aber Whitneys Talent erstrahlt um so heller bei dem überwältigenden „The Greatest Love of All“, einem der besten, stärksten Songs, die je über Selbsterhaltungstrieb und Seelengröße geschrieben wurden. Von der ersten Zeile (Michael Masser und Linda Creed zeichnen hier als Songschreiber) bis zur letzten eine maßstabsetzende Ballade über den Glauben an sich selbst. Es ist ein ausdrucksstarkes Statement und eines, das Whitney mit einer Grandezza singt, die ans Sublime grenzt. Seine universelle Botschaft überschreitet alle Grenzen und erfüllt uns mit Hoffnung, dass es nicht zu spät für uns ist, uns zum besseren zu wenden, sanftmütiger zu werden. Da es in einer Welt wie der unseren unmöglich ist, Mitgefühl mit anderen zu empfinden, haben wir immer noch uns zu bemitleiden. Es ist eine wichtige Botschaft, elementar sogar, und wunderschön ausgedrückt auf diesem Album (353). Wenn einer wie Patrick Bateman aus seinem Tages- und Nachttreiben ausbricht, von Selbsterhaltung im Zusammenhang mit Seelengröße spricht, den Glauben an sich selbst mit Sanftmut verbindet und das solidarische Mitleiden als universelle Haltung postuliert, ist nicht weniger als das Wunder der Auferstehung eines neuen Menschen geschehen. Wer sich erinnert, wie hasserfüllt und grausam der Yuppie gegen die Obdachlosen vorgeht, erlebt einen geläuterten Patrick beim Anhören eines GenesisSongs: Mein Lieblingssong ist „Man on the Corner“, der einzige, den Collins ganz allein geschrieben hat, eine hinreißende Ballade mit hübscher Synthie-Melodie und hämmerndem Schlagzeug im Hintergrund. Auch wenn es leicht von jedem Collins Soloalbum hätte stammen können, da Einsankeit, Paranoia, Entfremdung et cetera von Genesis nur allzu bekannt sind, zeigt es den hoffnungsvollen Humanismus der Band. „Man on the Corner“ beschreibt höchst einfühlsam das Verhältnis zu einer einsamen Figur (ein Penner, vielleicht ein armer Obdachloser?), „that lonely man on the corner“, der einfach herumsteht (191). Patrick Bateman erzählt die Titel eines Albums wie die Kapitel eines Romans, der als Ganzes einer Konklusion zustrebt, in der sich musikalisch wie thematisch eine Vervollkommnung ereignet: Aufwärts ging es für Huey und die Jungs mit dem zweiten Album, Picture This von 1982, das zwei Semihits abwarf,“ Workin’ for a Living“ und „Do You Believe in Love“ […]. Der Sound, obwohl immer noch durchsetzt von New-Wave-Elementen, war mehr Roots-Rock-orientiert als das vorhergehende Album […]. Ihr Songwriting ist raffinierter geworden […]. Sie zeigen mehr Interesse für persönliche Beziehungen…, anstatt sich als junge Nihilisten aufzuspielen […]. Völlig verschwunden ist das Bad-Boy-Image (488- 489). Die einzelnen Titel der Alben fügen sich nach Art der Proppschen Funktionen zu einer Gesamterzählung, deren Konklusion sie andeuten und vorbereiten. Die Synthese, die sich in Patricks Tagebuch-Wiedergabe aus den Songs und Alben ergibt, ist eine Welt, die bei der Suche nach Harmonie vorankommt und die mit Optimismus dabei ist, die 249 individuellen, gesellschaftlichen und globalen Probleme zu lösen. Mit spürbarer Zustimmung notiert Patrick die Themen und Thesen eines der Alben (487 - 496), die nachdrücklich Einspruch erheben gegen die no-exit-Blockade, und entwirft ein Panorama der überwundenen und überwindbaren Spannungen sowie der geheilten und heilbaren Schäden. Neben selbsterklärenden Songtiteln wie „Hope You Love Me Like You Say“, „Is It Me?“ oder “The Only One” finden sich Patricks Kommentare zu den Hörerlebnissen, die sich wie Botschaften aus einer Gegenwelt zu American Psycho lesen: Sehnsucht und Reue klingen in einem Lied an, von einem ergreifenden Song über treue Freunde ist in einem anderen die Rede, Nachteile flüchtiger Bettgeschichten werden betrachtet, einer der eindringlichsten Anti-DrogenSongs, die je geschrieben wurden, wird vorgestellt sowie soziales Bewusstsein, das neu für die Band ist, wird registriert. Während Patrick in einem Song ein Loblied auf das Erwachsenwerden sieht, bestärkt ihn ein anderer in der der Auffassung, dass er kein Song über Mädchen, hinter denen man her ist, sondern eine Auseinandersetzung mit menschlichen Beziehungen ist, ein Aufruf gegen Alkohol und Drogen oder ein Song über harte Lehrjahre und neugewonnene Kompromissfähigkeit. Wer hätte je sich denken können, dass dieser Patrick Bateman sich begeistern lässt für ein Loblied auf feste Beziehungen und die Ehe, dass er auf der CD einen Titel ansteuert, der sich für dauerhafte Beziehungen ausspricht, der sich anhört als eine bezaubernde Ode an Monogamie und sexuelle Erfüllung oder gar die Zeit der Unschuld preist? Nicht weniger überraschend, weil im Kontrast zu den gewaltsamen und verbalen Ausschreitungen gegen Vertreter der ethnischen und sozialen Minderheiten in den USA, ist seine apologetische Deutung, wenn er einen Song hervorhebt, weil er globale Fragen aufgreift, sich für globale Verständigung engagiert und dessen Wiedergabe ein beglückendes Gemeinschaftserlebnis ist. Deutlicher als in der Besprechung der Pop-Alben: Die Lyrics sind positiver und bejahender als alles, was ich im Rock bislang gehört habe (194) kann die Konversion eines Menschen, der sich von seinem falschen früheren Leben lossagt, nicht zum Ausdruck gebracht werden, zumal diese Wende in Patricks Moderation eine überzeugende ästhetische Dichte gewinnt, wenn es von den Songs heißt, sie verströmen warme, luxuriöse Jazzarrangements (352), sind von umwerfenden Streicherarrangements begleitet (353) oder wenn von einer Stimme gesagt wird, sie klinge wie eine makellose, warme Maschine, die fast das Sentiment der Musik überrundet (355). Da die musikalische Konversion jedoch, wie man weiß, völlig folgenlos ist und daher eine rein virtuelle Geste ist, braucht ihr Scheitern gar nicht erst eingestanden und erzählt werden. Während in den Fällen von Evelyn und Jean der Versuch einer Umkehr in eine Konfrontation mündet, die mit der Niederlage des einen Teils, also in einer opferähnlichen Konklusion endet, gleicht das musikalische Konversionsexperiment einem Selbstversuch, bei dem von vorneherein das Kriterium der Verbindlichkeit unterschlagen wird. Wie die Kamera in Patricks Wohnung ohne Anschluss nach außen ist, sind auch der Walkman oder der häusliche CD-Player kurzgeschlossen mit dem, der die CD auswählt und einlegt – und aus eben diesem Grund auch die Livemusik hasst. Indem American Psycho das Bild einer zivilisierten und nach humanistischen Normen sich regelnden Welt entwirft und gleichzeitig dieser Welt eine ausschließlich ästhetische Seinsweise bescheinigt, wird diese Welt als Fatamorgana denunziert, als eine Wirklichkeit, deren Substanz reinen Wunschcharakter hat. Während die versuchten Paarbeziehungen als Ausweg aus dem mimetischen Taumel mit Evelyns offener Wut oder mit Jeans heimlichen Tränen 250 endet, herrscht nach dem Verklingen der Musik beziehungsweise dem Abschalten der Wiedergabegeräte nichts als Schweigen, eine Stille, die eindringlicher als die dialogischen Eingeständnisse die Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit einer Umkehr bezeugt. Es ist das no exit des Schlussakkords, welches die Unmöglichkeit einer romanesken Konklusion besiegelt. Wie die Botschaft der Songs durch einfaches Ausschalten zum Schweigen gebracht werden kann, kann sie sowohl zum Hintergrundgeräusch deklassiert werden: die entspannenden Klänge von Pachelbels Kanon passen irgendwie zu den grell ausgeleuchteten Hochglanzphotos in den Magazinen (104), als auch das Folterwerkzeug ergänzen: Im tragbaren CD-Player, der auf dem Bücherbord über dem Bett steht, läuft eine CD der Traveling Wilburys, um eventuelle Schreie zu übertönen. Ich fange damit an, Torri ein wenig zu häuten mache leichte Einschnitte mit einem Steakmesser… (421). Schließlich erfolgt das sinnfälligste Abrücken von der Musik als Portal in ein neues unbekanntes Land und der Verrat an der Musik als kommunikative Chance dadurch, dass Patricks Tag- und Nachtstationen nicht von musikalischen Hörerlebnissen, sondern von dem Wettbewerb um die neuesten Aufnahme- und Wiedergabegeräte markiert werden: Mitte Oktober wird folgendes geliefert: Ein Audio-Reciever, der Pioneer VSX-9300S, mit integriertem Dolby Prologic Surround Sound Prozessor mit Digitaldelay, 125 Watt Lautsprecherleistung nach vorne und 30 Watt nach hinten und einer InfrarotFernbedienung, die bis zu 154 Programmfunktionen fremder Geräte anderer Marken speichern kann (424). Versteht man die Musik in American Psycho als Platzhalter für den populären Kulturbetrieb mit seinen einflussreichen gesellschaftlichen Sinn-Agenturen, erhält die Ungültigkeitserklärung der dort vertretenen Normen eine gleichsam apokalyptische Dimension. Wenn in der Tat Patrick Batemans Begehren unstillbar und seine Karriere als Nachahmender unaufhaltbar ist und daher die Beseitigung der mitnachahmenden Rivalen erfordert, und wenn in seinem Leben die Verhältnisse explizit werden, unter denen sich die Gesellschaft bildet, enthält American Psycho eine düstere, endzeitliche Prognose und rechnet sich – nach Girards Klassifizierung – eher den Erzählungen zu, die das mimetische Begehren abbilden, anstatt es zu durchschauen. Da American Psycho vor allem in der nächtlichen Szenerie, welche jedoch mehr und mehr an das Tageslicht drängt, eine Geschichte von Kapitalverbrechen ist und demzufolge die Erzählung völlig unbefangen auch als Kriminal-Lektüre betrachtet werden kann, dürfen bei der Einschätzung der Konversionschancen diejenigen nicht übergangen werden, die als polizeiliche Maßnahmen die mimetische Kettenreaktion unterbrechen, das heißt öffentliche und legale Gewalt einsetzen, um den Täter von den Objekten seiner Begierde abzubringen, ihn dingfest zu machen und ihn zur Umkehr zu zwingen. Die Handlungsstruktur des simplen Kriminalromans weicht nicht nur nicht ab von der Girardschen Sequenz der mimetischen Krise und ihrer Bewältigung; sie ist vielmehr – wie auch der Western auf dem Gebiet der filmischen Erzählung - deren populäre und auf die einfachsten Funktionen reduzierte Version: Es wird ein Rivale, das heißt ein Begehrensnachahmer ausgeschaltet. Der Täter, der den Frieden und die Ordnung bedroht, sieht sich in der Position des Einer-gegenalle, und in seiner Verfolgung homogenisiert sich die Gesellschaft zu einer Formation des Alle-gegen-einen, die durch die Mordkommission repräsentiert wird. Die Konklusion und Zwangskonversion erfolgt in der durch das Mandat der bien pensants legitimierten Festnahme des Einen, der seiner gerechten Strafe zugeführt wird und dessen kriminelle Karriere gewaltsam gestoppt wird. Das übermächtige 251 staatliche Gewaltmonopol und die keiner Partei verpflichtete Justiz sind die Garanten, dass am Ende dieser Sequenz nicht erneut Gewalt in Form der Rache entflammt. Obwohl der Anschein aufkommen mag, Patrick Bateman agiere in einem gesetzesfreien Raum, Morde könnten in den Straßanschluchten von Manhattan unbeobachtet geschehen und die Beseitigung der Leichen sei ohne weiteres über den Müllschlucker von American Garden Haus möglich, wird in American Psycho, wenn auch mit überschaubarem Aufwand, die Zwangsumkehr mit Hilfe der staatlichen Gewalt erzählerisch bearbeitet. Wie gering die der legalen Gewalt zugemessene Autorität ist, wird allerdings schon dadurch sichtbar, dass nach dem Verschwinden des von Patrick ermordeten Paul Owen nicht von der New Yorker Polizei, sondern von dem Privatdetektiv Donald Kimball ermittelt wird, den Patrick mit Erfolg in die Irre führt: Als ich ihn zur Tür dirigiere, Pudding in den Knien, astronautenhaft, und aus dem Büro führe, spüre ich doch, obwohl ich leer bin, jeden Gefühls beraubt – ohne mir selbst etwas vorzumachen - , das ich etwas geleistet habe… (385). Und obwohl Patrick nach dem Mord an einem Taxichauffeur steckbrieflich gesucht wird: „Mann, dein Gesicht ist auf’ m Fahndungsplakat downtown“, sagt er ungerührt (539), wird keine amtliche Strafverfolgung gegen ihn erwähnt. Auch hier ist die Ermittlung und die Ahndung des Verbrechens von der staatlichen auf die private Ebene verlagert, was in diesem Fall dazu führt, dass Patrick von einem Kollegen des ermordeten Taxifahrers gestellt wird, dessen Aufklärungs- und und Sanktionsintention wiederum von eigenen Interessen durchkreuzt wird: „Du has Solly kaltgemacht“, sagt er, er kennt mich eindeutig von irgendwoher […]. Er hält das Taxi an und dreht sich zum Rücksitz um. Er richtet die Pistole auf mich. […] „Die Uhr. Die Rolex“, sagt er schlicht. […] „Brieftasche.“ Er wedelt mit der Pistole. „Nur Cash.“ (540 –541). Als es dann schließlich nach dem Mord an dem Saxophonspieler auf offener Straße doch zu einer Konfrontation mit der Polizei kommt: … und nachdem der Knall der Magnum weithin echot und verklingt, zerreißt die Sirene des Streifenwagens die Nacht (480) und sich ein spektakulärer show down durch die Straßen von Manhattan anschließt, werden die Ordnungskräfte trotz Überzahl und trotz Hubschraubereinsatz in eine für sie äußerst verlustreiche Schießerei verwickelt, welcher Patrick, der bei der Flucht mehrere Passanten erschießt, heil entkommt. Während das Eingreifen der Polizei in einem feuerwerksähnlichen Finale verpufft: …Mündungsfeuer blitzt wie im Film […], als ein Querschläger, die sechste Kugel des neuen Magazins, den Benzintank eines Bullenwagens trifft, die Scheinwerfer flackern, ehe er in Fetzen fliegt und einen Feuerball hoch in den dunklen Himmel schleudert, der Scheinwerfer der Straßenbeleuchtung darüber unerwartet in gelb-grünem Flammenregen explodiert, Flammen rasen über die Körper der Polizisten, der Lebenden und Toten, alle Fenster im Lotus Blossom bersten… (482 – 483), rettet sich Patrick in die Anonymität meines eigenen Büros (485). Der Tagebucheintrag besiegelt dann endgültig das no exit auch dieser Konversionschance und bestätigt erneut, dass durch nichts, auch nicht durch externe Einwirkung der infernale Reigen anzuhalten ist: …und die Sonne, ein Feuerplanet, steigt nach und nach über Manhattan auf, ein neuer Morgen, und schon wird die Nacht so schnell zum Tag, dass es fast wie eine optische Täuschung wirkt… (486). Wenn nun also in American Psycho keine der Chancen, aus der Zyklizität des mimetischen Begehrens und seiner gewaltsamen Lösungen auszubrechen, ergriffen wird, wenn die Logik der Rivalität und deren temporäre Überwindung durch das 252 Opfer ungebrochen bleibt und die Erzählung einen mythisch vorgezeichneten Verlauf nimmt, anstatt zur romanesken Befreiung zu führen, so ist gleichwohl festzuhalten, dass die Konversionschancen bewusst gemacht und mit erzählerischem Engagement geprüft werden. Diese Chancen sind vorhanden, lassen sich aber nicht realisieren. Ihre ontologische Qualität ist ästhetisch, musikalisch, von der Präsenz einer Stimmung, einer Erinnerung, eines sich entfernenden Echos. Es sind Signale, die nicht ankommen und zu schwach sind, um einen Ausweg anzuzeigen. 2. Elementarteilchen von Michel Houellebecq (1996) Der Handlungsrahmen: Die von einer Vorrede (7 – 9) sowie einer Nachrede (347 – 357) umschlossene Erzählung gliedert sich in drei Abschnitte, Das verlorene Reich (11 – 104), Die seltsamen Augenblicke (105 – 298) und Emotionale Unbegrenztheit (299 – 344), welche wiederum in mehrere Kapitel aufgeteilt sind, die entweder eine Überschrift tragen oder nur nummeriert sind. In einer mittleren Zone zwischen den Grenzdaten 1882 und 2079 wird das Leben der beiden Halbbrüder Bruno Clément, geboren 1956, und Michel Djerzinski, geboren 1958, erzählt. Während Bruno die letzten Jahre seines Lebens in einer Psychiatrischen Klinik in Verrières-le-Buisson verbringt, wo er den Silvesterabend 1999 zusammen mit den Mitpatienten und dem Pflegepersonal feiert, wird Michel am 27. März 2009 zum letzten Mal von seinen Mitarbeitern gesehen; zwanzig Jahre später auf den Tag genau wird aufgrund seiner Forschungen die erste Synthese zur Schaffung eines neuen Menschen im Institut für Molekularbiologie in Palaiseau durchgeführt. Und wiederum gut fünfzig Jahre später (356) wird die Richtigkeit des Verfahrens zur gentechnischen Menschenbildung bestätigt 1882 wird in einem Dorf in Korsika Martin Ceccaldi geboren, den sein Grundschullehrer wegen seiner Begabung auf die Höhere Schule nach Marseille schickt, von wo aus er nach seiner Ausbildung als Ingenieur für Wasserwirtschaft nach Algerien geht. Aus der 1923 mit Geneviève July geschlossenen Ehe geht die Tocher Janine hervor, die 1945 ihr Medizinstudium in Paris aufnimmt, wo sie Serge Clément kennenlernt, der einer der ersten Fachärzte für kosmetische Chirurgie wird und Fachklinken in Neuilly und Cannes gründet. Nach Brunos Geburt lässt sie sich von Serge Clément scheiden und heiratet Marc Djerzinski, dessen Vater 1919 von Kattowitz nach Frankreich gekommen war und nach der Heirat mit Marie Le Roux bei der SNCF gearbeitet hatte. 1958 wird Michel geboren und Bruno zu seinen Großeltern nach Algerien gebracht. Als Janines Ehe mit Marc Djerzinski, der eine vielversprechende Karriere als Fernsehreporter beginnt, nach zwei Jahren aufgelöst wird, kommt Michel zu seiner Großmutter väterlicherseits nach Charny, später nach Crécy-en-Brie, von wo aus er das Gymnasium in Meaux besucht. Janine geht mit dem Amerikaner italienischer Abstammung, Francesco di Meola, den sie an der Côte d´Azur kennengelernt hat, nach Kalifornien und lebt, nunmehr als Jane, in einer Kommune, die sexuelle Freiheit und den Gebrauch psychedelischer Drogen propagiert. Sie sieht ihre Söhne fünfzehn Jahre lang nicht. Nach dem Tod der Großmutter, die, nachdem sie verwitwet war, von Algier nach Marseille umgezogen 253 war, wird Bruno in ein Internat nach Meaux gebracht und besucht in einer Parallelklasse das gleiche Gymnasium wie sein Bruder. Bruno und Michel kennen sich jedoch nicht, und nur durch Zufall erfährt Michel, dass er einen Halbbruder hat und dass dieser die gleiche Schule besucht wie er. Nach dem Abitur übersiedeln die beiden Scheidungskinder beziehungsweise Halbwaisen nach Paris, wo Bruno, dem sein vorläufig noch vermögender Vater ein Appartement gekauft hat, Literatur studiert, und Michel, der sich im Studentenwohnheim nicht unwohl fühlt, an der Fakultät von Orsay-Paris XI ein Mathematik- und Physikstudium mit großem Erfolg abschließt und eine Doktorarbeit in Molekularbiologie vorlegt. Bruno wird Lehrer in Dijon und versucht sich ohne Erfolg als Schriftsteller. Die Ehe mit Anne, aus der ein Sohn, Victor, hervorgeht, wird nach wenigen Jahren geschieden, und Bruno lässt sich nach Meaux an seine frühere Schule, versetzen. Auf der Suche nach sexueller Erfüllung besucht er die Nudistenkolonien an der Côte d´Azur, wo er Christiane kennenlernt, die seine Geliebte wird und mit der zusammen er in Paris regelmäßig Swingerclubs besucht. Michel, der nach fünfundzwanzig Jahren anlässlich der Bestattung seiner Großmutter seine Jugendliebe Annabelle wieder sieht, macht als Gen-Forscher auf sich aufmerksam, lässt sich aber von seinem Pariser Institut zu einem Sabbat-Jahr beurlauben, aus dem er jedoch nicht zurückhehrt, sondern nach Irland auswandert, um in der Zeit von 2000 bis 2009 an einem dortigen Institut in Ruhe und Abgeschiedenheit weiterzuarbeiten. Annabelle, die sich ein Kind von Michel wünscht und sich als Vierzigjährige auf die Risikoschwangerschaft einlässt, erfährt bei der ärztlichen Untersuchung, dass sie an einem untherapierbaren Krebs erkrankt ist. Bevor der Lebensweg der Halbbrüder in der Klinik beziehungsweise auf der irischen Forschungsstation zu Ende geht, scheiden sowohl Annabelle als auch die an einem unheilbaren Rückenleiden erkrankte Christiane freiwillig aus dem Leben. a. ) Begehrensdreiecke Obwohl die erzählerischen Takte von dem Bruderpaar ausgehen und die beiden Protagonisten zwei Parallelgeschichten zu orchestrieren scheinen, ist nach der Ansage des Prologs das Buch in erster Linie die Geschichte eines Mannes, die räumlich und zeitlich in der zweiten Häfte des zwanzigsten Jahrhunderts…in Westeuropa (7) eingebettet ist. Die Festlegung des Autors auf diesen einen Mann in der Person von Michel Djerzinski macht aus diesem ein symptomatisches Element (27), in dessen Lebensweg vom Halbwaisen zum nobelpreisverdächtigen (7) Wissenschaftler im Rang eines Albert Einstein (336) der kulturgeschichtliche Wandel der gemeinten Epoche abgebildet werden kann, in dessen Kontakten mit anderen Menschen die Gültigkeit der für die menschlichen Beziehungen maßgeblichen Normen diskutiert werden können und in dessen Erlebnissen den Motiven nachgegangen werden kann, die innerhalb des angegebenen Erlebensraums von den metaphysischen Wandlungen 696 (7) zu einer metaphysichen Revolution geführt haben (334). Wenn daher Elementarteilchen den Anspruch eines ‚tableau de 696 Im Original : mutations métaphysiques. Die deutsche Übersetzung wird dem naturwissenschaftlichen Aspekt des Mutationsbegriffs nicht gerecht und erzielt daher nicht die provozierende Wirkung des biologisch-philosophischen Begriff-Paars. Keine Schwierigkeit hat die Übersetzung mit der nicht weniger irritierenden semantischen Grenzüberschreitung im Falle der Übersetzung von Pour une esthétique de la bonne volonté mit Für eine Ästhetik des guten Willens (241). 254 mœurs’ bekräftigt und sich die Girardsche Maxime: Comment reproduire un triangle? auch an einem kulturhistorischen Längsschnitt in Erzählform bewahrheiten soll, darf das Phänomen der Mutationen beziehungsweise das chronologisch beobachtbare Fortschreiten nicht kreationistisch und linear verstanden werden, sondern als ein Prozess im Hinblick auf ein Ziel, für dessen Identifizierung ein zu imitierendes Modell zur Verfügung steht und den Begehrens-Wert bereitstellt. Obwohl sich die Erzählung in ihrem kulturhistorischen Aspekt an die Dreistadienlehre von Comte anlehnt, in welcher in der Endstufe das Heraufkommen der wissenschaftlichen Epoche durch die Unangepasstheit der vorausgehenden, metaphysischen Epoche erklärt wird, entsteht das für die Elterngeneration der Halbbrüder Neue und das aus der Sicht der Kinder Zerstörende in einer mimetischen Reaktion auf die in den USA ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungen: …die Lebensmittelrationierung wurde erst 1948 aufgehoben. Jedoch innerhalb einer kleinen betuchten Randgruppe der Gesellschaft tauchten schon die ersten Anzeichen eines unterhaltsamen LibidinalMassenkonsums auf, der aus den USA kam und sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen sollte (28). In Nachahmung des transatlantischen und von Filmen wie Phantom of the Paradise, Clockwork Orange und Emmanuelle (77) propagierten Modells entsteht zu einer Kultur, die tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt blieb (77) ein antagonistisches Gegenmodell, dessen Siegeszug der prinzipielle Agnostizismus der französischen Republik (79) erleichtert. Zu den bahnbrechenden Erfolgen dieser ‚imitierenden Innovation’ zählt Elementarteilchen die Eröffnung des ersten Vitatop Clubs (77) 1974 in Paris, welcher eine breite Bewegung des Fitnesstrainings und des Körperkults auslöst, sowie die gesetzgeberischen Neuerungen zur Herabsetzung der Volljährigkeit, zur Ehescheidung und zur Abtreibung. Die Welle einer nicht aus eigenem Antrieb, sondern über Modelle motivierten Liberalisierung erfasst über die gesellschaftlichen Neuerungen hinaus auch die Individualsphäre der beiden Kinder. Als Bruno zwei Jahre alt ist, sich seine Mutter von Serge Clément scheiden lässt und sein Bruder Michel geboren wird, dessen Vater, Marc Djerzinski, von einer China-Reportage nicht zurückkommt, verliebt sich Janine in einen der Amerikaner, die die Côte d´Azur besuchen, denn in den USA, Kalifornien, war etwas grundlegend Neues im Entstehen begriffen. In Esalen, in der Nähe von Big Sur, wurden Kommunen gegründet, auf der Grundlage von sexueller Freiheit und dem Gebrauch psychedelischer Drogen, denen eine bewusstseinserweiternde Wirkung zugeschrieben wurde (32). Wird so auf der einen Seite eine – unter kinetischen Gesichtspunkten – positive trianguläre Provokation sichtbar, zeichnet sich bereits hier eine negative Provokation zwischen den Kindern und ihren Eltern ab. Bruno und Michel werden für fünfzehn Jahre bei den Großeltern in Algier beziehungsweise in Crécy-en-Brie abgegeben; von nun an sind die Eltern, vor allem die Mutter, ein Modell der negativen Nachahmung, das heißt ein Objekt der Abschreckung und des Abscheus, und die Beziehungsunfähigkeit der beiden Söhne für die Zeit jenseits des großmütterlichen Bezugs ist auf unkorrigierbare Weise vorgezeichnet. Janine, die über ihren Geliebten Francesco di Meola das kaliformische Modell imitiert, hat ihrerseits vor der Bekanntschaft mit dem Amerikaner der schwer zu klassifizierenden Kategorie der Vorläufer (27) angehört, die sich dadurch auszeichnen, dass sie außergewöhnliche geistige Fähigkeiten erkennen lassen, die sich mit einem äußerst unabhängigen Charakter (27) verbinden. Sie hat nicht nur mir dreizehn Jahren ihre Unschuld verloren, in ihren Pariser Studienjahren war sie von der Sagan-Clique fasziniert, obwohl sie zu diesem Milieu trotz ihres Geldes keinen Zugang (30) hatte. Indem in Elementarteilchen die Vorläufer weder 255 den Revolutionären noch den Propheten zugerechnet werden, wird ihre nachahmende Rolle zwar kenntlich gemacht, es bleibt allerdings offen, inwieweit diese Nachahmung auf die von Girard postulierte anthropologische Begründung zurückgreift, oder ob es sich bei ihr nicht eher um einen soziologisch zu erfassenden Reflex handelt, wie es der von Auguste Comte, Gabriel Tarde und Emile Durkheim ausgedrückten Denkweise entspricht. Da die Vorläufer-Protagonisten in Elementarteilchen: zu denen gehören, die zum einen sehr stark der von der Mehrheit ihrer Zeitgenossen geführten Lebensweise angepasst sind, zum andern aber darum bemüht sind, diese Lebensweise „von oben her“ zu überwinden, indem sie sich für neue Verhaltensweisen einsetzen oder zur Verbreitung von noch wenig bekannten Verhaltensweisen beitragen…(27), muss und kann ungeklärt bleiben, ob das durch sie konstituierte Begehrensdreieck eher soziologisch oder eher anthropologisch zu deuten ist. Entscheidend ist, dass die angestrebte Veränderung mehr ein Produkt des Mitläufertums als eine Vorläuferleistung ist, dass historisch wirksame Bewegungen, auch wenn sie sich avantgardistisch oder revolutionär geben, keine Neuerung im Sinn einer creatio ex nihilo darstellen, sondern ihre Attraktivität und Faszination stets einem Modell schulden, und dies im positiven Habenwollen wie im negativen Vernichtenwollen. In Abwandlung der von Girard formulierten fonction séminale de la littérature würde dies bedeuten, dass ein Don Quixote, der in den fünfzigerJahren des 20. Jahrhunderts die westeuropäische Kultur- und Medienlandschaft durchlebt, anstatt Ritter-Romane zu lesen und Fechtübungen zu absolvieren, ins Kino und in den Fitness- und Ferienclub gehen würde und sich dort die Kopiervorlagen für sein Verhalten, seine Ansprüche und seine Wünsche besorgte. Dass auch auf der Ebene eines ‚quixotesken’ Kollektivs die trianguläre Provokation wirksam ist, wird nicht nur in der Faszination durch das amerikanische Modell demonstriert; der Blick nach Osten – Michel lernt als zweite Fremdsprache Deutsch (54), die fernöstliche japanische Konkurrenz gab es damals noch nicht (55) - wie auch nach Norden gilt soziokulturellen Modellen mit einer hohen Ausstrahlung auf das eigene kollektive Verhalten, wie Bruno in einem Bericht über den FKK-Strand von Cap d´Agde notiert: Ich möchte hier erneut den Begriff der ‚sozialdemokratischen Sexualität’ einführen, da ich dazu neige, darin eine ungebräuchliche Anwendung der gleichen, jedem Vertrag gegenüber erforderlichen Eigenschaften wie Disziplin oder Respekt zu sehen, die es den Deutschen ermöglicht haben, im Abstand von nur einer Generation zwei ausgesprochen mörderische Kriege zu führen, ehe sie in einem Land, das zu weiten Teilen in Trümmern lag, wieder eine starke, exportfreudige Wirtschaft haben aufbauen können (251). Wenn es auch möglicherweise tradierte Vorstellungen sind: Dänemark und Schweden, die den europäischen Demokratien auf dem Weg zur wirtschaftlichen Angleichung als Vorbild dienten, standen ebenfalls Pate, was die sexuelle Freiheit betraf 697 (71), zeigt sich doch auch darin, dass es nicht die ‚richtigen Ideen’, die spontanen Regungen oder die unvermittelten und bedingungslosen Missionen sind, die ein Begehren leiten, dass vielmehr in der Begehrensregie immer auch ein Dritter am Werk ist. Was für die Generation der Eltern der beiden Halbbrüder gilt - Brunos Vater hat sich im Dienst der Verführungsindustrie (28) als Schönheitschirurg etabliert, jedoch den Boom der Silikonbrüste und der Penisverlängerung verpasst - : Es gibt kein einziges Beispiel für eine aus den USA kommende Mode, der es nicht in wenigen Tagen gelungen ist, Westeuropa zu überschwemmen (81), trifft in den siebziger Jahren für die Generation 697 Le Danemark et la Suède, qui servaient de modèle aux démocraties européennes dans la voie de l´égalisation économique, donnèrent également l´exemple de la liberté sexuelle (82). 256 der Söhne ebenso zu: Das Musical Hair, das das Ziel verfolgte, die sexuelle Befreiung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte großen Erfolg. Die Oben-ohne-Mode verbreitete sich schnell an den Stränden im Süden. Innerhalb weniger Monate stieg die Zahl der Sexshops in Paris von drei auf fünfundvierzig (54). Da die romaneske Erzählung nur beiläufig den Auftrag zu erfüllen hat, ihre Personen eine historische Zeit durchqueren zu lassen und ihren Motiven eine kulturgeschichtliche Verortung zu verleihen, fungieren auf der soziokulturellen Ebene die dreipoligen Positionen der Nachahmer, der Nachgeahmten und des in der Nachahmung begehrten Objekts eher als ein Resonanzraum oder eine diskrete Folie, die die Kulisse bildet, vor der die realen Akteure ihre Reaktionen, Reflexionen und Beziehungen inszenieren. Umso mehr ist zu erwarten, dass, sollte sich Girards These von der mimetischen Natur des Wollens und Sichbehauptens bewahrheiten, eine Fülle von Belegen gewonnen werden kann, wenn die Dreiecksproben auf der Ebene der Individuen angestellt werden. Brunos erste Erinnerung stammt aus seinem vierten Lebensjahr und ist die Erinnerung an eine Demütigung. Im Kindergarten in Algier sollten die Jungen für die Mädchen aus Herbstblättern Girlanden fertigen und sie ihnen um den Hals legen, was allen außer Bruno, dem die Blätter in der Hand zerbröseln, gelingt:…alles ging in seinen Händen kaputt. Wie sollt er ihnen erklären, dass er Liebe brauchte? Wie sollte er ihnen das ohne die Blättergirlande erklären? Brunos erste Erfahrung einer Konkurrenzsituation endet mit einer schmerzenden Niederlage: Er begann vor Wut zu weinen (42), und die Übermacht der Rivalen sollte sein Scheitern in den späteren triangulären Kompetitionen vorwegnehmen. Denn auch in den im Internat üblichen Rangkämpfen, die häufig mit brutaler Gewalt ausgefochten werden, stellt sich heraus, dass Bruno als Omega-Tier (51) auf den letzten Platz abonniert ist und keine Chance hat, durch einen Sieg über das Beta-Tier die Alpha-Position zu erreichen. Schließlich wird ihm auch als Heranwachsender bewusst, dass er mit seinen Konkurrenten nicht mithalten kann. Als er die Ferien in der Villa seiner Mutter in Cassis verbringt und zusieht, wie Janine, die sich jetzt Jane nennt, Hippies als jugendliche Liebhaber zu sich einlädt, ist ihm klar, dass er im dreipoligen sexuellen Begehren zwar präsent ist, aber nie aus der Verliererecke herauskommt: Sie badeten nackt in kleinen Felsbuchten. Bruno weigerte sich, seine Badehose auszuziehen. Er fühlte sich kalkweiß, winzig, abstoßend und dick. Manchmal nahm seine Mutter einen der Jungen mit ins Bett. Sie war schon fünfundvierzig; ihre Schamlippen waren dünner geworden und hingen etwas herab, aber ihre Züge waren immer noch hinreißend. Bruno wichste dreimal am Tag. Die Scheiden der jungen Frauen waren zugänglich, manchmal waren sie nicht mehr als einen Meter entfernt; aber Bruno begriff vollkommen, dass sie ihm verschlossen blieben: die anderen Jungen waren größer, gebräunter und kräftiger (67). Obwohl er auch als Erwachsener von der Begierde verzehrt (70) ist und sich als Ziel seines Lebens kein anderes als das sexuelle vorstellen kann - Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche (71) -, kommt er diesem Ziel nicht näher. Die Welt war langsam und kalt. Doch es gab eine warme Sache, die die Frauen zwischen den Beinen hatten; aber zu dieser Sache hatte er keinen Zugang (68). Jeder Versuch, diesem Ziel näher zu kommen, endet mit Enttäuschung und Resignation: Er hatte nicht wirklich die Absicht, auf die verschiedenen Annoncen zu antworten. […] Die Frauen, die bereit waren, sich mit Singles einzulassen, bevorzugten im allgemeinen Schwarze und erwarteten sowieso Mindestmaße, die er bei weitem nicht erreichte. […] Um wirklich in die Porno-Szene reinzukommen, hatte er einen zu kleinen Schwanz. […] Er schenkte sich einen 257 weiteren Whisky ein, ejakulierte auf die Zeitschrift und schlief beinah friedlich ein (112). Selbst seine erhöhte intellektuelle und kulturelle Position als Professeur Agrégé in Meaux, wohin er sich nach der Scheidung von seiner Frau versetzen lässt, gleicht das sexuelle Handikap nicht aus, wie auch nach Brunos Diagnose weder die in den Romanen von Marcel Proust und Thomas Mann beschriebenen Unterscheidungsstrategien – etwa die Reinheit des Blutes, der Adel des Genies im Vergleich zum Adel der Rasse (218) - noch der finanzielle Erfolg einen Begehrensvorteil garantieren: Die Herzogin von Guermantes hatte viel weniger Kohle 698 als Snoop Doggy Dog (erfolgreicher Rap-Sänger der 90er Jahre, d. Verf.); Snoop Doggy Dog hatte weniger Kohle als Bill Gates, aber bei ihm kriegten die Mädchen leichter feuchte Schenkel (219). In der Literaturklasse, die er unterrichtet, fällt sein Blick auf eine Schülerin, die mit dem dunkelhäutigen Ben aus dieser Klasse befreundet ist: Der Neger ging genau mit der, die ich mir auch ausgesucht hatte: niedlich, hellblond, ein kindliches Gesicht und hübsche apfelförmige Titten (218). Als Ben eines Tages den Unterricht durch eine vorlaute Bemerkung stört, setzt Bruno seine pädagogische Autorität ein, verweist ihn aus der Klasse und feiert einen kleinen Sieg (220) über den Rivalen, der sich jedoch am nächsten Tag in eine Niederlage verwandelt, an die sich eine hilflose Ersatz- und Kompensationshandlung anschließt: Er schien etwas begriffen zu haben und hatte wohl einen meiner Blicke erhascht, denn er fing an, seine Freundin während des Unterrichts zu befummeln. Er schob ihren Rock hoch und legte seine Hand ganz oben auf ihren Schenkel, so hoch wie möglich; dann sah er mich lächelnd und sehr cool an. Ich hatte eine Wahnsinnslust auf die Kleine. Ich habe das Wochenende damit verbracht, ein rassistisches Pamphlet zu verfassen, wobei ich fast ununterbrochen eine Erektion hatte (221). Obwohl erneut unterlegen, fängt Bruno wieder an, an die Sache zu glauben (223), die er mit Adjila, einer Nordafrikanerin aus der elften Klasse – ein rivalisierender Ben ist in diesem Wettbewerb vielleicht nur in Form von Adjilas Hautfarbe im Spiel - einzulösen hofft: Sie erwiderte meine Blicke und schien das nicht seltsam zu finden (223). Die obszöne Annäherung nach Unterrichtsschluss jedoch führt nicht nur zu einer erneuten Niederlage, sondern, nachdem Bruno seinen Psychiater konsultiert hat, trotz der Verschwiegenheit des fünfzehnjährigen Mädchens zum Ausscheiden aus dem aktiven Schuldienst und zur Versetzung in die Lehrplankommission: Mit einer flehenden Geste habe ich mein Glied genommen und es ihr hingehalten. Sie hat laut aufgelacht. […] Ich habe weiter gelacht und mir einen runtergeholt, während sie ihre Sachen zusammenpackte und aufstand, um hinauszugehen. Auf der Türschwelle hat sie sich umgedreht, um mir noch einen letzten Blick zuzuwerfen; Ich habe ejakuliert und nichts mehr gesehen. […] Ich habe drei Nächte im Krankenhaus Sainte-Anne verbracht, dann hat man mich in eine psychiatrische Klinik in Verrières-le-Buisson gebracht, die dem Erziehungsministerium untersteht (224 – 225). Ebenso niedergeschlagen wie angesichts des überlegenen Dritten ist Bruno in solchen Konstellationen, in denen dieser Dritte sich plötzlich verweigert und, anstatt das Objekt der Begierde anzustrahlen und aufzuwerten, dieses überschattet und defasziniert. Vorgesehen aber nicht besetzt ist die Rolle des Dritten in der ersten sexuellen Begegnung des damals Achtzehnjährigen, die der Vierzigjährige seinem Psychiater erzählt. Er erinnert sich an die Ferien an der Côte d´Azur, die er abwechselnd im Haus der Mutter und des Vaters verbringt, mit denen jedoch kein Kontakt möglich ist: Nach zwei Tagen wurde die Atmosphäre wirklich bedrückend. 698 moins de thune (239) 258 Bruno verließ jetzt öfter das Haus, blieb ganze Nachmittage fort; er ging ganz einfach an den Strand (82). Dort sieht er die siebzehnjährige Annick, die er am vierten Tag auch anspricht und mit nach Hause nimmt, in das Haus seines Vaters, der betrunken ist und von dem Liebesspiel in Brunos Zimmer nichts bemerkt: Sie schloss die Augen. In dem Augenblick, als ich ihr die Hände unter den Hintern schob, hat sie ihre Schenkel ganz gespreizt. Das hatte eine solche Wirkung auf mich, dass ich sofort ejakulierte, noch ehe ich in sie eindringen konnte. Auf ihren Schamhaaren waren ein paar Samenspritzer. Es tat mit schrecklich leid, aber sie hat mir gesagt, das sei egal, sie sei glücklich (84). Obwohl der genitale Austausch entsprechend den natürlichen Reaktionen verläuft, fehlt Annick außer der organischen Ausstattung: …aber sie hatte eine Möse, eine ebenso anziehende Möse wie jeder Frau (84) alles, was sie begehrenswert machen könnte. Wer wie sie den ganzen Nachmittag allein am Strand und offensichtlich eine arme Tochter reicher Leute (82) ist, präsentiert sich als jemand, für den sich niemend interessiert. Zu dem vom vorherrschenden Schönheitsideal abweichenden Äußeren: Sie war ziemlich dick, ein kleiner Fettkloß mit schüchternem Gesicht (82 – 83) kommt hinzu, dass sie in Liebesdingen völlig unerfahren ist, also auch keinen imaginären früheren Mitbewerber vorweisen kann: Das habe sie noch nie getan, hat sie mir gesagt (83). Zu den Personen, die ohne Begehrens-Mehrwert in Brunos Horizont eintreten und sozusagen ein mimetisches Dreieck bilden, in dem eine Leerstelle klafft, gehört auch seine Frau Anne – sie hatte nur das Staatsexamen 699 (196) -: Sie war nicht besonders hübsch, aber ich hatte die Nase voll vom Wichsen. […] „Meine puritanische Wohlstandstusse mit den großen Titten“. Sie hatte keine Ahnung von Erotik, von Reizwäsche, sie hatte einfach keine Erfahrung ( 193 - 194). Das Lehrerehepaar zieht nach Dijon, und nach der Geburt des Sohnes Victor verliert Anne weiter an Attraktivität: Wir schliefen nicht mehr miteinander, aber ich glaube, das hat sie nicht mal gemerkt (197). Weil Anne nicht die Blicke anderer auf sich zieht nach dem Motto: Die Möglichkeit zu leben beginnt im Blick des 700 anderen (199), erlischt auch Brunos Interesse an ihr, und da Anne als Begehrensobjekt ausfällt und sich somit ihm kein nachahmenswerter und gegebenenfall bekämpfenswerter Rivale entgegenstellt, entwirft er in der Phantasie und schließlich auch in der Tat, neue mimetische Dreiecke: In den Diskotheken gabe es viele kleine Luder mit sinnlichen Lippen, und während Annes Abwesenheit bin ich mehrmals ins Slow Rock und ins L´Enfer gegangen; doch sie gingen mit anderen und lutschten andere Schwänze und nicht meinen (199) und macht klar, dass für ihn die Sexualität unter den entmimetisierten und auf Dauer angelegten Bedingungen von Ehe und Familie nicht lebbar ist. Die Begierde entflammt in Konkurenz zu Mitbegehrenden und an dem Objekt, das auch von anderen Begehrt wird. Die gescheiterten Versuche, von den Menschen seiner Umgebung das nötige Maß an Liebe, Anerkennung und Zärtlichkeit zu empfangen, werden schließlich kompensiert durch perfekt ausgeführten, kampflosen, verführungslosen und unerotischen Sex: Mit seiner Kreditkarte bezahlte er dreitausend Franc für ein Flasche Dom Pérignon, die er mit einer sehr hübschen Blondine leerte; in einem der Zimmer im oberen Stock holte ihm das Mädchen langsam einen runter und legte ab und zu eine Pause ein, um die Lust zu bremsen. Sie hieß Hélène, stammte aus der näheren Umgebung und studierte Touristik; sie war neunzehn. Als er in sie eindrang, zog sie ihre Scheidenmuskeln zusammen – er erlebte wenigstens drei Minuten völliges Glück (208). Später, nach der endgültigen 699 …elle n´avait que le CAPES (216). Das präpositionale de ist mehrdeutig. Demzufolge ist le regard de l´autre (219) mehr als der Blick, der vom anderen aus geht; er ist auch der Blick, den man auf den anderen wirft. 700 259 Reduzierung seiner Glückserwartung auf den orgastischen Moment wird Bruno zu Protokoll geben: Es hat keinerlei Verführung gegeben, es war eine reine Sache (159). Die ‚Bereinigung’ der sexuellen Begierde vom zugleich faszinierenden und bedrohlichen Rivalen und der Durchbruch zu einer Beziehung sowohl ohne finanzielle als auch emotionale Interessen und Komplikationen bahnt sich im zweiten Teil der Erzählung an, als Bruno zu dem 1975 von einer Gruppe von Altachtundsechzigern gegründeten ORT DER WANDLUNG 701 (107) aufbricht, einer halb religiös, halb künstlerisch inspirierten New-Age-Kommune in der Gegend von Cholet, wo er nach etlichen erneuten Disqualifikationserfahrungen mit von dritter Seite über- oder unterbegehrten und daher nur potenziellen Sexpartnerinnen mit einer Frau in Berührung kommt, die ihn verwandeln sollte. Zu erwarten ist jedoch weder eine Umkehr in Form einer Konversion zur sexuellen Askese noch eine sich zur Gewaltanwendung und Zerstörung steigernde Begierde, wie sie in der Gestalt des David di Meola vorgeführt wird, dessen Sexparties auf der Suche nach immer stärkerem Nervenkitzel (238) sich in Folterparties in Satanischen Sekten verwandeln: Als David eines Abends zu einer Sexparty bei einem befreundeten Rechtsanwalt eingeladen war, erkannte er einen seiner Filme wieder, der in einem der Schlafzimmer mit dem Videobildschirm gezeigt wurde. Auf dieser Kassette, die einen Monat zuvor gedreht worden war, trennte er mit einer Motorsäge ein männliches Geschlechtsteil ab (237- 238); die Verwandlung bedeutet vielmehr, dass Brunos Leben, ohne die Richtung zu ändern und ohne das Hauptziel der sexuellen Lustempfindung aufzugeben, einen anderen, ruhigeren Verlauf nimmt. Eine mögliche Richtungsänderung: Ich habe noch einmal den Versuch gemacht, katholisch zu werden (199) wird zwar dadurch angedeutet, dass im Begehrensdreieck die Besetzung des Postens des Dritten – die trianguläre Kurzformel ist: Vater unser durch eine transzendente Instanz in Frage kommen und die ad-oratio einer anderen Adresse als der oralen Mündung und des oral- genitalen Anschlusses gelten könnte. Doch die Umbesetzung des Arrangements sollte nicht gelingen. Bruno tritt vorübergehend der Gruppe Glauben und Leben bei: Eine junge Koreanerin nahm auch daran teil, die sehr hübsch war […]. Eines Samstags hat Anne die Gruppe zu uns eingeladen; die Koreanerin hat sich aufs Sofa gesetzt, sie trug einen kurzen Rock; ich habe den ganzen Nachmittag nur auf ihre Beine gestarrt, aber das hat niemand gemerkt (198 – 199). In einem nächtlichen Wasserballett im Licht des Vollmonds und unter dem durch die Kiefernzweige hindurch strahlenden Sternenhimmel, begleitet vom sanften Brodeln des Whirlpools, der die Funktion eines Jungbrunnens erfüllt, wird aus dem für Bruno oft leidvoll erfahrenen pas-de-trois, welcher ihn immer wieder aus dem Traum eines sexuellen Kommunismus (154) herausgerissen hat, unverhofft ein beseeligender pas-de-deux, der von nun an die Choreografie und die Melodie seines Lebens bestimmen wird. Zunächst beobachtet Bruno einen leidenschaftlichen Paarungsakt am gegenüberliegenden Beckenrand, und als der Mann das Becken wortlos verlässt und weggeht und die Frau, die sich nicht rührt, die Beine im Wasser ausstreckt, ahmt Bruno sie nach, und die beiden berühren sich: Ein Fuß legte sich auf seinen Schenkel, streifte sein Glied. Mit leichtem Plätschern löste sie sich vom Beckenrand und kam auf ihn zu: […] Er ließ den Beckenrand los und gab sich ganz ihrer Umarmung hin. Er spürte, wie sie wieder in die Mitte des Beckens zurückglitt und 701 le Lieu du Changement (127) 260 sich langsam um die eigene Achse drehte. […] Senkrecht über seinem Gesicht drehten sich langsam die Sterne. Er entspannte sich in ihren Amen, sein aufgerichtetes Glied ragte aus dem Wasser. Sie bewegte die Hände leicht über seinem Körper, er spürte ihr Streicheln kaum, er befand sich in einem Zustand völliger Schwerelosigkeit. […] Sein ganzer Körper bebte vor Seligkeit. Sie schloss ihre Lippen und nahm seine Eichel ganz langsam in den Mund. […] …gleichzeitig spürte er, wie er von den Unterwasserwirbeln gewiegt wurde, und plötzlich war ihm sehr heiß. […] Er kam mit einem lauten Schrei; er hatte noch nie solche Lust verspürt (155 – 156). Die Frau, von der Bruno die ‚Lust-Taufe’ empfängt, ist die vierzigjährige Christiane, die Bruno in ihren Wohnwagen einlädt und von nun an seine Geliebte ist. Sie ist geschieden und seit vielen Jahren Gast in der Kommune, wo sie die Leichtigkeit der unkomplizierten sexuellen Kontakte schätzt: „Ab und zu überkommt mich das, dann vögele ich mit jedem“, sagte sie. „Nur für die Penetration verlange ich ein Kondom“. (157) Als Biologielehrerin weiß sie, dass die köperliche Lust ein physiologischer Vorgang ist und dass dieser Vorgang umso beglückender sein kann, wenn er von Verführung und Anmache (158) frei ist. Entscheidend ist nicht, dass man geliebt wird, sondern dass der andere einem gern Lust verschaffen (158) möchte. Wie Lust zu schenken ist, ist kein Geheimnis, denn: Klitoris und Eichel sind mit Krause-Endkolben übersät, in denen sich sehr viele Nervenfasern befinden. Wenn man sie streichelt, werden im Gehirn Endorphine in großen Mengen freigesetzt. Die Geschlechtsorgane jedes Mannes und jeder Frau besitzen etwa die gleiche Anzahl von KrauseEndkolben… (159 – 160). Im kampflosen Lust-Austausch mit Christiane verändert sich die Rolle des Dritten. Aus dem Rivalen wird der Begleiter und der mitwissende Komplize. Die Dritten sind dann die ungeniert vor aller Augen kopulierenden Pärchen und die durch diesen Anblick zum friedlichen Masturbieren oder zum Imitieren angeregten Voyeure in der Nudistenkolonie in Cap d´Agde, wo Bruno und Christiane die Sommerwochen verbringen; die befreundeten Paare, die sich zu geordneten Sexparties gegenseitig einladen, schließlich die Mitglieder in den Pariser Swinger Clubs, die beim Partnertausch sowie in der Dreier- oder Viererkonfiguration respektvoll miteinander umgehen und die jeder für jeden da sind. In einem Artikel für die Zeitschrift Esprit, deren Redaktion ihn jedoch ablehnt, fasst Bruno diese allgemeine sexuelle win-win-Situation mit dem Begriff Ästhetik des guten Willens (243) zusammen. Dies bedeutet, dass die Maximierung der Lust in der sexuellen Befriedigung – der stärkste Sinnengenuss, den der Mensch erleben kann (249) - auf der Basis des guten Willens erfolgen kann und sowohl ohne die geistigen Konstruktionen der Liebe als auch ohne die Vorstellungen von Eroberung und rivalitärer Dominanz auskommt. Mit Ästhetik sind die Empfindungen gemeint, welche durch taktile Reize ausgelöst wurden. Diese Empfindungen bedürfen nicht der kulturell erworbenen Phantasmen, weder in der weiblichen in Form der Liebe (249), noch in der männlichen in Form der Überwältigung. Da in diesem humanistischen Angebot (249) die Dritten nicht als Rivalen und Hindernisse auftreten, sondern als Medien, die die eingehenden Reize aufnehmen, verarbeiten und weiterleiten, nimmt der mimetische Taumel des Gruppensex nicht den Verlauf einer Sequenz an, die in einer opfer- und gewaltförmigen Konklusion endet. Da die nachahmende Begierde auf kein Hindernis stößt, prinzipiell grenzenlos ist und so weit geht, wie die Körper reichen, verlaufen diese Sequenzen als Wellen, deren Amplituden infolge eines natürlichen Energieverbrauchs abnehmen und sich erschöpfen: Ausgehend vom ersten Paar breitet sich so am Strand sehr schnell eine unglaublich erregende Welle 261 von Liebkosungen und Wollust aus.[…] Kein Wort wird gewechselt; man hört deutlich den Wind, der durch die Dünen pfeift und über die Grasflächen streicht. Manchmal lässt der Wind nach; dann herrscht völlige Stille, die nur vom lustvollen Stöhnen unterbrochen wird (250). Bruno verdankt Christiane die Initiation in diese Ästhetik des guten Willens, für die es nach ihrer Meinung nur ein bisschen Großzügigkeit braucht und den Willen, dem anderen ein bisschen Lust zu verschaffen. Diese Art des sexuellen Begehrens - irgendeiner muss damit anfangen (227) - sieht dann völlig ab von dem Dritten als dem Ursprung seiner Schärfe und seiner ‚Zielansprache’. Es wird zu einem Akt der gegenseitigen Fürsorge: Christiane lutschte ihm den Schwanz und kümmerte sich um ihn, wenn er krank war (272) und eine Geste der Aufmerksamkeit: „Möchtest du jetzt einen kleinen Orgasmus, oder ist es dir lieber, wenn ich dir im Taxi einen runterhole?“ (227) Wenn auch der idyllische Charakter dieser kollektiven und intersubjektiven Umgangsform nicht darüber hinwegtäuscht, dass an gewissen Differenzen festgehalten wird – eine Frau mit jungem, ansprechendem Körper oder ein markanter, gutaussehender Mann [ist] schmeichelhaften Angeboten ausgesetzt […] oder ein fettes alterndes oder hässliches Individuum [ist] zur Onanie verdammt (351) -, so sind diese Ausgrenzungen nie mit Gewaltanwendung oder verbaler Diskriminierung verbunden; das Recht auf das Empfinden friedlicher Lust bei gewissermaßen höflichen Verkehrs- und Umgangsformen wird niemandem bewusst vorenthalten. Es ist, als ob alle mit allen einen Vertrag zum korrekten Austausch von Leistung und Gegenleistung geschlossen hätten, ohne dass eine ausdrückliche Regelung erforderlich wäre. Bruno ist jedenfalls mit Christiane unter den Bedingungen der libertären Sexualität am Ziel seines Lebens angekommen: „Ich glaube, ich bin glücklich. […] Ich glaube, ich liebe dich“ (252). Als bei der Fortsetzung dieser Liebeskommune in einem der regelmäßig frequentierten Pariser Swinger Clubs Christiane während einer Kopulation kollabiert: Fünf Männer hatten sich bereits abgelöst, ohne dass sie ihnen einen Blick zugeworfen hatte (279), und infolge einer Nekrose für immer gelähmt ist, tritt eine neue Wandlung tritt ein. Christiane will ihrem Geliebten eine Frau im Rollstuhl nicht zumuten und begeht Selbstmord. Bruno ist erschüttert und betrachtet Christiane als das Opfer seiner Glücksuche: …und das war allein seine Schuld. Diesmal waren alle Karten gemischt, alle Spiele gespielt und die letzte Runde ausgeteilt worden, und sie endete mit einer endgültigen Niederlage. Wie schon die Eltern vor ihm, war auch er nicht zur Liebe fähig gewesen (282). Die erneute und für Bruno letzte Wandlung besteht darin, dass das Feld der Ästhetik des guten Willens sich in die psychiatrische Klinik verlagert, die Bruno nicht mehr verlassen wird: Er erkannte den diensthabenden Krankenpfleger wieder und sagte: „Da bin ich wieder“ (284). Dort in der Klinik sind es nicht die taktilen Reize, die das Glücksempfinden auslösen. Es wird sein wie bei Brunos erstem Aufenthalt in Verrières-le-Buisson: Man hat mich so mit Neuroleptika vollgestopft, dass ich keinerlei sexuelles Begehren mehr hatte; aber ab und zu haben mich die Krankenschwestern in den Arm genommen. Ich habe mich an sie geschmiegt und mich ein oder zwei Minuten nicht mehr gerührt, und dann habe ich mich wieder hingelegt. Das hat mit so gut getan… (226). Da sich an Brunos Lebensweg das Lese- und Erzählraster: comment reproduire un triangle? vor allem in den Metamorphosen des sexuellen Begehrens darstellen lässt, reichte dessen Geschichte für sich schon aus, um die vollständigen erzählerischen Anforderungen zu erfüllen, die in einer anfänglichen Mimesis, einer mittigen 262 mimetischen Krise und einer abschließenden Konklusion in Form einer in diesem Fall subjektiv gescheiterten, aber medikamentös konditionierten Konversion bestehen. Das Projekt der Elementarteilchen geht jedoch über den Bruno-Roman hinaus und weist diesem die Funktion einer Vorstufe für die Trajektorie des hauptsächlichen Protagonisten zu, dessen Mission alles daransetzt, das Begehrensdreieck zu sprengen und schließlich mit den Mitteln des Molekularbiologen außer Kraft zu setzen, mit Methoden, die einen anderen als den palliativen, psychopharmakologischen Ausweg weisen und der Liebe unter den Menschen eine ‚Bereinigung’ anbieten, die auch Brunos Experiment des kampflosen Begehrens zu übertreffen verspricht. Gilt Bruno als der untergehende Held einer in Auflösung begriffenen alten Ordnung (10), wird Michel eingeführt als ein aufgrund einiger außergewöhnlicher Lebensumstände […] bewusster und hellsichtiger Wegbereiter dieser Wandlung, die nichts weniger als eine radikale metaphysische Wandlung ist, die eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleiten sollte (8). Wie Bruno ist Michel ein Scheidungskind. Seit seinem zweiten Lebensjahr lebt er allein mit seiner Großmutter. Seine Begegnung mit der Welt nimmt jedoch einen anderen Verlauf als bei seinem Halbbruder, denn die Verhältnisse im Reich der Kinder sind unberechenbar 703 (35). Im Bestreben um Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und Eigensinn scheint es keine Konkurrenten zu geben; was er haben will, macht er anderen nicht streitig, und was ihn interessiert, ist nicht deswegen interessant, weil andere ihren Blick darauf werfen. Er spielt selten mit den Jungen in seinem Alter, versteht sich aber durchaus nicht schlecht mit ihnen, und obwohl er in der Schule zum großen Stolz der Großmutter der Beste ist, wird er von seinen Klassenkameraden weder gehasst noch schikaniert. Er lässt sie bei der Klassenarbeit wie selbstverständlich von sich abschreiben. Er wartet, bis sein Nachbar fertig ist, dann beginnt er eine neue Seite (35). Da seine Vorbilder die Zeitschriften- Helden aus Pif (38) sind, kann es mit ihnen nicht zu rivalitären Auseinandersetzungen kommen, und als seine Großmutter ihm zum zwölften Geburtstag den Experimentierkasten Der kleine Chemiker (40) schenkt und ihn mit Büchern über Biochemie versorgt, ist er zum Einzelgänger programmiert, ohne dass er seine Isolierung als Verlust empfindet. Es gibt für ihn schlicht keinen Grund, diese Situation nicht zu akzeptieren, denn es gab niemanden, mit dem er ernsthaft über diese Dinge hätte diskutieren können (41). Im Gymnasium lernt er Annabelle kennen, die in seine Nachbarschaft wohnt und die er als seine Freundin betrachtet. Sie besuchen sich gegenseitig, um die Hausaufgaben zu erledigen, Radtouren zu unternehmen, ins Café zu gehen. Als einmal seine Mutter zu Besuch kommt und sich über Annabelle äußert: „Du hast aber eine hübsche Freundin…“ (69) erschrickt Michel über die in dieser Bemerkung verborgene erotische Anspielung: Ihre Worte trafen Michel mit voller Wucht, seine Gesichtszüge veränderten sich (70). Die Welt der triangulären Provokation ist ihm fremd. Was ihn interessiert, wo er sich seiner Identität versichert und sich zu den strahlenden Höhen innerer Ausgeglichenheit (75) aufschwingt, sind nicht die Dominanzkämpfe und die Eroberungen: Die mathematischen Gleichungen dagegen erfüllten ihn mit großer, innerer Freude (74). Michel entzieht sich jeder Konkurrenz nicht nur darin, dass er lächerliche Anoraks und Wollmützen trug und nicht kicken (75) konnte, auch seine Beziehung zu Annabelle, gelangt nicht in die von ihr erwartete erotische Phase: Er blickte Annabelle mit aufmerksamen, regungslosen Augen an. Annabelle gab nicht auf; für sie glich Michels Gesicht dem Kommentar einer anderen Welt (75). Besiegelt 702 702 703 l´ancien règne (13) Les conditions du royaume sont fragiles (43). 263 wird Michels Singularität schließlich in einer Situation, in der er den Ausstieg aus dem Begehrensdreieck vollzieht, gleichzeitig sich aber auch schuldig macht, indem er seine Freundin in die Arme ihres Verführers David di Meola und ihrer späteren Verführer treibt. Auf dem Landgut von Francesco di Meola in der Haute-Provence, wohin Bruno, Michel und Annabelle zum Campen gefahren sind, findet eine nächtliche Tanzparty statt, auf der Annabelle ausgiebig mit David tanzt: Seit über einer Stunde tanzten sie unermüdlich zu einem bald schnellen, bald langsamen Tamburin-Rhythmus. Bruno beobachtet, wie Annabelle die Tanzgruppe verlässt, auf Michel zugeht und ihn fragt, ob er nicht tanzen wolle: Ihr Gesicht war in diesem Augenblick sehr traurig. Michel lehnt die Aufforderung mit einer unglaublich langsamen Geste ab, wie sie ein vorgeschichtliches Tier, das gerade wieder zum Leben erweckt worden ist, hätte ausführen können. Annabelle blieb fünf bis zehn Sekunden regungslos vor ihm stehen, dann wandte sie sich um und schloss sich wieder der Gruppe an. David nahm sie an der Hüfte und zog sie fest an sich. Seit dieser Nacht, die sternklar und sanft war, hat Michel endgültig die Gewissheit, dass er von den üblichen Begehrensverhältnissen ausgeschlossen ist. Er ahnt, dass er auch in Zukunft die menschlichen Regungen nur durchqueren würde, aber nie das Glück oder die Verzweiflung kennenlernen würde. Wie der Anblick der Tanzenden würde ihn weder das menschliche Dasein noch das gesellschaftliche Treiben mit seinen Kämpfen, Siegen und Niederlagen jemals wirklich betreffen oder erreichen. Mehrmals blickt sich Annabelle beim Tanzen nach ihm um, aber er ist nicht in der Lage, auf ihre appellierende Geste zu reagieren. Er hätte sich gern gerührt, aber er konnte nicht; er hatte deutlich das Gefühl gehabt, in eisigem Wasser zu versinken (95 - 96). Einen vierzigseitigen Brief Annabelles: Sie musste viel durchstreichen und sehr oft wieder von vorne anfangen […]. Zum erstenmal war es wirklich ein Liebesbrief (99) lässt er unbeantwortet. Er verlässt Crécy-en-Brie, zieht nach Paris ins Studentenheim und führt das Leben eines Solitärs. Von Annabelle sagt ihr Verführer David, der schon über fünfhundert Frauen gehabt hat, dass er sich nicht entsinnen konnte, je eine solche plastische Schönheit gesehen zu haben (95). Wer indes wie Michel das Glück und die Verzweiflung nicht kennenlernt, weil er nicht aus sich heraus geht und sich nicht hineinziehen lässt in die vermittelten Freuden und Leiden, dem bleibt als Schönheitserlebnis die Schönheit der mathematischen Gleichungen; auf der Seite der Verzweiflung bleibt ihm das einsame Leiden und die einsame und mit keinem anderen teilbare Ohnmacht. Seine Großmutter, zu deren Beerdigung er nach Crécy-en-Brie kommt, gehörte zu den Menschen, die ihr Leben aus Hingabe und Liebe zu den anderen buchstäblich geopfert haben (102); er selbst kann in seiner Introversion nicht einmal trauern, er reagiert somatisch auf den Verlust seiner einzigen verlässlichen Bezugsperson, zieht sich in sein ehemaliges Schlafzimmer zurück, krümmt sich zu einer embryonalen Stellung ein, und sein Gesicht wird zur tierischen Fratze: Es vergingen etwa zwei Minuten, dann hörte man aus dem Schlafzimmer eine Art Miauen oder Heulen. […] Michel lag zusammengerollt am Fußende des Bettes. Seine Augen waren etwas aus den Höhlen getreten. Auf seinem Gesicht spiegelte sich keine, der Trauer oder einem anderen menschlichen Gefühl gleichende Regung. Sein Gesicht war von widerwärtigem Entsetzen verzerrt (104). Annabelle sieht Michels Renault 16 vor dem Haus der Trauerfamilie stehen, geht gegen ein Uhr 264 nachts über die Straße, wagt es aber nicht, an der Tür zu klingeln. Es sollten fast fünfundzwanzig jahre vergehen, ehe sie Michel wiedersehen würde (103). Michel führt ein rein geistiges Dasein (133), ein Leben ohne Angst, aber auch ohne Erwartung und ohne Dramen (134). Im Unterschied zu Bruno lebt Michel in einer genau geregelten Welt, die, wenn sie auch keine absolute Sicherheit zu bieten hat, durch gewisse kommerzielle Zeremonien einen gleichmäßigen Rhythmus bekommt (136). Das Fernsehen, die wiederkehrenden Sportereignisse, die mit den Jahreszeiten wechselnden Versandhauskataloge, die politischen Kampagnen, die Sonderangebote im Supermark: All dies sind Vorgänge, an denen Michel in der Souveränität des Endverbrauchers teilnimmt, In all dem konnte man sein Glück finden (137), ohne sich für die Gefühle und Motive zu interessieren, die das Leben der Menschen bestimmen. Auch seine sexuellen Bedürfnisse sind derart unter Kontrolle, dass sie ihn vor melodramatischen Verwicklungen bewahren: Er selbst onanierte selten; die Phantasmen, die ihn als junger Forscher vor dem Minitel oder auch beim Anblick junger Frauen […] von Zeit zu Zeit heimgesucht hatten, waren allmählich verschwunden. Er regelte das Nachlassen seiner Potenz mittlerweile durch harmloses, friedliches Wichsen, wofür sich der 3-Suisses-Katalog, gelegentlich ergänzt durch eine erotische CD-ROM für 79 Francs, als völlig ausreichende Vorlage erwies (136). Während Brunos Welt, die nach dem Urteil seines Bruders mit Superweibern und Fettklößen, mit geilen Typen und Saftsäcken bevölkert (136) ist, der Schauplatz der triangulären Provokation par excellence ist, verschreibt sich Michel der Dekonstruktion der Begehrensdreiecke, deren rivalitäre Spitze er herausbricht und somit den auch von ihm geteilten Wunsch zu lieben (133) auf eine neue Grundlage stellt. Mehr als in seiner Lebensweise praktiziert Michel die Entmimetisierung und Entdramatisierung des Begehrens in seinen Forschungen am Institut für Molekularbiologie des CNRS in Gif-sur-Yvette, welches für ihn der wahre Ort der Wandlung ist. Dort arbeitet er in einem Forschungsfeld, welches biologische Grundannahmen mit denen der Physik verbindet, das heißt Genmutationen als atomare Vorgänge beobachtet und untersucht, inwiefern der mathematische Voraussageformalismus der Elementarteilchen direkt auf die Steuerung biologischer Phänomene einwirken kann (140). In einer seiner wichtigsten Veröffentlichungen, Prolegomena zu einer vollkommenen Replikation, vertritt er die These, dass die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung nicht nur zur ‚Bereinigung’ und Entdramatisierung der menschlichen Beziehungen führt, sondern auch bessere ‚Zuchterfolge’ verspricht. Die Manneskraft und männliche Kampfbereitschaft, die in früheren Zeiten, als es noch zahlreiche Bären gab, eine spezifische, unersetzliche Rolle gespielt hat, hat seit mehreren Jahrhunderten nur Kriege und Revolutionen verursacht und dazu geführt, dass die Entwicklung der Menschheit nicht in den regelmäßigen Bahnen eines allmählichen Aufstiegs, sondern unter Brüchen und chaotischen Wendungen verlief. Für all das waren die Männer (mit ihrer Bereitschaft zum Risiko, ihrer Lust am Spiel, ihrer grotesken Eitelkeit, ihrer Verantwortungslosigkeit und ihrer grundsätzlichen Brutalität) unmittelbar und ausschließlich verantwortlich. Würde das mimetische Begehren, jedenfalls in seiner geschlechtsspezifischen männlichen Variante, ausgeschaltet, wäre vorstellbar, dass eine aus Frauen bestehende Welt dieser aus Zerstörung und Wiederaufbau bestehenden Wirklichkeit überlegen wäre. Sie würde sich zwar langsamer auf einen Zustand allgemeinen Glücks hinentwickeln, aber mit 265 größerer Regelmäßigkeit, ohne Rückschläge und ohne verhängnisvolle Infragestellung (187). Die Überlegenheit der nichtsexuellen Reproduktion, wo an einfachen Organismen nachgewiesen ist, dass die Arten, die sich auf sexuellem Weg vermehrten, sich langsamer weiterentwickelten als die Arten, die sich durch Klonen vermehrten (301), wird sich schließlich auch in der menschlichen Praxis bewähren und das Projekt der Enttriangulierung – das Schlusskapitel des ‚Michel-Romans’ lautet Emotionale Unbegrenztheit 704- vollenden. Dann würde die Menschheit nicht nur in der Lage sein, ihre eigene biologische Entwicklung zu steuern (302), sondern es ließen sich dann auch alle die mimetischen Konflikte vermeiden, die die Menschen ins Unglück stürzen; die Menschen würden von ihren romantischen, den weiblichen Liebes- und den männlichen Eroberungsphantasien befreit, und die Sexualität würde sich im nachhinein als eine unnötige, gefährliche und regressive Funktion (302) herausstellen, deren Herauslösung aus dem Wertebereich von Ehe, Familie, Besitz, Ansehen und Macht die Aussicht auf eine menschlichere und umfassendere Art der Beziehungen (302) bietet. Wie die Bekämpfung der Kampfbereitschaft läuft auch die Dekonstruktion des konfliktiven Mimetismus Gefahr, unter dem Schein eines Lösungsangebots den status quo ante zu stabilisieren, anstatt die durch den Dritten provozierte und auf diesen zurückfallende Spannung zwischen dem begehrenden Subjekt und dem Objekt der Begierde zu überwinden. Daher kann auch Michel das Begehrensdreieck nur soweit dekonstruieren, dass der Dritte aus dem Blick- und Aktionsfeld des Begehrenden hinausgedrängt wird, was wiederum eher ein Regelproblem der Verschiebung und Vermittlung ist und mehr die zu- beziehungsweise abnehmende Intensität des Begehrens betrifft als seine Aktualität. Er kann den Dritten nicht eliminieren. Das Experiment, in dem der Rivale so weit zum Verschwinden gebracht wird, dass die Bedingungen für das Ausbrechen der mimetische Krise nicht erfüllt sind, wird in der Denkspur des 1932 erschienen Romans von Aldous Huxley, Schöne, neue Welt 705, durchgeführt, dessen Vision einer manipulativ konditionierten und daher friedlichen Menschheit durch die von Michel erforschten gentechnischen Verfahren fortgesetzt und übertroffen wird. Während in der Brawe-New-WorldGesellschaft der Dritte in der Gestalt des Zentrallabors präsent ist, welches im Dienst der Diktatur einer selbst ernannten und wohlmeindenden Elite steht, von der alle Menschen physisch und psychisch so manipuliert werden, dass sie einerseits keine tiefen Gefühle und keinen freien Willen haben, andererseits politische Stabilität, Frieden, Gesundheit, lebenslange Jugend und sexuelle Befriedigung genießen, entwirft Michel die Vision einer Welt, welche die Ideen der durch die Nazi-Ideologie diskreditierten Eugenik und Rassenverbesserung (179) auf demokratischparlamentarischem Weg verfolgt. Er erinnert daran, dass der Biologe Julian Huxley – sein Großvater war ein Freund von Darwin (178) -, der ältere Bruder des Romanciers, nach dem Krieg, im Jahr 1946 […], zum Generaldirektor der soeben gegründeten UNESCO ernannt ( 179) wurde und prognostiziert eine Situation, in der für die westlichen Gesellschaften, sollten sie überleben wollen, eine fundamentale Wandlung 706 unerlässlich geworden (354) ist. Diese Wandlung gründe auf der auch letztlich von der New-Age-Bewegung geteilten Überzeugung, dass die 704 Illimité émotionnel (329) Der Titel stammt aus einem Monolog der Miranda aus Shakespeares Der Sturm (The tempest): O Wunder! / Was gibt’s für herrliche Geschöpfe hier! / Wie schön der Mensch ist. Schöne, neue Welt, / Die solche Bürger trägt! 706 mutation (391) 705 266 philosophischen Fragen im Verständnis der Öffentlichkeit jeden Bezug 707 verloren (354) hätten, dass philosophischen Größen der Postmoderne wie Foucault, Lacan, Derrida und Deleuze (354) verspottet würden und dass die Lösung aller Probleme – einschließlich der psychologischen, soziologischen und gemeinhin menschlichen Probleme - nur technischer Art sein könne (355). Die Prognosen Michels werden durch den irischen Forscherkollegen und Nachlassverwalter Hubczejak formuliert, welcher notiert, dass von der UNESCO im Jahr 2021 die ersten Kredite (255) für dieses Projekt bewilligt werden, die rettende Wandlung also ein durch das Weltparlament legitimiertes Menschheitsanliegen ist. Der Auslöser für den durch Michels Forschung vorbereiteten weltweiten Meinungsumschwung ist Hubczejaks im Jahr 2013 zur Maxime erhobene Schlussfolgerung: „DIE WANDLUNG FINDET NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN“ (355). Michels Prognose sollte in dem Bewusstsein gipfeln, dass diese Wandlung, in dem sie auf glaubhafte Weise den Sinn für die Kollektivität, die Kontinuität und das Heilige wiederherstellen würde (354), keine historische Etappe, sondern eine metaphysische Revolution ist. Bei seiner Ankunft 1999 in Irland fährt Michel vom Flughafen Shannon nach Roscahill zu dem mit Mitteln der EU finanzierten Forschungsinstitut und kommt an einer Weide mit einer Herde schöner hellbrauner Kühe vorbei. Sein Begleiter erklärt ihm: „…das sind die Nachkömmlinge der ersten Kühe, die nun schon vor zehn Jahren aufgrund Ihrer Arbeiten gezüchtet worden sind. […] Sie sind widerstandsfähig, vermehren sich ohne Probleme und geben ausgezeichnete Milch“ (327). Michel betrachtet diese Geschöpfe, deren genetischen Code zur Replikation ihrer Zellen er errechnet und technisch verwertbar gemacht hat. Nüchtern bilanziert er: Für sie müsste er eigentlich ein Gott sein; und dennoch ließ sie seine Anwesenheit anscheinend gleichgültig (327). Gleichwohl bedeutet dieses Forscherfazit nichts weniger als die Wiedereinsetzung des Heiligen, wie sie es sein Nachfolger Hubczejak formulieren wird, wenn eine fortgeschrittene Molekularbiologie eine human-gentechnische Anwendung ermöglich. In der neuen Moral, deren religiöse Absicherung Gemeingut ist, wird verkündet, dass die Menschheit in dem Stadium, in dem sie angelangt war, die gesamte Entwicklung der Welt – und insbesondere ihre eigene biologische Entwicklung – steuern konnte und musste (350) und dass die aus den Offenbarungsreligionen stammenden Vorstellungen des Heiligen und des Göttlichen in den Steuerungsbereich dieser so definierten Humanwissenschaften überführt werden. In der neuen Ordnung wird es die Schönen Künste ebenso geben wie die philososphischen und historischen Deutungen der Wirklichkeit, aber die Suche nach dem Wahren und dem Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespornt wird das heißt entmimetisiert ist – einen weniger dringlichen Charakter (356). Die in der alten Ordnung als unüberwindbar geltenden oder immer nur vorübergehend im violence-et-sacré-Verfahren in Schach gehaltenen Kräfte des Egoismus, der Machtgier und der Zerstörung sind bezwungen. Die neue Welt, wie sie am Ende des 21. Jahrhunderts sein wird, gleicht einem Ort, von dem die ehemalige Menschheit nur phantasieren konnte und den sie mehrheitlich in einem Jenseits vermutete. Die neuen Menschen werden feststellen: Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im Übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen ‚Götter’ bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat (356). 707 tout référent bien défini (391) 267 Wenn alle Gott sind oder die gottgleiche Gen-Instanz im Namen aller agiert, lebt es sich im ‚Menschenpark’ wie auf jener Wiese zwischen Shannon und Roscahill, wo die Anwesenheit eines Gottes nicht weiter störend wirkt. Der Dritte ist tatsächlich aus dem Begehrensbereich, den er zum Paradies umformatiert, hinausgedrängt, zugleich aber ist er die Instanz, die diesen Bereich schützt und erhält, indem er alle Aggression von vorneherein und – im wahrsten Sinn des Worts – im Keim unterbindet. Michels metaphysische Revolution in Verbindung mit der Wiedereinsetzung eines solchen Heiligen bietet eine außerordentlich zugfeste trianguläre Konstruktion, welche den relativ verlässlichen Dritten, wie ihn beispielsweise Don Quixote in seinem Amadis von Gallien antrifft, an Stabilität übertrifft, weil jetzt dieser zugleich transzendente und immanente Dritte nicht enttäuschen und illusionieren kann, weil er nicht bezweifelt, angegriffen und in einer aufklärerischen Geste wegerklärt werden kann, weil seine Verehrung genetisch gesichert ist und nicht auf so unsicheren Fundamenten wie Glaube, Liebe und Hoffnung gründet. Durch seine Lebensumstände ist Michel zu einem Vorläufer der neuen Ordnung geworden. Seit seiner frühen Kindheit gehörte er zu denen, die sich im Gegensatz zu seinem Halbbruder aus den mimetischen Dreiecken heraushielten. Er hat in seinem Leben Zeugnis für die neue Triangulierung abgelegt, durch seine Forschung hat er ihr den Rang einer allgemeinen humanen Physik verschafft und in einer überlebenskritischen Phase der Menschheit einen Ausweg angezeigt: Es lag etwas in der Luft, das die Vorstellung einer apokalyptischen Dürre aufkommen ließ (15). Die neue Zeit, die anbricht, ist ein neuer Bund, ein neues Gesetz, unter dem die Menschen im Licht leben, in einem Licht, das keinen himmlischen und keinen rationalen Ort hat, sondern unsere Körper umströmt, unsere Körper umhüllt, mit einem Strahlenkranz der Freude (9 - 10). b. ) Externe und interne Vermittlung Die Söhne Janines aus der Verbindung mit Serge Clément und mit Marc Djerzinski wachsen bei verschiedenen Großmüttern auf, Bruno trifft sich mit seiner Mutter hin und wieder in den Ferien, mit dem Vater während der Schulzeit an Wochenenden, Marc kennt seinen von einer Chinareise nicht mehr heimgekehrten Vater nicht, seine Mutter besucht ihn selten, da das Verhältnis mit der Schwiegermutter angespannt ist. Nach dem Tod der aus Algier nach Marseille umgezogenen Großmutter kommt Bruno in das Internat nach Meaux. Michel, zunächst am Collège in Crécy-en-Brie, besucht dann ebenfalls die Internatsschule als Externer. Als er seine Großmutter verliert, ist er schon Abiturient und auf dem Weg zum Studium in Paris. Die beiden Halbbrüder lernen sich erst in der 11. Klasse, im Alter von etwa 17 Jahren kennen. Beide sind typische Scheidungskinder, bei denen die leiblichen Eltern als Orientierungsinstanzen ausfallen, die jedoch über die Großeltern, jedoch mit unterschiedlicher Intensität, einen Rest von familiärer Kontinuität und Wegbegleitung erfahren. Beide teilen das Los des aus dem Nest gefallenen Vogels, reagieren auf ihre Situation aber höchst unterschiedlich. Michel wird sein Leben lang der ‚Externe’ sein, Bruno sein ‚Internat’ nie verlassen. Das extern vermittelte Begehren wird Michel gegenüber transzendentalen Modellen in Position bringen, das intern vermittelte Begehren wird Bruno mit leibhaftigen Modellen konfrontieren und ihn in dramatisch 268 ablaufende mimetische Konflikte stürzen. Innerhalb der jeweiligen Biographie wird es nur geringe Verschiebungen von der einen zur anderen Art der Begehrens- und Motivstiftung geben. Die beiden Halbbrüder sind die klar profilierten Vertreter ihres jeweiligen Mediationstyps. Mit einem kleinen experimentellen Vorspiel deutet Michel an, dass er nicht die Perspektive des aus dem Nest gefallenen Vogels übernimmt, sondern ihm gegenüber die Distanz des Beobachters einnimmt. Der weiße Kanarienvogel, den er sich aus einem Bedürfnis nach Gesellschaft angeschafft hat um irgend etwas zu haben, das ihn abends beim Heimkommen empfing, wird aus seinem Käfig geholt, weil Michel sehen wollte, wie er auf seine Befreiung reagieren würde, und einen Monat später hatte er den Versuch wiederholt (15). Ebenso gibt er mit seinem Blick aus dem Fenster seines Studentenappartements zu verstehen, dass das Problem der Elementarteilchen und deren Beschleunigung für seine Lebensführung nichts zu bedeuten hat. Er ist nicht wie sein Bruder mit einem beschleunigten Teilchen zu vergleichen, das Kräften ausgesetzt ist, die nur registriert aber nicht mit letzter Genauigkeit kalkuliert werden können. Seine Perspektive ist erhaben und distanziert: Man sah auf eine Rasenfläche, die sich bis an den Fluss hinunter zog; wenn er sich etwas aus dem Fenster lehnte, konnte er ganz rechts die Betonmasse des Teilchenbeschleunigers erkennen (99). Schon als Kind lässt sich Michel von den Menschen seiner Umgebung nicht beeinflussen und beeindrucken. Die Personen, an denen er sich misst, sind die Helden der Bücher von Jules Verne und der Jugendzeitschriften Pif oder Fünf Freunde, besonders aber der Schwarze Wolf, der einsame Indianer, der das Gesetz der Prärie verkörpert und den Michel später als den Idealtypus des kantischen Helden betrachtet, der immer so handelte, als ob er durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre (38). Im Fernsehen interessiert er sich für die Jugendquiz-Sendung Hundert Fragen (34), für alle Tiersendungen; die Direktübertragung der Mondlandung vom 21.7.1969, die er als Elfjähriger erlebt, bezeichnet er später als den Höhepunkt der ersten Periode des technologischen Traums der westlichen Welt (37). In der Buchreihe Das ganze Universum vertieft er sich in die Festigkeitslehre, die Form der Wolken, den Tanz der Bienen, Sokrates’ Tod oder die Erfindung der Geometrie vor dreitausend Jahren durch Euklid […]; er nimmt Wissen in sich auf (34). Sein Lieblingsbuch ist Werner Heisenbergs wissenschaftliche Autobiographie Das Teil und das Ganze, die ihn seit dem siebzehnten Lebensjahr begleitet (22). Obwohl auch er den Wunsch [hat] zu lieben, zumindest verlangte er sonst nichts. Nichts Genaues (133), vermeidet er den unmittelbaren menschlichen Kontakt. Er ist zufrieden, wenn im Supermarkt die Kassiererin seinen kurzen Gruß erwidert und in den in seiner Umgebung ablaufenden Vorgängen eine gewisse Präzision erkennt: Es hatte in den letzten zehn Jahren, seit er dort wohnte, in dem Wohnblock viel Hin und Her gegeben. Manchmal bildete sich ein Paar. Dann beobachtete er den Einzug […]. Oft (aber nicht immer) zogen die beiden Partner bei der Trennung, die darauf folgte, zur gleichen Zeit wieder aus (133). Folgerichtig gehört noch mehr als der Blick aus dem Fenster das Fernsehen für ihn zu den reinen Freuden, weil er dort die Erfahrung macht, besonders in den Nachrichten von TF1, dem ersten Programm, dass es nicht das Leiden ist, das den betroffenen Menschen eine zusätzliche Würde verleiht, sondern allein dessen Vorzeigen im Fernsehen (134). Wenn der Winter-Katalog des Kaufhauses Les 3-Suisses von einem Zusteller anonym in seinem Briefkasten deponiert wird, reicht ihm das aus als Zeichen gegenseitiger Treue, mit den 269 modernen Romanen, die das Absurde und die existenziellen Verzweiflung thematisieren, kann er nichts anfangen, er findet sie extremistisch und kann nicht nachvollziehen, dass sein Bruder: Er schrieb zahlreiche Seiten voll und onanierte viel (135), davon träumt, Schriftsteller zu werden. Am liebsten bezieht er seine Informationen incognito aus dem Internet, meistens von amerikanischen Universitäten. Bisweilen stößt er dabei auf Autoren, die er einmal kennengelernt hat, zum Beispiel auf eine Biologin aus Ann Arbor, Alicia Marcia-Coelho: Sie hatte ihn sogar zehn Jahre zuvor nach einem reichlich begossenen Abendessen im Rahmen eines Generikkongresses in Baltimore entjungfernt. […]; er hatte sich gewundert, dass er einen Ständer bekommen und sogar in der Scheide der Forscherin ejakulieren konnte, ohne die geringste Lust zu empfinden (142). Wie an den Vorgängen in der unmittelbaren Umgebung, nimmt Michel auch an den makrosphärischen Phänomenen als Beobachter und nicht als Betroffener teil. Spätestens seit der Entdeckung von Spuren fossilen Lebens durch eine amerikanische Marssonde ist für ihn der Schleier um die Fähigkeit zur Selbstreplikation von Lebewesen gelüftet und sind die mythischen und religiösen Konstruktionen, an denen sich die Menschheit seit jeher erfreut, widerlegt: Es gab keinen einmaligen grandiosen Schöpfungsakt; es gab kein auserwähltes Volk, nicht einmal eine auserwählte Gattung oder einen auserwählten Planeten. Es gab fast überall im Weltraum nur ungewisse und im Allgemeinen wenig überzeugende Versuche (138). War denn, so fragt sich Bruno, sein Bruder überhaupt von etwas beseelt? 708 (241) Wenn Michel sich auf ein Experiment einlässt, dann als Experimentator. Und wenn er überhaupt von etwas beseelt ist, dann von Wissensdrang 709 und nicht von der Aussicht auf eine menschlichere und umfassendere Art der Beziehungen (302). Es entgeht auch Bruno nicht, mit dem er lange Gespräche führt, dass Michel eine Ausnahme darstellt und dass seine Existenz einer Bewegung gleicht, die gradlinig und gleichförmig verläuft, weil sie weder der Reibung noch einer von außen auf sie einwirkenden Kraft ausgesetzt ist und undurchsichtige Machtkämpfe nicht kennt (241). Zu welch unterschiedlichen Sehergebnissen an einem einzigen, minimalen Bild-Detail jeweils der extern und der intern vermittelte Blick kommen kann, zeigt sich, als die Brüder in einem Moment der Stille im Zimmer den Heizkörper betrachten. Wenn Bruno stundenlang und stumpfsinnig die Rohre des Heizkörpers (188) betrachtet, kann dies als Eingeständnis der Monotonie, des Gefangenseins, der Resignation oder gar des Ekels gedeutet werden. Derartige menschliche Regungen sind Michel fremd. Er zerlegt den Heizkörper kurzerhand in seine Funktionen und lässt sich von dessen aufreizender Dinglichkeit nicht herausfordern: Mehrere Tage lang betrachtete er den Heizkörper, der links neben seinem Bett angebracht war. In der kalten Jahreszeit füllten sich die Heizrippen mit warmem Wasser, das war ein nützlicher, wohldurchdachter Mechanismus (184). Ausführlicher als der Heizkörper-Blick lässt die relecture des Huxley-Romans den Unterschied zwischen der externen und der internen Motivationsvermittlung erkennen. Bruno wundert sich, wie unglaublich zutreffend die Voraussagen sind, die Aldous Huxley in „Schöne neue Welt“ gemacht hat (176); für ihn ist das wahr geworden, was der Abbau der Hierarchien in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im globalen Maßstab zu Folge hatte. Während der unbeschränkte 708 709 …mais, à vrai dire, Michel état-il mû par quelque chose ? (265) le désir de connaissance (334) 270 sexuelle Wettbewerb ihn in das Begehrensdreieck mit seinen Rivalen einspannt, führt in seiner Sicht der infolge der Globalisierung verschärfte ökonomische Wettbewerb zur Konfrontation von über- und unterlegenen Wirtschaftssystemen. Was Huxley in seinem Roman als befreiende Utopie entworfen hat, ist für Bruno und seine Generation zur Leidenssituation geworden. Was als Zeitalter der universellen Entspannung vorausgesagt wurde, erweist sich als ein neues Feld für den narzisstischen Konkurrenzkampf (71 – 72). Aber es ist haargenau die Welt, die wir anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg (177). Brunos Balbbruder hingegen liest den Huxley-Roman nicht als existenzielle Herausforderung; er ist von dessen Vorhersagen weder enttäuscht noch euphorisiert. Für Michel ist Aldous Huxley ein Denker des genetischen Humanismus, der die kulturelle Evolution auf eine naturwissenschaftliche Grundlage stellt: Unter den Schriftstellern seiner Generation war er bestimmt als einziger dazu fähig, die Fortschritte zu erahnen, die die Biologie machen würde (179). Und er verweist auf ein Werk, das der Zoologe und spätere UNESCO-Generalsekretär Julian Huxley, Aldous’ älterer Halbbruder, ein Jahr vor Schöne neu Welt unter dem Titel What dare I think veröffentlicht hat und in dem sich bereits Anregungen zur genetischen Kontrolle und zur Artenverbesserung, einschließlich der der Menschheit (179) finden. In Analogie zu der Girardschen Unterscheidung zwischen den Erzählungen, die das mimetische Verlangen abbilden und solchen, die es durchschauen, ist Bruno der Protagonist, der die sinnliche Begierde im Hinblick auf Schöne neue Welt als sein Schicksal erfährt und Michel derjenige, der sie in diesem Werk analysiert und kritisiert. Wie bei allen Utopisten stellt Michel auch bei Huxley die Diagnose, dass er in seiner rationalen Gesellschaft den Kampf dadurch abmildert, dass sowohl die wirtschaftlichen Schwankungen unter Kontrolle gebracht und der ökonomische Wettbewerb ausgeschaltet wird, als auch die sexuelle Konkurrenz durch die etablierte Promiskuität abgestellt ist. Auch räumt er ein, dass für den Rest an Unüberschaubarkeit kleine humanistische Korrektive (182) wie Meditation, Medikamente oder bewusstseinserweiternde Drogen gegen Angstgefühle, Depressionen oder Todesangst eingesetzt werden können. Was Huxley aber übersieht, ist die metaphysische Wandlung (180), die mit dem Heraufkommen des Materialismus und der modernen Wissenschaften eingetreten ist und die vor allem darin besteht, dass der zum Durchbruch gelangte Rationalismus einen verbreiteten Individualismus zur Folge hatte. Huxley hat vergessen, den Individualismus zu berücksichtigen (181) und nicht begriffen, dass die von der Zeugung abstrahierte und zum Lustprinzip erhobene Sinnesfreude, anstatt sich selbst konsumistisch zu genügen, von neuem zu einer Strategie subjektiver Unterscheidung wird und – in Resonanz zu dem scheinbar immer gesättigten Markt der Waren und Marken - einen neuen Sex-Fetischismus hervorbringt. Mit der Nüchternheit des Forschers konstatiert Michel das Scheitern des Huxley-Entwurfs in den westlichen Gesellschaften, vor allem dass die eros- und werbungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben (182), auf der einen Seite das mimetische Begehren in den Individuen unaufhörlich anheizt, andererseits sich für dessen Befriedigung als nicht zuständig erklärt. Was ihn beschäftigt, ist die Diskrepanz zwischen der Forderung nach Wettbewerb und nach Zunahme der sinnlichen Begierden, die für das Funktionieren der Gesellschaft unabdingbar sind, und den Möglichkeiten der unmittelbaren Befriedigung, welche nicht von der Gesellschaft organisiert wird und deren Kosten unter den gegebenen Verhältnissen von den Individuen zu tragen sind. 271 Das Huxley-Experiment kann jedoch, wie Michel meint, weiterentwickelt werden. Die Herrschaft von Eitelkeit und Grausamkeit (183) muss, da das letzte Wort des Molekularbiologen noch nicht gesprochen ist, nicht hingenommen werden. Das Experiment der Schönen neuen Welt ist ins Stocken geraten. Der historisch erreichte Zustand ist für Bruno ein Kampfplatz, bevölkert von zahllosen Modellen und Rivalen, mit denen er sich herumschlägt und wo er sein Leben verzehrt; für Michel, der sich dort nicht internieren und vereinnahmen lässt, weil er gleichsam einem Stern folgt, der von außen leuchtet, ist der historisch erreichte Zustand eine Labor-Situation, in der die Aufgabe zu lösen ist, die äußerste Individualisierung mit der innigsten Harmonisierung der menschlichen Beziehungen in Einklang zu bringen. Es besteht kein Zweifel, dass die Fortschritte der Wissenschaft und des Materialismus die Grundlagen aller traditionellen Religionen (182) und deren aufgeklärt-humanistische Fortsetzungen und Ersetzungen unterminiert haben. In diesem In-Einklang-Bringen formuliert sich in der Labor-Situation auch und gerade die Herausforderung, eine Religion [zu schaffen], die mit dem heutigen Stand der Wissenschaften vereinbar (182) ist, also einen neuen Bund zu stiften und das zu verwirklichen, was die Menschen früherer Zeitalter manchmal in ihrer Musik erahnten (9). Dazu ist ein Gott nicht mehr erforderlich, ebenso wenig wie die Vorstellung einer unsichtbaren vorhandenen und natürlichen Realität. Zu dieser dieser neuen Religion notiert Michel: Es gibt menschliche Wahrnehmungen, menschliche Zeugnisse und menschliche Versuche und es gibt die Vernunft, die diese Wahrheiten verbindet, und das Gefühl, das sie mit Leben erfüllt (338). Dazu braucht man weder Metaphysik noch Ontologie, jene Kinderkrankheit des menschlichen Geistes (339). Anstelle der Glaubensinhalte und Weltanschauungen, der ‚mythischen und religiösen Konstruktionen’, genügt ein Konsens über das Resultat von Versuchen innerhalb der Gemeinschaft der Beobachter. Auch ein solcher Konsens kann religionsförmig sein, dass heißt er kann begeistern und Äußerungen von geradezu ekstatischer Bewunderung (339) hervorrufen. Die gemeinschaftlich beobachteten Versuche und deren Resultate lassen sich dank einer vernunftbedingten Intersubjektivität kommunizieren und durch Theorien miteinander verbinden, die widerspruchsfrei sind, sich aber gegebenenfalls falsifizieren lassen. Verkörpert Michel mit seinem in der Jugendlektüre aufgenommenen Wissensdrang sowie seiner Verehrung für Stars der Wissenschaft wie Max Planck, Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg, Niels Bohr, Charles Darwin und Julian Huxley den Begehrenstyp der externen Vermittlung, dessen Vorbilder nicht als Rivalen seinen Aktionsradius durchkreuzen, und Bruno jenen Begehrenstyp der internen Vermittlung, dessen Modelle in ihm die ‚Feuer des Neides und der Lust’ 710 entzünden, weil sie im Raum und in der Zeit sich mit ihm stoßen, tritt mit Annabelle ein Begehrenstyp in Erscheinung, bei dem im Unterschied zu den Halbbrüdern die Vermittlerdistanz nicht festgelegt ist, sondern sich eine Verschiebung der externen zur internen Mediation beobachten lässt. Wie im Fall der Halbbrüder, die sich als Beamter beziehungsweise CNRS-Institusleiter dem ökonomischen Wettbewerb nicht zu stellen haben – auf diesem Kampfplatz konkurrieren eher die Figuren aus der zweiten Reihe als Freiberufliche und Lohnabhängige -, geht es auch Annabelle nicht um den Begehrensvorteil im Hinblick auf materielle Güter. In einer glücklichen Familie geboren – in fünfundzwanzig Ehejahren hatten ihre Eltern keinen einzigen ernsthaften Streit gehabt, und das Unternehmen für Präzisionsoptik ging gut: Die japanische Konkurrenz gab es damals noch nicht (55) -, weiß Annabelle mit dreizehn 710 Les feux de l´envie (französischer Titel der Shakespeare-Analyse von René Girard, A theater of envy, New York 1991) 272 Jahren: Irgendwo auf der Welt gab es einen Jungen, den sie nicht kannte und der sie auch nicht kannte, aber mit dem sie ihr Leben verbringen würde (55). Als sie Michel kennenlernt, hat sie die Gewissheit, dass sie ihrer großen Liebe begegnet ist, was nach Meinung von Mademoiselle Age tendre, der von ihr konsultierten Mädchenzeitschrift, das Schönste ist, was einem auf der Welt passieren könne (63). Ihre Beziehung zu Michel geht jedoch über kameradschaftliche und freundschaftliche Formen nicht hinaus, obwohl sie im Alter von fünfzehn Jahren von einer solchen äußeren Schönheit ist, dass sie zu den Mädchen zu zählen ist, die ganz einfach dadurch, dass sie über die Geschäftsstraße einer mittelgroßen Stadt gehen, den Herzrhythmus der jungen Männder und der Männer im reiferen Alter beschleunigen und den Greisen ein Grunzen des Bedauerns entlocken (65). Früher oder später, das weiß sie, würde Michel Lust haben, sie zu küssen und ihren Körper zu liebkosen, dessen Verwandlung sie spürt: Sie erwartete diesen Augenblick ohne Ungeduld und auch ohne allzu große Angst; sie war voller Zuversicht (66). Annabelles Glücksvorstellung ist zwar nicht durch ein persönliches externes Vorbild vermittelt, wohl aber durch die in ihrem familiären und bürgerlichen Milieu herrschenden Normen, die für sie selbstverständlich und fraglos gültig sind, wobei eine geeignete Mädchenzeitschrift die mediale Verstärkung beisteuert. Jedenfalls steht sie – noch weit außerhalb des mimetischen Regelkreises von stimulus und response und ist sich auch nicht bewusst, dass sich jemals eine Entsicherung von diesem Halt ereignen könnte. Als anfänglich dank der externen Vermittlung in sich ruhende Person, die von der Schwellensituation an zur ‚bewegten Frau’ 711 wird und nach einem turbulenten fünfundzwanzigjährigen theater of envy zur Ruhe kommt, ist Annabelle die vollkommene Protagonistin für einen eigenen Roman, welcher der von Girard geforderten Sequenz-Struktur gerecht wird. Mit dem Verlust der provinziellbürgerlichen Stabilität durch den Verführer David di Meola, der, nachdem Michel die Einladung zum nächtlichen Tanz am Lagerfeuer abgelehnt hat, in Annabelle die körperliche Lust geweckt hat: Beim erstenmal hat es etwas weh getan, aber anschließend hatte sie Lust verspürt, wilde Lust; sie hatte nicht einmal geahnt, dass sexuelle Lust so stark sein könnte. Und dabei hegte sie keinerlei Zuneigung für diesen Typen; (98), verlässt die Protagonistin die stabile Umlaufbahn um einen externen Fixpunkt und gerät in den Bereich der direkten Kohabitation und damit in die Zone des unvermittelten, internen Begehrens und Begehrtwerdens. Der Annabelle-Roman wird nach diesem Umschwung ins Krisenhafte schließlich auch insofern den sequenziellen Anforderungen gerecht, als er in einer ausgeprägten kathartischen Station endet. Beim Wiedersehen mit Michel nach fast fünfundzwanzig Jahren blickt Annabelle auf ein unglücklich verlaufenes Leben zurück: „Ich glaube, ich habe der Liebe eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen. Ich habe mich zu leicht den Männern hingegeben; sobald sie erreicht haben, was sie wollten, haben sie mich fallengelassen, und ich habe sehr darunter gelitten“ (264). Obwohl die nun vierzigjährige Annabelle um die Risiken einer Schwangerschaft weiß, wünscht sie sich von Michel, der bereits die Einladung des Forschungsinstituts nach Irland angenommen hat, ein Kind: Mach mir ein Kind. Ich brauche jemanden in meiner Nähe. Du brauchst es weder aufzuziehen noch anzuerkennen; […] aber mach mir einfach ein Kind. […] Das ist meine letzte Chance. Manchmal bedaure ich es, dass ich abgetrieben habe (309 – 310). Wenn sich diese letzte Chance auch nicht bietet – Annabelle erfährt bei der ersten gynäkologischen Untersuchung nicht nur, dass die 711 In Anspielung an Der bewegte Mann, 1994, erfolgreiche deutsche Filmkomödie unter der Regie von Sönke Wortmann. 273 Schwangerschaft abgebrochen werden muss, sondern auch dass der fortgeschrittene Gebärmutterkrebs ihr nur noch wenige Monate lässt -, macht sie dennoch den glaubhaften Versuch, sich von ihrem unruhigen Leben abzuwenden und aus der Zone der internen Begehrensvermittlung herauszufinden: Sie hatte ein bewegtes Leben hinter sich; hatte Kokain genommen, an Sexparties teilgenommen, in Luxushotels geschlafen. Da sie aufgrund ihrer Schönheit in das Zentrum der Bewegung für die sexuelle Befreiung geraten war, die ihre ganze Jugend bestimmt hatte, hatte sie besonders darunter gelitten – und sollte letztlich ihr Leben dafür lassen (268). Obwohl die beiden Halbbrüder an ihrem jeweiligen Ort der Wandlung ankommen, Bruno am nächtlichen Jungbrunnen, wo er auf Christiane trifft, Michel am nächtlichen Tanzabend, wo er sich in sein Zelt zurückzieht und Annabelle ihrem Verführer überlässt, bleiben sie ihrem Begehrenstyp treu und installieren sich in ihren jeweiligen Handlungsräumen, Bruno in dem auf die Swinger Clubs ausgeweiteten Areal der sexuellen Erfüllung, Michel in dem durch die irische Forschungsstation erweiterten Labor für molekularbiologische Forschungen, Michel im geistigen Kontakt mit den Größen der vorangegangenen Forschergeneration, Bruno im corps- à- corps mit den in seinem Blickfeld sich bietenden Geschlechtern. Da auch Christiane, Brunos kongeniale Partnerin, eine deutliche Veränderung ihres Begehrenstyps vor ihrer Begegnung mit Bruno nicht erkennen lässt: Ich war sehr verliebt in meinen Mann. Ich habe sein Glied voller Verehrung gestreichelt und geleckt; […] ich besaß ein Foto von seinem aufgerichteten Glied , das ich immer in der Brieftasche bei mir hatte; es war für mich wie ein Bild der Andacht 712 (160), ist Annabelle die einzige der vier Hauptakteure, bei der sich eine Verschiebung der externen zur internen Vermittlung, vom erhellenden Licht zum verzehrenden Feuer nachzeichnen lässt. Beide Frauen scheiden freiwillig aus dem Leben, Annabelle durch eine Überdosis eines Beruhigungsmittels, Christiane durch einen Sturz im Treppenhaus mit dem Rollstuhl. Während die erbetene Schwangerschaft alle Anzeichen einer Umkehr und eines Neuanfangs aufweist, erleidet Christiane ihr Ende durch eine Überdosis Sex, als sie im Swinger Club zusammenbricht und von da an gelähmt ist. Hebt sich Annabelle von den anderen Figuren dadurch ab, dass die beiden Begehrenstypen und ihre Verschiebung in einer einzigen Person abgebildet werden, zeichnet sie sich zusätzlich noch darin aus, dass ihre Trajektorie nach den Phasen der Differenzierung und der krisenhaften Entdifferenzierung in eine finale Re-Differenzierung einmündet. Sie ist also in Elementarteilchen die romaneske Figur schlechthin, weil sie nicht nur den Übergang von der präliminaren Ordnung in das mimetische Chaos verkörpert, sondern auch den illusionären Schleier auf eine erneuerte Identität hin durchbricht und einen Ausweg aus dem Chaos, eine Konversion, andeutet. Der Typ des Begehrens, bei dem das Wunschobjekt dem Begehrenden unvermittelt gegenübersteht und ihm so nahe rückt, dass wie bei dem Kellerloch-Helden von Dostojewski eine antagonistische Situation entsteht, wird von den ElementarteilchenAkteuren nicht inszeniert. Brunos Schmerz über die Unerreichbarkeit des andern auch bei gesteigertem sexuellem Konsum geht nicht so weit, dass seine Frustration sich in Überwältigungsphantasie verwandelt, den ‚sozialdemokratisch’ verfassten und auf Vertragsbasis gestellten Rahmen der Triebbefriedigung verlässt und die Grenze zur Gewalt zu überschreitet. Das ‚Bündnis für Liebe’ bleibt gewaltfrei, und seine Sexpartnerinnen werden nicht zu doubles, die die Macht- und die identitäre 712 une image pieuse (177) 274 Überlebensfrage stellen; und im Verhältnis zu Christiane wird der Ernst der Ichbehauptung ohnehin von einem gewissen Maß an Vertrautheit und Verliebtheit abgemildert, so dass Christiane zu Recht bemerkt: „Du hast nichts Böses getan…“ (209). Gleichwohl komplettiert Elementarteilchen die Girardsche Typologie des Begehrens in einem teleskopischen Verfahren, in dem Bruno bei einem nächtlichen BrasserieBesuch in Les Halles von einem Artikel in Paris Match und von einem Buch (228 – 240) erzählt, das sich mit der Geschichte des David di Meola befasst, dem Verführer von Annabelle und dem Sohn des Francesco di Meola, welcher der Geliebte von Janine, Brunos und Michels Mutter, und der Begründer einer kalifornischen HippieKommune mit einer Dépendance in Südfrankreich war, auf der auch schon Christiane mit ihrer Mutter ihre Ferien verbracht hatte: Meine bescheuerten Eltern gehörten dem anarchistisch angehauchten, leicht ausgeflippten Milieu der 50er Jahre an. Der Verfasser des Buches From Lust to Murder: a Generation, das unter dem reichlich blöden Titel Génération meurtre (Mördergeneration) in Französische übersetzt worden ist, ist Daniel Macmillan, der Staatsanwalt des Bundesstaats Kalifornien, der in Los Angeles an dem Prozess gegen eine satanistische Sekte, die an die Charles Manson-Sekte erinnert, beteiligt war. Unter den Angeklagten war auch David di Meola, der jedoch der Polizei entkommen und nach Brasilien flüchten konnte. In seinem Buch zeichnet Macmillan Davids Biographie nach und formt aus der Lebensgeschichte die These, dass die ‚serial killers’ der 90er Jahre die Nachfahren der Hippies der 60er Jahre waren und eine ältere Tradition fortsetzen: zweihundert Jahre zuvor hatte de Sade einen ähnlichen Weg beschritten, in der auch die Wiener Aktionisten Nitsch, Muehl oder Schwarzkogler stehen, die mit ihren zu happenings erklärten Tiermassakern den dionysischen Willen propagieren, das Tierische und Böse im Menschen freizusetzen. Folgerichtig, so die Macmillan-These, muss die Befreiung des Individuums von allen moralischen und gesellschaftlichen Bidungen über die vom älteren di Meola verkündete und gelebte sexuelle Freiheit hinausgehen und sich in ihrer reinsten Form in der vom jüngeren di Meola praktizierten Gewalt, Zerstörung und Tötung realisieren. Es ist die Begehrenssituation, in der kein Rivale mehr vorhanden ist, der aus dem Feld geschlagen werden könnte, eine double-bind-Situation, in der das Wunschobjekt zugleich der potenzielle Rivale ist und für das Begehrenssubjekt eine solche Bedrohung darstellt, dass es, völlig auf sich allein gestellt, sich gegen dieses Wunschobjekt und - nach dem Motto des Kellerloch-Menschen: „Ich bin Einer, sie sind alle“ - gegen alle möglichen Wunsch-Hass-Objekte behaupten und durchsetzen muss. Die übliche Erklärung für das Umschlagen von Sexparties in Gewaltorgien durch die Suche nach stärkerem Nervenkitzel oder umfassenderer Befriedigung grausamerer Instinkte ist überwiegend an den sekundären Phänomenen orientiert. Für Daniel Macmillan hingegen ist dies ein durchaus logischer, unabwendbarer Prozess auf der Linie der individuellen Befreiung, hinter deren Fassade sich unweigerlich der Hedonismus in Satanismus verwandelt. Aber auch in diesem Satanismus sieht Macmillan eine unzulässige und leichtfertige Dämonisierung, weil die angeblichen Satanisten weder an einen Gott, noch an einen Teufel, noch an irgendeine außerirdische Macht glauben und die entsprechenden Zeremonien und Requisiten nur dazu benutzen, bei den Anfängern die moralischen Hemmungen zu überwinden. David di Meola, der als Rock-Gitarrist erfolglos bleibt, lernt bei seinem ersten Kontakt mit dem Popstar Mick Jagger einen Menschen kennen, der ein Machtproblem in 275 seiner Band hatte und durch einen Mord an dem Gitarristen Brian Jones zum Bandleader der größten Rockgruppe der Welt geworden ist. Für David schlägt blitzartig die externe Mediation in eine interne um. Zufällige begegnet er auf einer Party in Cannes seinem großen Vorbild: Er war mit einem Satz zwei Meter zurückgewichen, als sei er auf eine Viper gestoßen. Mick Jagger war der größte Star der Welt; er wurde heiß verehrt, war reich und zynisch, all das, wovon David nur träumen konnte. David schafft den musikalischen Durchbruch nicht, ist aber der Typ, der großen Erfolg bei den Frauen hat: Seine erotischen Ansprüche stiegen, und er gewöhnte sich an, mit zwei Mädchen gleichzeitig zu schlafen – am liebsten mit einer Blonden und einer Dunkelhaarigen. Die meisten waren einverstanden, denn er sah wirklich sehr gut aus – er hatte etwas Kräftiges, Männliches, fast Tierisches. Nach und nach nimmt die sexuelle Begierde veränderte Formen – und dominantere Stellungen - an: Er verlor allmählich das Interesse an an der Penetration, aber empfand immer noch große Lust beim Anblick der Mädchen, die vor ihm knieten und seinen Schwanz lutschten. Als er dann in Koalifornien in Kontakt mit satanistischen Sekten tritt, die im allgemeinen nur rituelle Orgien feiern und manchmal auch Tieropfer vollziehen, bekommt er durch ihre Vermittlung Zugang zu härteren Kreisen, in denen auch Chirurgen abortion-parties organisieren, in denen nach der Operation der Fötus zermalmt, durchknetet und mit Brotteig vermengt [wird], um anschließend von den Teilnehmern verspeist zu werden. So überrascht es nicht, wenn Macmillan notiert, dass David 1983 seinen ersten Ritualmord begehen darf, und zwar an einem puertoricanischen Säugling. Zu diesem Zeitpunkt hat David seinen Traum, ein Rockstar zu werden, verabschiedet, auch wenn ihm den Anblick von Mick Jagger auf dem Musiksender MTV manchmal fürcherliche Magenschmerzen bereitet. Statt dessen identifiziert er sich auch aufgrund seiner Genueser Abstammung in seiner Allmachtsphantasie mit Napoleon, welcher - im Gegensatz zu Hitler, im Gegensatz zu Stalin - Europa mit Feuer und Schwert verwüstet und Hunderttausenden von Menschen den Tod gebracht hatte, ohne auch nur eine Ideologie, einen Glauben oder irgendeine Überzeugung als Ausrede vorbringen zu können. Der nach der Macmillan-These logische Endpunkt ist schließlich erreicht, als auf einer in der Gerichtsverhandlung vorgeführten Video-Kassette – aus einem guten ‚snuff movie’ konnte man viel Geld herausschlagen, rund zwanzigtausend Dollar für eine Kopie – David mit unverhülltem Gesicht zu erkennen ist: Di Meola hat mit einer großen Kneifzange das Baby vor den Augen der Großmutter zerstückelt, dann hat er der alten Frau mit den Fingern ein Auge ausgerissen, ehe er in ihre blutende Augenhöhle onaniert hat. Die Begehrenssequenz des David di Meola endet in einer viktimären Konklusion, wie sie Girard immer wieder in den Riten und den mythisch konstruierten Erzählungen nachzeichnet. Dabei ist das Ziel der Opferhandlung nicht die Tötung an sich, sondern der Ge- oder Verbrauch des Getöteten zu dem Zweck, die an der Verfolgung und der Tötung Beteiligten als Komplizen einer ungeheuren Tat zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenzuschweißen, das Ensemble gegen innere Fliehkräfte zu immunisieren und nach außen abzuschirmen. Sinnfälliger als die ‚Ausbringung’ des Spermas in die im Blut schwimmende Augenhöhle der gefolterten Frau ist das Opfermahl als materialisierte Kommunion und als colle collective, welches den Opferer und die gegebenenfalls medial vergegenwärtigte und ausgeweitete Verfolger- und Opfergemeinschaft vorübergehend ruhig stellt und so eine heilende, im Sinn der Gruppenreligion sakralisierende Wirkung entfaltet. Daher ist der von Bruno erzählte David des Macmillan der Protagonist eines auf der Folie des violenceet-sacré-Verfahrens aufgeführten Stückes, in dem die aufgrund der ganz fernen und 276 der ganz nahen Vermittler – von Napoleon über Mick Jagger bis hin zu den sich als Satanisten gebärdenden Mitwirkenden in den Sex- und Folterparties – ausgelöste mimetische Krise sich abspielt. Das Arrangement der Party-Szenen lässt durchaus die Deutung zu, dass der Protagonist nicht nur auf eigene Faust, sondern von der Gruppe mandatiert vorangeht und dass somit die Zurichtung und die folgende Einverleibung des Opfers sowohl der individuellen, als auch der kollektiven Ruhigstellung dienen. Insofern wird die mimetische Krise gleichsam programmgemäß durchlaufen und durch die gewaltsame Re-Differenzierung von Täter und Opfer, Verfolgung und Beute, Hinrichtung und Einverleibung zu Ende gebracht, so dass eine neue Ordnung aufgrund einer neuen Hierarchiebildung möglich erscheint. Gleichwohl ist diese neue Ordnung in höchstem Maß gefährdet, da das zur Anwendung gekommene Verfahren prinzipiell unter Wiederholungszwang steht, extrem ansteckend ist und kaum kulturell eingegrenzt werden kann. Indem Bruno seiner Geliebten diese Geschichte eines Entfesselten erzählt – Macmillans Buchtitel warnt vor der Entfesselung einer ganzen Generation -, markiert er die Distanz zu seiner eigenen, gewissermaßen privat- und gesellschaftsvertraglich eingefriedeten Begehrenslaufbahn. Es kommt ihm daher nicht in den Sinn, in seinem Verhalten eine Analogie zu Davids Karriere zu sehen, seine Kränkungen mit denen des gescheiterten Rockstars zu vergleichen und die von ihm gefundene Lösung gegenüber der von David verübten Gewalttat zu bewerten. Für Bruno handelt es sich um unterschiedliche Strategien, die man als Menschenleben bezeichnet. Von David unterscheidet er sich nicht dadurch, dass er andere Lebensziele als den Sinnengenuss verfolgt, vielleicht aber darin, dass er auf seiner Suche nach Sinnenfreuden nicht auf die Wertschätzung oder Bewunderung der anderen 713 (241) verzichten will, was die anderen zu Mitsuchenden macht und sie davor bewahrt, seine Opfer zu werden. c. ) Konversion Annabelle und Christiane gehen in den Tod, David entkommt nach Südamerika, Bruno meldet sich für immer in der psychiatrischen Klinik zurück, und Michel wird zum letzten Mal am 27. März 2009 gesehen. Sein Auto war in der Nähe des Strandes abgestellt, seine Leiche wird nie gefunden. Man nimmt an, dass er, nachdem seine Arbeiten beendet waren, beschlossen hat, zu sterben, da ihn keinerlei menschliche Bande mehr zurückhielten (344). Sieht man von Annabelles Versuch ab, ihrem Leben aus eigenem Antrieb eine Wende zu geben, vollzieht sich an den Akteuren der Erzählung keine Konversion. Schon gar nicht im Fall des Michel Djerzinski, dessen Geschichte dieses Buch in erster Linie gewidmet ist, und bei dem, was das Selbst- und Weltverständnis angeht, alle Entscheidungen seit seiner frühen Kindheit gefallen sind. Er ist auf dem einmal eingeschlagenen Weg als Wissenskollektor und als Forscher durch nichts und durch niemand mehr – also durch keinen internen Vermittler – abzubringen, weder durch seinen Bruder, der ihn wegen seiner fast autistischen Zielstrebigkeit zugleich bewundert und bemitleidet, noch durch Annabelle, deren Schönheit überall Aufsehen erregt, ihn jedoch gleichgültig lässt. 713 l´estime ou l´admiration d´autrui (264), wo der andere zugleich Subjekt und Objekt ist. 277 Sucht man die Antwort auf die Frage nach der Konversion aber nicht in einer plötzlichen Erleuchtung in der Art eines Gnaden-, Blitz-, Turm- oder Bergerlebnisses, sondern in einer Strategie zur Überwindung der mimetischen Krise oder gar deren Vermeidung sowie in einem Verfahren zur Entfaszinierung des Wunschobjekts, stellen die Konklusionen der beiden Halbbrüder – in beiden Fällen geht es darum, in einem jeweiligen Akt von mort au monde der Welt zu entsagen – Lösungen dar, die unter dem Girardschen Aspekt der Konklusionen als Tempel der romanesken Wahrheit eine Analyse geradezu herausfordern. Ob eine Erzählung einer mythischen oder einer romanesken Sequenz gehorcht, ob sie sich dem mimetischen Taumel hingibt oder ihn durchschaut, entscheidet sich nach Girards narrativer Grammatik nicht in der Weite des erzählerischen Vorfelds, welches der konklusionären Erhebung vorgelagert ist. Dort, auf dem erzählerischen Schau- und Turnierplatz werden mit dem nötigen Aufgebot an begehrendem und rivalisierendem Personal sowie an per Konkurrenzlogik knapp gehaltenen Wunschobjekten die Begehrensdreiecke aufgebaut und die Begehrensvermittler verschoben, werden Konversionsstrategien angedeutet und die Erfahrungen von Außenstehenden eingeholt, wird geprüft, gewogen und verworfen. Ob das ganze Erzählprojekt letztlich ein Beitrag zur Enthüllung der vérité romanesque, oder aber zur Perpetuierung des mensonge romantique ist, zeigt sich nicht vor dem Fallen des letzten Vorhangs – am Beispiel des Don Quixote ist dies die Stunde seines Todes und seiner Konversion im Sinn einer Absage an die Welt der Illusionen und mimetischen Begierden. Dabei ist zu erinnern, dass in der Analyse von Girard eine vérité romanesque nicht zu denken ist ohne die – soziodramatische, nicht dogmatische - Analogie zu einer vérité évangélique und vérité religieuse und dass das literarkritische Attribut romantique in Resonanz zu mythique und moderne, prometheisch, napoleonisch, faustisch zu verstehen ist. Bereits beim kindlichen und jugendlichen Michel fällt auf, dass sein überragendes Wissen nicht als Konkurrenzvorteil gegenüber den Kameraden und Mitschülern eingesetzt wird. Im Institut, wo er mit vierzig Jahren das Sabbatjahr beantragt ohne Vorhaben, ohne Ziel, ohne eine Spur von Rechtfertigung (20) schlägt er mit seiner Entscheidung die besten Karriere-und Profitchancen aus. Erfolgsstreben im Wettbewerb mit anderen ist das, womit sich sein Halbbruder im Wettlauf um Sinnengenuss, im Theater der körperlichen Liebe 714 (163) verzehrt. Er aber will nicht die Kreatur seiner Rivalen sein und sich nicht dem Sog der Wunschobjekte aussetzen; schon als Jugendlicher ist er abgestoßen von Nietzsches moralischem Defätismus und fasziniert von Kant, dessen Lektüre das bestätigt, was er an den Indianer-, Wikinger und Kalifenhelden von Pif bewundert hat, dass nämlich die reine Moral nicht determiniert ist, sondern ihrerseits determiniert: Sie ist nicht bedingt, aber sie bedingt (38). In bewusster Anlehnung an den biblischen Wortsinn gibt Michel zu verstehen, dass mit dem Sabbatjahr das Ende der ersten Schöpfung begonnen hat und die Genesis der zweiten Ordnung ihr Werk aufnehmen kann. Er selbst wird sich in diesem Jahr der inneren Einkehr im Klaren darüber, dass mit den gentechnischen Möglichkeiten eine neue Epoche der Menschheit heraufzieht und dass Wissenschaftler von seinem Rang deren Wegbereiter sind. Seit der Entdeckung, im Sommer seines Sabbatjahrs, von Spuren fossilen Lebens auf dem Mars, das sich selbst repliziert haben muss, steht für Michel fest: Die Koppelung von Leben an die geschlechtliche Fortpflanzung 714 comédie de l´amour physique (181) 278 kann aufgebrochen werden, und mit der Entbindung der Biogenese vom sexuellen Verlangen entfällt nicht nur das Theater der körperlichen Liebe, sondern auch die UrSache und der Prototyp für alles erobernde, konkurrierende, Besitz ergreifende Begehren im zwischenmenschlichen, sozialen und globalen Bereich. Erfolgt die Replikation ohne Zeugung und Empfängnis, wird sie zu einem technischen Vorgang am Beginn des Lebens. Erreicht sie den Status einer vollkommenen Replikation (187), wo jede Zelle mit einer unendlichen Kapazität von aufeinanderfolgen Replikationen ausgestattet (348) wird, verwandelt sich die herkömmliche Schwelle des Todes zum Ort der Lebens- und Unsterblichkeitsvergewisserung. Die Konsequenzen dieser Entdeckung wären in der Tat schwindelerregend (348). Jedes Lebewesen, und sei es noch so hoch entwickelt, könnte durch kopiergenaue Replikation in ein verwandtes Exemplar verwandelt werden, welches sich wiederum durch Klonen, also durch die unveränderte Weitergabe der genetischen Information fortpflanzen ließe und somit unsterblich wäre. Da diese Entdeckung aber noch hypothetischen Charakter hat, wendet sich Michel wieder der Forschung zu und sucht dringend die entsprechenden Arbeitsbedingungen, um seine Intuition auf eine empirische Grundlage zu stellen: Ich bräuchte eine Stelle am Institut für genetische Forschung von Galway in Irland. Ich muss schnell eine einfache Versuchsreihe aufbauen können, und zwar unter möglichst genauen Temperatur- und Druckverhältnissen und mit einer großen Auswahl radioaktiver Marker. Vor allem brauche ich große Rechnerkapazitäten… (306). Michel erhält von seinem Pariser Institut die Freigabe und erklärt Annabelle ohne Umschweife, auf logische, präzise Art, warum er nach Irland gehen müsse. Das Programm, das ihn erwartete, war jetzt genau abgesteckt (309). Die ersten Zuchterfolge mit artenverbesserten Kühen bestärken ihn in der Annahme, Lebewesen ganz allgemein als selbstreproduzierfähige Systeme (309) zu betrachten, den Durchbruch seiner Forschungen sollte er jedoch nicht erleben. In der Art eines Mose, der das gelobte Land erschaut, aber nicht betritt, bleibt Michel in einer Art Selbstopfer an der Schwelle zur neuen Ordnung zurück, so dass seine Nachfolger die vom ihm durchgeführten Berechnungen und Aufzeichnungen auswerten und einer staunenden Öffentlichkeit als ein neues umfassendes Erklärungssystem des Menschen und der Welt (8) präsentieren. Diese Clifden-Notes (336) sind benannt nach der gleichnamigen Halbinsel, der westlichsten Spitze Europas, am äußersten Zipfel der westlichen Welt. Vor ihm breitete sich der Atlantische Ozean aus, viertausend Kilometer trennten ihn von Amerika (331). In diesen anspielungsreich als äußerste go-west- Botschaft des alten Europa an die neue Welt und an das neue Zeitalter fomulierten Aufzeichnungen, die in der Zeit von 2000 bis 2009 entstanden sind, verbindet Michel eine auf einer Reise nach Dublin gegen Ende 2005 entdeckte Handschrift aus dem Jahr 1185, dem Book of Kells (340), in dem eine EvangelienKonkordanz irischer Mönche aus dem 7. Jahrhundert kommentiert wird, mit seinen Berechnungen. Indem er sein eigenes, biogenetisches Testament, das mit Hilfe der zwei Cray-Parallelrechner (306) des irischen Instituts erstellt wird, in die Genealogie der westeuropäischen Zivilisation einfügt – die Evangelisierung Englands und des europäischen Festlands erfolgte ab dem 6. Jahrhundert durch irische Missionare -, erhebt er mit seiner Arbeit keinen geringeren Anspruch als den, inmitten des Selbstmords der westlichen Welt (269) – in Girards Diktion: des unaufhaltsamen Allegegen-alle -, eine neue ‚Frohe Botschaft’ zu verkünden und die Basis für ein neues Erlösungs-und Friedenswerk zu legen. 279 Die mit hymnischem Pathos besungene metaphysische Revolution (334), deren epochale Wirkung – in Resonanz auf die Stadienlehre des Auguste Comte - mit der Ablösung des römischen Reichs durch das Christentum und wiederum dessen Überwindung durch die moderne Wissenschaft verglichen wird: Diesem Bedürfnis nach rationaler Gewissheit hat die westliche Welt schließlich alles geopfert: ihre Religion, ihr Glück, ihre Hoffnungen und letztlich ihr Leben (304), wälzt mit der Abschaffung der geschlechtlichen Fortpflanzung mehr als nur einen spezifischen Lebensbereich um. Gleichgültig und völlig mühelos haben wir ihre Welt des Todes zurückgewiesen (335), heißt es im Schlusskapitel von Emotionale Unbegrenztheit, welches die anthropologischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen der vollkommenen Replikation reflektiert. Dadurch dass Michel Djerzinski der Menschheit die körperliche Unsterblichkeit schenkt, verändert sich der Begriff der Zeit und der Zahl grundlegend. Leben und Altern ist nicht mehr der Prozess des körperlichen Verfalls. Mit der Angst vor dem Tod und vor der Krankheit verlieren die Menschen auch die Angst vor dem leeren Raum und vor der Trennung. Trennung ist ein anderer Name für für das Böse; sie ist auch ein anderer Name für die Lüge, schreibt Djerzinski, und nach der endgültigen Überwindung der Trennung gibt es nur eine herrliche, riesige gegenseitige Verflechtung (341). Nach Meinung des Herausgebers von Michels Schriften besteht dessen größtes Verdienst darin, dass er nach der Aufgabe der individuellen Freiheit und der genetischen Individualität, der Quelle fast aller unserer Leiden (353), einen Weg aufgezeigt hat, durch eine – wenn auch etwas gewagte – Interpretation der Quantenmechanik die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen (342), wie sie Michel in dem von sexuellen Interessen losgelösten Wiedersehen mit Annabelle kennengelernt hat. Auch bedeutet das Ende der Sexualität als Fortpflanzungsmodus nicht das Ende der sexuellen Lust. Mit der Identifizierung der kodierenden Sequenzen, die bei der Embryogenese die Bildung der Krause-Endkolben programmieren, wird es der Gentechnik in Zukunft gelingen, diese bei den ‚vorrevolutionären’ Menschen nur spärlich auf der Oberfläche der Klitoris und der Eichel verteilten Zellen über die gesamte Oberfläche der Haut zu verteilen und somit auf dem Gebiet der Sinnesfreuden geradezu unglaubliche, nie dagewesene erotische Empfindungen hervorzurufen (352). Michel sieht voraus, dass seine radikale Idee, die Menschheit müsse einer neuen geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben schenken, die die Individualität, die Trennung und das Werden überwunden hat (348), auf großen Widerstand, besonders der Offenbarungsreligionen, der jüdischen, der christlichen, der islamischen, stoßen würde, deren Schöpfungstheologien und ontologische Gottesbegriffe mit der Idee einer autopoietischen Menschheit nicht vereinbar sind. Neben den Naturschützern und den Wortführern der ökologischen Bewegung, die noch an den überholten Trennungen und Hierarchisierungen festhalten: Sie haben hier (im Hinterland von Nizza, d. Verf.) mit der Parole „Jagd – Fischfang – Natur – Tradition“ […] Wölfe wieder eingeführt, Horden von Wölfen, und die fressen die Schafe… (287), sind es die traditionellen Anhänger des Humanismus mit ihren Begriffen von Menschenwürde, individueller Freiheit und Fortschritt sowie die gebildeten oder halbgebildeten Schichten (349), die die Entfaltung dieser Ideen zunächst behindern. Aber nach und nach setzt sich, so der Djerzinski-Nachfolger Hubczejak, weltweit und vorangetrieben durch die UNO, die großen Verlage und die Universitäten der Gedanke durch, dass die Menschheit in dem Stadium, in dem sie angelangt war, die gesamte Entwicklung 715 der Welt – und insbesondere ihre 715 évolution (387) 280 eigene bilogische Entwicklung – steuern konnte und musste (350). Im Bewusstsein, dass keine Gesellschaft ohne die kohäsive Funktion einer Religion überleben kann (351), schafft es Hubczejak mit Unterstützung einflussreicher Wissenschaftler (351), die New-Age-Bewegung, die zu ihrer Zeit einen Bruch mit dem 20. Jahrhundert und seiner Unmoral, seinem Individualismus und seinem libertären, antisozialen Charakter (351) vorbereitet hat, widerzubeleben und zu erneuern. Er ruft nicht nur zur Bildung einer einer Weltregierung auf, deren Denk- und Handlungsmaxime die rationale Gewissheit ist, sondern versteht es, diesem im Vergleich zur alten Ordnung unerhörten Paradigmenwechsel, der von der 2011 gegründeten Bewegung für das menschliche Potenzial (351) ausgeht, die Durchsetzungskraft und Begeisterungsfähigkeit einer alle Lebensbereiche erfassenden religiösen Bewegung zu verleihen. „Christus ist nicht auferstanden; er hat seinen Kampf gegen den Tod verloren“ (293), bemerkt Bruno, als er sich ein letztes Mal mit Michel am Sterbebett ihrer Mutter trifft, die am Ende ihrer Glückssuche durch sufistische Mystk inspiriert zum Islam übergetreten (286) war. In der neuen Ordnung ist dieser Kampf nun gewonnen. Der Tod hat keinen Stachel mehr. Von den große Religionen, in denen der Wert des Menschen auf einer einzigartigen, persönlichen Beziehung zum Schöpfer beruht (348), wäre nur der Buddhismus imstande, das Prinzip einer technischen Erlösung zu würdigen, da Buddha seine Lehre entwickelt hat, nachdem ihm bewusst geworden war, welches Hindernis Alter, Krankheit und Tod darstellen (348 -349). Spätestens seit 2013 ist der weltweite Meinungsumschwung erreicht, und Hubczejak findet keinen Widerspruch mehr mit seinem berühmten Slogan: „DIE WANDLUNG FINDET NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN“ (355). Die Menschheit kann sich sechzig Jahre nach den ersten Schritten eines Menschen auf dem Mond eines größeren, tatsächlich metaphysischen Entwicklungsschritts rühmen, nämlich die erste Spezies der bekannten Welt zu sein, die die Bedingungen geschaffen hat, sich selbst zu ersetzen (356). Die von Michel Djerzinski erdachte, von seinen Nachfolgern propagierte, von der Weltregierung vollzogene und von dem universellen Glauben an den Neuen Bund (351) getragene Wandlung ist nicht die Konversion eines Menschen. Der Konvertit ist die Menschheit; sie hat durch die vollkommene Replikation und mithin die Ausschaltung des Todes die Spirale des mimetischen Begehrens endgültig außer Kraft gesetzt. Die Akte des Zeugens und Gebärens sind nicht mehr die ebenso lebensnotwendigen wie ohnmächtigen Gesten eines Aufbegehrens gegen den Tod, sie sind nicht mehr der verzweifelte menschliche Triumph des ekstatischen Augenblicks. Die ökonomischen, künstlerischen, philosophischen Anstrengungen sind nicht mehr als Bemühungen um eine Garantie von Unsterblichkeit zu verstehen; es gibt keine Notwendigkeit mehr, das Überleben zu sichern beziehungsweise ein materielles oder ideelles Gut auf Dauer zu stellen und in Konkurrenz zu Dritten in seinen Besitz zu bringen. Ehe und Familie, Verwandtschaft, Erbschaft und Generationenverträge in jeglicher Hinsicht sind auf einmal Begriffe ohne Inhalt. Die Wissenschaft und die Kunst bestehen zwar weiter, aber die Suche nach dem Wahren und Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespornt wird, einen weniger dringlichen Charakter (356). Wenn alle Individuen denselben genetischen Code besitzen, bedeutet dies nicht das Ende der menschlichen Persönlichkeit; vielmehr verschwindet mit der genetischen Individualität, auf die wir aufgrund eines tragischen Irrtums so lächerlich stolz waren, die Quelle fast aller unserer Leiden (353), und die Menschen sind verbunden in einer 281 neuen Brüderlichkeit, die […] das wichtigste Element für die Wiedererstellung einer ausgesöhnten Menschheit (353) ist. Da die Wandlung nicht im Geist stattfindet, also weder in der asketischen Abwendung von der Welt der Illusionen noch im heldenhaften Hinschlachten eines Opfers beziehungsweise im gewollten katastrophischen Untergang des Täters mit seinem Opfer, ist die Elementarteilchen-Konklusion mit der Dichotomie der romanesken Konversion und der mythischen violence-et-sacré-Lösung nicht mit hinreichender Genauigkeit zu erfassen. Diese Konklusion ist auch deswegen nicht ausschließlich nach den Girardschen Kategorien von romanesk oder mythisch zu deuten, weil sie sich nicht auf Entscheidungen und Willensakte zurückführen lässt, sondern als Mutation eine evolutionäre Verlaufsform aufweist, in der die Position der Akteure und der Betroffenen sich nicht eindeutig bestimmen lässt. Wenn sich dennoch in der genetischen Wandlung, die sich als Eingang in ein Paradies (356) versteht und daher nicht mehr dem mythischen Wiederholungszwang verpflichtet ist, opferlogische Elemente finden lassen, kann dies nur dahingehend gedeutet werden, dass das in dieser Wandlung gebrachte Opfer ein allerletztes Opfer ist, welches nicht mehr real oder rituell erneuert werden muss. Damit erhält diese Wandlung das Gewicht einer Zeitenwende und bestätigt den – in theologischer Diktion: soteriologischen - Anspruch, eine metaphysische Revolution zu sein, nach welcher nichts mehr so ist wie vorher. Nach einem Zitat von Auguste Comte aus dem Aufruf an die Konservativen werden die Zeitgenossen einer Epoche, in der sich grundlegende Veränderungen vollziehen, als geopferte Generationen 716 (175) bezeichnet. Und in den letzten Zeilen des Epilogs, in dem ein Erzähler zweiten Grades – aus der Distanz der siebziger Jahre des 21. Jahrhunderts - die im Buch erzählte Geschichte reflektiert, kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass Elementarteilchen eine Opfergeschichte ist, die eindeutig den Standpunkt des dargebrachten Opfers teilt, welches zwar nicht sakralisiert wird, für das man aber dieser geopferten Generation zu Dankbarkeit verpflichtet ist. Der Nachredner blickt anerkennend zurück auf jene leidgeprüfte, mutige Spezies, die uns geschaffen hat, […]. Jene gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und an die Liebe zu glauben. Und auch jene Spezies, die es zum erstenmal in der Geschichte der Welt verstanden hat, die Möglichkeit ihres eigenen Überwindens 717 zu erwägen; und die es einige Jahre später verstanden hat, dieses Überwinden in die Tat umzusetzen (357). Die Wandlung ist ein Opfer ohne kollektive oder individuelle Gewaltanwendung, ohne Schuldspruch, ohne Selbstanklage eines Sündenbocks und ohne Rechtfertigungsdruck eines Opferherrn; sie gleicht einem schmerzfreien, gleitenden Absterben ohne agonistisches Aufbäumen. Mensch-Sein nach der alten Ordnung ist überholt, hat sich überlebt. Schon ein halbes Jahrhundert nach Michels Entdeckung der vollkommenen Replikation gibt es nur noch wenige kulturelle Enklaven, in denen sich traditionelle religiöse Vorstellungen erhalten haben und die Menschen sich noch geschlechtlich fortpflanzen. Aber auch dort ist der in Elementarteilchen erzählte Prozess der Auflösung der alten Ordnung nicht aufzuhalten: Ihre Fortpflanzungsrate verringert sich jedoch von Jahr zu Jahr, und ihr Aussterben scheint heute 716 717 générations sacrifiées (193) dépassement (394) 282 unabwendbar zu sein. Entgegen allen pessimistischen Voraussagen vollzieht sich dieses Aussterben bis auf einzelne gewalttätige Handlungen, deren Zahl Immer mehr abnimmt, sehr friedlich. Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher Ruhe, welcher Resignation und vielleicht sogar insgeheimer Erleichterung die Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben (356). In dem nun erreichten Stadium der emotionalen Unbegrenztheit ist die Schwelle überschritten, die aus dem materialistischen Zeitalter herausführt. Und die Entfernung ist bereits so groß, dass man sich die Geschichte dieser Ära erzählen kann, ohne dass die Zuhörer davon emotional berührt werden. Wenn darin von Sünde und Gnade die Rede ist, von Begierden und Zugehörigkeit, von Freuden und Leid, lässt das die Menschen der neuen Ordnung gleichgültig, für sie ist die alte Ordnung eine schon unvorstellbar gewordene Welt des Todes (335). Die Girardsche Leitunterscheidung zwischen einer Erzählung, die als mensonge romantique das mimetische Begehren lediglich reflektiert, und einer solchen, die, erleuchtet von einer vérité romanesque, dieses Begehren durchschaut und sowohl seinen Gewaltkern als auch seine soziale Brisanz enthüllt, ist angesichts der konversiven Konklusion durchaus zu Gunsten der letzteren zu treffen. In der Perspektive diese Konklusion sind dann alle Personen der Erzählung als Akteure zu betrachten, deren Reden, Handeln und Nachdenken als Beitrag zu dieser Lösung zu begreifen ist. Sie wären dann alle, da sie – und Michel machte da keine Ausnahme – aus den Jahrhunderten des Schmerzes (335) stammen, Vertreter der geopferten Generation, deren Opfer in den unterschiedlichsten Rollen das Lösegeld für die neue Zivilisation ist. Sie wären dann als Märtyrer zu ehren, die, ohne es zu wissen, einer guten Sache gedient haben. Als Märtyrer allerdings, denen jede Vorbildfunktion für die jetzt Lebenden abgeht, die von sich sagen: …wir haben das Recht, unser Leben zu führen (335). Sie verlieren ihre Vorbildfunktion, weil mit diesen Personen der alten menschlichen Geschichte auch das Zeitalter jeglicher Mimesis zu Ende gegangen ist und für die vergangenen Helden im ‚Neuen Bund’ kein Platz mehr ist, wo es nichts zu verteidigen und nichts zu erstreben gilt, weil es aufgrund der genetischen Brüderlichkeit niemanden gibt, der einem das eine oder das andere streitig machen könnte. Nach der letzten Wandlung, in der mit Hilfe der Wissenschaft die göttliche Imitation erreicht wurde, ist das mimetische Begehren mit dem friedlichen Untergang der alten Welt sanft eingeschlafen. Das theatre of envy ist versiegelt, die trianguläre Provokation verstummt, weder in der Ferne noch in der Nähe ein Vermittler in Sicht. Nicht einmal mehr ein Denkmal oder ein Grab zeugt von dem letzten Akt der Schöpfung, weil keinerlei Gewalt im Spiel war, die eine sakrale Verhüllung und divinisierende Umwertung hätte erforderlich machen können. Die soziodramatisch strukturierte erzählerische Sequenz ist über das präliminare verlorene Reich (13 – 104) und die mimetische Kampfzone der seltsamen Augenblicke (107 – 298) zur para-viktimären Konklusion der emotionalen Unbegrenztheit (301 – 344) mit ihrer universalen Konversion gelangt und ist einer – auch von den Riten nachgezeichneten - Trajektorie gefolgt, deren Startpunkt eine bereits mit den Keimen ihrer Zersetzung infizierte Ordnung war, an deren kritischem Scheitelpunkt die latenten suizidalen Risiken freigelegt wurden und an deren Endpunkt eine neue Ordnung, eine neue Basis der sozialen Synthese gewonnen wurde. Da die neue Elementarteilchen- Ordnung den anthropologischen Umbau vollendet und die Mimesis als Ur-Sache alles Menschlichen für immer ausgeschaltet hat, spricht nichts dagegen, dass diese Ordnung sich als historisch haltbar erweist. Sie erfüllt in ihrer Perfektion die optimistischen Visionen eines Gabriel Tarde am Ende des 19. 283 Jahrhunderts, dessen durch den technischen Fortschritt erlöste Republik die Solidität eines traité de paix final besitzt und alle Widersprüche in einem simple et puissant unisson auflöst. René Girard, davon kann mit Sicherheit ausgegangen werden, würde einen solchen, sich auf die technische Konversion stützenden Optimismus nicht teilen. 3. Der Himmelblaue Speck von Vladimir Sorokin (1999) Der Handlungsrahmen Über Sydney gelangt der Biophilologe Boris Gloger zu einer von der ostsibirischen Stadt Ačinsk sechs Propellerschlitten-Stunden entfernten, ehemaligen sowjetischen Raketenstation, in deren Bunker das GENLAB-18 untergebracht ist, wo Experimente zur Züchtung von Menschen aus der in ihrem Knochenmaterial gespeicherten Information gemacht (215 – 216) werden. Das auf sieben Monate veranschlagte Projekt steht unter militärischer Leitung, wobei der sonstige militärische Einsatz, das Nashorn anzumalen (30) jenseits eines jeden nur dankbaren Kampfeinsatzes angesiedelt ist. Ein Oberst ist verantwortlich für das Team, dem neben 32 Bediensteten, den Weiß-Buttons, drei Leutnants als Maschinenführer, vier Genetiker, darunter ein Deutscher und ein Chinese, zwei Mediziner, ein Thermodynamiker und Boris als Logostimulator angehören. Boris schreibt dort vierzehn Briefe an seinen Geliebten, den Herrn F., den er seit drei Jahren kennt und der in Sankt Petersburg tätig ist. Dort arbeitet dieser in der GERO-Kunst, die sich mit der Herstellung von Vibropräparaten mit reaktiver Wirkung (438) befasst. In der ebenfalls dort ansässigen Gen-Kunst werden die so genannten Erregen-Objekte hergestellt, die für biophilologische Experimente benötigt werden. Boris Glogers schwuler Freund ist von der chinesichen Filmschauspielerin Fei Tan fasziniert ist, deren Filme ihn immer wieder im Sensor-Kino in höchste Erregung versetzen. Der Roman beginnt mit dem ersten, am 2. Januar 2068 aus Jakutien datierten Brief: Grüß Dich, mon petit (7); er endet mit eben diesem Brief, den der GERO-Künstler per Brieftaube erhält und gelangweilt wegwirft, bevor er sich im Beisein des auf Zeitreise befindlichen Stalin von seinem Spiegelbild bestätigen lässt, dass er dank des aus himmelblauem Speck gemachten Umhangs diesem Filmstar wie ein Ei dem anderen (434) ähnlich sieht. In den vierzehn Briefen, deren letzter auf den 8. April datiert ist, wird von den biophilologischen Versuchen berichtet, in denen es darum geht, aus sieben literarischen Objekten, die in Biotreibhäusern einem Stimulator ausgesetzt werden, eine möglichst große Menge an himmelblauem Speck zu gewinnen; von diesem verspricht man sich die Lösung der letzten energetischen und damit politischen Probleme des 21. Jahrhunderts: … sie bauen einen Reaktor auf dem Mond, einen Reaktor für konstante Energie […] und damit kann man das Problem der ewigen Energie lösen (163 – 164). Der technologische Vorsprung Europas und Amerikas gegenüber China ist geschrumpft, die globale Massenkultur, von der High-TechProduktion über die Gastronomie und Musik bis zur Filmindustrie – die 284 Vorrangstellung chinesischer Blockbuster (12) ist unbetreitbar -, steht eindeutig unter chinesischer Dominanz. Die Einheitswährung ist der Neue Yuan (17). Daher ist dem Buch ein chinesisches Glossar (435 – 437) mit einzelnen Vokabeln und Redewendungen beigegeben, damit der Leser nachschlagen und erfahren kann, dass etwa die primäre Kontaktformel nin hao für grüß dich, hallo, guten Tag steht. In einem Anhang für Fachausdrücke (437 – 439) wird ‚erklärt’, dass ADAR ein Anhänger der bioenergetischen Unabhängigkeit Kolcovs ist und Rapid ein Mensch mit Veranlagung zum Multisex. Die Welt wird so sehr aus chinesischer Sicht betrachtet, dass der Fremdling, Außenseiter, auch Ausländer mit lao wai bezeichnet wird, die lange Zeit kursierende internationale Konversationsmünze O. K. nun chang tai (35) heißt und die Krankheiten mit tibetischen Ausdrücken bezeichnet werden. Nur wenige wissen noch, dass der international geläufige Kraft- und Fluchausdruck rips erst nach der Atomkatastrophe von Oklahoma im Jahre 2028 in der euroasiatischen Umgangssprache heimisch geworden ist, wo ein Sergeant der USMarineinfanterie namens Jonathan Rips freiwillig in der strahlenverseuchten Zone blieb und über sein fünfundzwanzigtägiges Sterben eine detaillierte Radioreportage gab (439). Da jedoch das Glossar nicht erschöpfend ist, werden beim Leser entweder basale Chinesisch-Kenntnisse vorausgesetzt oder die Bereitschaft, sich in situativer Deutung auf eigene, kontextuelle Übersetzungs-Entwürfe einzulassen. Die sieben Experimente werden protokolliert und liefern sieben Skripts, in denen jeweils eine Geschichte nach Art der jeweiligen Objekte erzählt wird, die mit Dostoevskij-2, Achmatova-2, Platonov-3, Čechov-3, Nabokov-7, Pasternak-1 und Tolstoj-4 bezeichnet werden. Man hat zufällig entdeckt, dass sogenannte Skriptoren, also Leute, die ihre Phantasie auf Papier schreiben (163), einen solchen Stoff produzieren und somit der wissenschaftlichen Avantgarde auf dem Gebiet der Innovation überlegen sind. Mit den sieben Texten sind nicht nur die jeweiligen gesellschaftlichen und ideologischen Entstehungsbedingungen innerhalb des Kanons der russichen Erzähltradition gemeint; jeder dieser Texte kann als eine eigene erzähltheoretische Etüde und damit auch als eine spezifische soziodramatische Sequenz gedeutet werden, mithin und in Girardscher Lesart als ein an den Autor gebundener Entwurf zur Inszenierung der mimetischer Krise und ihrer Konklusion. Die Serie der typischen Erzähl-Sequenzen, die auch recht unterschiedlich sind in Bezug auf die biophilologische Speckproduktion, wird jäh unterbrochen. Das GENLAB wird von einem feindlichen Kommando unter Führung eines Ivan überfallen, die Besatzung umgebracht und der erbeutete himmelblaue Speck in das in einem ehemaligen Bergwerk untergebrachte Laboratorium einer ordensähnlichen Gemeinschaft geschafft, deren Kult der Feuchten Mutter Erde (167) gilt, von der 12.690.505 Proben russi