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René Girard und die Wahrheit des Romans.
Der mimetische Konflikt als Handlungsschema in den Romanen
von Bret Easton Ellis, American Psycho (1991), Michel
Houellebecq, Elementarteilchen (1996) und Vladimir Sorokin,
Der himmelblaue Speck (1999)
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der Philologischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i. Br.
vorgelegt von
Kuon, Ludwig
aus Rottweil
WS 2005 / 2006
1
Erstgutachter: Prof. Dr. Frank-Rutger Hausmann
Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Raible
Vorsitzender des Promotionsausschusses der
Gemeinsamen Kommission der Philologischen,
Philosophischen und Wirtschafts- und VerhaltensWissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Heinrich Anz
Datum der Disputation: 8. Juni 2006
2
I
Einführung
II
Abstrakte Handlungsstrukturen in narrativen Texten
1
Aristoteles: Die ‚Mythus’-Formel………………………………………… 6
2
Vladimir Propp: Die Morphologie……………………………………….. 12
3
Walter Burkert: Das soziobiologische Programm…………………….. 26
4
Claude Lévi-Strauss: Die mythische Sinnarchitektur…………………. 36
5
Victor Turner: Das soziale Drama………………………………………. 39
6
Niklas Luhmann: Die Differenzierung ‚schön/hässlich’……………….. 43
7
Hans Blumenberg: Die Chaosbewältigung…………………………….. 50
8
Zusammenfassung……………………………………………………….. 66
III
IV
5
René Girard: Mythos und Anti-Mythos
1
Einführung und Werkübersicht……………………………………………. 70
2
Die methodische Position von René Girard……………………………... 74
3
Alles beginnt mit der Nachahmung..…………………………………….. 83
4
Das mimetische Begehren als literaturtheoretisches Prinzip………… 97
5
Das mimetische Begehren und die kulturelle Genese…………….
6
Die Girardsche Sequenz und der Hominisationsprozess……………… 141
7
Das Opfern und das Erzählen……………………………………………. 158
8
Die Vorder- und die Rückseite des Mythos…………………………….. 172
9
Die biblische Dynamik der Entsakralisierung…………………………… 187
10
Zusammenfassung………………………………………………………… 211
133
Romanlektüre mit Girard: Die Girardsche Sequenz als Deutungsmuster für American Psycho, Elementarteilchen und Der himmelblaue Speck……………………………………………………………….. 216
3
1
American Psycho: Der Handlungsrahmen ………………………………217
a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 219
b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 233
c Konversion………………………………………………………………….. 242
2
Elementarteilchen: Der Handlungsrahmen……………………………… 253
a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 254
b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 268
c Konversion………………………………………………………………….. 277
3
Der himmelblaue Speck: Der Handlungsrahmen………………………. 284
a Begehrensdreiecke………………………………………………………… 286
b Externe und interne Vermittlung………………………………………….. 280
c Konversion………………………………………………………………….. 311
V
Schlussbetrachtung……………………………………………………… 318
VI
Bibliographie
1
Die zitierten Werke…………………………………………………………. 329
2
Die weiterführenden Werke……………………………………………….. 338
4
I. Einführung
Die 1999 mit einem Bibelzitat (Lk 10,18) als Titel erschienene, 2002 ins Deutsche 1
übersetzte und mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk versehene Studie Je vois
Satan tomber comme l´éclair lässt nicht zwingend darauf schließen, dass der 1923 in
Avignon geborene, an der Stanford University (Kalifornien) lehrende René Girard,
dessen Werk überwiegend im theologischen und religionssoziologischen Kontext 2
rezipiert wird, seine Reputation als Schwellengröße 3 der europäischen Moderne
durch Aufsehen erregende Entdeckungen auf dem Feld der Literaturwissenschaft
begründet hat.4 Folgert man aus dem Titel seiner Hauptwerke, La violence et le
sacré und Des choses cachées depuis la fondation du monde (wiederum ein
Bibelzitat: Mt 13,35) dass René Girards Interesse dem Aufdecken und Eindämmen
der Gewalt in der Gemeinschaft gilt, was wiederum einen weiteren kultur- und
geschichtstheoretischen Zusammenhang eröffnet, wird deutlich: Die für ihn in Frage
kommenden literaturwissenschaftlichen Befunde werden eher nicht formalästhetischer Natur sein, er wird keine Theorie des Dichtens und Erzählens entfalten,
keine Darstellungsaspekte diskutieren. Nicht das Wie des Erzählens, sondern das
Was des Erzählten wird ihn beschäftigen; aristotelisch gesprochen geht es ihm nicht
um Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik, vielmehr
einzig und allein um den Mythus als der Nachahmung von Handlung und vor allem
die Sequenzialisierung, die Zusammensetzung der Geschehnisse. 5
Im Anschluss an die Lektüre von Sophokles und Shakespeare und vor allem beim
Studium der Romane von Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust und Dostojewski
gewinnt Girard die für ihn zwingende Erkenntnis, gerade den Roman als eine
literarische Gattung mit anthropologischer Konstante zu lesen, das heißt als eine
Erzählung, deren Text von quasi naturgegebenen, vor- und außerliterarischen
Handlungs- und Tiefenstrukturen programmiert ist, wobei die erklärende und
erschließende Kraft dieser anthropologischen, an der humanen Basis festgemachten
Invariablen gleichwohl den literarischen Rahmen übersteigt und voll und ganz
ausreicht, wie zu zeigen sein wird, eine zwar kohärente aber auch nicht unstrittige
Sozial- und Kulturtheorie zu errichten.
1
René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des
Christentums (Übers.), München/Wien 2002
2
s. Universität Innsbruck unter http://theol.uibk.ac/rgkw , Stand: 04.09.2005, mit 600, überwiegend
theologischen beziehungsweise opfertheoretischen Titeln
3
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet, Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M 2001, S. 82: „Ähnlich hat eine
Reihe von Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts als Schwellengrößen fungiert, die den Späteren die
Pflicht auferlegten, von dem durch sie markierten Niveau auszugehen: Marx, Darwin, Saussure,
Heidegger, Lévi-Strauss, Adorno, Chomsky, Foucault, Girard und andere“.
4
dazu Odo Marquard: „Ich hatte Girards Theologie soziologisch genannt, um sie vom Theologischen
abzugrenzen. Das Literaturwissenschaftliche habe ich nicht betont, weil mir das Spezifische an Girard
zu sein scheint: Er kommt aus der Literaturwissenschaft und hat so viele von diesen Fragen begriffen.
Wenn man bedenkt, was ein normaler Literaturwissenschaftler daraus gemacht hätte: Sehr viel
weniger“. in: Willi Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur
Theodizeefrage, München 1994, S. 34 - 35
5
Aristoteles, Poetik (Übers. Manfred Fuhrmann), München 1976, S. 51. Dazu die Anmerkung von
Manfred Fuhrmann: „Während práxis die Handlung bezeichnet, deutet prágmata (der Plural des
stammverwandten Wortes prágma) auf das Geflecht, das aus Handlungen mehrerer resultiert, auf die
– aus der Distanz eines Unbeteiligten betrachtet – ‚Geschehnisse’. Unter mýthos wiederum versteht
Aristoteles ein bestimmtes Arrangement solcher Geschehnisse, die Handlungsstruktur, die Fabel, den
Plot“.
5
Im Folgenden wird daher zunächst unter Heranziehung von konkurrierenden
Entwürfen – und ohne den Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung - die
Typologie von anthropologisch orientiertem Erzählgut exemplifiziert, wobei auch
nichtverbales ‚Erzählgut’ in den Blick genommen wird. In einer weiteren
Untersuchung wird die Girardsche Roman-Lektüre nachgezeichnet und die
Entfaltung der dort gewonnenen anthropologischen Konstante in ihrer Bewegung von
einer Literatur- zu einer Kulturtheorie dargestellt, bevor schließlich das BasisTheorem der konfliktiven Imitation an drei zeitgenössischen, zwischen 1991 und
2000 erschienenen Romanen 6 erprobt werden und die Frage der allgemeinen
Anwendbarkeit einer neuartigen und eigenständigen lecture girardienne erörtert wird.
II. Abstrakte Handlungsstrukturen in narrativen Texten
1. Aristoteles: Die ‚Mythus’-Formel der Erzählung
Dass die Handlungsstruktur narrativer Texte nicht dem ‚freien Fabulieren’ überlassen
ist, vielmehr durch allgemeine Schemata geprägt wird, wird bereits beim ersten
systematischen Nachdenken über das dichterische Schaffen, in der Poetik 7 des
Aristoteles im 4. vorchristlichen Jahrhundert formuliert. Im Unterschied zu dem
öffentlichen Redner, der seinen Stoff – eine politische Situation, eine Prozesslage,
einen festlichen Anlass – in den Grundzügen fertig vorfindet, muss zwar der Dichter
sowohl der Tragödie als auch des Epos seinen Stoff erfinden und kann ihn nicht aus
einem Repertoire vorhandener Sujets auswählen. Das Verhältnis jedoch zwischen
der Wirklichkeit des Lebens und der fiktiven Wirklichkeit des poetischen Kunstwerks
ist nicht frei von gegenseitigen Bindungen; es wird durch ein mehrfaches Nachahmen
(mímesthai) bestimmt, auf der Seite des Künstlers durch das Nachahmen der
Wirklichkeit als, wie Aristoteles meint, naturgegebene Ursache der Dichtkunst
(poietiké) und auf der Seite des Publikums durch den Erkenntnistrieb und die Freude
(chaírein), die der Zuschauer/Leser an Nachahmungen hat. Aus diesem
Nachahmungsbegriff als der Grundkonzeption der aristotelischen Poetik und ihrem
leitenden Kriterium lassen sich die weiteren aristotelischen poetologischen Vorgaben
ableiten, die der romantischen Vorstellung von der Genie- und Erlebnispoetik des
dichterischen weltschöpferischen Genies widersprechen, welches in der Dichtung
nicht die Kunst der Nachahmung, vielmehr die einer welthaften Hervorbringung sieht.
Zu den Vorgaben gehören insbesondere die Anforderungen, die an die Handlung
(mýthus) gestellt werden. Die Handlung – sie ist zunächst ohne Verbindung zu dem
mythologischen Mythosbegriff zu denken - muss die Norm der Wahrscheinlichkeit
(eikós) erfüllen; die Zusammenfügung der Geschehnisse (sýnthesis ton pragmáton)
kann nicht nach der Art einer absichtslosen Assoziation oder einer spontanen
Montage erfolgen, sie muss so erfolgen, dass deren Folgecharakter, also Kausalund Konsekutivnexus erkannt wird. Die Handlung soll gefallen, das heißt dem
Schönen (kalón) entsprechen, was auch bedeutet, dass sie so übersichtlich ist, dass
sie sich dem Gedächtnis des Rezipienten leicht einprägt und von ihm verstanden
6
Die Romane werden aus Gründen der Äquidistanz zum Original in der deutschen Übersetzung
untersucht. Die Reihenfolge der Autoren – Ellis, Houellebecq, Sorokin – ist alphabetisch.
7
Aristoteles, Poetik, Kap 4 – 8, S. 44 - 58
6
wird. Von großer Bedeutung ist der scheinbar banale Grundsatz, dass die
Nachahmung eine gerichtete démarche darstellt und einer in sich geschlossenen und
ganzen Handlung gilt, dass also diese Handlung einen Anfang, eine Mitte und ein
Ende hat, einen Anfang, welchem nichts vorauszugehen braucht, eine Lösung (lýsis),
das heißt ein Ende, welchem nichts zu folgen braucht, eine Mitte, welche sowohl
etwas davor wie danach benötigt und durch die Abfolge von Komplikationen (désis)
und Wendepunkten oder Umschlag (metabolé) strukturiert ist. Wenn demzufolge gut
zusammengefügte Handlungen (mýthoi) weder an beliebigen Stellen einsetzen noch
an beliebiger Stelle enden sollen und die einzelnen Geschehnisse nur dann ein
Ganzes bilden können, wenn keines seiner Elemente abgetrennt, verändert oder ein
anderes hinzugefügt werden kann, zeigt sich die Diskrepanz zwischen der Fülle und
Unabgeschlossenheit des in der Realität Gegebenen und dem Handlungsganzen
des literarischen Kunstwerks. Wenn der Künstler unter dem Gebot des
Handlungsbegriffs, der in gleicher Weise für die epischen wie für die dramatischen
Formen anzuwenden ist, für die Zusammenfügung eines Mythus eine bestimmte
Auswahl unter den möglichen Geschehnissen der diffusen Lebenswirklichkeit treffen
muss, ist dies eine künstlerische Entscheidung, die nur dann als Nachahmung
bezeichnet werden kann, wenn damit das bezeichnet oder zumindest suggeriert wird,
was nachgeahmt werden soll. Wenn demnach etwa zum Zweck des Anfangs
Geschehnisse per Nachahmung in den Bauplan des Dichters aufgenommen werden
sollen, müssen dies solche Geschehnisse sein, die einen erkennbaren inkohativen
Charakter haben und sich daher in besonderer Weise für die Markierung eines
Anfangs eignen. Auftakt-Geschehnisse in diesem Sinn, die in der Lebenswirklichkeit
zum Vorschein kommen und daher auf dem Weg der Nachahmung künstlerisch
bearbeitet werden können, ereignen sich in der Lebenswirklichkeit dort und dann, wo
in einem individuellen oder kollektiven Traumaerlebnis eine bestehende Ordnung
gestört wird, wo außermenschliche, natürliche oder göttliche Gewalten in das Leben
der Menschen eingreifen oder einzugreifen beziehungsweise auszubleiben drohen
und wo die Betroffenen, wenn sie auf die ihnen gegenüberstehenden Gewalten nicht
mit dem animalisch angezeigten Reflex der Flucht, Angriff oder Unterwerfung
reagieren können, genötigt sind, sich mit dem auf sie Zukommenden in ein Verhältnis
zu setzen, sich mit ihm zu arrangieren, wobei das Arrangement ebenso magischer
wir rationaler Art sein kann.
Deutlicher als in der deskriptiven Annäherung an das zu erstellende Kunstwerk
kommt die Mythus-Formel in den Zuschauerreaktionen zum Ausdruck, die durch des
Dichters Kunst hervorgerufen werden sollen. Der Zustand, in den sowohl die
Tragödie wie auch das Epos 8 das Publikum versetzen soll, wird in der Poetik in der
richtigen Abfolge der Handlung (dráma) mit den Begriffen Jammer (éleos),
Schaudern (phóbos) und Reinigung (kátharsis) bezeichnet. Eleos als Stimmung der
Ausgangslage eines dramatischen Geschehens ist nicht das allmähliche Erwachen
eines Gefühls; es ist das Erschrecken über das plötzliche Aufkommen einer Gefahr,
die unkontrollierte Reaktion über das Auftauchen von etwas Unerhörtem. 9 Phóbos,
8
Aristoteles favorisiert die Tragödie, s. Kap. 26, S. 114: „Wenn sich nun die Tragödie in allen diesen
Dingen auszeichnet und über dies noch in der von der Kunst angestrebten Wirkung (érgon) – Epos
und Tragödie sollen ja nicht ein beliebiges Vergnügen hervorrufen, sondern das erwähnte -, dann ist
klar, dass sie dem Epos überlegen ist, da sie ihre Wirkung (télos) besser erreicht als jenes“.
9
Vgl. Manfred Fuhrmann, Erläuterung zu Aristoteles, Poetik, S. 22: „Das Wort éleos lässt sich am
besten durch ‚Jammern’ oder ‚Rührung’ wiedergeben: es bezeichnete stets einen heftigen, physisch
sich äußernden Affekt und wurde oft mit den Ausdrücken für Klagen, Zetern und Wehgeschrei
verbunden. Die aristotelische Rhetorik verlieh dem Begriff eine ethische Komponente: éleos sei der
7
was sowohl ‚Flucht’ bedeuten kann, also eine durch Erschrecken provozierte
Ortsveränderung, als auch ‚Schaudern’, was als inneres Empfinden dem äußerlichen
Fluchtreflex entsprechen kann, ist in jedem Fall ein Erregungszustand, in dem der
Held des Mythus außer sich gerät, seine gewöhnliche Bahn – auch in räumlicher
Hinsicht – verlässt und bewirkt, dass der Zuschauer oder Zuhörer das Schicksal des
Helden miterleidet. Komplexer als Jammer und Schaudern ist der Begriff der
Reinigung, mit dem sich die kultische Funktion der Purifikation von einer Befleckung
ebenso verbindet wie die medizinische der Ausscheidung schädlicher Substanzen.
Lässt sich der religiöse kátharsis-Begriff wie auch der medizinische als eine
Übertragung von der materiellen Reinigung auf immaterielle Reinigungsprozesse
verstehen, so lässt sich der Moment der kathartischen Lösung auch mit dem Mythus
verknüpfen und zwar an der Stelle, wo die im Jammer und Schaudern aufgebauten
psycho-physischen Affekte sich entladen und ähnlich wie bei der orgiastischen,
Entspannung verschaffenden Musik das Publikum durch diese Entladung eine mit
Lust verbundene Entkrampfung empfindet, welche insofern eine Läuterung darstellt,
als sie zugleich eine ethische, das heißt bildende Funktion besitzt.
Die von Aristoteles aus den Werken griechischer Dramatiker abstrahierte
dramatische Form, deren Gültigkeit er auch auf das Epos überträgt, hält sich bis
heute als Grundstruktur der klassischen oder wohlgeformten Erzählung. Sie findet
sich wieder in dem in Analogie zu dem Pyramiden-Schema von Gustav Freytag 10
entworfenen Fünf-Phasen-Modell von William Labov und Joshua Waletzky: 11
Phase I: Vorspiel / Exposition / Orientierung
Phase II: Auftauchen von Krisenfaktoren / Komplizierung
Phase III: Krise / Höhepunkt
Phase IV: Krisenabwicklung / Schlichtung / Auflösung
Phase V: Endzustand / Konklusion
Die Universalität und diagnostische Leistungsfähigkeit dieses Modells zeigt sich auch
darin, dass es sich sogar in erzählenden Gedichten, zum Beispiel in Goethes kleinem
Gedicht Gefunden,12 abbilden lässt:
Orientierung:
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Komplizierung:
Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Krise:
Ich wollt’ es brechen,
Da sagt’ es fein:
Verdruss über ein großes Übel, das jemanden treffe, der es nicht verdient habe; wer éleos empfinde,
nehme an, dass das Übel auch ihn selbst oder eine ihm nahe stehende Person treffen könne“.
10
Gustav Freytag, Die Technik des Dramas (1863), 12. Aufl. Leipzig 1912, S. 102 f.
11
William Labov und Joshua Waletzky, „Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung“
(1967) in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 2, Frankfurt/M 1973, S. 78 - 126
12
Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800 – 1832, Hg. Karl Eibl, Frankfurt/M 1988, S. 20
8
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Krisenabwicklung: Ich grubs mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus,
Endzustand:
Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.
In Vereinfachung dieses Modells wird in der Erzähltextanalyse, bei der es nicht um
die Analyse der Geschichte sondern um die Strukturerfassung des Erzähltextes geht,
das aristotelische Anfang-Mitte-Ende-Schema als Abfolge von Orientierung,
Komplikation, Auflösung 13 oder Exposition, Komplikation, Lösung / Resultat 14
beziehungweise Exposition, Ereignis, Schluss 15 formuliert und von Harald Weirich
als Elementarregel des narrativen Dreischritts bezeichnet. Dementsprechend
unterliegen Geschehnisse einem Verknüpfungszwang, welcher kontingente
Ereignisse auf eine Reihe bringt, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich macht und
das Unzusammenhängende erzählerisch verdichtet.
Da die Dichtung als Darstellung von Handlungen bestimmte Wirkungen erzielen soll
– der Zusammenhang der Tragödienaufführungen mit den zeitgleichen Dionysien
und den Satyrspielen zur Zeit des Aristoteles kann nicht nur chronologischer Natur
sein - , favorisiert die Poetik den Modellcharakter eines Mythus, bei dem es
zuallererst auf die innere Stimmigkeit des Handlungsgefüges ankommt, vor dem
jeweiligen
Handlungsmoment.
Entscheidend
für
die
Stimmigkeit
des
Handlungsgefüges ist der Spannungsbogen, der sich vom Jammern bis hin zur
Reinigung erstreckt, ein Spannungsborgen, der die Form einer Erregungsschleife
hat, in der es um kollektive Erregung und deren Abbau geht, ein Spannungsbogen,
wie er – ritualtechnisch betrachtet – beispielsweise in der christlichen Eucharistiefeier
anklingt, wo er mit dem Kyrie Eleison beginnt, im Agnus Dei seinen Höhepunkt hat
und im Ite missa est endet. Da der Nachahmungsbegriff a priori entschieden hat, was
Gegenstand künstlerischer Bearbeitung ist und was nicht - was im Übrigen auch
dazu führt, dass die vielfältigen Formen der Lyrik und der Spruchdichtung, da sie kein
objektives Geschehen imitieren, keine Beachtung finden - und die erwünschten
Wirkungen auch unter Rücksichtnahme auf die Rezeptionskapazitäten des
Publikums über die Handlungsstruktur und die erzählte Ereignisfolge erzielt werden
sollen, kann das Kunstwerk keinerlei Anspruch erheben auf Autonomie und
Selbstreferenz; die subjektive Brechung, die Reflexion, die Phantastik und der pure
13
Elisabeth Gülich, „Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse“ in: Wolfgang
Haubrichs (Hg.), Erzählforschung Bd. I, Göttingen 1976, S. 251
14
Wolf-Dieter Stempel, „Zur Frage der narrativen Identität konversationeller Erzählungen“ in: Eberhard
Lämmert (Hg.), Erzählforschung, Stuttgart 1982, S. 12
15
Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim 1993, S. 219: „Die Abfolge von
Prädikationen mit dem Präteritum drückt in einer Geschichte den Fortgang der Handlung aus, von der
‚Exposition’ der Ausgangslage über das ‚Ereignis’ (um dessentwillen die Geschichte erzählt wird) bis
zum ‚Schluss’, der die neue, durch die erzählte Handlung veränderte Situation charakterisiert. Nicht in
jedem Fall erzählt man sich jedoch förmliche, nach der Elementarregel dieses ‚narrativen Dreischritts’
organisierte Geschichten“.
9
Reiz der Form werden – für den Produzenten wie für den Rezipienten - als störend
empfunden. Von Platon, dessen Schüler Aristoteles war, ist bekannt, dass er die
Sänger/Dichter nicht nur für störend, sondern für gefährlich hielt. Wenn Aristoteles
seinem Lehrer in Vielem nicht folgen mochte, so hält er doch daran fest, dass
Dichtkunst ein Verfahren der Nachahmung ist, ein Verfahren, in dem die ästhetische
Dimension untrennbar mit der religiösen verbunden ist, ein Verfahren, welches den
Mythus nachahmt und in welchem das Publikum zur Nachahmung disponiert wird, zu
Anpassung und Einbindung, wobei er nicht mehr wie Platon glaubte, dass die
Dichtung durch die Erregung der Leidenschaften die vernünftige Ordnung zersetze,
dass sie vielmehr dadurch eine reinigende Funktion erfülle, dass die Dramatik von
Erregung und Reinigung nicht ansteckt, sondern impft.16 Daher auch die von Platon
übernommene Prämisse, dass die Dichtkunst in die Gemeinschaft integriert und für
alle Glieder der Gemeinschaft verbindlich, kurz, dass sie eine politisch-religiösmoralische Funktion hat. Obwohl in der Poetik die Behandlung der Komödie fehlt Aristoteles verweist in seiner Rhetorik auf eine Untersuchung des Lächerlichen, die
man in der Poetik finden könne ; diese Schrift ist aber verloren gegangen -, lässt sich
aus einigen Andeutungen erschließen, dass Aristoteles mit der Dramatisierung des
Lächerlichen (geloíon) die formale Grundordnung von Epos und Tragödie auf die
Komödie überträgt, 17 wo das befreiende und mitwissende Lachen über den noch
einmal davongekommenen, überlebenden Helden die kathartische Funktion zu
erfüllen hätte.
Poeten sind nicht Schöpfer und Erfinder. Poetik ist nicht póiesis. Die Nachahmung
dient nicht primär der Weitergabe von Traditionsgut; nachgeahmt werden PersonenTypen: Heroen im Epos, tugendhafte Menschen in der Tragödie, mit Mängeln
behaftete in der Komödie. Dabei kann auch der Spannungscharakter der die
kulturelle Darstellung tragenden Sozialstruktur ans Licht gebracht werden, und es
können Bewältigungsmechanismen in Form von Opfer, Selbstopfer, Trennung oder
Reintegration zur Diskussion gestellt und erprobt werden.
Das aristotelische Prinzip der Nachahmung ist jedoch nur eine Teilantwort auf die
Frage nach abstrakten Handlungsstrukturen in erzählenden Texten. Diese Mimesis
ist eine Mimesis der Repräsentation, der Wiedererkennung, der Re-Identifikation. Sie
ist sowohl ethisch als auch emotional positiv besetzt und meint nicht eine
Nachahmung, welche auch konfliktives Potenzial enthalten und die Nachahmenden,
sollten sie einander in ihrem Wunsch nach ein und demselben Objekt imitieren,
gegeneinander in Front bringen könnte. Die andere und weiter reichende Teilantwort
der Poetik auf diese Frage ist sicher in der geforderten Anfang-Mitte-Ende-Struktur
sowie der kathartischen Konklusion zu finden. Ohne zu einzelnen, zum Teil auch
widersprüchlichen Positionen der Aristotelesforschung Stellung zu nehmen, lässt sich
die Feststellung aufrechterhalten, dass die Dreiphasigkeit und der Katharsisaspekt 18
16
Manfred Fuhrmann, Erläuterungen zu Aristoteles, Poetik, S. 21
Aristoteles, Poetik, Kap 2, S. 41: „…die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere
Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“ Sowie Kap 5, S. 48: „Die Komödie
ist, wie gesagt, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von
Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat“.
18
Vgl. Jacob Bernays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas (1857), Berlin
1880, S. 13: „Fasst man dagegen Katharsis in der allein noch übrigen, medicinischen Bedeutung, so
schickt sich Alles aufs Beste. Dann ist kátharsis nur eine besondere Art der allgemeinen und deshalb
an erster Stelle genannten iatreía; die Verzückten kommen durch orgiastische Lieder zur Ruhe wie
Kranke durch ärztliche Behandlung, und zwar nicht durch jede beliebige, sondern durch eine solche
Behandlung, welche kathartische, den Krankheitsstoff ausstoßende Gemüthserscheinungen in der
17
10
sich zusammendenken lassen und dass in diesem Ensemble der rituelle, sowohl
individual- als auch sozialtherapeutische Ursprung erkennbar wird.
Weil nicht alle Menschen mehr den Kult verstehen oder ihre Weltlage über die
Philososphie klären können, wird dem Theater als der Erbin des Kults die Mission
der Welt- und Gemeinschaftsvergewisserung übertragen. Dagegen weist Aristoteles
der Tragödie die gewiss nicht niedrige Aufgabe zu, dem Menschen sein Verhältnis
zum All so darzustellen, dass die von dorther auf ihn drückende Empfindung, unter
deren Wucht die Menge dumpf dahinwandelt, während die edleren Gemüther sich
gegen dieselbe eben an der Religion und Philosophie aufzurichten streben, für
Augenblicke in lustvolles Schaudern ausbreche.19
Wenn Katharsis also die Behandlung ist, die darin besteht, dass ein Krankheitsstoff
ausgestoßen wird, und das Auszustoßende in seiner stofflichen Form als das
Katharma bezeichnet wird, welches wiederum mit der Funktion des Pharmakos 20 in
Verbindung gebracht wird, kann die rituelle Spur sichtbar gemacht werden, die vom
religiösen Kult, verstanden als Opferkult, zum Theater führt. In der von Plutarch
verwendeten Formulierung kathartikon pharmakon 21 wird das kathartische Verfahren
als ein Heilverfahren, als eine die genaue Abfolge der Anwendungsschritte
beachtende Prozedur angesprochen, deren heilende Wirkung auf der Ausscheidung
einer Droge beruht, die als schädlich für den physischen oder sozialen Organimus
betrachtet wird. Voraussetzung aber für die Aussscheidung der giftigen Substanz ist
die Impfung des Organismus mit einer kontrollierten Dose des Gifts. Da die erreichte
Immunisierung aber immer vorläufig ist, sind Wiederholungsimpfungen erforderlich,
kultisch formuliert: Riten und Aufführungen mit vergleichbarer kathartischer Wirkung.
Wenn also die Poetik des Aristoteles den Katharsisbegriff auf die Tragödie bezieht,
scheint es nicht unzulässig, diesen Begriff als den End- und Höhepunkt eines
Verfahrens zu markieren, das seine Analogie im Opferritual hat und in dem die
typologische Verwandtschaft zwischen dem tragischen Helden und dem Pharmakos
nicht übersehen werden kann. Indem Aristoteles den tragischen Effekt als Katharsis
bezeichnet, bestätigt er, dass die Tragödie zumindest teilweise Funktionen
übernimmt, die dem Kult vorbehalten sind und deren Resonanz ebenso in
medizinischen Heilungsprozess wie in den juristischen Rechtsgang hinein reicht.
Gleichzeitig jedoch signalisiert er, dass dieser Kult, in dessen Zentrum immer das
den Göttern dargebrachte Opfer steht, in die Krise geraten ist und dabei ist, seine
That verdeutlicht, denn sie wird versinnlicht durch den Vergleich mit pathologischen körperlichen
Erscheinungen“.
19
Jacob Bernays, Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Dramas, S. 78
20
Zur Deutung des Ödipus als Pharmakos vgl. Marie Delcourt, Légendes et cultes de héros en Grèce,
Paris 1942, sowie Jean-Pierre Vernant et Pierre Vidal-Naquet, Œdipe et ses mythes, Bruxelles 1988.
Dazu auch Terry Eagleton, Sweet violence. The idea of tragic, Blackwell 1988, rezensiert von
Christiane Zschirnt in taz Nr. 6883 vom 21.10.2002, S. 14: “…Es ist der Begriff des Pharmakos, der
Eagletons Vorstellung vom ‚Opfer’ Kontur gibt. Die Figur des Pharmakos entstammt der griechischen
Antike und bezeichnet den Sündenbock, auf den die Fehlhandlungen der Gesellschaft projiziert
wurden und der als Opfertier geschlachtet wurde. Er symbolisiert Schmutz, Deformiertheit, Wahnsinn
und Verbrechen – mithin die soziale Ordnung in ihrem Versagen. Vor die Tore der Stadt gejagt, von
der Gemeinschaft ausgeschlossen, bemitleidet und gehasst, verachtet und geächtet, markiert der
Pharmakos einen herausgehobenen Punkt in der gegebenen Ordnung, der – und das ist für Eagleton
der entscheidende Punkt – die Notwendigkeit symbolisiert, das Schlechte zu zerbrechen, um etwas
Besseres beginnen zu können. Das ist es, was Eagleton mit dem Begriff des rituellen Opfers meint
und was ihn daran so fasziniert: der Pharmakos als Abstraktion des gewaltsamen Übergangs von
einem Zustand in einen anderen, besseren…“
21
René Girard, La violence et le sacré, Paris 1973, S. 399 « Plutarque emploie l´expression
kathartikon pharmakon en une redondance significative ».
11
sozialhygienische und purgierende Funktion einzubüßen. Lässt bereits der
dreiphasige Aufbau der Tragödie die verborgene Präsenz eines Opfergeschehens
vermuten, das mit dem Aus-den-Fugen-Geraten einer Ordnung beginnt, in die
Designation eines geeigneten Opfers und die Vorbereitungen der Opferhandlung
einmündet und mit der Exekution durch den Opferpriester endet, enthält schließlich
die Katharsis einen nicht zu übersehenden Hinweis auf die mythische und rituelle
Provenienz der Tragödie. Ödipus als der tragische Held par excellence kann als das
Katharma und das Pharmakon der antiken Welt betrachtet werden. Anstatt einen
Altar zu errichten, auf dem man, um die Polis von einem Übel zu befreien, einen
Pharmakos tatsächlich umbringt, hat man jetzt ein Theater und eine Bühne, auf der
symbolisch, das heißt in Abstraktion von einer realen Opferhandlung das Schicksal
jenes Katharma, das von einem Schauspieler gespielt wird, die Zuschauer von ihrer
Selbstsucht, ihren Passionen und Illusionen purgiert und so bei jeder Aufführung,
auch wenn sie eine Als-ob-Handlung ist, gleichwohl eine neuerliche individuelle und
kollektive Katharsis bewirkt. Das reale oder schon rituell stilisierte KatharsisVerfahren hat seinen Weg vom Tempel auf die Theaterbühne gefunden, in der
tragischen Prosodie jedoch bleibt das ursprüngliche Verfahren aufgehoben und,
jedenfalls auf dem Weg der interpretierenden Rekonstruktion, entzifferbar.
2. Vladimir Propp: Die Morphologie
In der Sammlung von Märchen, Balladen, Sagen und Mythen im 18. und 19.
Jahrhundert vor allem durch Charles Perrault (1628 – 1703), Thomas Percy (1729 –
1811), Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), Jacob Grimm (1785 – 1863) und
Wilhelm Grimm (1786 – 1859) zeigte sich ein gesteigertes Interesse an nationalen
Kulturen und an der Sprach- und Dichtungsgeschichte der Völker. Gleichzeitig
entstand eine Erzählforschung, welche feststellte, dass die zusammengetragenen
Erzählungen einander so ähnlich waren, dass man sie als Fassungen und Versionen
derselben Stoffe ansehen und unvermeidlich die Frage nach gemeinsamen
Strukturen und Ursprüngen stellen musste. So enthielt bereits die Sammlung und
thematische Anordnung der Kinder- und Hausmärchen (1. Ausg. 1812/1825) der
Brüder Grimm Ansätze zu einer an Motiven und Stoffen orientierten Variantenbeziehungsweise Konstantenforschung, die von Literaturwissenschaftlern wie
Johannes Bolte und Georg Polívka (Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen
der Brüder Grimm 1913-1918), Antti Aarne (Verzeichnis der Märchentypen, 1910)
und Stith Thompson (Motif-Index of Folk-Literature, 1932 – 1936) zu einer stark
beachteten literaturwissenschaftlichen Disziplin entfaltet wurden.
Der Nachweis großer struktureller Ähnlichkeit der, was ihre Herkunft betrifft, zeitlich
und räumlich oft weit auseinander liegenden Märchen, Sagen und Mythen führte zu
der Annahme:
Offenbar gibt es eine historisch und kulturell relativ stabile narrative Kompetenz, die
darüber bestimmt, wann eine Erzählung wohlgeformt und erzählenswert ist. 22
Verfuhr die volkskundliche Variantenforschung zunächst eher thematisch und
untersuchte etwa den Typ: Die gefährliche Brautwerbung oder verfolgte in
22
Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl. München 2003, S.
138
12
textgenetischer Betrachtung etwa die Migration von Themen über kulturelle Grenzen
hinaus, legte 1927 der russische Literaturwissenschaftler Vladimir Propp (1895 –
23
1970) mit seinem Hauptwerk Morphologie des Märchens
eine Aufsehen
erregende Studie vor, in der – im Kontext des sowjetischen Formalismus – in streng
deduktivem Vorgehen der Nachweis geführt wurde, dass sich die
Handlungsstrukturen folkloristischer Texte, untersucht an einem Korpus von hundert
russischen Zaubermärchen, systematisch erfassen und in mathematischen Formeln
abbilden lassen. Es sind zwei Entdeckungen, von denen er – im Abstand von
annähernd 20 Jahren – berichtet:
1. Alle Märchen 24 sind nach einem einheitlichen Bauplan komponiert und weisen
eine einheitliche Morphologie auf.
2. Der Bauplan ist nicht poetischen Ursprungs; er ist die Kopie einer historischen
Vorlage. Die Grammatik der Märchen ist identisch mit der Grammatik der Mythen.
Sie wurzelt im Mythos.
Hundert Jahre vor Propp hatte Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) in seinen
naturwissenschaftlichen Studien die Morphologie als seine Entdeckung und seine
Leidenschaft 25 bezeichnet. Im Gegensatz zur allgemein praktizierten Methode des
schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707 – 1778), der eine umfassende
Pflanzenbeschreibung erstellte und durch seine binäre Nomenklatur und
Klassifizierung die Grundlagen der botanischen Fachsprache, das botanische
‚Alphabet’, schuf - auch Jean Jacques Rousseau zählte sich zu den nach der Art von
Linné herborisierenden Intellektuellen -, beobachtete Goethe, wie sich Pflanzen unter
verschiedenen Bedingungen entwickeln und bilden. Er versuchte, den Prozess der
Metamorphose zu verstehen, denn: Das Wechselhaften der Pflanzengestalten, dem
ich längst auf seinem eigentümlichen Gange gefolgt war, erweckte nun bei mir
immermehr die Vorstellung: die uns umgebenden Pflanzenformen seien nicht
ursprünglich determiniert und festgestellt, ihnen sei vielmehr, bei einer eigensinnigen,
generischen und spezifischen Hartnäckigkeit, eine glückliche Mobilität und
Biegsamkeit verliehen, um in so vielen Bedingungen, die über dem Erdkreis auf sie
einwirken, sich so zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können. 26
Goethe beschränkt den Geltungsbereich seiner Morphologie nicht auf die
Pflanzenwelt; er ist sich nicht nur sicher, daß lebendige einander höchst ähnliche
Geschöpfe aus einerlei Bildungs-principio hervorgebracht sein müssen, 27 sondern
verleiht diesem Morphologie- und Metamorphosebegriff eine universelle, den
Gegensatz von Natur und Kultur überwindende Dimension. So bekennt er:
23
Vladimir Propp, Morfologija skazki, Moskva 1928, dt. Morphologie des Märchens, München 1972
Die Unterscheidung von ‚Märchen’ und ‚Zaubermärchen’ wird von Vladimir Propp nicht streng
beachtet. In beiden Fällen ist maßgebend, dass in die erzählte Handlung von einer übersteigenden
Instanz ‚wie durch ein Wunder’ eingegriffen wird.
25
Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Weimar 1964, S. 334:„ Wer an sich erfuhr was ein
reichhaltiger Gedanke, sei er nun aus uns selbst entsprungen, sei er von andern mitgeteilt oder
eingeimpft, zu sagen hat, muß gestehen, welch eine leidenschaftliche Bewegung in unserem Geist
hervorgebracht werde, wie wir uns begeistert fühlen, indem wir alles dasjenige in Gesamtheit
vorausahnen, was in der Folge sich mehr und mehr entwickeln, wozu das Entwickelte weiter führen
solle. Und so wird man mir zugeben, daß ich von einem solchen Gewahrwerden, wie von einer
Leidenschaft, eingenommen und getrieben, mich, wo nicht ausschließlich durch alles übrige Leben
hindurch, damit beschäftigen musste“. (Rechtschreibung und Interpunktion unverändert, d. Verf.)
26
Goethe, Schriften, S. 333
27
Goethe, Schriften, S. 81
24
13
Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und
zeigen müsse. Von den ersten physischen und chemischen Elementen an, bis zur
geistigsten Äußerung des Menschen lassen wir diesen Grundsatz gelten. Wir
wenden uns gleich zu dem was Gestalt hat. Das unorganische, das vegetative, das
animale das menschliche deute sich alles selbst an, es erscheint als das was es ist
unserm äußern und inneren Sinn. Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein
vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist
der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur. 28
Wie Goethe als Naturwissenschaftler entgegen dem sezierend-deskriptiven System
von Linné die These vertrat, es gebe eine Urpflanze 29 mit einem ein für alle Male
gültigen Bauplan, einem Bildungs-principium, dessen Struktur für alle anderen
Pflanzen bestimmend sei und sich in ihnen nachweisen lasse, gelangte der russische
Literaturwissenschaftler Vladimir Propp - die programmatischen Kapitel seiner
Morphologie beginnen jeweils mit einem treffenden Goethe-Zitat bei der
Untersuchung von einem Corpus von hundert russischen Märchen zu der Einsicht,
dass sich auch in den Märchen ein genetisches Prinzip nachweisen lässt und dass
sich somit alle diese Erzählungen auf eine gemeinsame abstrakte Handlungsstruktur
zurückführen lassen. Vergleicht man dieses genetische Prinzip mit Goethes
übersinnlicher Urpflanze, lässt sich folgern, dass damit nicht ein Ur-Märchen gemein
ist, von dem nach einer literarischen Genealogie alle nachgeborenen Märchen
abstammen; es geht in diesem genetischen Prinzip vielmehr um die MärchenUrsache, um den Grund, aus dem ein Märchen hervorgeht und um den Prozess, der
sein Hervorbringen steuert, um das Bauprinzip, das aus ineinander gefügten
Handlungen ein Märchen werden lässt.
Vladimir Propp hält sich nicht lange damit auf, die Analogie des biologischen
Fachhorizonts und der Literaturwissenschaft zu begründen; er ist überzeugt: Das
Wort Morphologie bedeutet Formenlehre. In der Botanik versteht man unter diesem
Begriff die Lehre von den Bestandteilen der Pflanze, deren Verhältnis zueinander
und zum Ganzen, mit anderen Worten die Lehre vom Bau der Pflanzen. An die
Möglichkeit, von einer Morphologie des Märchens zu sprechen, hat noch niemand
gedacht. Indessen ist auf dem Gebiet des Volksmärchens eine Formanalyse sowie
die Ableitung von Strukturgesetzen ebenso gut möglich wie bei Organismen. 30 Und
er fährt programmatisch fort: Die Märchenforschung kann man in vieler Hinsicht mit
der Erforschung organischer Formen in der Natur vergleichen. Sowohl der
Naturforscher als auch der Folklorist beschäftigt sich mit dem Prinzip gleichartiger
Erscheinungen von Grundformen und ihren Abarten. Die von Darwin gestellte Frage
nach dem ‚Ursprung der Arten’ ist auf unserem Gebiet ebenso berechtigt. 31
Gleichartige Erscheinungen von Grundformen, das sind für Propp zum einen die
wesentlichen Übereinstimmungen, beispielsweise die Ähnlichkeit zwischen den
Varianten des Märchens von der Froschkönigin in Russland, Deutschland,
Frankreich, Indien, bei der indianischen Bevölkerung Amerikas und selbst in
28
Goethe, Schriften, S. 128
Goethe, Schriften, S. 334: „Wie sie sich nun unter einen Begriff sammeln lassen, so wurde mir nach
und nach klar und klärer, dass die Anschauung noch auf eine höhere Weise belebt werden könnte:
eine Forderung, die mir damals unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze
vorschwebte. Ich ging allen Gestalten, wie sie mir vorkamen, in ihren Veränderungen nach, und so
leuchtete mir am letzten Ziel meiner Reise, in Sizilien, die ursprüngliche Identität aller Pflanzenteile
vollkommen ein, und ich suchte diese nunmehr überall zu verfolgen und wieder gewahr zu werden“.
30
Vladimir Propp, Morphologie, S. 9
31
Vladimir Propp, Morphologie, S. 155
29
14
Neuseeland 32, also auch in entlegenen und isolierten Kulturkreisen. Vor allem aber
sind es innerhalb der einzelnen Märchen die Passagen, welche invariante Elemente
aufweisen, die sich auf eine gemeinsame abstrakte Handlungsstruktur reduzieren
lassen. Mit dem Anspruch, sowohl das Bauprinzip der Märchengattung zu erforschen
als auch bis zu deren Quellen vorzustoßen, setzt sich Propp – Goethes Frontstellung
gegenüber v. Linné duplizierend - entschieden von der Ethnologie ab, zu deren
Gegenstand neben den Sitten und Gebräuchen der schriftlosen Kulturen auch die
Erzählungen gehören. So sehr er deren berühmtesten Vertreter, den Engländer Sir
James George Frazer (1954 – 1941) bewundert ob der Materialsammlung, die er in
dem fünfzehnbändigen Werk The golden bow 33 ausbreitet, wirft er ihm gleichwohl
vor, dass er oberflächliche Ergebnisse bietet und seine Befunde keiner ernsthaften
Deutung unterzieht.34 Dass Vladimir Propp in seinen Gelehrtenstreit mit James
Georg Frazer nebenbei betont klassenkämpferisch argumentiert, darf wohl mehr dem
historischen Moment - Leningrad im Jahr 1946 - als der sachlich begründeten
Differenz zugerechnet werden.35 Dass diese gegeben ist, liegt daran, dass die
ethnologische beziehungsweise ethnographische Beobachtung dem Prinzip der
Kartierung folgt, welche ihr Objekt zur Ansicht frei gibt, aber keine Erklärung für sein
Erscheinen liefert, dass sie also eher positivistisch als genetisch, eher strukturell als
analytisch und eher deskriptiv als hermeneutisch verfährt, was zwar den Vorteil
bringt, dass die Ergebnisse einer objektiven Prüfung standhalten, den Nachteil
allerdings, dass die auf den Sinnzusammenhang abzielende Frage nach dem Wozu
und dem Warum nur vage und auf spekulative Art beantwortet wird.36
Vladimir Propp verfolgt nicht die erzählten Begebenheiten der von ihm untersuchten
russischen Zaubermärchen; er analysiert die gattungstypischen Einheiten der
Handlung und die Regeln ihrer Zusammenstellung und stellt dabei fest, dass man auf
der Handlungsebene, der Ebene der histoire und des plot eine Tiefenstruktur
erkennen kann, deren Elemente in jedem Zaubermärchen in einer bestimmten
Reihenfolge wieder vorkommen. Diese Tiefenstruktur teilt sich jedem Märchen-Leser
beziehungsweise Märchenhörer auf intuitive Weise mit, so dass dieser, ohne dass er
sich dessen bewusst ist, das Märchen auf Anhieb als solches erkennt und von
anderen Textgattungen wie der Fabel oder der Kurzgeschichte unterscheidet. In
Analogie zur Erforschung der Sprache und ihrer zugrunde liegenden grammatischen
32
Vladimir Propp, Morphologie, S. 24
James George Frazer, The Golden Bow (1890 – 1907), dt.(gek. Ausg.) Der goldene Zweig, Leipzig
1928
34
Vladimir Propp, Istoričeske korni volšebnoj, Leningrad 1946, dt. Die historischen Wurzeln des
Zaubermärchens, München 1987, S. 25: „Die Ethnologen berufen sich oft auf das Märchen, aber nicht
immer kennen sie es. Das gilt insbesondere für Frazer. Das grandiose Gebäude seines Goldenen
Zweiges ruht auf Voraussetzungen, die er aus dem Märchen geschöpft hat, das er obendrein falsch
verstanden und ungenügend studiert hat. Eine genaue Untersuchung des Märchens erlaubt es, an
dieser Arbeit eine Reihe von Korrekturen anzubringen und sogar ihre Grundlagen ins Wanken geraten
zu lassen“.
35
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 424: „Doch Frazer ist ein bürgerlicher Gelehrter, und selbst dort, wo er
den richtigen Weg spürt, kommt er doch über den Rahmen des Denkens und der Überzeugung seiner
Klasse nicht hinaus“.
36
James George Frazer, Der goldene Zweig, S. 204 : „Solche magischen Schauspiele
(Scheinvermählungen, d. Verf.) haben bei europäischen Volksfesten immer eine bedeutende Rolle
gespielt, und da sie auf einer sehr rohen Auffassung von Naturgesetzen beruhen, ist es klar, dass es
sich hier um Überlieferung aus grauer Vorzeit handeln muss. Wir dürfen daher kaum fehlgehen in der
Annahme, dass sie aus einer Zeit stammen, da die Vorfahren der zivilisierten Nationen Europas noch
Barbaren waren, ihr Vieh hüteten und auf den Lichtungen der ausgedehnten Wälder, die damals den
größten Teil des Kontinents vom Mittelmeer bis zum Nördlichen Eismeer bedeckten, Getreide
anbauten“.
33
15
Struktur dringt er zu der Handlungsstruktur vor, die sich hinter oder unter der
Handlungsebene verbirgt und entwirft aus ihr eine ’Grammatik’ des Märchens. Dabei
zerlegt er beispielsweise das Motiv Der Drachen entführt die Tochter des Zaren 37 in
eine Kette kleinster Einheiten, die von Märchen zu Märchen austauschbar sind: Der
Drache könnte die Tochter des Zaren auch quälen, sie fordern, der Drache könnte
auch ein Teufel sein, eine Hexe, ein Bär, der Zar selbst, ein Gutsherr. Die Tochter
könnte jedes andere geliebte Wesen sein, der Zar ein anderer Vater und die
Entführung eine andere Form des Verschwindens. Der Leser wird sich von den
innerhalb dieser Minimal-Sequenz möglichen Transformationen und Substitutionen
nicht beirren lassen. Er ‚weiß’, was ihn im weiteren Verlauf der Handlung –
unabhängig von der konkreten personellen Besetzung und der attributiven
Ausstattung – erwartet.
Als grundlegende narrative Einheit der Handlungsstruktur bestimmt Vladimir Propp
die Funktion, unter der die Aktion einer handelnden Person verstanden (wird, d.
Verf.), die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert
wird.38 Wie ein lebender Organismus im Zusammenwirken seiner Teile sich als
Wesensganzes zeigt oder wie ein Molekül sich auf die atomaren Komponenten
reduzieren lässt und diese wiederum auf seine Elementarteilchen, so beschreibt
Propp eine Erzählung als eine aus Funktionen bestehende Sequenz. Diese
Funktionen – Propp isoliert bei der Analyse von hundert Märchen 31 solcher
Handlungskerne, die nicht weiter zerlegbar sind lassen sich zu einer
Handlungsstruktur synthetisieren, wobei die Reihenfolge der Funktionen zwar leicht
variierbar ist - Wiederholungen sind ebenso möglich wie Auslassungen - , aber nicht
umkehrbar. Eine geschlossene Handlungsstruktur liegt also vor, wenn eine
Geschichte begonnen und zu Ende erzählt wird, das heißt wenn die Abfolge
zwischen dem Beginnen und dem Beenden bis zu 31 invariable Funktionen umfasst,
wobei es bei der Definition der Funktion allein auf die Aktion der handelnden
Personen ankommt, nicht auf die sonstigen Attribute, Namen und Gestalten der
Akteure.
Die Invarianz zum Beispiel der Funktionen ‚Versetzung des Helden in die Fremde
durch die Gabe eines Helfers’ mit den im Prinzip austauschbaren Handlungsträgern
Zar/Bursche, Großvater/Sučenko, Zauberer/Ivan, Zarentochter/Ivan wird an vier
Beispielen 39 von Märchen anschaulich gemacht.
1. Der Zar gibt dem Burschen einen Adler. Dieser bringt den Burschen in ein
anderes Reich. (171) 40
2. Der Großvater gibt Sučenko ein Pferd. Das Pferd bringt Sučenko in ein
anderes Reich. (132)
3. Der Zauberer gibt Ivan ein kleines Boot. Das Boot bringt Ivan in ein anderes
Reich. (138)
4. Die Zarentochter gibt Ivan einen Ring. Die Burschen, die in dem Ring stecken,
bringen Ivan in das fremde Zarenreich. (156)
usw.
37
Vladimir Propp, Morphologie, S. 173 f.
Vladimir Propp, Morphologie, S. 27
39
Vladimir Propp, Morphologie, S. 25
40
Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Antti Aarne, Verzeichnis der Märchentypen, Folklore
Fellows Communications (FFC) Nr. 3, Helsinki 1991
38
16
Diese Funktionen als Aktionen von handelnden Personen, die für den Gang der
Handlung bedeutungsvoll sind wie zum Beispiel ‚Kampf gegen das Böse’, ‚Rettung
des Helden’, ‚Erfüllung einer schwierigen Aufgabe’, sind ebenso austauschbar wie
die so genannten Aktanten. Der Held, der Gegenspieler, das Opfer, der falsche Held,
Helfer, der Aussender des Helden sind in den Märchen im gattungstypischen
grammatischen Rahmen kombinierbar. Eine bestimmte Handlung kann verschiedene
Funktionen annehmen, und verschiedene Handlungen können funktional identisch
sein. Der funktionale Wert eines konkreten Handlungselements oder auch der eines
Aktanten für den gesamten Handlungsablauf lässt sich demnach nicht an diesem
selbst ablesen, sondern ergibt sich aus der Position, die dieses Element in der
Struktur des ganzen Märchens durch die anderen Elemente zugewiesen bekommt.
Der Held kann also ein Schloss bauen, um sich gegen einen Widersacher zu
schützen; er kann aber ebenso den Widersacher direkt bekämpfen oder sich zum
Schutz vor ihm mit einer Gegenmacht verbünden.
Die wichtigsten, aus der Analyse der einzelnen Märchen gewonnenen 31
Funktionen lassen sich wie folgt zusammenfassen und gemäß der ‚Grammatik’ des
Märchens auf eine Reihe bringen:
Auslöser der Handlung ist eine Schädigung, eine Verbotsverletzung oder eine
Mangelsituation. Der Held wird mit der Beseitigung des Übels beauftragt. Er verlässt
das Haus. Er wird auf die Probe gestellt und gewinnt ein Zaubermittel oder einen
übernatürlichen Helfer. Der Held gelangt zum Aufenthaltsort des gesuchten
Gegenstandes. Der Held und sein Gegner treten in einen Zweikampf. Der Gegner
wird besiegt. Die anfängliche Schädigung, Verbotsverletzung oder Mangelsituation
wird behoben. Der Held reist zurück, wird dabei verfolgt und vor seinen Verfolgern
gerettet. Der Held gelangt unerkannt nach Hause zurück. Ein falscher Held macht
seine unrechtmäßigen Ansprüche geltend. Dem Helden wird eine schwere Aufgabe
gestellt. Der Held löst die Aufgabe und wird erkannt. Der falsche Held wird entlarvt
und bestraft. Der Held vermählt sich und besteigt den Thron. 41
In einem weiteren Abstraktionsschritt lassen sich diese Funktionen logisch zu
bestimmten Wirkungskreisen zusammenfassen, die sich wiederum völlig mit den
einzelnen Handlungsträgern decken 42, wobei als Ausgangspunkte der insgesamt
sieben Handlungskreise neben dem Gegenspieler, dem Schenker, dem Helfer, der
Zarentochter als der gesuchten Gestalt, dem Aussender, dem falschen Helden vor
allem der Held von Interesse ist, weil seine Trajektorie, angefangen von der Funktion
des Auszugs über die Komplikationen bei der Suche bis hin zum Ankommen ans Ziel
der tragende Spannungsbogen der Erzählung ist und dem Zuhörer das plausiblelste
Identifikationsangebot macht.
Bildet eine Funktionskette eine Sequenz als Minimalform des Märchens, welches von
der Schädigung über Zwischenfunktionen zur Hochzeit beziehungsweise anderen
konfliktlösenden Funktionen führt, kann ein kompliziert gebautes Märchen mehrere
Sequenzen aufweisen, so dass es bei der Analyse vor allem darauf ankommt, die
Zahl der Sequenzen zu bestimmen, um dann gegebenenfalls zu sehen, wie diese
miteinander verflochten sind, an welcher Stelle eine laufende Sequenz unterbrochen
wird und wo eine neue eingebunden wird.
41
42
Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung, S. 139
Vladimir Propp, Morphologie, S. 79
17
Wie konsequent Vladimir Propp sein morphologisches Programm durchführt, um den
Nachweis zu erbringen, dass sich literarische Texte in derselben Weise analysieren,
klassifizieren, mathematisieren und bestimmen lassen wie Organismen, zeigt sich in
der differenzierten Nomenklatur, mit der er die Strukturformeln der Märchen notiert.
Er verwendet nicht weniger als 196 Symbole, mit denen er die Märchen
gewissermaßen in Partituren verwandelt und die den Funktionsvergleich ermöglichen
sollen. So kennt er zum Beispiel allein 25 Chiffren 43 (von A1 bis A19 über AVIII, AXVI,
A*..) für die Funktion der Schädigung, 7 Chiffren (bestehend aus griechischen
Buchstaben) für die Typisierung von Mangelsituationen und 12 verschiedene
Zeichen für die Reaktion des Helden, so dass beispielsweise das Märchen mit der
Nummer 114 44 sich wie folgt ‘liest’: < AXVI ↑ Sch1 H1 Z2 ↓ V R4 H* >, wobei unter
H und seinen sechs Varianten die Handlungselemente Hochzeit und
Thronbesteigung, Hochzeit, Thronbesteigung, Eheversprechen, erneuerte Ehe und
geldliche Belohnung - statt Vermählung mit der Zarentochter und anderer Formen
der Belohnung bei der Lösung des Konflikts - zusammengefasst sind.
Ein anderes Märchen, es hat die Nr. 53, ist nach folgender Strukturformel gebaut:
< b1 a1 A1 B4 C ↑ S4 L5 ↓ >. Es ist das Märchen vom Wolf und den Geißlein und
seine Elemente sind: Verbot (b1), zeitweilige Entfernung älterer Personen (a1),
Entführung einer Person (A1), Information über das Unglück in verschiedenen
Formen (B4), einsetzende Gegenhandlung (C), Abreise (↑), Überlegenheit beim
Gewichtsvergleich (S4), sofortige Behebung des Unglücks durch Anwendung eines
Zaubermittels (L5) und Rückkehr (↓).
Ohne weiteres lässt sich belegen - das jeweilige ‚happy end’ wird als bekannt
vorausgesetzt -, dass auch Märchen außerhalb des von Propp untersuchten Corpus
eine solche Funktionsanalyse bestätigen. In den von den Brüdern Grimm um die
Mitte des 19. Jahrhunderts gesammelten Märchen lässt sich sowohl die Funktion A
(Schädigung) als auch die Reihenfolge von A nach H (Reaktion des Helden)
identifizieren. Unter der Voraussetzung, dass das glückliche Ende der Märchen
mehr oder weniger bekannt ist, kann das Moment der Schädigung als invariable
Funktion, welche das weitere Geschehen in Gang setzt, mit variablen Personen und
Attributen an vier Beispielen aufgezeigt werden:
Sneewitchen
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom
Himmel, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem
Edelholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte,
stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den
Schnee…45
Dornröschen
Vor Zeiten waren ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag „ach, wenn wir
doch nur ein Kind hätten!“ und kriegten immer keines. Da trug es sich zu, als die
Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und
zu ihr sprach…46
43
Verzeichnis der Abkürzungen in: Vladimir Propp, Morphologie, S. 146 f.
Vladimir Propp, Morphologie, S. 136 (mit weiteren Strukturformeln)
45
Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen mit Federzeichnungen von Max Slevogt, Tübingen 1976,
S. 104
46
Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 88
44
18
Die sechs Schwäne
Es jagte einmal ein König in einem großen Wald und jagte einem Wild so eifrig nach,
dass ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend herankam, hielt
es still und blickte sich um, da sah er, dass er sich verirrt hatte…47
Das Eselein
Es lebten einmal ein König und eine Königin, die waren reich und hatten alles, was
sie sich wünschten, nur keine Kinder. Darüber klagte sie Tag und Nacht und sprach:
„Ich bin wie ein Acker, auf dem nichts wächst“. Endlich erfüllte Gott ihre Wünsche,
als das Kind aber zur Welt kam, sah’ s nicht aus wie ein Menschenkind, sondern war
ein junges Eselein…48
Für den Forschungsansatz von Vladimir Propp, der jedenfalls bezüglich des
analytischen Aspekts seiner Literaturtheorie der in den 20er Jahren stark beachteten
Schule des russischen Formalismus zugerechnet wird 49 - im evolutionären Teil
seiner Theorie wird er sich dogmatisch an die marxistische Basis-Überbau-Lehrer
halten -, ist es von großem Vorteil, dass das Märchen keinen identifizierbaren Autor
besitzt, über dessen biographische Daten, psychische Verfassung oder
gesellschaftliche Position, ethische oder ästhetische Grundüberzeugung sich in
irgendeiner Weise in den handelnden Personen abbilden könnte. Für eine
Literaturkritik, die das Werk primär als Ausdruck einer Dichterpersönlichkeit würdigt,
ist das anonym überlieferte Märchen ebenso wenig ein adäquater
Untersuchungsgegenstand wir für eine Literaturkritik, die in erster Linie an den
gesellschaftlichen Problemen der eigenen Gegenwart interessiert ist. Unter
Absehung des Autors beziehungsweise im Falle der Märchen einer wahren
‚Internationale’ von Autoren kann er die Gattung studieren.
Da auch die
Entstehungszeit und der Herkunftsort beziehungsweise die weltweit gestreuten
Herkunftsorte der Märchen fast völlig im Dunkeln liegen – vorstaatliche, ja vorfeudale, schriftlose, primitive Gesellschaften werden als Herkunft angenommen -,50
scheiden auch die in der Erzählforschung gelegentlich bemühten soziologischen und
historischen und raumbezogenen Erklärungsmodelle aus.
Mit der Formulierung der Funktionen erklärt Vladimir Propp das Entstehen der
literarischen Formen nicht durch eine künstlerische Gesetzmäßigkeit oder eine
geniale Erfindung; für ihn sind es außerliterarische Motive, die sowohl ein Handlungsals auch ein Erzählschema bilden, wobei letzteres als Handlungskreis in
47
Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S.79
Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 223
49
Juri Striedter, “Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution“ in: Russischer
Formalismus, Hg. Juri Striedter (1969), München 1971, S. XIV. : „Denn wie die Formalisten gleich zu
Beginn ihrer Tätigkeit mit Nachdruck und vollem Recht betont haben, ist nicht jede Beschäftigung mit
Literatur, auch nicht jede wissenschaftliche, auch schon Literaturwissenschaft. Als Ausdruck der
Individualität eines Verfassers, als gesellschaftliches Phänomen und als historisches Dokument
können Werke der Literatur sehr wohl unter psychologischen, soziologischen, historischen und
anderen Aspekten mit wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen analysiert werden. Nur handelt
es sich dabei noch nicht um die Wissenschaft von der Literatur als solcher. Deren Gegenstand ist,
nach Auffassung der Formalisten in Jakobsons viel zitierter Formulierung, nicht die Literatur in der
Vielfalt ihrer Aspekte, sondern das Literarische an ihr, ihre ‚Literaturnost’ (Roman Jakobson, Novejša
russkaja po÷zija, Praga 1921)“.
50
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 17: „Das richtige Zaubermärchen aber mit geflügelten Pferden, mit
feurigen Drachen, phantastischen Zaren und Zarentöchtern usw. ist offensichtlich nicht durch den
Kapitalismus bedingt, es ist älter als diese Ordnung. Ohne Umschweife wollen wir sagen, dass das
Zaubermärchen auch älter ist als der Feudalismus“.
48
19
abschließender Reduktion auf einen zyklischen Verlauf hindeutet: Auszug aus dem
Haus, Erfüllung einer Aufgabe in der Fremde, Rückkehr. Dieses allgemeine Schema
der abenteuerlichen Suche (the quest, la quête) scheint das Erzählgut vieler Kulturen
zu bestimmen und lässt Vladimir Propp auf Grund einer morphologischen
Analyse…zu der These gelangen, dass das Zaubermärchen in seinen
morphologischen Grundelementen einen Mythos darstellt, 51 und von archaischen
Religionen her kommt. 52
Der Hinweis auf die Religion darf jedoch nicht als ein genetischer Zusammenhang
verstanden werden. Dies wäre ein Widerspruch zu der auf die Funktionen
gegründeten Morphologie, die bestimmte Handlungsmuster, die nicht wiederum
religiös bedingt sein können, dem Erzählschema zugrunde legt.
Allerdings vermutet Propp, dass diese Handlungsmuster auch von den Religionen
rezipiert werden und von dort aus Eingang in das Erzählgut finden, so dass der
Anschein der Abhängigkeit des Märchens von der Religion erweckt wird. Wie
durchlässig die Grenzen zwischen Religion und Märchen sein können, ohne dass
man von einem direkten Wirkungszusammenhang sprechen könnte, wird von
Vladimir Propp am Beispiel der im 13. Jahrhundert durch Rom erfolgten
Kanonisierung des Heiligen Georgs, des Drachentöters ausgeführt, der für seine
wundersame Tat gefeiert wird, obwohl dieser Drachenkampf in vielen früheren,
inzwischen ausgestorbenen Religionen nachgewiesen werden kann, von wo er als
epische Volkstradition, also gewissermaßen konserviert durch die Märchenform,
schließlich den Weg in das Archiv der christlichen Legenden gefunden hat. Die
Drachenkampfgeschichte ist morphologisch betrachtet ein Märchen, das sich aus
einer Schädigung (A) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit (H*)
oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt. An dieser erfolgreichen
‚Karriere’ der Drachenkampferzählung lässt sich im Übrigen ablesen, dass gerade
das Märchengenre, nicht zuletzt dank seiner mündlich-anonymen Überlieferung über
klar ausgeschliffene, prägnant zur Geltung kommende Prinzipien des Stils und der
Komposition verfügt und dass in ihm Geschehnisse und Figuren ganz den
Bedürfnissen der linear geführten Handlung unterworfen werden, während auf
psychologische Motivierung verzichtet wird.
Obwohl Vladimir Propp sich mit seiner Entdeckung, dass bestimmte und exakt
bestimmbare Funktionen der handelnden Personen die konstanten, sich
wiederholenden Elemente der Märchen sind, sich nur auf diese Gattung bezieht,
deutet er an, dass sich diese funktionalen Sequenzen auch jenseits der
Gattungsgrenzen nachweisen lassen. In einer prophetischen Schlussbemerkung
lässt er per Zitat 53 den St. Petersburger Literaturwissenschaftlers Aleksandr
Nikolaevic Vesalovskij (1848 – 1918) zu Wort kommen, der 14 Jahre vor Propps
Morphologie in seiner Poetik der Sujets 54 voraussagte, dass künftige Generationen,
wenn sie dereinst zur heutigen (des Jahres 1913, d. Verf.) Erzähldichtung mit ihrer
komplizierten Stoffstruktur und photographisch getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit
die gleiche Distanz hätten, aus der man ‚heute’ die alte Dichtung überschaue, dann
ebenso in der Lage wären, die Feinheit der Erscheinungen zu durchdringen und zu
51
Vladimir Propp, Morphologie S. 90
Vladimir Propp, Morphologie S. 161
53
zitiert nach Vladimir Propp, Morphologie, S.116
54
Aleksandr Nikolaevic Vesalovskij, „Poetik der Sujets“ in: Gesammelte Werke. Serie 1, Bd. 2, Sankt
Petersburg 1913, S. 2
52
20
erkennen: das Phänomen der Formelhaftigkeit und der ständigen Wiederkehr wird
sich überall zeigen. In seinem Nachwort zur Morphologie eröffnet auch der
Herausgeber die Möglichkeit, die bei der Gattungsanalyse des Märchens
gewonnenen Einsichten bezüglich eines festen Repertoires formalisierbarer
invariabler Elemente als Analyseprinzip zu verallgemeinern, und er bescheinigt
Vladimir Propp, er könne mit Recht für sich in Anspruch nehmen, eine Arbeit von
literaturwissenschaftlich allgemeiner und in ihren Konsequenzen weitreichender
Bedeutung vorgelegt zu haben. 55
In Vladimir Propps Morphologie, die erst 1958, also 30 Jahre nach ihrem Erscheinen
im Westen bekannt und als Novum begrüßt wurde – sie diente als Vorbild von
Strukturanalysen, vor allem als Vorbild für die Mythenanalyse von Claude LéviStrauss 56 - wird gelegentlich und am Rande der morphologischen Problematik und
der Gattungsanalyse die Frage nach dem Ursprung des Märchens mitbedacht. Fast
20 Jahre nach seiner Morphologie legte er mit Die historischen Wurzeln des
Zaubermärchens (dt. 1987) ein weitere umfangreiche Studie vor, die die
Funktionentheorie durch Motiv-Vergleiche aus einer gesteigerten Anzahl von
Märchen illustriert und, was für die Annahme von extra-textuellen Programmen für
das literarische Schaffen in höchstem Maße bedeutsam ist, die Frage nach der
historischen Basis des Zaubermärchens beantwortet. Hatte er in der Morphologie die
Formenanalyse der Märchen so weit vorangetrieben, dass er die Spielregeln der
handelnden Personen herausarbeiten und die Märchenstruktur aufdecken konnte,
zeigen Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, dass der morphologische
Befund für Propp keinen Selbstzweck darstellt und dass es für ihn nicht darum geht,
das poetische Verfahren an sich auf den Begriff zu bringen. Wie sich Goethe beim
Studium der Morphologie der Pflanzen und anderer Lebewesen besonders für deren
Metamorphosen interessiert, verfolgt Propps Märchenforschung das Ziel, die Ebene
der künstlerischen Formen zu durchbrechen und durch die Analyse der GenreSpezifik des Zaubermärchens im Sinne einer literarischen Evolutionstheorie eine
historische Erklärung für dessen strukturelle Einheit zu finden.57 Die Funktionen
müssen also als etwas gedacht werden, das auf einem anderen Boden gewachsen
ist als dem der Erzählungen, als etwas, das gewissermaßen als ‚ready-made’
vorgefunden und sich im Lauf eines historischen Prozesses zu einem narrativen
Element entwickelt. Die Funktionen sind also keine dichterischen Schöpfungen. Das
Poetische am Zustandekommen des Märchens besteht in der Integration und der
durch eine spezifische Grammatik geregelten Kombination der bereits fertigen
Funktionen.
Da nach der marxistischen Geschichts- und
Kulturtheorie die Materie das
Bewusstsein bestimmt, muss es für alle gesellschaftlichen Erscheinungen, also für
Philosophie, Religion, Literatur und Kunst eine reale Basis geben.58 Auf der Suche
nach der Produktionsweise, die das Märchen ins Leben ruft, gelangt Vladimir Propp
in einen weiten Raum, dessen chronologische und geographische Definition nur
annähernd geleistet werden kann. Obwohl dies, wie bereits in der Morphologie
55
“Nachwort des Herausgebers“ (Karl Eimermacher) in: Vladimir Propp, Morphologie, S. 216
Eleasar Meletinskij, „Strukturno-tipologičeskoe izučenie skaski“, dt. „Zur strukturell-typologischen
Erforschung des Volksmärchens“ in: Vladimir Propp, Morphologie, S.186 f.
57
Eleasar Meletinskij, Volksmärchen, S. 181
58
„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen
Lebensprozess überhaupt.“ Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In: MEW Bd. 13
Berlin 1969, S. 7
56
21
vermutet, der Raum der Riten als religiöser Erscheinungsform und der Mythen als
besonderer tradierter Erzählungen ist, besteht Propp darauf, dass dieser Raum von
historischer Realität ist. Konstitutiv für diesen Raum, von dem man nur sicher
angeben kann, dass man es in ihm sowohl mit primitiven Völkern im
Vorklassenzustand…als auch aus den Kulturstaaten des Altertums 59 zu tun hat, ist
die soziale Institution der Initiation, der Komplex der Todesvorstellungen in
Verbindung mit dem Ahnenkult und die mythische Erzählung.
Will man einen Datierungsrahmen bilden und herausfinden, wie lange vor dem
‚Zeitalter des Märchens’ in der Menschheitsgeschichte das Kulturgut der
Humangemeinschaften allein von Riten und Mythen bewahrt und weitergegeben
wurde, ist die Annahme plausibel, dass dieser Zeitraum sich zwischen dem ersten
Auftreten des Menschen und dem Beginn seiner Sesshaftigkeit im Rahmen der
neolithischen Wende erstreckt. Verlängert man diesen Zeitraum noch bis zum
Aufkommen der Schrift als dem neuen und revolutionären Speichermedium
errechnet sich mit dem Altphilologen Walter Burkert 60 ein überragendes zeitliches
und für die biologische Evolution des Menschen erdrückendes Übergewicht der
rituellen gegenüber der textuellen 61 Überlieferung. Diesen Zeitraum – für Propp wie
für Burkert ist es nach der vorherrschenden, jedoch nicht unumstrittenen Meinung die
Jägerzeit – , welcher in seiner Tiefe mit den Methoden der Paläologie und
Archäologie kaum zu erhellen ist, betrachtet Vladimir Propp dennoch und mit Recht
als reale Vergangenheit. Und in dieser zwar nicht dokumentierbaren aber dennoch
historischen Wirklichkeit verortet er die kompositionelle Einheit des Märchens. Auf
dieser Zeitreise, auf der ihm die Versatzstücke der Märchen den Weg zu den Riten
und Mythen weisen, zeigt sich ihm die erzählerische ‚Urpflanze’, 62 und er sieht, ihr
Boden ist nicht irgendeine Besonderheit der menschlichen Psyche, keine
anthropologische Gegebenheit, kein Hang zum künstlerischen Schaffen. Er ist
überzeugt: Das, was jetzt erzählt wird, tat man einst und stellte es dar, und das, was
man nicht tat, stellte man sich vor. 63 Prototypisch für das Märchen ist das, was im
Ritus der Initiation dem Jüngling beim Übergang in den Erwachsenenstatus und der
damit verbundenen Aufnahme in die Gemeinschaft ‚erzählt’, weisgemacht und in aller
Verbindlichkeit offenbar gemacht wird.
In der Initiations-Szene, die aus einem rituellen Geschehen besteht, aber auch die
älteste Stufe des Erzählens 64 darstellt, wird für Vladimir Propp der genetische
Zusammenhang von Kult und Erzählung sichtbar. Die Übereinstimmung von Mythen
59
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 30
Walter Burkert, Homo Necans, Interpretationen altgriechischer Opferrituale und Mythen (1971), 2.,
um ein Nachwort erweiterte Aufl. Berlin 1997, S. 25: „Die Jägerzeit, das Altpaläolithikum umfasst den
größten Teil der Menschheitsgeschichte. Mögen die Schätzungen zwischen 95% und 99%
schwanken, die biologische Evolution des Menschen hat sich jedenfalls in diesem Zeitraum vollzogen;
die höchstens 10000 Jahre seit Erfindung des Ackerbaus fallen demgegenüber kaum ins Gewicht“.
61
Begriffsverwendung in Anlehnung an „rituelle und textuelle Kohärenz“ bei Jan Assmann, Das
kulturelle Gedächtnis, München 1992 S. 87
62
Johann Wolfgang Goethe, Italiänische Reise, in: W. A., Bd. 31, S. 240: „Die Urpflanze wird das
wunderreichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem
Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die
konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und
nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit
und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen“.
Zitat bei Vladimir Propp, Morphologie, S. 91
63
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 453
64
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 455
60
22
und Märchen mit der Abfolge der Ereignisse, die bei der Initiation stattfanden, lässt
vermuten, dass dasselbe erzählt wurde, was mit dem Jüngling geschah, aber man
erzählte das nicht von ihm, sondern von einem Ahn, einem Gründer der Sippe und
Stifter der Bräuche, welcher auf wunderbare Weise geboren, ins Reich der Bären
und Wölfe u. a. kam und von dort das Feuer, magische Tänze (dieselben, die die
Jünglinge lernen) usw. mitbrachte. Diese Ereignisse wurden anfangs nicht so sehr
erzählt als vielmehr in stilisierter Form dramatisch aufgeführt. 65 In dieser
Erzählsituation, in der der Jüngling in der vorgeschriebenen Abfolge der Handlungen
nicht nur in die für ihn und die Gemeinschaft existenzielle Kulturtechnik, der des
Jagens und Tötens eingeweiht wird, sondern auch Kontakt mit dem Jenseits
aufnimmt, sieht Vladimir Propp die Antwort auf die Frage nach der Herkunft des
Märchens und zugleich, da für einen Beweis die Befunde fehlen oder die
Rückschlüsse von den Märchen auf das tatsächliche Geschehen zu spekulativ sind,
den Nachweis für die außerliterarische Quelle und Bauform der Erzählung. Durch
den performativ-interaktiven Charakter, den Propp dieser Erzählsituation verleiht,
gelingt es ihm, der Erzählung einen Ursprung zu verleihen, der wie auch seine
Theorie von den funktionalen Sequenzen ohne evolutionäre Absicherung auskommt.
Wir sehen jetzt die direkte Entsprechung zwischen Basis und Überbau 66 lautet das
Fazit des Literaturwissenschaftlers. Am Anfang ist der Mythos, der neben den
Tänzen, den Ornamenten, den rituellen Handlungen als Teil des Kultes dem
Initianden erzählt wird. In ihm enthüllt sich der Sinn der Handlungen, die an ihm
vollzogen werden. Der Initiand und alle Umstehenden wissen: Was erzählt wird, ist
nicht erfundenes Geschehen; es ist die zyklische Aufbereitung einer wahren
Überlieferung, die von andauernder sozialer Relevanz ist und geglaubt wird, wobei in
einer Gemeinschaft, die erste Gliederungen aufweist, der Erzähler-Priester als
Garant und Verwalter der Ursprungsgeschichte und der kollektiven Erinnerung 67
fungiert, ansonsten die Kultgemeinde im Sinn einer wohlverstandenen
Zukunftssicherung darüber wacht, dass nichts am rituellen ‚Erzählgut’, den Tänzen,
den Vorbereitungen, den Ornamenten und sonstigen Zeichenträgern verfälscht und
vernachlässigt wird, die wie ein Speicher fungieren, wenn auch ohne neuronale
Basis und ohne Schrift. Ist hiermit das Märchen genetisch als Relikt des Mythos
gekennzeichnet, muss für seine historische Entwicklung vom Medium einer
dramatischen und kultischen Interaktion hin zu einer als fiktional verstandenen
Erzählung – in materialistischer Konsequenz – eine Veränderung der
Produktionsweise und damit der Lebensweise in Anspruch genommen werden. Das
Verschwinden des Ritus hängt mit dem Verschwinden der Jagd als einziger oder
überwiegender Quelle der Existenz zusammen, 68 lautet die umstandslose Erklärung
von Vladimir Propp. Da nun nach dem Übergang des nomadisierenden Jagens 69
zum ortsfesten Ackerbau kein Initiand mehr der Einweihung als Abrichtung zum
Jagen und Töten bedarf, ist das Sujet und der Akt des Erzählens nicht mehr an ein
Ritual gebunden, und mit dieser Loslösung vom Ritus wird aus dem Mythos, in dem
65
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 454
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 458
67
Vgl. Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950, dt. Stuttgart 1967
68
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 453
69
Die Frage der Dominanz der Jagd im Paläolithikum wird unterschiedlich beantwortet. Von ihrer
Antwort kann die ‚Erfindung’ der Tötungsgewalt entweder als Jäger- oder als Opfergewalt abhängen.
Dazu Georg Baudler, Erlösung vom Stiergott, München / Stuttgart 1989, S. 103: „Man nimmt auch
allgemein an, dass der Nahrungsbedarf des Frühmenschen nur zu einem geringen Prozentsatz durch
Großwildjagd abgedeckt wurde. Noch bei heutigen Jäger- und Sammlervölkern, wie etwa den
Pygmäen, bildet das erjagte Großwild nur etwa 20% der notwendigen Nahrung. Für den Fleischbedarf
hätten auch Aas und Kleintiere genügt“.
66
23
das Ritual fortexistiert, eine profane Erzählung ohne Überlebensfunktion, deren
pädagogischer Duktus zwar noch von ferne an den mythologischen Auftrag erinnert,
die aber sich mit Motiven aus außerkultischen Erfahrungen anreichert und für
künstlerischen Gebrauch freigesetzt wird. Aus dem Mythos wird ein Märchen, weil
die Ordnung, die den Mythos hervorbrachte und zu ihrer Aufrechterhaltung auch
benötigte, verschwunden ist.
Die Riten der ortsfesten Ackerbauergemeinschaften spiegeln eine andere
Interessenlage; sie produzieren andere Erzählungen und weisen mit den Märchen,
insbesondere dem Zaubermärchen und seiner Grundstruktur des Aufbruchs, der
gefahrvollen Reise und der glücklichen Heimkehr nicht mehr diesen direkten
genetischen Zusammenhang auf. Rückt mit dem Verschwinden der Jagd der
Initiationskomplex als kompositionelle Voraussetzung für die Erzählung in den
Hintergrund, bleibt der Komplex der Todesvorstellungen mit seinen Riten der
Bestattung und anderen kultischen Handlungen eine Quelle von – heiligen –
Erzählungen und hinterlässt Spuren in den Mythen und Märchen. Die Ahnen mit
ihren Tugendlehren und Rezepten für das Jagdglück werden abgelöst und ersetzt
durch die Autoritäten, die Fruchtbarkeit und Sicherheit gewährleisten und die man um
Sonnenschein, Regen und Schutz vor benachbarten Stämmen bitten kann. Dazu
werden Götter und Herrscher benötigt und zur Kontaktaufnahme mit ihnen Religion
und politische Organisation. Der Verkehr mit diesen diesseitigen oder jenseitigen
Autoritäten und Gewalten wird im Vergleich zur Initiation der Jäger umformatiert, das
zur Jägerzeit in den Riten aufbewahrte Wissen wird uminterpretiert, und Die
Tatsache der Uminterpretation beweist, dass im Leben eines Volkes gewisse
Veränderungen vor sich gegangen sind, und diese Veränderungen ziehen auch eine
Motivänderung nach sich.70 Was Ritus war, wird umgewertet, wird schriftförmig, in
Büchern und Archiven gespeichert, von Exegese-Priestern gelesen und verkündet.
In marxistischer Diktion ist also festzuhalten, dass das Märchen derjenigen Form der
Produktion und Lebensweise, unter deren Herrschaft es weit verbreitet ist, nicht
entspricht. Wenn man so will, ist das Märchen Ausdrucksform einer Gesellschaft, die
nicht mehr existiert und nur noch hypothetisch rekonstruierbar ist. Gleichwohl
tradieren nicht nur die Märchenmotive und ihre Sujets ein fernes reales Geschehen;
das Märchen als Gattung, als dramatische Grammatik, ist zugleich das Regiebuch für
die Synthese der frühmenschlichen Gemeinschaften. Und damit ein weiterer Beleg
für die Annahme einer extratextuellen und autorunabhängigen Instanz des
literarischen Schaffens.
Dass mit der Jagd die Märchen nicht gleichzeitig verschwinden – und mit dem
vorindustriellen Ackerbau nicht die Fruchtbarkeitsreligionen –, führt zu den von Karl
Marx konstatierten Nichtensprechungen, zu den Übergangszonen, die für den
Wissenschaftler so interessant sind, weil in ihnen die Spuren der jeweils
vorausgegangenen Entwicklungsstufe noch gut lesbar sind. Mit der Veränderung der
ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder
rascher um. 71 Dies ist die Erklärung für die Phasenverschiebung zwischen der
Veränderung der Produktionsverhältnisse und der herrschenden Ideologie. Die
herrschende Ideologie ist – jedenfalls so lange, als der Widerspruch zwischen Basis
und Überbau nicht endgültig überwunden ist – strategisch immer im Nachteil. Sie
folgt dem Wandel der Ökonomie stets mit Verzögerung; das Märchen sagt ‘es war
70
71
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 22
Karl Marx, Polit. Ökonomie, S. 17
24
einmal’ und hat die Funktion des immer wieder von neuem zu beschwörenden
Gründungsakts vergessen. Als Märchen ohne Autorenschaft, welches einst ein
Mythos war, ist es noch lange nach ‚seiner’ Zeit erbaulich, unterhaltsam und
belehrend. In den rituellen Kontext zurückversetzt, was trotz der Nichtentsprechung
möglich ist und von Vladimir Propp konsequent durchgeführt wird, wird es zum
Schlüssel für das Verständnis des Überbaus seiner Zeit, in dessen Dienst es steht
und den es zu perpetuieren hat. Es ist ein Erzähltext, dessen strukturelle
Entscheidungen der Erzähler nicht selber trifft, die er vielmehr ausführt, wie auch die
Riten befolgt und ausgeführt werden, die den Bestand der Gemeinschaft sichern und
Geltung beanspruchen, und dies aus der Sicht der Betroffenen seit Anbeginn der Zeit
und für alle Zeiten.
Wenn Vladimir Propp feststellt, dass ich Riten, Mythen, Formen primitiven Denkens
und gewisse gesellschaftliche Institutionen als Gebilde betrachte, die dem Märchen
vorausgehen, und es für möglich halte, das Märchen durch sie zu erklären, 72 besteht
für ihn kein Zweifel: Ritus und Mythos sind Erscheinungsformen der Religion, der
Mythos ist eine mögliche Quelle der Märchen, und die Erzählung hat in zweifacher
Hinsicht einen sakralen Charakter, es handelt sich um ein besonderes Erzählgut
(recitatum), welches durch Tabus vor kultfreiem Gebrauch geschützt ist, und der
Vorgang des Erzählens (recitatio) geschieht in der Dramatik eines religiösen Kults.
Wenn man sich all das vorstellt, was mit dem Initianden geschieht, und es der Reihe
nach erzählt, so gelangt man zu der Komposition, auf der das Zaubermärchen
aufbaut. Wenn man all das der Reihe nach erzählt, was, wie man glaubt, mit dem
Verstorbenen geschieht, so erhält man wiederum denselben Kern [...] Diese beiden
Zyklen ergeben schon fast alle wesentlichen Konstruktionselemente des Märchens.
73
Diese drei Sätze können als die Synthese der Proppschen Morphologie mit seinem
Begriff der literarischen Evolution gelten: Es gibt sowohl fertige Bauteile für die
Märchenkonstruktion als auch einen fertigen Bauplan, welcher die Montage, also
Reihenfolge des Zusammenfügens bestimmt. Beides, die Bauteile wie auch die
Montageanweisung entstammen der kultischen Sphäre, der Religion, welche die
Identität und reale Selbsterhaltung der primitiven vorstaatlichen Gesellschaft
garantiert. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Märchen und
Zaubermärchen, beide haben dieselbe immunisierende und Kohärenz stiftende
Funktion für die Erzähl- und zugleich Kultgemeinschaft. Hinzugefügt werden kann,
dass durch Uminterpretationen und Umwertung, die durch Veränderungen ‚im Leben
der Völker’ fällig werden, auf der gegebenen Kompositionsgrundlage undenkbar viele
Variationen denkbar sind, ja dass auch die dem Märchen genetisch und historisch
nachfolgenden Formen von diesem Konstruktionsprinzip bestimmt sind.
Bisher herrschte die Meinung, das Märchen habe gewisse Elemente des primitiven
gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in sich aufgenommen. Wir werden sehen,
dass es aus ihnen besteht.74 Ließe sich diese kühne Formulierung verschärfen,
würde sie lauten: Das Märchen bildet nicht eine bestehende Ordnung ab, es ist diese
Ordnung.
72
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 35
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 452
74
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 35
73
25
Propp schließt auch nicht aus, dass die von ihm entdeckte erzählerische Ur-Form
über die Märchengattung hinaus in anderen Gattungen nachgewiesen werden kann:
Doch die Folklore erschöpft sich nicht im Märchen. Es gibt auch noch das in Sujets
und Motiven mit ihm verwandte Heldenepos, es gibt den weiteren Bereich von Sagen
und Legenden aller Art usw. Es gibt das Mahabharata, die Ilias und die Odyssee, die
Edda, die Bylinen, das Nibelungenlied usw. Alle diese Gebilde bleiben hier in der
Regel unberücksichtigt. Sie lassen sich selbst durch das Märchen erklären und
gehen oft darauf zurück. 75
Vladimir Propps Morphologie (1928) entstand in einer revolutionären Epoche. In
einer Zeit, in der Wissenschaftlichkeit weitgehend mit den Methoden der Natur- oder
Erfahrungswissenschaft gleichgesetzt oder zumindest an ihnen gemessen wurde,
konnte, ja musste als besonders unbefriedigend empfunden werden, dass im Bereich
der Literaturgeschichte und Literaturkritik unkontrollierbare Spekulationen und
Impressionen oder das bloße Sammeln literarisch wenig relevanter biographischer,
historischer und soziologischer Fakten das Feld beherrschten. Bis vor nicht allzu
langer Zeit war die Kunstgeschichte, insbesondere die Literaturgeschichte, keine
Wissenschaft, sondern causerie. Sie folgte allen Gesetzen der causerie, 76 äußerte
sich Roman Jakobson (1896 – 1982), der als Mitglied des russischen Formalismus
den Prager Strukturalismus mitbegründet und nach seiner Auswanderung in die USA
die moderne strukturale Linguistik angeregt hatte. So ist Vladimir Propp in diesem
Kontext auch zu verstehen und zu würdigen als ein Wissenschaftler, der sowohl mit
der Formelhaftigkeit seiner Morphologie als auch mit der Erforschung der Beziehung
der poetischen Struktur zur außerliterarischen Realität der Riten den Anschluss der
Literaturwissenschaft an herrschende Wissenschaftsparadigmen geschafft hat.
3. Walter Burkert: Das soziobiologische Programm
Während Vladimir Propp als Folklorist neben den russischen und europäischen
Märchen auch amerikanisches, ozeanisches, afrikanisches und asiatisches Material
studiert und somit, wie er sagt, es mit direkten Quellen 77 zu tun hat, verfügt der
klassische Philologe Walter Burkert (geb. 1931) insofern nur über indirekte Quellen,
als die Mythen der griechisch-römischen Antike, Babylons, Ägyptens - wie zum Teil
auch Indiens und Chinas - auf dem Umweg über literarische Überlieferung durch die
homerischen Epen, durch Sophokles’ Tragödien, durch Vergil, Ovid und andere
Autoren überliefert sind. Burkert selbst freilich sieht darin keinen Nachteil. Als
Philologe, der von altgriechischen Texten aus biologisch-psychologischsoziologische Erklärungen religiöser Phänomene versucht, 78 wird der Mangel an
menschheitsgeschichtlicher Ursprünglichkeit mehr als aufgewogen durch die
Luzidität des Griechischen 79, das heißt seine Zugänglichkeit und Verständlichkeit,
die es erlauben, wesentliche Stationen im Hauptstrom der menschlichen Entwicklung
zu erhellen 80 und die anthropologischen, also zu allen Zeiten und überall gültigen
Aspekte so zur Sprache zu bringen, dass die weit hinter uns liegenden
75
ebenda
Roman Jakobson „Über den Realismus in der Kunst“ (1921) in: Juri Striedter, Formalismus, S. 374
77
Vladimir Propp, Wurzeln, S. 30
78
Walter Burkert, Homo Necans, S. 1
79
Walter Burkert, Homo Necans, S. 5
80
ebenda
76
26
Grundordnungen des Lebens in fast schon klassischer Deutlichkeit sichtbar werden.
81
In ähnlicher Weise wie bei Goethe und Propp folgt auch bei Burkert auf einen
morphologisch-analytischen
Durchgang
ein
zweiter
Schritt
mit
einer
metamorphosisch-genetischen Fragestellung, wobei die genetische Konklusion, also
die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Erzählens sich bei der Darstellung
der Riten und Mythen verschiedentlich andeutet, jedoch erst – auch dies eine
Parallele zur Arbeit von Vladimir Propp - in der 27 Jahre später erschienenen Studie
Kulte des Altertums 82 geleistet wird, welches ausdrücklich die Thesen des
russischen Forschers aufgreift und weiterentwickelt.
Da Walter Burkert im Zentrum der Riten und Mythen den Komplex des Jagd-OpferToten-Rituals sieht, liegt es nahe, unverzüglich seine Theorie von der Entstehung der
Gewalt und der Kultur als Gegengewalt mit der Gewalt- und Kulturtheorie von René
Girard zu vergleichen. Aus Gründen der typologischen Annäherung an die
Romantheorie von René Girard scheint es jedoch angezeigt, den
literaturtheoretischen Aspekt, der aus den Arbeiten von Walter Burkert gewonnen
werden kann, so weit dies möglich ist, losgelöst von der Gewaltproblematik zu
erläutern und zunächst seinen spezifischen Beitrag zu der Auffassung von
extratextuellen und autorunabhängigen Regulierungsinstanzen des Erzählens
darzustellen.
Wenn in der Proppschen Erzählsituation, die den Charakter einer synästhetischen
und dramatisch stilisierten Performance hat, der Mythos in einen direkten Bezug zum
Märchen gesetzt wird, wird er indes begrifflich nicht präzise gefasst. Auch Walter
Burkert, in dessen Forschungsbereich der Mythos eine zentrale Stellung einnimmt –
mehr noch, als es bei Psychologen oder Soziologen, zum Beispiel bei Sigmund
Freud und Emile Durkheim, vorauszusetzen ist -, verzichtet, da eine allgemeine
Definition des Begriffs
‚Mythos’ fast ausgeschlossen
ist auf eine
Gattungsbestimmung und schlägt vor, den Mythos als Wissen in Geschichten oder
angewandte Erzählung 83 zu behandeln. Wenn er erklärt: Die Erzählung ist eine
Sinnstruktur, 84 verweist er auf mehrere Möglichkeiten, den Mythos zu verstehen: auf
die strukturalistische Mythenanalyse, die zu einer Sinngebung führt aufgrund der in
den Mythen enthaltenen Modelle der Realität und Verhaltensorientierung ebenso wie
auf den kognitionspsychologischen Zugang, der eine Sinngebung konstruiert
aufgrund der Affektstrukturen des Adressaten, die bei ihm die Verarbeitung des
Erzählten steuern.
Da es Walter Burkert also um die Erzählung schlechthin geht, muss auch das, was
im Erzählen vergegenwärtigt wird, ein Geschehen sein, welches eine der
Erzählstruktur entsprechende Handlungsstruktur aufweist. Und diese Entsprechung
von Handlungs- und Erzählstruktur ergibt sich für ihn in der gemeinschaftlichen UrHandlung der Opfertötung zugunsten der olympischen Götter und ihrer Darstellung
durch Homer und die antike Tragödie. War es bei Vladimir Propp das Drama des
81
ebenda
Walter Burkert, Kulte des Altertums, Biologische Grundlagen der Religion, München 1998
Die amerikanische Ausgabe war 1996 erschienen unter dem Titel „Creation of the Sacred, Tracks of
Biology in Earl Religions“, Cambrigde, Massachusetts
83
Walter Burkert, Kulte, S. 75 und Anmerkung Nr. 7, S. 230
84
Walter Burkert, Kulte, S. 76
82
27
Initiationsrituals, welches zugleich den Prototyp der ersten Gesellschaftsverabredung
und folglich der im Märchen aufbewahrten Primärerzählung darstellte, postuliert
Walter Burkert das Handlungsschema des religiösen Opfers als das Ereignis, in dem
die der menschlichen Gemeinschaft innewohnende, sie bedrohende aber auch
stabilisierende Gewalt institutionalisiert, geheiligt, domestiziert und gebändigt wird.
Dieses Ereignis setzt er gleich mit dem Handeln schlechthin in einer nicht mehr
rückgängig zu machenden Tat 85 und parallelisiert die Struktur dieses ersten,
prinzipiellen gemeinschaftlichen Handelns mit der Sinn-Struktur des Erzählens. Und
wie Propp die in der Erzählstruktur des Märchens analysierte Spur eines realen
Geschehens über die Mythen und Riten genetisch zurückverfolgt bis zur
Letztbegründung durch die Initiationsriten der frühmenschlichen Jägerzeit, nimmt
Burkert das Zeremoniell der Götteropfer in der bereits weit entwickelten und politisch
verfassten griechischen Antike zum Ausgangspunkt für eine Spurenlese, die ihn vom
Opferaltar aus zurückführt zu den ursprünglichen und urmenschlichen Jagdopfern
und – darüber hinaus – zur biologischen Programmierung des ersten sozialen
Handelns im interaktiven Verbund mit ‚seiner’ Erzählung. Dass die Verben ‚tun’ und
‚opfern’ 86 im Hebräischen und Hethitischen gleichgesetzt werden und dass sich das
Wort ‚Opfer’ als Lehnwort vom lateinischen Verb ‚operari’ 87 ableitet und somit eine
umweglose Verbindung zu dem Verb ‚handeln’ signalisiert, dient in Burkerts
Argumentation als erhellender sprachgeschichtlicher Hinweis.
Wie das in Geschichten eingelassene Wissen gehoben werden kann, das heißt wie
aus einer anschaulichen Schilderung eines mit Hilfe von diversen Quellen
rekonstruierten normalen griechischen Opfers 88 die strukturgebenden narrativen
Einheiten abstrahiert werden können, wird von Burkert mehr suggeriert als
ausgeführt. So lässt sich etwa die Reihenfolge der choreographischen Elemente als
erzählerische Komposition vorstellen, in der eine im gemeinsamen Rhythmus
verlaufende Prozession sich auf einem verwickelten Weg zum Opferstein als Ziel
bewegt, wo die Versammelten einen Kreis markieren, in welchem der tödliche Schlag
gegen das Opfertier erfolgt und wo nach dessen ritueller Schlachtung der engste
Kreis der unmittelbar Beteiligten sich im gemeinsamen Genuss des Opfermahls
zusammenschließt. Zerlegt man das Geschehen – in Anlehnung sowohl an die
Funktionenanalyse von Vladimir Propp als auch an die aristotelische ‚Mythus’Anforderung von Anfang, Mitte und Ende – in Handlungssequenzen, lässt sich eine
unumkehrbare Folge von drei Ritengruppen erkennen: Vorbereitungsriten, die eine
labyrinthisch verzögerte Entfernung vom Alltäglichen einleiten und Abschlussriten,
die zu einem befriedenden Abschluss führen, der den Schauder ins Behagen
wandelt, umrahmen ein Zentrum, dessen emotionaler Höhepunkt das Erlebnis der
Tötung durch menschliche Gewalt ist. Das Unumkehrbare des Geschehens bildet
sich in der rituellen Notwendigkeit des Ablaufs ab, auch wenn zahlreiche
Einzelbestimmungen wie Kleider, Baden, Schmuck, Bekränzung, sexuelle Abstinenz
sowie Musik, Räuchergefäß, Gebetsruf, Opferschrei und der alltägliche Gebrauch 89
das Opferritual zu einer leeren Formalität zu machen scheinen. Doch gerade in den
antiken Stadtkulturen, in der die jägerzeitliche Funktion des Tieropfers entbehrlich zu
85
Walter Burkert, Homo Necans, S. 9 „ Der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewusst
als homo necans. Dies ist ja ‚Handeln’ schlechthin…“
86
Walter Burkert, Homo Necans, S. 10, Anm. 4
87
Walter Burkert, Homo Necans, S. 9 - 10
88
Walter Burkert, Homo Necans, S. 10 - 14
89
Walter Burkert, Homo necans, S. 19, Anm. 46 „Eine Opferliste aus Uruk verzeichnet 50 Widder, 2
Stiere, 1 Ochsen, 8 Lämmer u. a. m. pro Tag als Opfer… Für ein Fest auf Delos wurden 154 Rinder
gekauft…König Seleukos stiftete für ein Opfer in Didyma 1000 Schafe und 12 Rinder…“
28
werden beginnt, gewinnt dieses im Ritus konservierte primäre ‚Handeln’ eher noch
an Bedeutung und beweist seine politisch-religiöse Bindekraft.
Nicht nur der religiöse Kult, sondern die Ordnung der Gesellschaft überhaupt
gestaltet sich im Opfer 90, welches durch Ritualisierung sich aus dem Jägerverhalten
der frühen Menschen herausbildete und, da es sich über alle Kulturstufen hin
übertragen ließ, sich als besonders leistungsfähig erwies und wegen der von ihm
ausgehenden Bindekraft unverzichtbar wurde. Am Anfang der Hominisation, wo
Vladimir Propp, indem er die Märchenfunktionen bis zu ihren ‚Wurzeln’
zurückverfolgt, die frühe Kultgemeinschaft insbesondere aus Anlass der Initiation
verortet, setzt Walter Burkert die nicht weniger hypothetische und aus den von ihm
analysierten Riten und Mythen deduzierte Gemeinschaft von Männern, die sich zu
dem vermeintlich überlebensnotwendigen Töten auf der Jagd zu einer Gesellschaft
zusammenschließen und diese aggressive Kreisbildung und Solidarisierung in der
Choreographie des Opferrituals perpetuieren und zur Grundlage einer
unverbrüchlichen Ordnung machen. Da das gemeinschaftliche Töten nicht als
angeborene Fähigkeit betrachtet werden kann und sich auch nicht durch die
psychische Mechanik von Nachahmung oder durch Tradierung von Sitten und
Bräuchen weitergeben oder erlernen lässt, muss dieses Kulturwissen als
arterhaltende Leistung, da andere Speichermedien nicht zur Verfügung stehen,
durch Ritualisierung verfestigt und gewissermaßen unter Auslesedruck durch
ständige Wiederholung aktualisiert werden. In konsequent darwinistischer Sehweise
verbindet Burkert die Durchsetzungs- und Überlebensfähigkeit der Gemeinschaften
mit der Konservierung der Tötungsmacht durch das Ritual. Entscheidend für den
Fortbestand einer Gruppe ist, wie auch die von Konrad Lorenz 91 inspirierte und
popularisierte Verhaltensforschung gezeigt hat, das aus gemeinsamer Aggression
entstehende soziale Band, obwohl auch andere Verhaltensweisen als die der
aggressiven Bindung Gemeinschaft stiften können, jedoch ohne dass diese – bei
historischer Betrachtung – ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen konnten. Burkert
nimmt zwar Notiz von der sich auf Eibl-Eibesfeldt 92 berufenden Verhaltensforschung,
welche etwa die arterhaltende Bedeutung der mütterlichen Zuwendung, der
geöffneten Hand und des entwaffnenden Lächelns betont, in seinem Fazit ist er aber
eindeutig: Gemeinschaft entsteht, wie die Verhaltensforschung gezeigt hat, aus
gemeinsamer Aggression. Gewiss schafft auch ein Lächeln Kontakt, ein kindliches
Weinen greift ans Herz; doch alle menschliche Gesellschaft hat es so eingerichtet,
dass der Ernst höher steht als Freundlichkeit und Rührung. Im ‚heiligen Schauer’ der
Begeisterung – dem Relikt aggressiven Haaresträubens – findet sich die
verschworene Gemeinschaft zusammen, im Gefühl der Kraft und der Bereitschaft. In
90
Walter Burkert, Homo Necans, S. 98
Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Zur Naturgeschichte der Aggression (1963) 7.-11. Aufl. Wien
1965, S. 194 „ …die aus neu- oder umorientierten Angriffsbewegungen entstandenen Befriedungsoder Begrüßungsriten…unterscheiden sich von allen bisher besprochenen Befriedungszeremonien
dadurch, dass sie die Aggression nicht unter Hemmung setzen, sondern von bestimmten Artgenossen
ableiten und in der Richtung auf andere kanalisieren. Ich habe schon gesagt, dass diese NeuOrientierung aggressiven Verhaltens eine der genialsten Erfindungen des Artenwandels ist – sie ist
aber mehr als das.“ Sowie S. 114 „Traditionsmäßige Ritenbildung stand ganz sicher am ersten Anfang
menschlicher Kultur, so wie auf einer sehr viel niedrigeren Ebene phylogenetische Ritenbildung am
Urbeginn sozialen Zusammenlebens höherer Tiere gestanden hat.“
92
Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Hass. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen,
München 1970
91
29
einer ‚Tat’ muss sich dies entladen: die Gelegenheit zum Töten und Blutvergießen
weist das Opferritual. 93
Ohne sich in der Frage des Ursprungs des Mythos als einer sachhaltigen Erzählung
festzulegen, die etwas Neues gegenüber den biologisch fassbaren Riten ist, datiert
Burkert gleichwohl den Mythos entwicklungsgeschichtlich nach den Riten. Dass der
Mythos in der Phantasie eines Dichters entstehe, wird von ihm ebenso abgelehnt wie
die Annahme, er sei einfach der gesprochene Teil eines Ritus. Betont wird indes,
dass der Mythos sich vor allem durch seine Eignung zum Erzählen und
Weitererzählen charakterisiert. 94 Diese Erzählbarkeit des Mythos, der ja kein
Erlebnisbericht oder Kommentar des Erzählers ist, wäre nicht gegeben, wenn sein
‚Text’ nicht auch leicht merkbar und wiederholbar und damit einleuchtend wäre. Da
sein Inhalt auch nicht von den Hörern auf seine Richtigkeit hin überprüft werden
kann, muss er ein hohes Maß an Plausibilität besitzen, was wiederum bedeutet, dass
seine Themen und Motive rasch erkennbar sind und in vielen Geschichten häufig
wiederkehren. Die Erklärung, dass die Wiedererkennbarkeit und Erzählbarkeit des
Mythos auf angeborenen archetypischen Dispositionen beruhe, ist wenig
befriedigend, weil sie keine Auskunft darüber gibt, wie – von einem konsequent
evolutionistischen Standpunkt aus – aus den Lebensformen der paläolithischen
Menschen derartige mythische ‚patterns’ entstanden sein könnten. Jenseits aller
Spekulation lässt sich indes festhalten: Ritus und Mythos sind Formen kultureller
Tradition, die sich gegenseitig erklären und festigen, die beide eine Lebensordnung
vermitteln, indem sie diese durch dramatisierende Erzählung verdeutlichen und im
Vorgang der dramatisierenden beziehungsweise erzählenden Mitteilung zu hoch
wirksamen Formkräften der Gemeinschaft werden. In Riten und Mythen handelt es
sich nicht um Einzelerfahrungen lebender Individuen, sondern um gemeinsamen
Besitz einer Gruppe, eines Clans oder Stammes, deren Identität weitgehend auf
ihnen beruht. In der Art der Gemeinschaftsbildung konkurrieren diese Formkräfte,
ohne dass entschieden werden könnte, welche der beiden in Führung gegangen ist.
An begrifflicher Klarheit und Reaktionsgeschwindigkeit ist die Wortsprache dem
gleichsam in feste Formen gepresste Ritus weit überlegen. Mit einem Wort, einem
Kommando wird mehr ausgerichtet als mit einem sorgfältig und aufwändig
vorbereiteten und ausgeführten Jagd- oder Kriegstanz. Andererseits besteht in der
Sprache das Risiko der Unverbindlichkeit, der Täuschung und der bewussten
Verfälschung. Eine Gemeinschaft mit einer rein einkanaligen Verständigung,
entweder der verbalen oder der non-verbalen und rituellen, ist nicht vorstellbar.
Die Frage, warum Geschichten auch ohne Inanspruchnahme von Hilfstechniken wie
Auswendiglernen oder Reimbildung viel leichter erzählt und im Gedächtnis behalten
werden als beispielsweise sinnlose Zahlen- oder Silbenkombinationen, ist nach
Burkert dadurch zu beantworten, dass es in den Geschichten nicht um einen fixen
Text geht, sondern um die Abfolge von Ereignissen und Aktionen, die zusammen
einen Sinn geben, 95 also um das Zusammenfügen von erzählerischen Elementen,
die wie die Proppschen Funktionen keinen narrativen Eigenwert besitzen und nur
durch ihren Beitrag zum Handlungsganzen zu legitimieren und verifizieren sind.
Deutlicher als durch das aristotelische Gebot der Wahrscheinlichkeit werden
Geschichten dadurch ‚merkwürdig’, ‚natürlich’ und ‚ergreifend’, dass sie bei aller
Freiheit des Ausdrucks, der Variation, der Erweiterungen und Kürzungen von etwas
93
Walter Burkert, Homo Necans, S. 45
Walter Burkert, Homo Necans, S. 41
95
Walter Burkert, Kulte, S. 75
94
30
handeln, was dem Rezipienten vertraut ist, was ihren Wiedererkennungswert
ausmacht und ihn mitreißt, kurz: dass sie eine universelle Sinnstruktur aufweisen, die
den einzelnen Text formatiert und lesbar macht.
Wie durch den Bezug auf tierische und menschliche Verhaltensforschung
angedeutet, verfolgt Burkert das Ziel, nicht nur diese Sinnstruktur als eine biologisch
gegebene zu markieren, sondern auch den evolutionären Übergang von der Biologie
zur Sprachwelt nachvollziehbar zu machen. Dazu benötigt er zunächst die ProppSequenz, die er als besonders erfolgreichen und einflussreichen Ansatz 96 würdigt
und der er bestätigt, dass sie sich in einem viel weiteren Umkreis von Mythen
bewährt, an die weder Propp noch Afanasév (russischer Märchenforscher, d. Verf.),
geschweige denn sein russischer Bauer (Märchenerzähler, d. Verf.) gedacht haben
können. 97 Die von Propp gefundene Formel der abenteuerlichen Suche, in der
Minimalform die Abfolge von ‚Auszug aus den Haus’ über ‚Erfüllung einer Aufgabe in
der Fremde’ bis zu ‚Rückkehr’, wird von Burkert auf die Erzählungen der griechischen
Mythologie angewandt, wo er zur eigenen Überraschung feststellt, dass nicht nur die
großen Mythen wie die Perseus-Geschichte, die ‚Arbeiten des Herakles’, der
Argonautenmythos und Teile aus den Erzählungen des Odysseus sich der
Proppschen Struktur fügen, dass vielmehr die Funktionen von Vladimir Propp auch
den Aufbau der sumerischen Erzählungen von Gilgamesh und Ishtars Höllenfahrt
bestimmen.
Diese erfolgreiche Erprobung der narrativen Grammatik 98 an den antiken Mythen
ermutigt Burkert zu weitergehenden Deutungen. Die aristotelische ‚Seele’ aus dem
Zitat Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos
99
wird etwas kühn uminterpretiert von einer Seele als gestaltendem Naturprinzip zu
einem gestaltenden Prinzip seit den ältesten Erzählungen, die aufgezeichnet wurden,
und weit über die klassische Mythologie hinweg bis in die Moderne hinein. 100 Damit
ist für Burkert unstrittig: Es gibt ein allgemeines Programm, Erlebnisse zu
organisieren; 101 was in allen Geschichten, in Romanen und Filmen, erzählt wird,
lässt sich reduzieren auf das Abenteuer von Suchen und Finden, Verfolgung und
Rettung, Verlust und Gewinn in schwankender Balance, wie es sich sukzessive und
Schritt für Schritt entfaltet. 102
Ist somit die Entsprechung von Handlungsprogramm und Erzählstruktur benannt,
bleibt noch die idealtypische Erzählsituation auszumachen, die Frage also, aus
welchem Anlass, warum und wozu und unter welchen Umständen man sich
vorstellen kann, dass aus einem Handeln ein Erzählen wird. Wie Vladimir Propp in
der von den Märchen aus deduktiv rekonstruierten Initiationsszene die Nahtstelle von
Ritus und Mythos, von Praxis und Erzählung sieht, entfaltet auch Walter Burkert
seine ‚bio- mytho-poetische’ Theorie aus einer imaginierten und erzählten Ur-Szene,
welche teils argumentierend, teils suggerierend versucht, die Verknüpfung von
96
Walter Burkert, Kulte, S. 76
Walter Burkert, Kulte, S. 77
98
Vgl. Algirdas Julien Greimas, « Eléments d´une grammaire narrative », in : Du Sens, Paris 1970, S.
157 – 183, wo das Funktionenschema von Propp als Modell für « le récit » verwendet wird, zitiert nach
Walter Burkert, Kulte, S. 230 (Anm. 11)
99
Aristoteles, Poetik, S. 53
100
Walter Burkert Kulte, S. 81
101
ebenda
102
ebenda
97
31
Handlungsprogramm und Erzählstruktur 103, wie das entsprechende Kapitel lautet, zu
untersuchen und zu begründen, eventuell auch die Mehrdeutigkeit der Kopula
einzugrenzen. Sollte der Nachweis gelingen, dass die Erzählstruktur eine
handlungsprogrammatische Grundlage hat, wäre erkennbar, dass beide Seiten
einander in ‚Text’ und ‚Syntax’ entsprechen, dass sowohl die kulturelle Ur-Handlung
des gemeinschaftlichen Tötens als auch die erste Erzählung nach dem gleichen
deep play 104 ablaufen.
Um zuvor die biologische Basis zu sichern, von der aus die Entsprechung von
Handeln und Erzählen in den Blick genommen werden kann, erweitert Burkert den
Bereich des humanen und kulturell ausgeformten operari um die an der primären
Vitalfunktion festgemachten universellen Handlungsebene der Futtersuche, aus der
eine elementare Sinnstruktur abgeleitet werden kann, und übersetzt die Proppschen
Funktionen von Aufbruch, Abenteuer und Rückkehr in das Aktionsprogramm zur
Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses. Jede Ratte durchläuft bei der Futtersuche
immer wieder diese ‚Funktionen’, 105 lautet die biologistische Interpretation der
Funktionentheorie und Burkert ist sich sicher: Praktisch die ganze Propp-Sequenz ist
in dieser Abfolge praktisch-biologischer Notwendigkeiten der Nahrungssuche
vorgezeichnet, 106 wo die unumkehrbare Abfolge der von Propp übernommenen
einzelnen narrativen Module wie ‚Mangel beziehungsweise Schädigung’, ‚Aufbruch’,
‚Entdeckung des rechten Orts’, ‚Begegnung mit Konkurrenten’ und ‚Rückkehr’ ein
Sinnganzes ergibt, welches vom Prinzip der Selbsterhaltung geprägt ist.
Auch zur Sicherung der biologischen Basis der gerichteten Handlungsabfolge und
der erzählerischen Entsprechung geht Burkert entwicklungsgeschichtlich weit hinter
das frühmenschliche Opferritual zurück. Er referiert Untersuchungen an
Schimpansen, denen die Taubstummensprache beigebracht wurde, mit deren Hilfe
sie in der Lage waren, eine ‚sprachliche’ Sequenz zu formulieren, um zur
erwünschten Nahrung zu gelangen.107 Auch berichtet er von einem geistig
zurückgebliebenen Kind, das zwar keine normale Sprachkompetenz erwerben
konnte, aber dennoch in einer Art Proto-Sprache nicht nur ein Bedürfnis ausdrücken,
sondern das für die Bedürfnisbefriedigung erforderliche ‚savoir faire’ – mit einem
Verbum als Imperativ – äußern konnte.108 Ergänzt wird diese Beobachtung durch
einen sprachwissenschaftlichen Beleg für den Übergang vom Imperativ zur
Erzählung in der indogermanischen ‚Ursprache’, wie sie vielleicht im 4. Jahrtausend
lebendig war.109 Trotz ihrer großen Entfernung von den Anfängen menschlicher
103
Walter Burkert, Kulte, S. 74 – 101
Dazu z. B. Christian Bromberger, „Fußball als ‚deep play’“ in:. Andréa Belliger / David Krieger (Hg.),
Ritualtheorien (1998), 2. Aufl. Wiesbaden 2003, S. 287 „Ein meta-sozialer Kommentar, als
philosophisch-dramatische Erzählung…Er ist wie ein karikierendes Melodram, das die grundlegenden
sozialen Achsen dieser Welt offen legt. Seine tiefe Struktur (die Gesetze des Genres eher als die
Regeln des Spiels) stellt das ungewisse Schicksal des Menschen in der Welt von heute dar.“ Sowie S.
289 „…verkörpert eine Kultur des Prometheus-Erfolgs ebenso wie eine Sisyphos-Philosophie des
Misserfolgs.“
105
Walter Burkert, Kulte, S. 82
106
ebenda
107
Walter Burkert, Kulte, S. 83: „George (Verhaltensforscher, d. Verf.): Was willst du? Washoe
(Schimpansin, d. Verf.): Orange, Orange, Orange. George: Keine Orangen mehr da. Washoe: Orange.
George (ärgerlich werdend): Keine Orangen mehr da. Was willst du? Washoe: Du Auto gehen. Gib mir
Orangen. Schnell.“
108
Walter Burkert, Kulte, S. 84: „Die differenzierteste Äußerung, die dieses Kind zustande brachte,
war ‚Apfelsaft – Kaufen – Laden.’“
109
Walter Burkert, Kulte, S. 86
104
32
Sprache glaubt Burkert dort den Übergang vom Imperativ zur Erzählung nachweisen
zu können, wo auf einer wenig differenzierten Stufe der Verbalkonjugation der so
genannte Injunktiv beziehungsweise Primitiv eine Aktionsform darstellte, welche
einerseits als Imperativ und andererseits als erwähnende Erzählung verwendet
wurde. 110 Er weist ferner darauf hin, dass diese Verbalformen noch im indischen
Veda – bis 1250 v. Chr. – anzutreffen sind und sich Restformen davon im
Griechischen erhalten haben und die Funktion einer erwähnenden Beschreibung
haben, in der im Grund Bekanntes zur Sprache kommt (und, d. Verf.) es nicht um
neue Informationen geht. 111
In einer seine Beobachtungen und Hypothesen verknüpfenden Theorie von der
‚Geburt der Erzählung aus dem Geist der Nahrungssuche’ bekennt sich Walter
Burkert nachdrücklich zu der von Vladimir Propp vorgezeichneten Auffassung, dass
es anthropologische, soziobiologische und – in der Folge – ritualisierte Programme
sind, welche beim Erzählen Regie führen. Und so wie Propp die Entstehung der
Erzählung mit dem performativen Initiationsritual verbindet, inszeniert Burkert das auf
die Jagd folgende Zusammensein der Jäger als den Ort, an dem die Dramatik der
Handlung übergeht in das dramatische Memorieren und sich für eine
entwicklungsgeschichtlich lange Zeit eine enge Wechselwirkung der beiden
dramatischen Funktionen etabliert, eine Wechselwirkung, die wohl erst mit dem
Aufkommen der Schrift als dem neuen Kommunikations- und Speichermedium ihren
unmittelbaren Charakter einbüßt. Unter der anthropologischen Prämisse, dass
Menschen nach der Definition des Aristoteles gemeinschaftlich lebende und
sprechende Wesen sind, also nicht anders können, als innerhalb der Gruppe
miteinander interaktiv zu sein und ins Gespräch zu kommen, ergibt sich auch ohne
äußeren Anlass eine anschlussreiche Wechselwirkung von Mitteilungszwang und
Mitteilunsdrang.
Den Übergang von realitätsbezogenen Imperativen zur eigentlichen, von der
Aktualität abgekoppelten Erzählung kann man sich unschwer vorstellen, auch wenn
dies außerhalb des Bereichs des Bezeugten fällt. Offensichtlich gebrauchen
Menschen ihre Sprache sehr gern auch ohne drängende Notwendigkeit direkter
Information. Menschen sind gesprächig und empfinden es als nahezu unerträglich,
schweigend zusammen zu sein. Wir vermögen uns vorzustellen, wie unsere fernen
Ahnen abends am Feuer saßen, wie sie dabei die Serie von Imperativen, die bei den
wichtigen Tätigkeiten des Tages aufgetreten waren, in der Erinnerung und wie im
Traum wiederholten. Durch die Trennung vom aktuellen Geschehen änderten die
Imperative ihre Funktion – und wurden zur Erzählung, die immer noch die
‚Funktionen’ in ihrer Reihenfolge bewahrt. So wird sie von allen verstanden, so ergibt
sie Sinn. In der Evolution des Menschen war, Hunderttausende von Jahren lang, die
Jagd wohl die bedeutendste, die abenteuerlichste ‚Suche’. Die ersten Erzählungen
könnten Jagdgeschichten gewesen sein, im vorgegebenen Programm der Suche;
Kampferzählungen werden ihnen gewiss bald den Rang abgelaufen haben. Indem
Erzählungen traditionell wurden, ergaben sich neue, dauernde Leistungen des
kulturellen Brauchs: Wenn man die Organisationen der geistigen Welt Schritt für
Schritt, doch gleichsam im Leerlauf erproben kann, wird die sprachlich gestaltete
geistige Welt einer Gemeinschaft aktualisiert, intensiviert und weitergegeben .112
110
ebenda
ebenda
112
ebenda
111
33
Mit dem Verbum als Imperativ wird von Walter Burkert die Brücke geschlagen von
der Seite der Sinnstruktur im Aktionsprogramm auf die Seite der Sinnstruktur in der
Erzählung. Ausgehend von dem Befund, dass die Verbalwurzel, das heißt die
Nullform der Erzählstruktur in vielen Sprachen, darunter im Englischen,
Französischen, Lateinischen, Semitischen und Türkischen sowie im Deutschen als
Imperativ auftritt, dass folglich die Kommunikation in der imperativischen Nullform
des Verbums primitiver, grundlegender als die Kommunikation durch Feststellungen,
durch Normalsätze 113 ist, stellt sich die tiefste Tiefenstruktur einer Erzählung
114
als eine eindeutige Sequenz von Imperativen dar, deren Handlungs- und
Erzählschritte auf der Linie von ’Such’, das heißt: ‚Geh’, ‚sieh dich um’, ‚finde’,
‚kämpfe’, ‚pack’ s an’, und ‚lauf zurück’ 115 in unumkehrbarer Weise aufgereiht sind.
Ist in der aus den Funktionen zusammengefügten Propp-Sequenz ein komplexes
Ritual abgebildet, reduziert Burkert in einem weiter gehenden Abstraktionsschritt den
Sinn des Abenteuers in letzter Instanz auf die vitale Notwendigkeit der
Nahrungssuche.
Das ‚aktuelle Geschehen’, das sich innerhalb der Gruppe in der idyllisch anmutenden
Szene aus dem mittleren Paläolithikum,116 ‚abends am Feuer’ abspielt, stellt in
seinem Kern die Tötung eines Tieres dar, wobei es sich ebenso um die Tötung bei
einer Jagd wie um eine zeremonielle Tötung handeln kann, wobei letztere als rituelle
Opferhandlung und als eine evolutionäre Folge der ersten betrachtet werden muss.
Die beiden Fällen zugrunde liegende ‚Morphologie’ ist die Nahrungssuche, die
imperativisch-erzählerisch durchgespielt und in der Folge rituell-sozial verinnerlicht,
gespeichert,
gelernt
und
weitergegeben
wird
einschließlich
der
Rückkoppelungseffekte, die unweigerlich auftreten und den Her- und Fortgang
absichern.
Ist die Freiheit des Fabulierens in der aristotelischen Poetik eingeschränkt durch das
von Platon übernommene Gebot der darstellerischen Nachahmung und den zu
beachtenden Wirklichkeitsbezug der Wahrscheinlichkeit, und ist diese Einschränkung
auch insofern plausibel, als die gelungene Dichtung sich daran messen lassen muss,
dass sie immer wieder den Spannungsbogen von Jammer, Schaudern und
Reinigung erzeugt und die Anwesenden – unter Verzicht auf ästhetische Distanz - in
die Gemeinschaft einbindet und dadurch diese Gemeinschaft stabilisiert, ist auf den
ersten Blick einleuchtend, dass das injunktive Erzählen in dem von Burkert
ausgemalten Gestus des kollektiven Nachbetens / Vorausträumens im Kreis der
Jäger und der Umstehenden keine Abweichung vom Handlungsablauf des Ernstfalls
dulden kann. Das erzählende Vergegenwärtigen der Befehlskette, welches zugleich
den Einzug der Zeitdimension in die Hominidengruppe bedeutet, ist eine Frage des
Überlebens der Gruppe. Treffliches Erzählen in treffenden Zeichen ist in Beziehung
zu setzen mit der Treffsicherheit der Jäger beziehungweise der Opferer; hier wird
demonstriert, was frappierend, schlagend, schneidend, überwältigend – in Wort und
Tat - ist. Erzählen unter den von Burkert angenommenen Bedingungen wird zur
Überlebenstechnik, beschworen wird nicht nur das gekonnte Miteinander während
der gefahrvollen Jagd, die ja unter Einsatz des Körpers und ohne weit reichende
Waffen geführt wird, auch das kollektive Gedächtnis wird bei jeder Erzählrunde von
113
Walter Burkert, Kulte, S. 83
ebenda
115
ebenda
116
Die Erdzeit zwischen dem Ende des Altpaläolithikums 100000 v. u. Z. und dem Neolithikum 10 000
v. u. Z.
114
34
neuem ‚hochgefahren’ und als Speichermedium konstituiert. Aus einer Befehlskette,
bestehend aus Anleitungen zu folgerichtigem Handeln, wird eine Erzählkette, deren
Glieder zu einem stimmigen Sinnzusammenhang verknüpft werden, wobei auf der
Seite der Handlung auch situativ bedingte Variable denkbar sind, die, wenn sie sich
als zielführend erwiesen haben, gleichsam valorisiert und in den Erzähltext
übernommen werden können. Auf die Akteure übertragen hieße dies, dass aus
einem funktionierenden, kohärenten und erfolgreichen Täterkollektiv von
Geschehensteilnehmern eine aufmerksam und wissentlich folgende, zustimmende
und gehorsame Erzähl- und Hörgemeinschaft von Geschehensvermittlern wird,
welche das Erzählgut, indem sie es rezipiert, notiert und tradiert, gewissermaßen als
erinnertes Handlungswissen konserviert und in der Form eines feedback einer
zukünftigen Sucher- und Tätergruppe zur Verfügung stellt.
Das in der Praxis bewährte und im Erzählen memorierte Handlungswissen, welches
als ein evolutionärer Faktor ersten Ranges dem Fortbestand der Gruppe dient, droht
im Wechsel der Generationen, der Standorte und gegebenenfalls der klimatischen
oder sonstigen natürlichen Bedingungen vergessen zu werden. Deshalb hängt die
Existenz der Menschengruppe auch davon ab, dass dieses Handlungswissen über
die gegebene Situation der am ‚abendlichen Feuer’ Versammelten hinaus erhalten
wird, auch davon, dass es nicht nur im unsicheren Hörensagen konserviert wird.
Schließlich dauert es lange - nach Burkerts Zeitrechnung können es bei
ungünstigsten Annahmen 40000 Jahre sein -, bis die Schrift dafür zur Verfügung
steht. Wenn sich auch nicht rekonstruieren lässt, wie vom injunktiven Erzählen aus
die Riten entstanden sind – auch die umgekehrte Folge ist vorstellbar – und wie es
von da aus zur Bildung der Mythen kam, ist festzuhalten, dass auch für Burkert die
Erzählstruktur eine extratextuelle Herkunft hat, dass sie einem Handlungsprogramm
entspricht, welches biologisch begründet ist. In der zunächst medientheoretischen
Frage nach den Formen des Bewahrens und Fixierens trifft er mit der Figur des
Schamanen eine für die Herausbildung einer gesellschaftlichen Hierarchie, die
schließlich zu einer transzendenten Divination führt, folgenreiche Entscheidung. In
der Figur des Schamanen – die klassischen Berichte über Schamanen stammen aus
Sibirien und von den Eskimos – tritt aus der Versammlung ‚am abendlichen Feuer’
ein Sprecher 117 hervor, der eine herausgehobene Position einnimmt, vergleichbar
mit jener des einen Jägers, welcher im Ernstfall die Befehlskette in Gang setzt und
Gehorsam beansprucht. Für die transsituative Speicherung des Handlungswissens
ist es jedenfalls von Bedeutung, dass die Überlieferungsleistung zugleich ritualisiert
und personalisiert wird, dass es Schamanen, Priester, Richter, Barden, Griots,
Druiden gibt, die als Experten den Ritualen als Sprechhandlungen vorstehen. Dank
dieser ‚Fixierungstechniken’ wird es möglich, die Bindung des sprachlichen Handelns
an die unmittelbare Sprechsituation zu lockern, die Identität von Bedeutungs- und
Gestalteinheit aufzubrechen und in diachronischer wie diatopischer Perspektive die
ästhetische Autonomie der nunmehr mit größerem Recht als ‚Text’ bezeichneten
Erzählung zu steigern.
Walter Burkert, der – in Weiterentwicklung der Morphologie von Vladimir Propp seine Entdeckung des biologischen Fundaments der Erzählung an Erzählformen
117
Dietrich Weber, Erzählliteratur, Göttingen 1988, S. 39: „Dabei haben die Sprecher (in der
erzählenden Rede, d. Verf.) noch miteinander gemeinsam, dass sie betrachtende
Geschehensvermittler sind, nicht tathandelnde Geschehensteilnehmer. Sie stehen außerhalb des
(nichtaktuellen oder aktuellen) Geschehens, das sie vermitteln; sie vollziehen es in ihrer Rede nur
nach oder mit, sie vollziehen es nicht selbst“.
35
jenseits der diversen Mythen und Märchen aus verschiedenen Kulturen nicht erprobt
und nur andeutet, dass diese Formen in der Struktur von Comics und
Abenteuerfilmen wieder zu erkennen sind, stellt resignierend fest: Seit Jahrzehnten
zeigt sich die maßgebende Literatur von der Tendenz beherrscht, von der Erzählung
loszukommen; auch die raffiniertere Art des Filmemachens hat sich dem
angeschlossen…’Stop making sense’ ist bereits zum Schlagwort geworden – dies
wäre dann wohl ein passender Nachruf auf das Ende der Erzählung. 118
Sollte der von Burkert zum ‚gestaltenden Prinzip’ der Erzählung promovierte
aristotelische Mythus mit dem Auseinandertreten von Handlung und Erzählung
abhanden gekommen sein? Sollte er die Phase der unmittelbaren Aktualisierung
sowohl auf der elementaren Sinnebene des alltäglichen Handelns als auch auf der
anderen Ebene festlich herausgehobener Kommunikation nicht überleben? Sollte
Sinn nur dort entstehen, wo es in einem gleichsam homöostatischen Prozess zu
einer Verschränkung oder Harmonisierung von Handeln und Erzählen kommt, wo
also nur aktualisiert und tradiert wird, was von der Gemeinschaft approbiert wird, wo
die Überlieferung den jeweiligen Erfordernissen anzupassen ist und Diskrepanzen
und Inkonsistenzen in ständiger Neuformulierung durch eine kollektiv gelenkte
Präventiv-Zensur zu neutralisieren sind?
4. Claude Lévi-Strauss : Die mythische Sinnarchitektur
Während Walter Burkert, obwohl er konsequent darwinistisch denkt,119 die
diachronische Spur des Sinns im Erzähltext nicht weiter verfolgt - was auch nicht das
Ziel seiner Untersuchung ist, die dem Aufdecken der ‚biologischen Grundlagen der
Religion’ gewidmet ist -, findet sich bei Claude Lévi-Strauss (geb. 1908), dessen
Forschungsarbeit hauptsächlich der strukturellen Aspekte der Mythen – nicht der
aristotelischen Mythus-Struktur - gilt, eine auf einfühlsame Beobachtungen gestützte
und von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert reichende Historie der mythischen
Sinn-Architektur.120
Folgt man diesem kurzen historischen Aufriss, verlässt im europäischen Kulturkreis
das mythische Denken in der Renaissance und im Verlauf des 17. Jahrhunderts die
Erzählungen, deren Aufbau bis dahin noch immer dem Modell der Mythologie gefolgt
war. Dieser Auszug der Mythologie aus den Erzählungen fällt zeitlich zusammen mit
dem Erscheinen der ersten Romane, zum Beispiel des Don Quixote von Cervantes,
der zwischen 1605 und 1615 erschien, und dem Aufstieg der großen musikalischen
Stile, die das 17., besonders aber das 18. und 19. Jahrhundert beherrschen. Es
scheint, als hätte die Musik ihre traditionelle Gestalt vollkommen verändert, um die
intellektuelle wie auch gefühlsmäßige Rolle zu übernehmen, die das mythische
Denken ungefähr im gleichen Zeitraum aufgab,121 lautet die literarhistorische
Verlustmeldung. Zur näheren Bestimmung des Musikstils der westlichen Zivilisation,
118
Walter Burkert, Kulte, S. 100 - 101
Walter Burkert, Homo Necans, S. 1 : „…und wie die Biologie mit dem Evolutionsgedanken sich
eine historische Dimension zugeignet hat, sollte nach der Psychologie auch die Soziologie dem
Gedanken zugänglich gemacht werden, dass die menschliche Gesellschaft von der Vergangenheit
geprägt ist und nur im Blick auf ihre Entwicklung in langen Zeiträumen verständlich wird“.
120
Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Vorträge (Übers.), Frankfurt/M 1980
121
Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 59
119
36
der die traditionelle Funktion der Mythologie übernimmt, erwähnt Claude Lévi-Strauss
für das frühe 17. Jahrhundert Frescobaldi, für das frühe 18. Jahrhundert Bach sowie
Mozart, Beethoven und Wagner als weitere glanzvolle Vertreter einer musikalischen
Form, die im 18. und 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Beim intensiven und
kreativen Lesen 122 der Mythen sowie dem wachen und empathischen
Musikhören werden für Lévi-Strauss die Grenzen der künstlerischen Gattungen
durchlässig, und er findet in der Musik gleichsam das Echo auf jenen
soziodramatischen Konflikt und dessen Ritualform, wie er in den dargestellten
‚erzählerischen Dreischritten’ zum Ausdruck gekommen war.
Es ist zum Beispiel auffallend, dass die Fuge, die zu Bachs Zeiten ihre feste Form
erhielt, den Verlauf bestimmter Mythen getreu wiederholt, in denen zwei Personen
oder zwei Personengruppen vorkommen. Wir wollen einmal vereinfachend
annehmen, dass die eine gut, die andere böse sei. Die Erzählung, wie sie der
Mythos darstellt, ist die der einen Gruppe, die vor der anderen Gruppe zu fliehen und
sich in Sicherheit zu bringen sucht; eine Gruppe wird also von einer anderen Gruppe
gejagt, wobei einmal die Gruppe A die Gruppe B einholen, ein anderes Mal die
Gruppe B entfliehen kann – ganz wie in der Fuge. Wir nennen das auf französisch ‘le
sujet et la réponse’. Die Antithese oder Antiphone zieht sich durch die ganze
Erzählung hindurch, bis beide Gruppen vollständig vermischt und durcheinander
gebracht sind – das entspricht der Stretta in der Fuge. Dann erfolgt eine
abschließende Lösung oder ein abschließender Höhepunkt dieses Konflikts durch
die Vereinigung jener beiden Prinzipien, die den ganzen Mythos hindurch einander
gegenüber standen. Es konnte sich dabei um einen Konflikt zwischen den oberen
und den unteres Mächten, zwischen Himmel und Erde, zwischen der Sonne und den
unterirdischen Mächten oder ähnliches mehr gehandelt haben. Die mythische
Lösung der Vereinigung ist struktural den Akkorden sehr ähnlich, die ein Musikstück
abschließen und beenden, denn auch sie stellen eine Vereinigung von Extremen dar,
die diesmal zusammengeführt werden. Es lässt sich überdies aufzeigen, dass es
Mythen oder Gruppen von Mythen gibt, deren Aufbau dem einer Sonate oder einer
Symphonie, einer Tokkata oder einer anderen jener vielen Satzformen gleicht, die
von der Musik nicht eigentlich entdeckt wurden, sondern die die Musik unbewusst der
Struktur des Mythos entlehnt hat.123
Nachdem die große musikalische Form, die um 1600 entsteht und im 19.
Jahrhundert ausklingt, die mythische Funktion auf den Roman überträgt, konstatiert
Lévi-Strauss, dass dieser im 20. Jahrhundert diese Funktion in der westlichen Welt
tendenziell verliert. Skeptisch beurteilt Lévi-Strauss indes die Aussichten, dass der
Mythos, vom Roman abgestoßen, wieder zur Musik zurückkehren könnte. Nach
seiner Diagnose verhält sich die moderne serielle Musik so, als ob die Musik die
mythischen Funktionen, die der Roman allmählich verliert, nicht mehr übernehmen
wollte oder könnte.124 Da jedoch mit dem vermeintlichen Unsichtbarwerden des
Mythos die Konflikte nicht gelöst sind, von denen er kündet, darf angenommen
werden, dass er sich neuen Trägern zuwendet und sich in neuen Medien und
‚Sendeformaten’ verkörpern. Betrachtet man allerdings die ungebrochene Beliebtheit
122
Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 170: „Vor allem erfordert die eigentliche Analyse des Mythos
Lesen, Wiederlesen, Nachdenken, bis nach und nach die wesentlichen Konturen hervortreten, die
einen Leitfaden liefern. Es handelt sich nicht um ein Resümee, sondern um die Aufdeckung einer
verborgenen Architektur“.
123
Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 62 - 63
124
Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 269
37
der großen Musikformen und die sich über die Generationen hinweg erneuernde
Anhängerschaft eines Johann Sebastian Bach, drängt sich der Schluss auf, dass der
Mythos einen gesicherten Ort in der zeitgenössischen Kultur hat und nichts weniger
als ein Nischendasein führt. Sollte gleichwohl Lévi-Strauss mit seiner Vermutung
recht behalten, dass sowohl die serielle Komposition als auch die den klassischen
Roman ablösenden Erzählformen ihre Funktion als Vektoren des Mythos nicht mehr
erfüllen, und würde man sich fragen, welche alternativen Verbindungen der Mythos
eingehen könnte, stößt man auf eine von zahlreichen Neuerungen des Zeitalters –
Massendemokratie, elektronische Medien, Globalisierung - getragene Bewegung,
die unter der etwas überangestrengten Parole der Rückkehr des Religiösen den
Mythos als Realitätsmodell, Orientierungsmarke und Komplexitätsreduktion
reaktualisiert. Ohne kulturpessimistischen Unterton kann diese Bewegung
beschrieben werden als Balance-Verschiebung von der textuellen zur rituellen
Kohäsion, in der das Wort und die mit ihm verknüpfte hierarchische Logik, die im
syntaktischen Bereich die Rede und im sozialen Bereich den Staat organisiert, im
Begriff ist, seinen zweieinhalb Jahrtausende alten Stammplatz im Zentrum der
westlichen Kultur zu verlieren. An die Stelle von Buchstaben und Büchern als
Verkörperung von Linearität und Kausalität treten als universellere Codes Bild und
Ton. Die durch Schreiben und Lesen dem Individuum eingeräumte Zone, die
geschützte Hülle seiner Privatsphäre als Leser oder Schreiber, bricht auf und wird
durch die elektronischen Medien zum Schau- und Hörplatz
kollektiver
Erlebnisformen, die – im Unterschied zu den rituell auf Ruf- und Sichtweite
gerundeten Räumen, wie sie Propp und Burkert beschrieben – grenzenlos sind. Der
akustische Raum, ursprünglich der des oralen Menschen vor der Erfindung der
Schrift, ist ein Raum ohne feste Orientierungspunkte, der erst durch die
Visualisierung in Form der Ordnungsprinzipien der alphanumerischen Codierung,
durch die Abstraktionsleistung des Auges den Abstand zwischen Mensch und Welt
vergrößert. Die durch die medialen Apparate erweiterte Abstraktion führt dazu, dass
sich Körperfunktionen in den Apparaten verselbständigen, was sowohl die
philosophisch reflektierte Angst erzeugt, diese Apparate – Heidegger nennt sie
Gestelle – würden dem Menschen die Welt vollends verstellen, als auch zu der
ebenso begründbaren Annahme führt, diese prothetischen Apparate könnten das
Mängelwesen Mensch – wie es Arnold Gehlen diagnostiziert - entlasten. Wie immer
man das Verblassen der McLuhanschen Gutenberg Galaxie und der
typographischen Methode im weitesten Sinn bewertet, die mediengestützte
mehrkanalige Kommunikation erzeugt eine über die Möglichkeiten der Schrift weit
hinausgehende Identifikation und erreicht nahezu die Intensität oraler, ritueller, ja
aurealer Partizipation. Sollte sich also für Claude Lévi-Strauss die Spur des Mythos
in den niedergeschriebenen Erzählungen verlieren, wäre noch lange nicht dessen
Verlust zu beklagen. Vieles und nicht zuletzt seine Entstehung spricht dafür, dass der
Mythos außerhalb der durch Typographen, Zeilen und Seitenzahlen verfassten
Ordnung bessere Aufnahmebedingungen und günstigere Entfaltungschancen
vorfindet.
Unter der Voraussetzung, dass soziale Konflikte in Form von Not, Schädigung,
Aggression, Gesetzesübertretung sowie von Intervention höherer Gewalt unabhängig
von einer gegebenen oder – wie bei Propp oder Burkert – rekonstruierten
historischen Epoche immer entstehen und dass diese Konflikte im Sinn der
Selbsterhaltung und Verständigung der Gruppe einer kurativen oder präventiven
Bewältigung bedürfen, wobei der von Burkert wiederholt nahe gelegte darwinistische
Umkehrschluss mitbedacht werden muss, dass nur solche Gruppen durch- und
38
davonkommen, deren Riten und Mythen sich als leistungsfähig das heißt auch
erzählbar erweisen, unter der Voraussetzung also, dass humane Gemeinschaften
wesentlich fragile und prekäre Gebilde sind, drängt sich die Frage auf, ob nicht auch
eine soziologische oder ethnologische Betrachtung zu einer Bestimmung der
Erzählung führen kann. Diese Betrachtung hätte, anstatt die Wechselbeziehung einer
definierten Kulturstufe zur entsprechenden Ritualisierung beziehungsweise.
Erzählung zu formulieren, den Nachweis zu führen, dass und wie der soziale Prozess
sich in kulturellen Darstellungen spiegelt und gegebenenfalls die narrative Technik
steuert.
5. Victor Turner : Das soziale Drama
Wie Claude Lévi-Strauss geht Victor Turner (1920 – 1983) als Ethnologe und
Vertreter der symbolischen Anthropologie auch bei seinen Feldforschungen in
primitiven Kulturen konsequent ahistorisch vor und beschränkt seinen Zeitrahmen auf
den Verlauf sozialer Prozesse, die innerhalb der vorgegebenen Zeit nicht in
beliebiger Weise generiert werden, sondern eine dramatische Struktur erkennen
lassen. Ähnlich wie bei Propp und Burkert setzt auch hier die zu bewältigende Krise
ein, wenn eine Gruppe von Menschen ihre Situation als unbefriedigend empfindet,
die sie unter den Bedingungen der Liminalität, Marginalität und strukturellen
Inferiorität 125 als beschädigt empfinden muss. Unter diesen belastenden
Bedingungen entstehen oft Mythen, Symbole, Rituale, philosophische Systeme und
Kunstwerke, welche den Menschen eine Reihe von Schablonen, Modellen,
Paradigmen und Theorien zu Verfügung stellen, die es ihnen erlauben, ihre
Beziehungen zur Gesellschaft, zur Natur und zur Kultur immer wieder neu zu
klassifizieren und zu justieren. Diese Modelle sind jedoch weder leere Vertröstungen
im Sinn der marxistischen Religionstheorie noch bloße Klassifizierungen; sie liefern
Impulse zum Nachdenken und vor allem Motive zum Handeln.
Der Prozess der Reaktion auf die Liminalität ist für Turner das soziale Drama,
welches sich auf allen Ebenen der Sozialorganisation, von der Familie bis zum Staat
abspielt und welches in der Abfolge von vier Phasen verläuft, beginnend mit dem
Bruch, auf den die Krise folgt und deren Bewältigung, die entweder zur Reintegration
führt oder zur Anerkennung der Spaltung. Wie es zur Gesellschaftsbildung kommt,
interessiert Turner nicht. Das soziale Drama, welches eine bestehende Gesellschaft
voraussetzt, hat an seinem Anfang meist eine öffentliche Verletzung der geltenden
sozialen Regeln, ein Vergehen gegen den Verhaltenscode, im äußersten Fall einen
Mord oder auch eine bewusste Tat, die die bestehende Machtstruktur in Frage stellt,
möglicherweise auch einen unglücklichen Zufall, der als Regelbruch wahrgenommen
wird. Ist jedoch der Gegensatz zwischen der üblichen Norm und dem Unerhörten
aufgebrochen, kommt es zwangsläufig zur Parteinahme einer Gruppe, die, wenn es
nicht alsbald zur Versöhnung der streitenden Parteien kommt, einen Bruch
provoziert, der das Gemeinwesen in eine bedrohliche Krise stürzt. In dieser Situation
versuchen die Kräfte, die an der Wiederherstellung des Friedens beziehungsweise
des status quo ante interessiert sind, das heißt die Ältesten, Gesetzgeber, Verwalter,
Richter, Priester, einen Bewältigungsmechanismus in Gang zu setzen, mit dem die
gestörten sozialen Beziehungen geheilt werden sollen. Als Bewältigungsverfahren
125
Victor Turner, From Ritual to Theatre (1989) dt. Vom Ritual zum Theater, Der Ernst des
menschlichen Spiels, Frankfurt/M 1995, S. 81
39
stehen neben den rechtlichen Mitteln eines Gerichts oder sonstigen Rechtsinstituts
die rituellen Mittel zur Verfügung, die von religiösen Institutionen aufgeboten werden.
Diese rituellen Mittel reichen von der Divination und dem Namhaftmachen
verborgener oder vermeintlich transzendenter Ursachen über das vorbeugende
apotropäische 126Opfer und das Heilungsritual bis hin zur prophetischen
Beschwörung und zur geordneten Zelebration, in der sich die Gemeinschaft von
neuem verbindet. Das soziale Drama endet entweder mit der Versöhnung der
rivalisierenden Parteien oder mit der Feststellung unüberwindbarer Gegensätze, was
dann dazu führen kann, dass sich eine anders denkende Partei nicht mehr
integrieren lässt und als Lösung den Exodus aus der Ursprungsgemeinschaft
praktiziert. Für Turner steht fest: Das soziale Drama stellt die ursprüngliche, alle
Zeiten überdauernde Form der Auseinandersetzung dar.127 Und wenn nach Turner
das Theater als die stärkste, wenn man will, aktive, kulturelle Darstellungsgattung 128
seinen Ursprung der dritten Phase des sozialen Dramas verdankt, also tatsächlich
eine Dramatisierung, eine Übersteigerung juristischer und ritueller Prozesse (ist, d.
Verf.); nicht bloß eine einfache Reproduktion der gesamten ‚natürlichen’ Verlaufsform
des sozialen Dramas ,129 gilt ganz allgemein, dass es in allen Gesellschaften eine
wechselseitige, vielleicht dialektische Beziehung zwischen sozialen Dramen und
kulturellen Darstellungsformen 130 gibt, ja alle Gattungen gleichsam um die Erde des
sozialen Dramas kreisen. 131
Zur Veranschaulichung des Übergangs vom Ritual zur Erzählung benötigt Turner, im
Unterschied zu Propps Initiationseinflüsterung und Burkerts nachholender
Befehlskette, keine anschauliche ’Spielhandlung’. Er argumentiert, dass das soziale
Drama als ein nach dem Muster einer immer wiederkehrenden Situation entworfenes
antagonistisches Modell im Zuge seiner Bewältigung das performative und
synästhetische Ritual 132 entstehen lässt und dass aus diesem wiederum nach dem
‚Vergessen’ der performativen Funktion die in der Folge als ästhetisch bezeichneten
kulturellen Darstellungsformen hervorgehen. Performativ ist für Turner das Ritual,
weil er in ihm vor allem eine kunstvolle Darbietung oder Darstellung und nicht
hauptsächlich ein liturgisch fixiertes Regelwerk sieht; die Notwendigkeit der Regeln
vergleicht er mit den Ufern eines Handlungs- und Interaktionsflusses, zwischen
denen dieser sich nicht nur frei entfalten, sondern sogar neue Symbole und
Bedeutungen aufnehmen kann, die in spätere Darstellungen eingehen können.
Damit weicht er ab von dem gängigen ethnologischen Ritualverständnis, wonach
Rituale sich am besten als eine Reihe von Mechanismen zur Stabilisierung der
Gruppensolidarität verstehen ließen und dass rituelle Symbole bloße Spiegelungen
einer gegebenen Sozialstruktur seien. Indem er die Fähigkeit des Rituals zur
kreativen Modifizierung 133 hervorhebt, weist er ihm neben der Aufgabe, die
126
abgeleitet von gr. apotrépein = abwenden
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 14
128
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 164
129
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 15
130
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 114
131
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 125
132
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 130: „Alle Sinne der Teilnehmer und Ausführenden können
beteiligt sein; sie hören Musik und Gebete, sehen visuelle Symbole, schmecken geweihte Speisen,
riechen Weihrauch und berühren heilige Personen und Gegenstände. Zur harmonischen Einstimmung
aufeinander stehen ihnen auch die kinästhetischen Formen des Tanzes und der Geste zur
Verfügung…Beim Singen verschmelzen (und divergieren) die Teilnehmer auf andere, geordnete und
symbolische Weisen“.
133
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 131
127
40
überkommene Ordnung tief im Bewusstsein, im Herzen und im Willen der Teilnehmer
(zu, d. Verf.) verankern,134 die Funktion zu, das immer wieder durchgespielte
Handlungswissen zu reflektieren und in modellhafter Weise Veränderungen
vorwegzunehmen. Durch diese Flexibilisierung des Ritualbegriffs gelingt es Turner
auch, das Narrative als eines der kulturellen Enkelkinder oder Urenkelkinder des
‚Stammes’-Rituals oder –Gerichtsverfahrens 135 aus der mythologischen Engführung
zu befreien und es offen zu halten für tendenziell unendlich viele transkulturelle und
transtemporale Ausdrucksformen, welche das soziale Drama annehmen kann. Wie
die Bewältigungsphase des sozialen Dramas den - flussuferähnlichen - Rahmen
bildet für das rituelle Verfahren, eine in die Krise geratene soziale Gruppe wieder
zusammenzufügen, versucht die Erzählung, aus auseinander driftenden Motiven Vladimir Propp würde sagen: Funktionen – eine bedeutungsvolle und vor allem in
der Abfolge sinnvolle, zum einem Ziel strebende Sequenz zu machen. In diesem
Machen geht Turner über die Formulierung der bloßen Interdependenz von sozialen
Dramen und Erzählungen hinaus und weist dem Narrativen insofern eine PoiesisFunktion zu, als in der Sequenzbildung, wie sie im Interesse der ästhetischen
Befriedigung erforderlich ist, zugleich eine Sinnstiftung erfolgt, die wegen der in der
modernen Welt gegebenen Undurchführbarkeit der rituellen Verfahren deren
Potenzial zur Bewältigung von sozialen Dramen enthält und, jedenfalls soweit ein
sozialer Geltungsbereich definierbar ist und das Dramatische keine globalen
Ausmaße annehmen, bereit stellt.
‚Drama’, vom griechischen Verb dran, tun handeln, abgeleitet und ‚Narrativ’, über das
lateinischen narrare, erzählen mit gnarus, bekannt und auf cognoscere, kennen,
erkennen zurückgehend, stehen einander in enger Verbindung gegenüber, in der das
Narrative eine Kenntnis, eine Gnosis ist, die aus dem Handeln schöpft,
Erfahrungswissen einer Gesellschaft ist und kein genialer dichterischer Einfall. In
komplexen, großen Gesellschaften erfolgt die Entsprechung der beiden Sphären des
Bewältigungshandelns und Erzählens in einem anderen Schema als in tribalen oder
gar vortribalen Gruppen, zumal auf beiden Seiten nach dem Prinzip der
Arbeitsteilung verfahren wird. Auf der narrativen Seite – Turner spricht
verallgemeinernd von kulturellen Darstellungsformen – ist eine große Bandbreite von
Gattungen anzutreffen, welche von Werken der bildenden Kunst und der
Unterhaltung bis hin zu amateurhaften, professionellen, leichten oder ernsten
Formen reicht. Ohne dass alle den reflexiven Charakter vieler griechischer
Theaterstücke 136 hätten, gibt es nach Turner einen Ausleseprozess, als dessen
Ergebnis einige Werke allgemeine Anerkennung auch über zeitliche und räumliche
Kulturgrenzen hinweg erzielen.
Während er zur Absicherung seiner Argumentation in der vorliegenden Untersuchung
kaum ethnologisches Material beibringt und sich nicht eindeutig zu dem DramaAnsatz bekennt, versucht Turner seine These in einer hermeneutisch dichten
Szenerie zu veranschaulichen. In seiner Versuchsanordnung platziert er das
Gegenüber von performativen und narrativen Gattungen in einen Spiegelsaal oder
besser einen Saal mit Zauberspiegeln, 137 in dem zwischen den Fronten ein
ständiger Austausch von Impulsen und Reflexen herrscht. Anstatt nur im
Analogverfahren endlos hin und her projiziert zu werden, werden die Bilder in dem
134
ebenda
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 138
136
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 165
137
ebenda
135
41
zwischen den reflektierenden Oberflächen ablaufenden ‚Dialog’ durch mit der Zeit
auftretende Verzerrungen transformiert, neu eingelesen und neu bewertet, mit
anderen Resultaten verglichen, verschoben und schließlich zur Passung gebracht,
was dann auf der narrativen Seite so viel bedeutet, dass sie bewusster Bewältigung
zugänglich gemacht worden sind 138 und über die dem Fluss der Ereignisse
abgewonnene Textanalogie in eine kulturelle Darstellungsform eingehen. Ob dieses
radiologische Experiment eine für das Problem der Vermittlung von Handeln und
Erzählen befriedigendere Lösung anbietet als die erzählerischen Urszenen, wie sie
Propp und Burkert rekonstruieren, scheint eher zweifelhaft. Sein Grundmuster des
Instantanen oder der Simultaneität bricht mit der Logik von Kausalität zugunsten von
medialen Effekten, von Resonanzen. In Resonanzverhältnissen korrespondieren
verschiedenste Pole auf verschiedenste Art und Weise miteinander, mit nicht immer
vorhersehbaren Ergebnissen. Der erzähltheoretische Beitrag indes von Victor Turner
verdient Beachtung, nicht nur weil er zwischen den sozialen Dramen und den
kulturellen Darbietungen ein dynamisches System der Interdependenz installiert,
welches für Veränderung und Innovation offen ist, sondern weil er das soziale Drama
mitsamt seinen Bewältigungsmechanismen und narrativen Entsprechungen aus
jeglicher historischen oder evolutionären Ereignishaftigkeit herauslöst und es
dadurch zu einem universell einsetzbaren hermeneutischen Instrument macht.
Wenn Turner zur Erprobung seiner These von der Einheit des sozialen Dramas unter
beiderlei Gestalten, der ritueller und textuellen, dazu anregt, ethnographische Texte
in Theaterstücke umzuschreiben, und wenn er das soziale Drama mit einem
Regelverstoß, also einer sozialen Schädigung im weitesten Sinn, beginnen lässt, und
den Sequenzcharakter dieses Dramas in eine genetische Beziehung setzt zur
erzählerischen Verlaufsform, zum Beispiel dem ‚narrativen Dreischritt’ oder der
aristotelischen Fassung von ‚Anfang-Mitte-Schluss’, bleibt er auch die Erklärung nicht
schuldig, warum es zu Regelverstößen, Schädigungen und Perversionen kommt.
Zwar schließt er externe Faktoren für das Ingangsetzen des sozialen Dramas nicht
aus; Naturereignisse oder Übergriffe einer benachbarten Gruppe können wohl den
Bewältigungsmechanismus auslösen und als Konklusion eine Divination oder ein
apotropäisches Bittopfer haben, aber die Deutungskraft seiner These beruht gerade
darauf, dass sie immer und überall und vor allem als gruppeninterner Prozess
verstanden werden kann und will, das heißt, dass die Bedingungen der ‚Liminalität,
Marginalität und strukturellen Inferiorität’ durch Vorgänge innerhalb der Gruppe
entstehen. Der Schwellenzustand der Liminalität ist kein Epiphänomen eines
irgendwie gearteten Herdentriebs, vielmehr das Resultat des Zusammenlebens der
Menschen, und selbst in den einfachsten Gesellschaften gibt es den Unterschied
zwischen Struktur und Communitas [...] und in jeder Gesellschaft zu verschiedenen
Zeiten gewinnt entweder der eine oder der andere dieser ‚ewigen Widersacher’ (um
einen Freudschen Begriff zu verwenden […] die Oberhand.139 Es ist die Oszillation
zwischen dem normengeleiteten, institutionalisierten und abstrakten Wesen der
Sozialstruktur und der Spontaneität, Unmittelbarkeit und Konkretheit des
Kummunitären, die immer wieder den auf der jeweiligen Seite erreichten Zustand in
Frage stellt, in eine Schwellen- und Übergangsphase einmündet und so immer von
neuem das soziale Drama antreibt. Die Turnersche Communitas als Befreiung von
kulturellen Zwängen stellt sich dort ein, wo Strukturen sich als lückenhaft oder
unerträglich herausstellen; werden indes in der Communitas die materiellen und
138
ebenda
Victor Turner, The Ritual Process, Structure and Anti-Structure (1969), 9. Aufl. 1982, dt. Das Ritual,
Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M 1989, Studienausgabe 2000, S. 127
139
42
organisatorischen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr adäquat befriedigt, kehren
sie zur Struktur zurück. Eine zum Höchstmaß gesteigerte Communitas provoziert
eine zum Höchstmaß gesteigerte Struktur, die wiederum revolutionäre Bestrebungen
nach erneuter Communitas entstehen lässt. 140
In der Übergangsphase der Liminalität werden Bewältigungsstrategien eingesetzt,
deren Schablonen die Riten und Mythen sind. Was dem sozialen Drama vorausgeht,
ist also nicht historisch zu verorten und verweist nicht in die Untiefen des
Paläolithikums. Was als Auslöser der Turnerschen Sequenz von Bruch, Krise und
Bewältigung per Reintegration oder Exodus identifiziert werden kann, ist von
soziogenetischer Natur. Da die Erzählung als Resonanz zum sozialen Drama zu
verstehen ist, speist sich auch deren Sequenz, wenn sie Plausibilität beanspruchen
und sich mit den an die Erzählung gestellten Erwartungen verschränken will, aus
dem gesellschaftlichen Erfahrungswissen um das ‚dialektische Ritual von Struktur
und Anti-Struktur’ im sozialen Drama.
Dem Literaturkritiker Frank Kermode wird die Aussage zugeschrieben, der Roman
habe zwei Bestandteile: Skandal und Mythos, 141 womit der Mythos ebenso als
invariable und fraglose Gegebenheit in Anspruch genommen wird wie in einem BBCInterview aus dem Jahr 1964, in dem Kermode den Denker des Medienzeitalters
Herbert Marshall McLuhan zu dem Übergang vom ‚Zeitalter des Rades’ zum
‚Zeitalter des Stromkreises’ befragt und von diesem die Auskunft erhält, dass der
Mythos angesichts der kognitiv nicht mehr beherrschbaren Informationsflut als ein die
Komplexität reduzierender Sinnstifter unerlässlich ist.142 Wenn also sowohl in der
Literaturanalyse als auch in der Informationsverarbeitung der Mythos als
erzählerischer Treibstoff sowie als Agent der Bewältigung und Garant der Lesbarkeit
benötigt wird und wenn in ihm als Tiefenstruktur elementare gruppeninterne Abläufe
wie kollektives Fitnesstraining durch Initiation, gemeinsame und riskante
Nahrungssuche oder Aufarbeitung der Marginalität wirksam sind, sollen die
Prämissen, die für die von Propp, Burkert und Turner vorgeschlagenen Sequenzen
mit ihren erzählerischen Ermöglichungsbedingungen bemüht werden, erweitert und
von der soziologischen und ethnologischen, wenn möglich, auf die anthropologische
Betrachtungsweise ausgedehnt werden.
6. Niklas Luhmann : Die Differenzierung ‘schön/hässlich’
Befragt man die systemtheoretisch orientierte Literaturbetrachtung nach der Herkunft
der Erzählung, ist die Antwort eindeutig. Nach Niklas Luhmann, dem Begründer der
Systemtheorie, differenziert die moderne, im Europa des ausgehenden 18.
140
Victor Turner, Ritual/Struktur, S. 126
Victor Turner, Ritual/Theater, S. 107
142
Quelle: http://home.debitel.net/user/RMittelstaedt/McL/Kermode.htm, Stand :15.01.2006:
„McLuhan: Eine der Wirkungen des Umschaltens zum Stromkreis von mechanisch bewegten Teilen
und Rädern ist ein enormes Ansteigen in der Menge der Information, die bewegt wird. Mit diesen
gewaltigen Informationsmengen wird man nicht mehr fertig, wenn man sie nach dem alten
fragmentarischen, klassifizierten Muster verarbeitet. Man tendiert dazu nach mythischen und
strukturellen Formen zu suchen, um mit diesen komplexen Daten umzugehen, die sich mit sehr hoher
Geschwindigkeit bewegen. Daher sprechen die Elektronik-Ingenieure oft von Muster-Erkennung als
normaler Notwendigkeit für Leute, die mit elektrischen Daten und Computern usw. umgehen…Es ist
ein Erfordernis, das Dichter ein Jahrhundert vorher voraussahen, als sie sich zu mythischen Formen
zurückgetrieben fühlten, ihre Erfahrungen zu organisieren“.
141
43
Jahrhunderts entstehende Gesellschaft Kommunikationssysteme aus, die eine
spezifische Funktion, zum Beispiel die Politik, die Wirtschaft, das Recht, die
Erziehung und Kunst betreuen und Personen nur in dem Maße in Anspruch nehmen,
als sie - mehr oder weniger zeitweise - in solche Funktionssysteme verwickelt sind.
In
archaischen
Kulturen
lassen
sich
derartige
Funktionssysteme,
Kommunikationssysteme und Interaktionssysteme kaum unterscheiden. Die
einzelnen Stämme sind Segmente, die alle gleich organisiert sind und die gleichen
Funktionen abdecken. Die Existenz des einen Stammes ist auf die des anderen in
keiner Weise angewiesen, jedes Segment ist für sich lebensfähig. Dies verändert
sich im Wesentlichen im Zusammenhang mit der Entstehung der Schrift und der
Stadtkultur mit ihren wirtschaftlichen, politischen und religiösen Hierarchien. Die
Gesellschaft ist nun primär stratifikatorisch strukturiert, die einzelnen Sozialsysteme
stehen nicht mehr nebeneinander, sondern in Schichten übereinander. Jeder
Gesellschaftsstruktur, der segmentären, der stratifikatorischen und der modernen,
das heißt in funktionale Systeme ausdifferenzierten, entspricht eine spezifische
Kommunikationsstruktur und damit eine Semantik, welche die Anschlussfähigkeit der
Kommunikation sicherstellt. Unter den Bedingungen oraler und segmentärer
Gesellschaften ist Religion am besten zu begreifen, wenn man sie als Semantik und
Praktik versteht, die es mit der Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem zu
tun hat. 143 Luhmann ordnet die Riten dem Funktionssystem Religion zu, dessen
Codierung 144 in der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz und dessen
Programm in der Transformation des Unbestimmbaren ins Bestimmbare besteht. Die
Kommunikationsform der Riten ist eine auf Wahrnehmung bezogene Inszenierung 145
, und da diese Kommunikation selbstreferenziell ist, bedarf sie keines sinngebenden
Kommentars, ist nicht Ausdruck eines Konsenses und nicht Ergebnis einer
Vereinbarung, auch nicht die Exekution von Regeln. Das Zelebrieren des Rituals
erfordert die körperliche Anwesenheit, man sieht und wird gesehen, und man sieht,
dass man gesehen wird, 146 es gibt kein Interpretationsproblem; wichtig für den
sozialen Zusammenhalt und die Regulierung des Ablaufs ist der korrekte, das heißt
alternativenlose Vollzug; jede Abweichung würde als Unfall gedeutet und drohende
Gefahr signalisieren. Da aber die Teilnehmer des Rituals sich an einem bestimmten
Ort zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Anlass versammeln, ergibt sich
eine Fremdreferenz in Richtung auf die vom System ausgegrenzte Umwelt und damit
nach dem biologischen Muster der Zellteilung ein Exklusionsbereich, in dem es in
autopoietischer Weise und per Inklusion zu einer neuen Systembildung kommt. So
entsteht, durch die Ritualisierung stimuliert, 147 mit den Mythen eine semantische
Parallelkonstruktion 148 des Rituals, wobei in den Mythen, was in den Riten
konsequent vermieden wird, weitere Unterscheidungen möglich sind, die zu
Erzählungen verwendet werden können, in denen begrenzte Freiheiten 149
143
Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M 1998, S. 232
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 246 : „Unter Code möchte ich, in
Abweichung vom linguistischen und eher in Anlehnung an den biogenetischen Sprachgebrauch, eine
Duplikationsregel verstehen, die für Vorkommnisse oder Zustände, die an sich nur einmal vorhanden
sind, zwei mögliche Ausprägungen bereitstellt. […] Die Kommunikation erreicht höhere Spezifikation,
ich würde gern auch sagen: Technizität. Sie hebt sich mit Hilfe des eigenen binären Schematismus ab
von undifferenzierten Normalerwartungen alltäglicher Interaktion, von den Selbstverständlichkeiten
des täglichen Lebens“.
145
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 190
146
ebenda
147
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 191
148
ebenda
149
ebenda
144
44
zugelassen sind. Da sie die – religiöse - Funktion haben, die Komplexität der
Wirklichkeit zu reduzieren, 150 erzählen Mythen als rituelle Parallelkonstruktionen,
was man schon immer gewusst hat, aber sie eröffnen als Erzähltext eine neue
Zeitdimension. Die analoge Zeit des rituellen Ablaufs wird in der Erzählung
aufgebrochen und gewissermaßen digitalisiert, bearbeitbar und auf ritualferne
Situationen übertragbar, ein Vorgang, dessen Dynamik durch die Erfindung der
Schrift und später des Buchdrucks revolutionäre Formen annimmt. Da aber ihr
Reprodukt Solidarität, nicht Information 151 ist, behandeln Mythen Ereignisse aus der
Vergangenheit, deren Wiedererkennungswert sie in den Dienst der
Gegenwartsdeutung stellen und dort normative Erwartungen erzeugen. Da der
Mythos mündlich erzählt wird, wird er miterlebend nachvollzogen, also geglaubt. 152
Solange der strukturelle Umbau der Gesellschaft in Richtung funktionale
Differenzierung nicht fortschreitet und selbstreferenzielle religiöse Kommunikation
nicht sinnbedürftig wird, solange also die Mythenkultur nicht hinterfragt wird, bleibt
der Mythenerzähler bei seiner Mission, das Unvertraute im Vertrauten zu
reproduzieren 153 und sich an die wiedererkennbare Struktur seiner Erzählung zu
halten. Dies bedeutet dann auch, dass bei fortschreitender funktionaler
Differenzierung und Ausdifferenzierung entsprechender Rollen neue Systeme als
Parallelkonstruktionen entstehen, die sich jeweils nach eigener Selbstreferenzialität
organisieren. Obwohl Luhmann die Entstehung der Erzählung aus der Kombination
von Ritus und Mythos deutet, liegt es ihm fern, die nach eigenem Programm
operierende Kommunikation des Systems der Literatur von externen Referenzen wie
dem ‚sozialen Drama’ oder anderen Vorgaben bestimmen zu lassen. Für Luhman ist
Literatur ein autonomes System neben anderen autonomen Systemen, die jeweils
eine bestimmte Funktion haben, für die sie exklusiv zuständig sind. Während das
Rechtssystem Rechtsnormen zu formulieren und zu sichern hat und das
Wirtschaftssystem knappe Güter zu verteilen hat, hat das Literatursystem die
Funktion, Weltkontingenz zu erzeugen, also der Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit
gegenüberzustellen und Alternativen vorzuführen. Als soziales Phänomen
prozessiert Literatur im Kontext des gesellschaftlichen Wandels, welcher oftmals
durch die Sinnproduktion literarischer Texte stimuliert wird. Wenn dabei literarische
Themen, Motive und Genres analysiert und verarbeitet werden, erfolgt dies im
Geltungsbereich des Systems; es gibt unter den Bedingungen der in
Funktionssysteme ausdifferenzierten Gesellschaft dafür keine systemexterne
Instanz, die über die Systemgrenze hinweg das literarische Schaffen codieren
könnte. In den vormodernen Gesellschaften, den segmentären oder
stratifikatorischen, herrscht kein Bedarf an literarischer Codierung
150
Gerhard Plumpe / Niels Werber, „Literatur ist codierbar“ in: Siegfried J. Schmidt,
Literaturwissenschaft und Systemtheorie, Opladen 1993, S. 14 – 15: „Es gibt kein Vertrauen ohne
Misstrauen. In tribadischen Gesellschaften wird der Umwelt misstraut, weil sie unvertraut ist. Die
Differenz von vertraut und unvertraut codiert ihre Kommunikation. In der Sprache kann die unvertraute
Umwelt dennoch behandelt werden und so zumindest kommunikativ vertraut werden. Die Form, die
sich dafür ausdifferenziert, ist der Mythos. Er stellt gleichsam einen Vertrauensvorschuss her und
ermöglicht, dass man in den Wäldern jagen oder sammeln geht, auch wenn diese völlig fremd sind.
Man erwartet dann das Unvertraute und ist gewappnet. In dieser Funktion ist der Mythos für den
‚Fortbestand der Gemeinschaft’ unverzichtbar“.
151
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 192
152
ebenda
153
ebenda
45
Während die systemtheoretische Literaturbetrachtung trotz ihrer ahistorischen
Sehweise in der Lage ist, die Erzählung in einen genetischen Zusammenhang von
Ritual und Mythos zu stellen, deutet im Hinblick auf den Autopoiesis-Charakter der
Systeme wenig darauf hin, dass das geschlossene soziale Subsystem der Literatur
anschlussfähig sein könnte für überkommene und universelle Gültigkeit
beanspruchende erzählerische Tiefenstrukturen. Da ein System sich nur mit dem ihm
eigenen Code beobachten und nur die aus dieser Beobachtung folgende Leistung
seiner sozialen Umwelt zur Verfügung stellen kann, muss dem System Literatur ein
Code zugewiesen werden, der es von anderen Systemen unterscheidbar macht. Bei
einer Orientierung der Literaturproduktion und –rezeption am Wert der Schönheit
würde eine programmatische Definition von Schönheit benötigt, die zum einen nicht
zu leisten wäre, zum andern nur eine Zeitlang stilbildend wäre und bald durch eine
neue Programmatik abgelöst werden müsste. Zu leisten wäre die verbindliche
Definition von Schönheit nur in einer geschlossenen Gesellschaft, deren Schließung
bei segmentären Gruppen in einem rituell-mythischen Horizont besteht, bei
stratifikatorisch organisierten in einer religions- und machtgestützten Hierarchie, in
denen das Schöne, Gute und Wahre stets ungetrennt wahrgenommen werden und
ihre Einheit etwa durch die rituelle Übereinstimmung, die antike Kosmosvorstellung
oder den mittelalterlichen schöpfungstheologischen Ordo-Gedanken dargestellt wird.
Zu bemerken ist allerdings, dass der Begriff der Definition in diesem Zusammenhang
missverständlich ist, denn in diesen Gesellschaften ist es gerade nicht möglich, die
künstlerische Kommunikation abzugrenzen von der politischen oder religiösen. Unter
den Bedingungen der in Funktionen ausdifferenzierten Gesellschaft ist jedoch für die
künstlerischen Operationen ein Code erforderlich, der sich von den binären
Schematismen anderer Systeme absetzt, beispielsweise von dem Code ‚wahr/falsch’
der Wissenschaft, dem Code ‚gut/böse’ für die Moral, ‚nützlich/unnütz’ für die
Technik, ‚haben/nicht haben’ für die Wirtschaft, ‚Recht/Unrecht’ für die Justiz,
‚Mehrheit/Opposition’ für die Politik.
Als Spezialcode für Kunstkommunikationen wird von Luhmann die Unterscheidung
‚schön/hässlich’ vorgeschlagen, welche sicherstellen soll, dass dieses System
Stabilität behält und nicht von außen programmiert wird.154 In der
systemtheoretischen Diskussion werden auch Alternativen zu diesem binären
Schematismus formuliert, von denen die Differenzierung ‚langweilig/interessant’
insofern eine bessere Praktikabilität beweist, als das Risiko der Fehl- oder
Übercodierung von ‚schön<>wahr’ und ‚hässlich<>unwahr<> böse’ vermieden und
der programmatischen Entscheidung von ‚interessant/langweilig’ ein weit geöffneter
Raum angeboten wird. Diese Unterscheidung scheint für die Selbstbeobachtung des
Systems der Literatur auch deswegen besonders treffend zu sein, weil sie erklärt,
dass interessante Beiträge ebenso wie langweilige das Unterscheidungsvermögen
schärfen und dadurch Zustimmung wie Ablehnung steigern, was wiederum Druck zur
Produktion wie Rezeption interessanter Werke ausübt, also unaufhörlich
Anschlusskommunikationen provoziert und das System am Laufen hält. Gleichsam
zur literaturgeschichtlichen Beglaubigung dieser Umformulierung lässt sich
nachweisen: Die Kategorie des Interessanten hat als Konkurrent des Schönen
schon etwa seit 1730 Konjunktur,155 wo in der französischen Kunsttheorie eines Jean
François de Marmontel oder Denis Diderot das Interessante in der Hierarchie der
154
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247: „Nicht der reine Wert der Schönheit, sondern
die Disjunktion schön/hässlich vermittelt diejenige praktische Orientierung des Kunstschaffens und
des (kritischen) Kunsterlebens, von der Folgen abhängen“.
155
Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 30-32
46
ästhetischen Werte an Bedeutung gewinnt, weil es im Sinne der Aufklärung den
Rahmen der Vorerwartungen sprengt und das Kunstgeschehen temporalisiert. Das
Interessante ist das Interessante von heute, möglicherweise ist es morgen schon
langweilig. Auch wenn die deutsche Klassik sich am griechischen Ideal eines
unvergänglich Schönen orientiert und gegen das Charakteristische, Individuelle und
Interessante polemisiert als dem Piquanten, Frappanten, Choquanten und
Modernen, lässt sich nicht leugnen, dass sich mit der Differenz von interessant vs.
langweilig ein Code etabliert hat, der mit Erfolg literarische Kommunikationen
prozessiert. Gib ihm Interesse, und ein Mährchen von der Mutter Gans gefället mir
mehr, als eine langweilige Heriode, schreibt Herder und setzt hinzu dagegen jedes
Uninteressante mich leer lässt, und wenn ich’s geschehen lasse, vor langer Weile
mich tödtet. 156 Wenn die Kategorien des ‚Schönen’ und ‚Hässlichen’ nach wie vor für
die literarische wie auch die sonstige künstlerische Kommunikation verwendet
werden, deutet dies darauf hin, und nichts spricht dagegen, dass die Kunst auch mit
dieser Differenzierung beobachtet werden kann, selbst wenn diese Code-Werte eher
aus der Umwelt der Kunst, in diesem Fall der Moral, stammen.
Wie in der Literatur selbst das ‚Schöne’ umcodiert werden kann, wird von Baudelaire
als Dandy und Dichter anschaulich gemacht, der mit dem Begriff des Bizarren den
Code-Wert ‚interessant’ als Synonym für ‚irritierend’ sowie ‚sonderbar’ und
‚befremdend’ für die literarische Kommunikation akzeptabel macht. In seiner Hymne
an die Schönheit,157 das analog zu den sieben Bitten des christlichen Vaterunser 158
aus sieben Strophen besteht, richtet Baudelaire sein Bittgebet – die beiden letzten
Strophen entsprechen dem jesuanischen Führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen - an die Schönheit:
Que tu viennes du ciel ou de l´enfer, qu´importe,
O Beauté! monstre énorme, effrayant, ingénu!
Si ton œil, ton souris, ton pied, m´ouvrent la porte
D´un Infini que j´aime et n´ai jamais connu?
De Satan ou de Dieu, qu´importe? Ange ou Sirène,
Qu´importe, si tu rends, - fée aux yeux de velours,
Rhytme, parfum, lueur, ô mon unique reine! –
L´univers moins hideux et les instants mojns lourds?
In einer Tagebuchnotiz von Baudelaire findet sich ein weiterer Beleg für die
Umcodierung von ‚schön’ zu ‚interessant’ und ‚unterhaltsam’
J´ai trouvé la définition du Beau – de mon Beau. C´est quelque chose d´ardent et de
triste, quelque chose d´un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l´on
veut, appliquer mes idées à un objet sensible, à l´objet, par exemple, le plus
intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une
tête de femme, veux-je dire, c´est une tête qui fait rêver à la fois, - mais d´une
manière confuse, - de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie,
de lassitude, même de satiété, - soit une idée contraire, c´est à dire une ardeur, un
156
Johann Gottfried Herder, Kalligone, Vom Angenehmen und Schönen, Leipzig 1800, zitiert nach
Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 32
157
Charles Baudelaire, Les fleurs du mal (1857), Paris 1959, S. 28
158
Mt 6, 9 - 13
47
désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou
de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau. 159
Wenn der Dichter die Schönheit bittet, den Augenblick unter Aktivierung aller Sinne
erträglicher zu machen und sich in dem zu vergegenwärtigen, was gerade am
interessantesten ist und Aufsehen erregt, wird aus systemtheoretischer Sicht die
spezifische Funktion der Literatur, Kontingenzbewusstsein und Empfänglichkeit für
alternative Wirklichkeiten zu erzeugen, ergänzt um die Unterhaltungsfunktion und um
den Auftrag, Freizeit zur Zeit der Unterhaltung und Ablenkung zu machen. In seinem
Essay Vorschläge zur Prüfung eines Romans bekennt sich Uwe Johnson 160 zu dem
literarischen Code ‚unterhaltsam/langweilig’:
Wozu taugt ein Roman? – Er ist ein Angebot. Sie bekommen eine Version der
Wirklichkeit. – Es ist nicht eine Gesellschaft in Miniatur, und es ist kein maßstäbliches
Modell. Es ist auch nicht der Spiegel der Welt und weiterhin nicht ihre
Widerspiegelung, es ist eine Welt gegen die Welt zu halten. – Sie sind eingeladen,
diese Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die Sie unterhalten und
pflegen. Vielleicht passt der andere, der unterschiedliche Blick in die Ihre hinein. –
Verteidigen Sie ihre Unabhängigkeit bis zur letzten Seite des Buches. Wird Ihnen
ausdrücklich gesagt, was der Roman zu sagen versuchte, ist dies der letzte
Augenblick zur Entfernung des Buches. Sie haben sich das Recht erworben auf eine
Geschichte. Die Lieferung einer Quintessenz oder einer Lehre ist Bruch des
Vertrages. Mit dem Roman ist die Geschichte versprochen. – Was dazu gesagt wird,
sagen Sie. Der Roman muss Sie unterhalten. […] Während Sie anders beschäftigt
sind, beschafft der Romanschreiber Ihnen Unterhaltung und Information. Damit hat er
seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, sofern sie einseitig bestehen kann,
erfüllt.
Was nach Baudelaire bewirkt, dass die Welt weniger ordinär und ekelerregend und
der Augenblick weniger langweilig ist, was er l´objet le plus intéressant dans la
société nennt und was bei Uwe Johnson die unterhaltsame Geschichte ist, was bei
Herder gefället, anstatt todlangweilig zu sein, muss sich dann fragen lassen, wie es
denn als Objekt oder als Geschichte beschaffen sein muss, um das Interesse sowohl
des Autors als auch der Abnehmer zu finden. Es ist dies die Frage nach dem
Material, welches im System der Literatur verarbeitet wird. Da für jedes System alles,
was sich nicht nach seinem Code beobachten lässt, Umwelt ist, unterhält es neben
der Systemreferenz auch eine Umweltreferenz. Daher kann Literatur, wenn sie
Neues produziert, entweder sich selbst beobachten und aus ihrem Fundus das
schöpfen, was sie neu kombiniert und als neu präsentiert, oder aber sie beobachtet
ihre Umwelt und importiert aus ihr das zu bearbeitende Material. In beiden Fällen
selektiert die Literatur nach ihren eigenen Präferenzen, indem sie entweder aus ihrer
Systemvergangenheit Stile und Werke zitiert, parodiert, variiert, ironisiert, formalisiert
und neu koppelt oder aber Elemente aus der Umwelt beziehungsweise deren
eigenem systemischen Kontext herauslöst und für ihren Zweck umcodiert. Ist somit
die systemtheoretische Literaturbetrachtung in der Lage, die Herkunft des
‚interessanten Objekts’ zu klären, bleibt zu prüfen, was denn das Interessante
interessant, das Unterhaltsame unterhaltsam, das Spannende spannend macht.
159
Charles Baudelaire, Les fleurs du mal, S. 301
Uwe Johnson, „Vorschläge zur Prüfung eines Romans“, in: Absichten und Einsichten, Texte zum
Selbstverständnis zeitgenössischer Autoren, Hg. V. Markus Krause u. Stephan Speicher, Stuttgart
1990, S. 236, zitiert nach Gerhard Plumpe / Niels Werber, Literatur, S. 40
160
48
Wird bei dieser ‚Materialprüfung’ darauf verwiesen, dass das Neue gegenüber dem
Alten den Interesse-Bonus erhalten und das Unerhörte gegenüber dem Gewohnten
prämiert werden soll, ist für die Erkenntnis ebenso wenig gewonnen, wie wenn in
einer creatio ex nihilo der große Coup des genialen Schöpfer-Künstlers als Garant für
Sensation und Impuls für erfolgreiche Anschlusskommunikation dienen soll. Wie der
Interessantheitseffekt keine hinreichende Auskunft über seine Ursache gibt, lüftet
das systemkonforme Funktionieren der literarischen Kommunikation nicht das
Geheimnis ihres Erfolgs. Sollte es gar in Opposition zum Interessanten und
Reizenden das Plausible sein, welches, indem es das ‚placet’ und den Applaus
erhält, gewissermaßen als verborgener Code-Wert im Fließen der Kommunikationen
die Weiche auf Halt oder Durchfahrt stellt, wobei sich hinter der Weichenmetapher
ein Erkenntnisproblem bemerkbar macht, welches philosophisch und neurobiologisch
reflektiert werden kann? Sollte gar in Präzisierung des Plausiblen der
Wiedererkennungswert einer Erzählung gegenüber ihrem Neuigkeitswert in Führung
gehen? Sollte man gar an etwas deswegen Gefallen finden, weil es einem jenseits
des Sensationellen vertraut vorkommt? Mit anderen Worten: Sollte auch das soziale
Subsystem der Literatur anschlussfähig sein für erzählerische Tiefenstrukturen, für
morphologische Urformen und Sequenzregeln bis hin zur aristotelischen Abstraktion
der Dreiteiligkeit einer erzählten Handlung, zu narrativen Vorgaben also, die es kraft
seiner binären Codierung nicht selbst erzeugen kann?
Wie immer, wenn Luhmann die Emergenz eines Funktionssystems begreiflich macht,
geht er auch hier, bei der Produktion oder Rezeption von Literatur, von den
vormodernen Kommunikationsbedingungen einer geschlossenen Welt aus, wo es
symbolische Medien gibt, die das Unvertraute ins Vertraute, das Unwahrscheinliche
ins Wahrscheinliche wenden. Für den mittelalterlichen Zusammenhalt der Differenz
von Unwahrscheinlich/Wahrscheinlich appelliert er an Thomas von Aquin, nach
dessen Ontologie jedem Seienden von Gott seine Stellung und sein Ziel in der
Seinsordnung zugewiesen ist. Aufgrund der Analogie von Schöpfung und artificium
kommt den res artificiales Wahrheit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit zu, und
nach der thomistischen Lehre der adaequatio rei et intellectus etabliert sich eine
Mentalisierung der Wahrheit mit der Folge: Auch die ‚res artificiales’ konnten wahr
sein in Bezug auf den Formenschatz des Intellekts: dicitur enim domus vera, quae
assequitur similitudinem formae quae est in mente artificis; et dicitur oratio vera,
inquantum est signum intellectus veri (Thomas von Aquino, Summa Theologiae I q,
16.a.I). 161 Nach dem durch die Dynamik der Kulturevolution bedingten Wegfall der
Analogie von Schöpfung und artificium verliert das Kunstwerk seine metaphysische
Einbettung, ist symbolisch auf sich selbst und seine eigenen Selektionen angewiesen
und wird zum Zeugnis der Kontingenz. Um aber trotz zunehmenden
Kontigenzbewusstseins auf beiden Seiten die Erkennbarkeit des Kunstwerks
sicherzustellen, konzediert Luhmann eine behutsam erweiterte Codierung, indem er
die Unterscheidung ‚schön/hässlich’ beziehungsweise ‚unterhaltsam/langweilig’ auch
mit einer gewissen Dosis Reflexivität versieht.162 Überraschend für einen
prominenten Vertreter des Autopoiesis-Gedankens ist, dass Luhmann es bei dieser
kognitiven Zutat nicht bewenden lässt und an das Kunstwerk geradezu poetologische
Anforderungen stellt, die angefangen vom stimmigen Aufbau bis hin zum Anspruch,
161
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, ebenda: „Die Differenzierung von Kunst gegen das
Medium der Wahrheit kann nicht begriffen werden als Verzicht auf kognitive Prozesse bei der
Produktion und Rezeption von Kunstwerken, etwa auf der Basis von Intuition und Genuss“.
162
49
das Erleben zu steuern, den aristotelischen Auflagen kaum nachstehen.163 Da
Luhmann hier in aller Deutlichkeit Strukturbedingungen formuliert, die das Kunstwerk
zu erfüllen hat, wäre durchaus vorstellbar, dass dazu auch die erzählerische
Stimmigkeit etwa auf der Grundlage eines sozialen Dramas zu zählen ist. Wenn
Erzählungen gefallen sollen, muss die Symbolik eines Codes für Kunst so arrangiert
sein, dass es Selektionen gibt, die als Selektionen zur Annahme motivieren. 164 Dass
auch der Sequenz-Gedanke Luhmann nicht fern liegt, zeigt sich darin, dass er die
Kunstwerke unterscheidet in solche, bei denen die Reihenfolge des stimulierten
Erlebens beliebig ist, also Bilder, Skulpturen, Architekturen, und solche, bei denen
die Reihenfolge des Erlebens nicht beliebig ist, das heißt Texte, Filme oder
Musikstücke. Letzteren schreibt er zu, dass sie mit dem Anspruch auftreten, Erleben
zu führen und in eine vorgezeichnete Selektivität zu zwingen,165 wozu auch
Mechanismen der Überzeugung 166 hilfreich sein können. Vom Soziologen ist nicht
zu erwarten und zu fordern, dass er diese Mechanismen der Überzeugung in eine
narrative Grammatik übersetzt, in das Rezept zur Herstellung einer richtigen
Geschichte im Sinn von Uwe Johnson. Er stellt den Code zu Verfügung, mit dem das
System seine Selektionen durchführt. Es ist sicher kein Fehlschluss, in den oben
dargestellten Sequenzen Programme mit Software-Charakter zu sehen, an denen die
an der literarischen Kommunikation Beteiligten mit Hilfe des Codes und unter dem
Druck, Neues hervorzubringen, das heißt zu unterhalten und unterhalten zu sein, ihre
Weichenfunktion versehen.
7. Hans Blumenberg: Die Chaosbewältigung
Der Zustand der Liminalität, dessen Analogien sich in den bisher angestellten
Überlegungen zu Aristoteles’ Dreischritt, Propps Initiation, Burkerts Nahrungssuche,
Lévi-Strauss’ Fluchtanlass für die ‚Fuge’, Turners sozialem Drama und Luhmanns
Ende der Stratifikation als status naturalis des Erzählens nachweisen lassen, wird
schließlich auch von zwei prominenten Theoretikern des Mythos beschrieben; von
Ernst Cassirer, der bei der Suche nach dem Ursprung der Erzählung das Verhältnis
des Menschen zu der ihm überlegenen Macht religionsphilosophisch reflektiert, und
von Hans Blumenberg, der für den phänomenologischen Zugang optiert und daher
die Rekonstruktion einer ‚mythogenen’ Urszene erwarten lässt.
In Anlehnung an Hegels Religionsphilosophie und Comtes Dreistadienlehre sieht
Cassirer den Frühmenschen – streng genommen: den Frühmenschen in seiner
prähominiden Phase - in totaler Abhängigkeit von den ihn übersteigenden Mächten,
den Naturgewalten, dem Tod, der ihn überfordernden Umwelt, einer Abhängigkeit, in
welcher er durch magische Praktiken auf diese Mächte reagiert. Die Magie als
Werkzeug der Wunscherfüllung verleiht dem Menschen sowohl die Herrschaft über
die Natur als auch die Macht über die in allem obwaltenden Götter und Dämonen.
Die Reichweite des Zaubers, im Spruch und in der Geste, mag sie empirisch163
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung S. 247 – 248: „An die Stelle der ‚adaequatio’ tritt so
etwas wie die immanente Stimmigkeit des Kunstwerks: Dessen Elemente müssen einander fordern in
einer Verdichtung, die Lücken erkennbar und Überflüssiges ausscheidbar macht. Darauf beruht die
Aufhebung der (gleichwohl entstehungsnotwendigen) Kontingenz des Handelns und zugleich die
Führung des Erlebens, darauf beruht die Motivation zur Übernahme kontingenter Selektionen“.
164
ebenda
165
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 247
166
ebenda
50
tatsächlich eher begrenzt sein, kennt indes keine prinzipielle Grenze. In dieser
magischen Weltsicht, in diesem Modus des Denkens und Fühlens sowie des Wollens
und Tuns ist dem Ich a priori alles möglich, und die äußere Form der schrankenlosen
Ermöglichung ist der Kult, der sich in einem religiösen Prozess aus den magischen
Formen herausbildet, in denen der Mensch auf das absolute Gegenüber einwirkt,
welches sich zwar beschwören und bezaubern, sich aber jeder Interaktion in Form
einer Relation von Leistung und Gegenleistung verschließt. Denn der Kult ist das
aktive Verhältnis, das der Mensch sich zu seinen Göttern gibt. In ihm wird das
Göttliche nicht nur mittelbar vorgestellt und dargestellt, sondern es wird unmittelbar
auf dasselbe eingewirkt. 167 Nach der Hegelschen Auffassung von der Bewegtheit
der Erscheinungen durch den absoluten Geist drängt der Kult über die magische
Praxis hinaus und verfolgt das Ziel, die Trennung des Menschen vom absoluten
Gegenüber zu überwinden und auf beiden Seiten der durchlässiger werdenden
Trennungslinie die Kontrahenten in ein neues Licht zu setzen, das heißt sowohl das
Ich des Menschen, wie die Persönlichkeit Gottes – jedenfalls gilt dies für die ethischmonotheistischen Religionen, nicht aber für den Buddhismus 168 – in gesteigerter
Prägnanz und Schärfe herauszubilden. Das kultische Geschehen ist daher nicht nur
als äußerliche Handlung zu verstehen; es ist ein Tun, welches den äußeren Vorgang
mit dem innerlichen verbindet. Diese Einheit, Versöhnung, Wiederherstellung des
Subjekts und seines Selbstbewusstseins, das positive Gefühl des Teilhabens, der
Teilnahme an jenem Absoluten und die Einheit mit demselben sich auch wirklich zu
geben, diese Aufhebung der Entzweiung macht die Sphäre des Kults aus. 169 Im
dialektischen Prozess in Richtung auf fortschreitende Verinnerlichung des Teilhabens
am Göttlichen erscheinen die beiden Pole, der Gott und das religiöse Subjekt, jeweils
auf ihrer Seite, aber der Sinn des Prozesses ist die Aufhebung ihrer Trennung mit
dem Ziel, dass das Ich in Gott und Gott im Ich gewusst wird, was als ersten Schritt
voraussetzt, dass das Ich die Position des bloß magisch agierenden Gegenübers
aufgibt. Diese evolutionistische Sicht erblickt in der Magie ein unwirksam
gewordenes, weil auf falschen Assoziationen gestütztes System von Versuchen, die
Natur zu den erwünschten Leistungen zu zwingen; die mythologisch organisierte
Religion legitimiert sich durch die Annahme, dass die Regelmäßigkeiten der Welt
unter der Herrschaft von Kräften stehen, die den Menschen übergeordnet sind und
die, da sie den Beschwörungen und Befehlen kein Gehör schenken, mit Bitten,
Gaben und Schmeicheleien günstig und gnädig gestimmt werden müssen. Im
Fortgang der Evolution würde dann dem wissenschaftlichen Denken und der Technik
die Aufgabe zufallen, die Zusammenhänge in der Natur zu durchschauen und die
gewünschten Lebensbedingungen ohne die Intervention übersinnlicher Wesen
herzustellen.
Die Form des menschlichen Entgegenkommens auf der nach-magischen
Entwicklungsstufe ist das Opfer. Es füllt die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem
Menschen aus und macht gleichzeitig die scheinbare Entäußerung explizit, an der
sich in den materiellen Formen des Kults die Tendenz zu fortschreitender
167
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken (1923),
2. Aufl. Darmstadt 1953, S. 262
168
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 269 : „Der Buddhismus lässt die Götter bestehen – aber für
die eine wesentliche Grundfrage, die er stellt, für die Frage der Erlösung bedeuten und leisten sie
nichts mehr. Und damit sind sie aus dem eigentlich entscheidenden religiösen Prozess überhaupt
herausgedrängt. Nur die reine Versenkung, die das Ich nicht sowohl zur Gottheit erweitert als sie es
vielmehr im Nichts erlöschen lässt, bringt die wahrhafte Erlösung“.
169
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, S. W. XI, S. 67, zitiert nach Ernst Cassirer,
Philosophie/Formen, S. 263
51
Verinnerlichung zeigt. Das Opfer ist Grundmotiv und Mittelpunkt jeder kultischen
Handlung. Es kann zwar verschiedenen Intentionen entsprechen, der Sühne dienen
oder der Reinigung von Schuld, eine Bitte ausdrücken, einen Dank abstatten oder als
festliche Gabe dargebracht werden, immer bildet es in all diesen
Erscheinungsformen einen festen Kern, um den sich die kultische Handlung
gruppiert. 170 Als allgemeine und typische Urform religiösen Verhaltens stellt
Cassirer das kultische Opfer an den Anfang eines kulturellen Prozesses, in dessen
Verlauf sich der spezifische Sinn des Göttlichen wie der des Menschlichen erst
bestimmen soll. Während das Ich auf der Stufe der magischen Weltansicht an die
Allmacht der menschlichen Wünsche glaubt, alles auf sich zu bannen und zu
beziehen beansprucht und sich durch Anwendung der rechten magischen Mittel
dienstbar zu machen vorgibt, äußert sich auf dem Niveau des Opfers eine andere
Richtung des menschlichen Wollens und Handelns. Die dem Opfer zugesprochene
Kraft gründet sich in einem negativen Moment, in einem Verzicht, den das Ich sich
auferlegt, in einer Einschränkung des unmittelbaren Begehrens. Indem das Opfer
sowohl im Selbstopfer der Askese beziehungsweise der beim Initiationsritual
erduldeten Schmerzen als auch im Gabenopfer sich an einen bestimmten
Adressaten wendet, anerkennt das Ich eine Macht, die ihm überlegen ist und die, da
sie mit magischen Mitteln nicht bezwungen werden kann, durch Gebet und Opfer
versöhnt und – im günstigsten Fall – für eine dauerhafte und umfassende
Kooperation gewonnen werden kann. Beide, die Götter und der Mensch können von
dieser per Opfer und Gebet etablierten Distanz nur profitieren: Die Götter gewinnen
an Selbständigkeit und Identität, der Mensch an freiem Selbstgefühl, an
Entscheidungsspielraum und Selbstbewusstsein. Selbst die Dingwelt erscheint in
neuem Licht; die physischen Gegenstände sind nicht mehr nur Objekte der
Wahrnehmung oder des Gebrauchs, es kommt ihnen als potenzielle Gabenopfer ein
Bedeutungswert 171 zu. Da der Opfernde vom Adressaten des Opfers eine
Gegenleistung erwartet, wird aus dem ursprünglichen magisch-sinnlichen Zwang den
Göttern gegenüber ein Tausch 172 , ein Akt des Gebens und Nehmens, der beide
Seiten aneinander kettet. Da der Gott zur Sicherung seiner Identität und
Anerkennung seiner Macht auf die Spende des Opfernden angewiesen ist, wird er
genau so von diesem abhängig wie dieser von ihm. Er sichert sich sozusagen durch
seine Zuwendung den Bittenden gegenüber das Anbetungsmonopol, welches seine
Position als höhere Macht festigt.
Das Sakrale als eine im Inneren der Dinge verborgene Kraft, als ein Mana, wird von
Marcel Mauss in seinem berühmten Essay über die Gabe 173 als ein
gesellschaftlicher Zwang beschrieben, Geschenke zu geben, anzunehmen und zu
erwidern. In der so begründeten symbolischen Ökonomie werden mit den Dingwerten
170
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 2
Die Herkunft von lat. pecunia (Geld) von pecus (Vieh) belegt die mit dem Opferkult verbundene
Umwertung der Dinge, die Tempelwirtschaft als ökonomische Vorform sowie die enge Bezogenheit
von Schuld und Schulden.
172
Entsprechend der Dogmatik des Kirchenvaters Irenäus von Lyon (130 - 202) wird in der Präfation
der Gemeindemesse am Weihnachtsfest die Menschwerdung Gottes und seine Anbetung durch die
Menschen als Tauschvorgang gedeutet: „Denn einen wunderbaren Tausch (admirabile commercium)
hast du vollzogen: dein göttliches Wort wurde ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen
empfangen in Christus dein göttliches Leben. Darum preisen wir dich mit allen Chören der Engel und
singen vereint mit ihnen das Lob deiner Herrlichkeit“. In: Der Große Sonntags-Schott, Originaltexte der
deutschsprachigen Altarausgabe des Messbuchs und des Lektionars, Freiburg u. a. 1975, S. 703
173
Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften,
(1923/1924), (Übers.), Frankfurt/M 1990
171
52
auch symbolische Werte wie Freundschaft, Liebe, Ehre, Sicherheit gehandelt, so
dass zugleich mit den Dingen das Innere des Gebenden und des Empfangenden an
der Transaktion teilnimmt. Wie Cassirer, sieht auch Mauss als ersten
Gabenaustausch den Austausch mit Göttern, Geistern und Verstorbenen. Wenn den
Göttern oder den Ahnen, denen man etwas schuldig geblieben ist, ein Opfer
gebracht wird, so mag dieses Opfer wie eine reine Vernichtung von Gütern
aussehen, aber eigentlich sollen dadurch die Götter oder Geister zu einer
Gegengabe verpflichtet werden. Es soll ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit begründet,
die pure Abhängigkeit von der übersteigenden Macht durchbrochen und in der
teilweisen Umwertung der Positionen aus dem Gläubigen ein mit Ansprüchen
ausgestatteter Gläubiger 174 werden. Die symbolische Ökonomie begrenzt sich somit
keineswegs auf die Menschen; es werden Götter, Geister, Ahnen wie auch Nochnicht-Geborene in den Gabentausch mit einbezogen, und es ist sogar die wichtigste
Dimension dieser Ökonomie, dass sie im Unterschied zur Marktökonomie nicht nur
die Lebenden umfasst, sondern ebenso wirksam alle Geister aller Zeiten. Im gleichen
Maß, wie Cassirer dem Opfernden ein freieres Lebensgefühl bescheinigt, kann für
Mauss erst im Kontext der symbolischen Ökonomie überhaupt so etwas wie
lebendige Persönlichkeit mit individuellem Profil entstehen – kann der Mensch ein
Gesicht bekommen, das sein Inneres ausdrückt. In einer mehr topologischen
Deutung der symbolischen Ökonomie von Marcel Mauss unterscheidet Boris Groys
175
die mediale Oberfläche der Dingwelt von dem submedialen Raum des
Symbolischen, in dem die Zeichen nicht ruhig gestellt sind, vielmehr unberechenbar
und demzufolge unter Verdacht stehen und ihren agonalen Charakter offen legen.
Was in der symbolischen Ökonomie auf dem Spiel steht, wenn das Gesamt von
Leistung und Gegenleistung nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren zum
Ausgleich tendieren soll, zeigt sich daran, dass der Beschenkte, wenn er die Gaben
nicht erwidert, sein Gesicht verliert. Warum kann man aber sein Gesicht durch die
versäumte Leistung der Gegengabe verlieren? Offensichtlich bekommt man erst als
Schenkender sein Gesicht. 176 Wenn also die innere Persönlichkeit eines Menschen
ihm nicht angeboren ist, sondern als Effekt seiner symbolischen Handlungen
produziert wird, muss in Realisierung des Tauschgedankens auch für die andere,
auch die göttliche Seite gelten, dass deren Identität sich erst durch die Gewährung
oder Zusage der Gegengabe herausstellt. Dass die symbolische Ökonomie alles
andere als eine primitive gesellschaftliche Idylle ist, in der alle Beteiligten an allen
symbolischen Gütern gleichermaßen partizipieren dürfen und der profitsüchtige Wille
zum Sammeln und Aufbewahren ausgestorben ist, wird von Mauss an dem alten
indianischen Brauch des Potlatsch 177 demonstriert, in dem sich die kriegerischen,
das heißt die strategischen Elemente des symbolischen Tausches deutlich
abzeichnen.
Im Potlatsch werden, wenn ein Häuptling einen Teil oder sogar die Gesamtheit
seines oder seines Stammes Eigentums vernichtet, die anderen Häuptlinge unter
dem Zwang der symbolischen Ökonomie verpflichtet, das Gleiche zu tun, um ihr
Gesicht und ihren gesellschaftlichen Rang zu bewahren. So gerät sogar die pure und
scheinbar sinnlose Vernichtung von Reichtum zu einer ökonomischen Handlung mit
einer gewissen Rendite. Zugleich enthüllt sich der Potlatsch als ein aggressiver
174
Roger Caillois, L´Homme et le sacré, Paris 1950, S. 29: « Par le sacrifice, le fidèle s´en (des
puissances sacrées, d. Verf.) est fait créancier ».
175
Boris Groys, Unter Verdacht, Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 119 f.
176
Boris Groys, Unter Verdacht, S. 124 - 125
177
Marcel Mauss, Die Gabe, S. 20 f.
53
Wettbewerb um gesellschaftliche Anerkennung und macht klar, dass es in der
symbolischen Ökonomie, die ihm zugrunde liegt, nicht um friedlichen
Interessenausgleich, vielmehr um Vorteilsgewinn und Nachteilsvermeidung geht.
Dass in dieser Ökonomie ein Umtausch nicht gestattet wäre, liegt auf der Hand. Ein
Umtausch müsste als Depotenzierung des Erst-Schenkenden gedeutet werden, als
ein nicht zu reparierender Angriff auf seine Identität. Wie weit die Verpflichtungen zur
Gegengabe reichen können, die durch gewaltige Opferhandlungen entstehen, deutet
Boris Groys mit der Selbstopferung Christi und Sokrates’ freiwilliges Akzeptieren des
gegen ihn verhängten Todesurteils 178 an. Die symbolische Macht und in der Folge
die Legitimation sowohl des Christentums als auch der europäischen Philosophie
wird aus dieser Opferhandlung gewonnen. Nachdem Gott sich in Gestalt Christi der
Menschheit geopfert hat, fühlt sich die christliche Menschheit verpflichtet, sich Gott
ebenfalls zu opfern – oder zumindest zu gehorchen. Auch die philosophische
Tradition ist letztlich auf einem Potlatsch gegründet. Der Tod Sokrates’ verpflichtet
andere Philosophen zum Denken, das heißt zur Übernahme bestimmter
methodischer Verfahren, die Sokrates ihnen geschenkt und vermacht hat. 179
Ob und inwieweit Marcel Mauss die Teilnahme an der symbolischen Ökonomie nach
rationalen Gesichtspunkten und bewussten Entscheidungen erfolgt oder ob der
Zwang zum Tausch als ein submediale, ozeanische Bewegung beschrieben wird, 180
bleibt nicht endgültig geklärt. Schließt man sich der ersten, anthropozentrischen und
humanistischen Interpretation an, erscheint der symbolische Tausch als eine
idyllische Vorform einer Ökonomie ohne Profitsucht und eigennütziges Verhalten der
Subjekte. Im anderen Fall handelt es sich um einen Zwang, der sich notfalls ohne
jede bewusste Zustimmung seitens der Handelnden und gegen ihren expliziten
Willen durchsetzt. 181 In dieser Deutung verhält es sich mit dem symbolischen
Tausch wie mit der Hegelschen Dialektik, in welcher der absolute Geist auf These
und Antithese setzt, auf Zuspruch und Widerspruch, um seine eigene
subphänomenale und submediale Bewegung voranzubringen.
Für Mauss dient die Gabe und Gegengabe dazu, eine Ökonomie systematisch zu
beschreiben, die, da die erbrachte und die erwiderte Leistung voll und ganz
kommensurabel sind, sowohl das Innere der Dinge als auch den Gebenden mit
einbezieht und die übliche Marktökonomie transzendiert. Mit der Logik des
symbolischen Tausches erschließt er nicht nur die Funktionen von archaischen
Gesellschaften, er verwendet sie als überzeitliches Schema zur Beschreibung der
Religionen, des Sozialstaats, des Krieges, ja jeder menschlichen Zivilisation. Bei
Cassirer hingegen, der den Prozess der Herausbildung der Formen des kultischen
Opfers als einen Stufengang betrachtet, der einem Abschluss zustrebt, ist die Logik
der Gabe und der Gegengabe als Vorstufe zu einer fortgeschrittenen Weise der
Auseinandersetzung mit der höheren Macht zu verstehen. Entscheidend ist dann
nicht mehr der Inhalt der Gabe oder Spende, zum Kern des Opfers wird die Form des
Gebens und Darbringens. Jetzt wird nicht nur die Gabe verinnerlicht – sondern das
Innere des Menschen ist es, was als die einzige religiös-wertvolle und religiösbedeutsame Gabe erscheint. 182 Die Gabe selbst ist nicht mehr ein Tauschobjekt; wie
das Gebet vermittelt sie zwischen der Sphäre des Göttlichen und der Sphäre des
178
Boris Groys, Unter Verdacht, S. 126
Boris,Groys, Unter Verdacht, S 126 - 127
180
Boris Groys, Unter Verdacht, S. 131
181
Boris Groys, Unter Verdacht, S. 132
182
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 269
179
54
Menschlichen, sie wird das Medium der Kommunion und der eucharistischen
Mahlgemeinschaft, bis schließlich im dialektischen Fortgang das Medium selbst
hinfällig wird und in dem eucharistischen Exzess 183 der mystischen Vereinigung von
Mensch und Gott nicht nur der Mensch zum Gott, sondern auch der Gott zum
Menschen wird. Die größte Distanz zum Opfer als Tausch ergibt sich dort, wo nicht
mehr dem Gott geopfert wird, sondern wo der Gott selbst als Opfer dargebracht wird
oder sich als solches darbringt. Durch das Leiden und Sterben des Gottes vollzieht
sich auf der Seite der Menschlichen die Erhebung dieses Daseins zum Göttlichen
und seine Befreiung vom Tode. 184 Solange aber das religiöse Verhältnis noch in
Opferkategorien gedacht und entsprechend zelebriert wird, und dazu rechnet
Cassirer sogar die hoch abstrakte mittelalterliche Satisfaktionslehre, wonach die
unendliche Schuld des Menschen nur durch das unendliche göttliche Opfer getilgt
werden kann, verläuft der religiöse Prozess in den altgewohnten Bahnen mythischer
Gedankengänge, 185 mit anderen Worten: ist dieser Prozess nicht über die Stufe des
Kults hinausgelangt, wo Hegel die Sequenz der Aufhebung der Entzweiung, der
Versöhnung, der Wiederherstellung des Subjekts und seines Selbstbewusstseins
beobachtet und das Göttliche nicht nur vorgestellt, sondern dargestellt, also auch
erzählt wird.
Die mythischen Erzählungen, die alle vom Opfer erzählen, welches die
übersteigende Macht an die Menschen bindet, werden bald als Reflexe, bald als
Wiedergabe und Spiegelbild, bald als Spiegelung 186 des Kults bezeichnet.
Für die erzähltheoretischen Fragestellung von Belang ist, dass Cassirer den
spekulativ begründeten und religionsphilosophisch belegten Hegelschen Primat des
Kults vor dem Dogma überträgt auf das Verhältnis des Kults zur mythischen
Erzählung und somit das kultische Grundmotiv des Opfers wenn nicht zur
mythischen Leitidee so doch zu einem elementaren Gedanken des Mythos
proklamiert.
Da aber der Mythos als Denk-, Anschauungs- und Lebensform 187 seinerseits dem
dialektischen Gesetz188 unterworfen ist und gemäß der Stadienlehre von Auguste
Comte die theologische und metaphysische Stufe durchlaufen muss, um zur
positiven zu gelangen und dort seinen Abschluss zu finden, muss der Zeitpunkt
kommen, die Krisis, an dem die Religion den Schnitt vollzieht 189 und sich von der
mythischen Bildwelt löst. Die Loslösung der Religion, zumal der christlichen, vom
Mythos und vom Symbolischen kann aber nur teilweise gelingen. Im Wettstreit mit
den orientalischen Religionen, beispielsweise in der Konkurrenz zur
183
Vgl. Peter Sloterdijk, „Herzoperation oder: Vom eucharistischen Exzess“ in: Sphären I, Frankfurt/M
1998, S. 112 -113: „ In der mystischen Ausnahmesituation erscheint das metaphysische Gefälle
zwischen den Polen gleichwohl nivelliert. Der Mensch ist jetzt nicht mehr nur das Werk oder der Vasall
Gottes; der Rückstand der einzelnen Seele gegenüber ihrem jenseitigen Grund scheint auf mysteriöse
Weise aufgeholt; durch eine schwer analysierbare Vertiefung […] wird der Mensch mit einem Mal
Genosse, Ko-Subjekt, ekstatischer Komplize und gleichaltriger Mittäter des Absoluten“.
184
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 276
185
ebenda
186
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 262 - 263
187
so lauten die zentralen Kapitel im Teil 2 der Philosophie der symbolischen Formen
188
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 283: „ Dem stetigen Aufbau der mythischen Bilderwelt
entspricht das stete Hinausdrängen über sie“.
189
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 286
55
Mithrasliturgie190, war das Christentum angewiesen auf seine mythische
Bodenständigkeit, 191 und die Tendenz zur Vergeistigung mit der Forderung der
Umkehr ließe sich liturgisch nicht ohne mythische Stoffe darstellen und durchsetzen.
Um den Mythos zu überwinden, bedarf es daher einer weiteren Trennung. Gehört im
Religiösen das Ineinander und Gegeneinander von Sinn und Bild zu den
Wesensbedingungen, 192 so gibt es eine andere Sphäre, in der der Gegensatz
zwischen Dingwelt und Symbol wenn nicht aufgehoben, so doch gewissermaßen
beruhigt und beschwichtigt 193 ist. Dies ist die Sphäre, in der der Schein seine eigene
Wahrheit hat, die Sphäre des Ästhetischen, welche die Frage nach der Bedeutung
und der Wirklichkeit ihrer Gegenstände hinter sich lässt und wo die Bilder, die als
reiner Ausdruck schöpferischer Kraft entworfen werden, eine rein immanente
Bedeutsamkeit 194 gewinnen.
Geht es Ernst Cassirer darum, dass der Mythos als Übergangsphase zwischen
Magie und Logos, indem er sich vom Kult löst, auf ästhetische Distanz zu ihm geht
und die Spiegelbildlichkeit mit ihm verlässt, zu einem Abschluss kommt oder
überwunden wird, versteht ihn Hans Blumenberg als Verarbeitungsform von
Wirklichkeit eigenen Rechts, 195 als eine überzeitliche Ausdrucksform dafür, dass in
der Welt und unter den in ihr waltenden Mächten nicht die reine Willkür herrscht.
Obwohl der Ursprung des Mythos nur spekulativ erschlossen werden kann 196 und
die aus der griechischen epischen Poesie, Tragödie und Bildhauerei bekannten
Mythen bereits einen langen Prozess der Analyse und Entmythisierung hinter sich
haben, lassen sich seine Funktionsweisen und Rezeptionsformen erkennen. In der
Extrapolation einer archaischen Liminalität, in der der Frühmensch beim Übergang
vom schrumpfenden Regenwald auf die Savane einen elementaren Situationssprung
zu leisten und nach der Überwindung des Verlustes der alten Urwaldgeborgenheit“
sich den Risiken des erweiterten Horizonts seiner Wahrnehmung als denen seiner
Wahrnehmbarkeit auszusetzen 197 hatte, erkennt Blumenberg einen ‚status naturalis’,
den er stark macht durch die Analogie mit anderen Urszenen: mit der traumatischen
Situation der völligen Hilflosigkeit des Ich, welches nach Sigmund Freuds Befund die
überwältigende Gefahr dieser Hilflosigkeit durch die frühkindliche Liebesforderung
kompensiert sowie mit dem ontogenetischen Geburtstrauma, welches der FreudSchüler Sandor Ferenczi in Beziehung setzt zu dem stammesgeschichtlichen
Übergang vom Meer aufs Land.198 In dieser durch das Heraustreten aus der
190
Der Neue Brockhaus, 3. Aufl. 1964: „Mithras, arischer Lichtgott, Spender von Fruchtbarkeit,
Frieden und Sieg […] Sein mystischer Kult […] verbreitete sich von Persien über Kleinasien,
Griechenland und seit 70 v. Chr. durch die römischen Soldaten über Rom bis nach Germanien […].
191
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 297
192
Ernst Cassirer, Philosophie/Formen, S. 311
193
ebenda
194
ebenda
195
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979), 4. Aufl. Frankfurt/M 1986, S. 59
196
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 53 : „Theorien über den Ursprung des Mythos sind müßig.
Hier gilt: Ignorabimus. Ist das schlimm? Nein, denn wir wissen auch sonst von den ‚Ursprüngen’
nichts“.
197
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 10
198
Zu beiden Arten des Biotopwechsels s. Peter Sloterdijk, Sphären I, S. 51 : „Was die Vertreibung
aus dem Paradies genannt wurde, ist ein mythischer Titel für die sphärologische Urkatastrophe – in
psychologischer Terminologie würde sie annäherungsweise als allgemeines Entwöhnungstrauma
umschrieben.“, sowie ders., Sphären III, Frankfurt/M, 2004, S. 360: „Es gilt zu zeigen, dass die
Savannen-Bewohner durch ihre eigentümliche Weise des Einwohnens im Raum selbst das Beben
(durch welches anthropogene Räume entstanden, d. Verf.) auslösten und wie sich in der Folge ein
Treibhauseffekt einspielte, mit dem die Selbstbrütung von homo sapiens begann. Dieses Beben rief
56
Geborgenheit des Urwalds auf die offene Savanne entstandenen Lage, in der
Passage von der Deckung zur Lichtung in Verbindung mit den durch den aufrechten
Gang gewonnenen Freiheiten und zu gewärtigenden Risiken, bezieht sich die
Aufmerksamkeit sowohl für das, was willkommen als auch für das, was bedrohlich
ist, nicht mehr auf ein punktuelles und leicht und durch Hinhören zu ortendes Objekt,
sondern auf den gesamten Horizont, was einen permanenten und angestrengten
Augenaufschlag und eine generelle Spannung erfordert. Da diese in Voraussicht und
Umsicht zu leistende generelle Spannung aber nicht auf Dauer zu stellen ist, muss
sie immer wieder reduziert werden, am vorteilhaftesten auf bereits bekannte und
erfahrungsgemäß bewältigbare Situationen. Der Absolutismus der Wirklichkeit muss
daher abgebaut werden in einer archaischen Gewaltenteilung, 199 in der die
Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet
200
wird, in dem die Stelle des Unvertrauten und Ungeheuren von Vertrautem und
Gegenwärtigem besetzt und für das Unerklärliche eine Erklärung, für das Namenlose
eine Benennung ge- und versucht wird, wo der Terror des Ausgesetztseins durch
Nachahmung und damit durch spielerische Inszenierung entschärft wird. Dem
Ungegenwärtigen und Unfassbaren wird etwas gegenübergestellt und zum
Gegenstand
der
abwehrenden,
beschwörenden,
erweichenden
oder
depotenzierenden Handlung 201 gemacht, damit ein Umgang mit diesem Anderen
möglich ist. Das hinter dem Horizont liegende Unheimliche und Ungeheure wird
antizipierend wahrgenommen und für wahr genommen; es wird in der mythischen
Erzählung einer Dialyse der Angst 202 unterzogen, vergegenständlicht, namhaft,
ansprechbar und angehbar gemacht. Das Geschehen wird als ein Tun ausgelegt, in
den bild- und sprachlosen Himmel wird ein Tierkreistheater hineinphantasiert. Dass
dieser Versuch, den Horizont abzuschreiten und das Unvertraute durch Namen,
Bilder und Geschichten identifizierbar zu machen, nicht auf jene archaische Situation
beschränkt ist, in der der Mensch als Typus des Fluchttiers 203 auf die Bedingungen
seiner Existenz nur minimalen Einfluss hatte, zeigt sich in den periodisch
wiederkehrenden apokalyptischen Horizontverengungen in Zeiten des Umbruchs,
aber auch in der modernen Science-Fiction-Produktion mitsamt den visionären
Hochrechnungen mit ihren professionell oder gar professoral ausgemalten
Schrecknissen der Gegenwart und erst recht der Zukunft. 204
Welchen Ausgangspunkt man auch immer wählen würde, den frühgeschichtlichen
oder den jeweils als modern datierten, das Erzählen von Geschichten, mit denen das
Benannte durch die Metapher aus seiner Unvertrautheit herausgehoben und
erschlossen wird, hätte immer schon begonnen, der Abbau des Absolutismus der
Wirklichkeit wäre immer schon unternommen, die Arbeit des Mythos und die Arbeit
am Mythos wären im Gang, der Mythos selbst wäre bereits ein Stück qualitätsvoller
Arbeit des Logos und, was die Pointe von Blumenbergs Analyse ist, diese Arbeit
wäre bis heute nicht zu Ende geführt. Demzufolge ist der Mythos nicht einzuordnen
in eine linear verlaufende Entwicklung als Phase des Übergangs von der Magie zum
Logos, auch nicht in eine hierarchische Beziehung der Vorläufigkeit gegenüber der
eine Entsicherung hervor, die nur durch eine Neu-Versicherung kompensiert werden konnte – man
wird letztere zu gegebener Zeit als Kultur bezeichnen“.
199
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Erster Teil, Archaische Gewaltenteilung’, erstes Kapitel
‚Nach dem Absolutismus der Wirklichkeit’
200
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9
201
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 11
202
Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M 1988, S. 166
203
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 11
204
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9
57
Theorie und der Wissenschaft, welche im Rahmen ihrer Problemstellung die
geeigneteren Bewältigungsformen sind. Indem die Ethnologie und Archäologie
ebenso wie die Philosophie und Soziologie den Mythos als ein historisch oder
prähistorisch lokalisierbares Phänomen betrachten und die verschiedenen Formen
der Psychoanalyse für das Verhältnis des Vorzeitigen zum Gleichzeitigen neue
Aspekte eröffnen, bleibt dieser eine ebenso geschlossene wie abgeschlossene
Periode der menschlichen Entwicklung. Mag auch die Faszination durch einen
angenommenen Zusammenhang von historischer Vorwelt und psychischer Unterwelt
zu plausiblen Aussagen führen, solche Vorstellungen erklären nicht, wie
mythologische Gehalte fern von ihrem Ursprung und ihrer genuinen Funktion immer
wieder als Leitfiguren elementarer Selbst- und Weltbestimmung aufgegriffen und
ausgelegt, variiert und umakzentuiert werden konnten. 205
Anstatt das Wesen des Mythos 206 zu bestimmen, plädiert Blumenberg dafür, anhand
der Mythenrezeption und- umarbeitung seine ihm eigene Wirkung zu erfassen und
die Bedingungen zu erkunden für eine Art neue Mythologie, für formale Mythisierung
oder für den nachlebende(n) Mythos inmitten einer nur zum Schein
entmythologisierten Menschheit. 207 In dieser Anforderung kommt gleichzeitig zum
Ausdruck, dass der Mythos sich weder vor noch hinter die philosophische oder
theologische Rede einzuordnen hat, dass er sich vielmehr als Bewältigungspotential
in Gleichzeitigkeit beziehungsweise Konkurrenz mit diesen versteht, als Dichtung,
deren Organ die Imagination ist und die sich nicht auf die Argumentation mit
abstrakten und metaphysischen Begriffen einlässt. 208
Als genetischer Nachfolger des Rituals, welches als Neu-Versicherung in Reaktion
auf die biologische Entsicherung 209 infolge des Biotopwechsels zu denken ist,
unterliegt der Mythos wie auch die ritualisierte Handlung dem Zwang zur
Wiederholung. Da diese ritualisierte Handlung, in der die unmittelbare Präsenz der
dämonischen Mächte zur Abwehr und Beschwörung dargestellt wird, durch
Vergessen oder verblassenden Liturgiezwang 210 an Verbindlichkeit verlieren kann,
hat der Mythos in zyklischer Wiederkehr verständlich zu machen, was immer schon
dargestellt wird. Insofern ist der Mythos als ‚Rezitativ’ der erste Schritt, der, indem er
das ritualisierte Geschehen vergegenwärtigt, über das Ritual hinaus führt und sich
von ihm löst. Die Inhalte der mythischen Bewältigung, welche zugleich eine
‚Beweltigung’ ist, lassen sich naturgemäß ebenso wenig bestimmen wie die
einzelnen Sequenzen der von verschiedenen Anlässen bedingten Rituale.
Blumenberg löst dieses stoffliche Problem, in dem er den Vorschlag macht, die
mythologischen Gehalte als Produkt einer selektiven Rezeption zu betrachten, deren
Auslesekriterium er als Lebenskunst 211 bezeichnet. Gemeint ist damit, dass sich nur
205
Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M 2001, S. 329
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 328 : „…vielleicht ist es für die Konfigurationen, in die
mythologische Elemente je versetzt werden sollen, ganz unergiebig, ob Erfahrungen der Natur oder
der Geschichte, des individuellen Traumes oder der kollektive Rituale, ob astrale oder meteorische
Phänomene in Mythologie eingegangen sind“.
207
Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M 1966, S. 302
208
Leszek Kolakowski, Obecność mitu (1966), dt. Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973 S.
159: „Wenn man somit vom rein spekulativen Charakter der behaupteten Diachronie Magie-ReligionWissenschaft absieht, […] so darf man behaupten, dass diese Doktrin Resultate zeitigt, die für die
empirische Falsifikation geeignet scheinen“.
209
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 187
210
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 357
211
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 13
206
58
solche Geschichten über Jahrtausende hinweg durchsetzen können, die für die Abund Teilnehmer die Chancen des biologischen Überlebens vergrößern und denen
nicht von der Wirklichkeit widersprochen werden konnte. 212 Die erzählte Geschichte
muss sich also in der Deutung der Handlung bewähren, und die Wiederholung hat
die Aufgabe, das Relevante als das Bedeutende zu bestimmen und zu tradieren.
Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben, im harmlosesten, aber nicht
unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht, 213
beziehungsweise den Todesgedanken und die Todesangst, und der erzählerische
Kern der Mythen, die alles andere als heilige unberührbare Texte sind, besteht in
dieser apotropäischen Wirkung. Insofern gleicht der Mythos tatsächlich einem im
Prinzip unabschließbaren und langlebigen Verfahren, nach dessen Regeln Texte
erstellt, bearbeitet und umgearbeitet werden.
Aphrodite entsteht aus dem Schaum der schrecklichen Entmannung des Uranos –
das ist wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos. Dennoch ist seine Arbeit
damit nicht zu Ende: in Botticellis Venus Anadyomene steigt sie auf wie aus dem
Schaum des Meeres, nur noch für den Mythenkundigen aus dem des Sekrets der
schrecklichen Wunde des Uranos, empor. Wenn schließlich am Anfang des 20.
Jahrhunderts der ‚Lebensphilosoph’ nach der mythischen Szene der Anadysis greift,
um an ihr das Urverhältnis von Leben und Gestalt, von Lebensströmungen und Eros
aufgehen zu lassen, dann erhebt sich für ihn die zeitlose Schönheit der Aphrodite nur
noch ‚aus dem vergehenden verwehenden Schaum des bewegten Meeres’ 214 .
Der Hintergrund des Schreckens ist vergessen gemacht, die Ästhetisierung
vollendet. 215
Dass die Karriere des Mythos vom fruchtbaren Schaum, den der philosophierende
Rhapsode Hesiod im 7. Jahrhundert v. Chr. zum erste Mal erzählte, noch lange nicht
beendet ist, belegt der Titel von „Sphären III, Schäume“, des dritten Bands von Peter
Sloterdijks großer Sphären-Trilogie. Dort wird auf 900 in jeder Hinsicht dicht
geschriebenen Seiten die Geschichte der Moderne als schaumförmige Raumbildung
in Form von Metamorphosen eines unerhörte(n) Denkbild(s) von einem Schaum,
dem nicht nur Formkraft zukommt, sondern auch Geburtsfähigkeit und generative
216
Wirksamkeit zu Schönem, Reizvollem, Vollendetem
neu erzählt. Wenn
Blumenberg immer wieder die Rezeption des Mythischen auf den jeweiligen
Kulturstufen nachweist und die hereditäre Hartnäckigkeit seines Mitgehens durch die
Geschichte 217 betont, schreibt er ihm eine Wirkungsgeschichte zu, in der er nicht wie
bei Cassirer eine prälogische Vorläuferfunktion für vermeintlich höhere Denk- und
Ausdrucksformen hat, in denen er aufgehoben und überwunden wäre. Der Mythos ist
für ihn weder eine Vorform der Philosophie beziehungsweise der Theologie noch der
Wissenschaft. Seine Aufgabe und seine Leistung bestehen darin, ein
Bearbeitungspotential zur Selektion von Bedeutungen vor dem Hintergrund des
Beliebigen zur Verfügung zu stellen und die Unendlichkeit des Willkürlichen durch die
Setzung eines überschaubaren Horizonts zu begrenzen. Was für Prometheus
ebenso gilt wie für Odysseus, für das mythische Element des fruchtbaren Schaums
wie für das der Stadtgründung infolge eines Schiffbruchs und gleichzeitig den
212
ebenda
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 40
214
Georg Simmel, Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlass, München 1923, S. 73
215
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 45
216
Peter Sloterdijk, Sphären III, Schäume, S. 41
217
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 68
213
59
Unterschied zur theologischen Rede markiert, lautet in Kurzfassung: Die Geschichte
von Prometheus beantwortet keine Frage über den Menschen, aber sie scheint alle
Fragen zu enthalten, die über ihn gestellt werden können. 218
Während in der Eschatologie, zum Beispiel in der Heilserwartung im Neuen
Testament 219 die Pole der Erlösungsbedürftigkeit und der Heilserfüllung klar definiert
sind und der allein rechte Weg des Heils als ein direkter Weg angezeigt wird, verläuft
die mythische Erzählung zwar auch nach dem narrativen Dreischritt vom Anfang über
ein Hindernis auf ein Ende zu, was ihn aber von der theologischen Rede
unterscheidet, ist seine Umständlichkeit, 220 sein Digressions- und Umwegcharakter,
der Ausschluss jeder orthodoxen Determination und das Vermeiden einer Anfangsund Endbestimmung, die in topographischer Sicht immer die Form der kürzesten
Verbindung zwischen Anfang und Ende anstrebt. 221
Unter den formalen Merkmalen des Mythos nimmt die Figur des runden Umwegs, der
Kreisbahn – der narrative Dreischritt kann als deren Abstraktion betrachtet werden –
eine herausragende Stellung ein. Blumenberg bringt sie in Verbindung mit der
Darstellung einer fraglos gewordenen, ritualisierten Struktur, die den griechischen
Kosmos insgesamt prägt, dessen ‚Ordnung’ so etwas wie ein einziges Zeremoniell
der Wiederholung des Gleichen ist und in dem Kugelform und Kreisbahn aller
Himmelskörper eine ebenso verlässliche wie theoretisch darstellbare Periodik der
Erscheinungen als Inbegriff ihrer Vernunft bürgen. 222 Angesichts der Evidenz dieses
Kosmosgedankens mit seiner zyklischen Wiederholung und der Vereinigung von
Bewegung und Ruhe mag die Neigung aufkommen, ihn selbst für die Präfiguration
des Mythos zu halten, auf den sich die Metamorphosen der Metaphysik und
Theologie berufen und von dem sie ein hohes Maß an Strahlkraft und Plausibilität
beziehen. Doch indem Blumenberg feststellt, dass es sich bei diesem
Kosmosgedanken um eine ‚ritualisierte Struktur’ handelt, die von einer ihr
vorausgehenden Struktur ‚abstrahiert’ worden ist, stellt sich für ihn auch die antike
kosmische Ordnung als eine Mythisierung, als ein Produkt der Arbeit am Mythos, als
ein Rezeptionsereignis heraus, dessen Urbedeutung – nach seiner und vieler
anderer Annahme - in Vergessenheit geraten ist. Wie sehr dieser zyklische
Wirklichkeitsbegriff die Erzählung durchdrungen und weitgehend vereinnahmt hat,
braucht hier im Einzelnen nicht dargestellt werden; mit dem homerischen Odysseus
ist die Trajektorie mit ihrer weit reichenden Fernwirkung vorgezeichnet, so dass eher
die Abweichungen vom Muster der glücklichen Heimkehr nach der abenteuerlichen
Reise eine Notiz verdienen: Dantes Held überschreitet die Grenzen der bekannten
Welt und geht im Ozean zugrunde, und Odysseus-Bloom, schreibt Joyce am 10.
Dezember 1920 an Frank Budgen, schwärmt von Ithaka…und wie er zurückkommt,
macht’ s ihn fertig. 223
Doch gerade auch die Abweichungen, die die Arbeit am Mythos fortsetzen, indem sie
an ihm Kritik üben, können den Blick für die Konstanz des Grundmythos schärfen
218
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 360
Paulus, Röm. 8, 18-19: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten
im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet
sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes“.
220
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 372.
221
Eine prägnante Fassung der Differenzqualität des Mythischen stammt von Jean Paul: „Götter
können spielen; aber Gott ist ernst“. Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 592
222
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 383
223
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 92
219
60
und ihn nicht als Kontext ausweisen, vielmehr als einen Vertrautheitsrahmen,
innerhalb dessen interpoliert wird und der seine Integrationsfähigkeit, seine Leistung
als Muster und Grundriss ausmacht. Wenn auch in der ‚Arbeit am Mythos’ alle
Stellen immer wieder neu besetzt werden können, verläuft diese Stellenbesetzung
nicht chaotisch. Soll eine Erzählung gelingen, das heißt erzählbar, merkwürdig und
interessant sein, müssen gewisse Spielregeln beachtet werden, muss die Geschichte
einer Geschichte, die Erzählung einer Erzählung gleichen, was wiederum heißt:
tendenziell und über den kosmischen Umlaufgedanken hinaus auf die primäre
Operation zurückzugreifen, in der die Domestizierung der Übermacht gelungen war,
auf den ersten Potlatsch, das erste Opfer zur Aufhebung des Absolutismus der
Wirklichkeit, den ersten Tausch, in dem das magische Gebanntsein sich in eine
partnerähnliche Grundfiguration verwandelt hatte. Prometheus darf durch Herakles
von seinen Qualen befreit werden, aber ein anderer muss, wie ungerecht auch
immer, an seine Stelle treten, so als müsste das fixierte Bild einem Urbild
entsprechend gewahrt werden. Die Grundfiguren stehen jenseits von
Zweckmäßigkeit und Zielbezogenheit, sie bedürfen keiner Rechtfertigung. 224 Das
gemachte Bild darf von nun an als Vertreter des Urbilds in menschliche Reichweite
kommen, selbst die Sonne und andere Himmelskörper erweisen sich als
mythisierbar; sie können nicht nur durch eine göttlichen Namengebung ansprechbar
gemacht, sondern im weiteren mythischen Prozess zur goldenen Himmelsscheibe
umgearbeitet und als kultischer Gegenstand im doppelten Sinn in Gebrauch
genommen werden: als Gegenstand des Kults sowie als kultisches Gerät.
Die Frage, warum hinter den mythischen Erzählungen trotz der Klarheit des
Grundrisses der Grundmythos nicht sichtbar ist, kann von Cassirer nicht beantwortet
werden, weil er den Mythos unter dem Aspekt des terminus ad quem betrachtet als
eine Ordnungsform der Erfahrungswelt, die aus geschichtsphilosophischen Gründen
auf die der Wissenschaft und ‚reinen’ Kunst hin tendiert. Blumenberg, der die
Leistungsfähigkeit des Mythos unter dem Aspekt des terminus a quo beschreibt, ist
zwar in der Lage, die Rezeptionenkette zurückzuverfolgen bis an den Punkt, wo er im
Zusammenhang mit mythischen Opfererzählungen feststellt, dass solche Mythen […]
Denkmäler endgültiger Hinterlassenschaft archaischer Rituale 225 sind, doch die
Urbedeutung scheint sich ihm in dem Maß zu entziehen, wie er sich ihr nähert. Indem
Blumenberg die Erfahrung der schlichten Vergesslichkeit als Erklärung für den
flüchtigen Charakter der Urbedeutung und seine Nichtauffindbarkeit heranzieht,
verstärkt er einerseits den Gedanken, dass sich der Mythos immer nur in den
Rezeptionen verwirklicht, andererseits scheint er bei ihm eine Art
Gedächtnisschwäche zu diagnostizieren, die einen seltsamen Kontrast darstellt zu
der immer wieder hervorgehobenen mythischen Ermächtigung. Mit der Feststellung:
Das Vergessen der ‚Urbedeutungen’ ist die Technik der Mythenkonstitution selbst –
und zugleich der Grund dafür, dass Mythologie immer nur als ‚in Rezeption
übergegangen’ angetroffen wird. Die Phänomenologie der Rezeption absorbiert das
greift er in vereinfachter Form eine
vermeintlich in dieser ’Wirkende’, 226
Beobachtung von Jacob Burckhardt auf, der die Schwierigkeiten, die das Verständnis
des Mythos bereitet, auf eine Geisteshaltung der Griechen zurückführt, nämlich dass
224
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 383
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 134
226
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften S. 382
225
61
wir ihn bei einem Volke antreffen, welches die Urbedeutung der Gestalten und
Hergänge offenbar hat vergessen wollen. 227
Für Blumenberg liegt der Grund des Vergessens der Urbedeutung des Mythos in der
Ästhetisierung, die einsetzt, nachdem der Mythos seine apotropäische ‚Arbeit’ getan
hat und von Rezeption zu Rezeption das Konstruktionsprinzip für Metamorphosen
liefert. Ein anderer möglicher Grund wird von ihm angedeutet, aber nicht ausgeführt.
Wenn er davon spricht, dass im Mythos, wie er in den Verwandlungen angetroffen
wird, die Überreste des schrecklichen Grauens nur noch zu dem sprechen, der ihre
Geschichte als Versicherung ihrer Entmachtung kennt und das Vergessen einen
Hintergrund des Schreckens 228 hat, könnte die Unfähigkeit, vom Ungeheuren zu
erzählen, weniger in der Vergesslichkeit der Tradition liegen, als vielmehr darin, dass
das Wissen um die Urbedeutung ein gefährliches Wissen ist, ein Wissen, dessen
Brisanz abgeschirmt und durch Überarbeitung entschärft und zumutbar gemacht
werden muss.
Vergegenwärtigt man sich, dass die mythischen Erzählungen als ‚Denkmäler
endgültiger Hinterlassenschaft archaischer Rituale’ gleichzeitig auch Zeugen des
blutigen Geschehens sind, das sich in der ‚archaischen Gewaltenteilung’ abspielt,
wird nachvollziehbar, dass der Kern des rituellen Geschehens, nämlich der Einsatz
von Opfergewalt zur Abwehr einer größeren Gewalt, die durch Magie nicht zu
bannen ist, in seiner nackten Brutalität nicht aussprechbar ist, jedenfalls nicht durch
die an diesem Geschehen Beteiligten. Als solche haben sie zunächst keine Theorie,
teilen vielmehr eine Erregung. Wären diese in der Lage, eine objektive Auskunft über
die ausgeübte rituelle Gewalt zu geben, so gäbe es beispielsweise Berichte von
aztekischen Autoren über ihre Opferrituale, bei denen massenhaft Menschen getötet
wurden. Wo es diese Opferdarstellungen von aztekischen Autoren tatsächlich gibt,
handelt es sich um Malereien, Skulpturen und Stickereien, die die Ausübung von
abwehrender beziehungsweise beschwörender Gewalt in den sakralen
Zusammenhang stellen, diese Gewalt sakralisieren und damit die erste Mythisierung
vollziehen und den ungeheuren Hintergrund des tatsächlichen Geschehens
unkenntlich machen. Während die spanischen Missionare als externe Beobachter
Zeugen der Opferhysterie werden und voller Entsetzen davon berichten, wie die
Aztekenpriester im Blut der rituellen Massaker waten, zu deren Durchführung
grausame Kriege zur Beschaffung der Opfergefangenen geführt werden müssen, 229
erzählen die aztekischen Mythen diese gewalttätigen Opferhandlungen als
Geschichten, in denen nach der ‚Arbeit’ der mythischen Metamorphosen der
227
Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I, 1 S. 45 zitiert nach Hans Blumenberg,
Ästhetische Schriften, S. 381
228
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 45
229
Bericht des spanischen Missionars Padre Bernardino de Sahagún, in: Georg Baudler, Erlösung
vom Stiergott, S. 97 : „Nachdem man sie (die Gefangenen, d. Verf.) hinaufgebracht hat(auf die
Tempelpyramide, d. Verf.) vor das Angesicht Uitzilopóchtlis, legt man sie, einen nach dem anderen,
auf den Opferstein, übergibt sie den Priestern, sechsen derselben übergibt man sie. Die legen sie mit
der Brust nach oben und schneiden ihnen die Brust auf mit einem dicken Feuersteinmesser. Das Herz
der Gefangenen nennt man Adlerfrucht, den Edelstein. Sie heben es weihend zur Sonne empor, zu
dem Türkisprinzen, dem aufsteigenden Adler, geben es ihr, nähren sie damit. Nachdem es
dargebracht worden ist, legt man es in die Adlerschale nieder. Danach rollt man sie herab, stürzt sie
(die Stufen des Tempels) herab. Sie klappern, kugeln gleich Kürbissen herab, schlagen auf, wälzen
sich um und um, bis sie unten in Apétlac (auf der Vorterrasse) am Fuß der Stufenpyramide
ankommen“.
62
Massenmord zur Götterspeisung wird und heilige Vögel zur Sonne gesandt 230
werden, aus denen im Verlauf der Rezeptionen gefiederte Bälle werden und das
ursprüngliche Massaker zu einem Ballspiel ‚verarbeitet’ wird.
Was sich jedoch in großer Klarheit hinter dem Schleier des Vergessens,
Vergessenwollens und Verdrängens abzeichnet, ist die Begegnung mit dem
Schrecklichen und Überwältigenden, welches abgewehrt werden muss. Die Abwehr
in Konfrontation mit dem übermächtigen Gegenüber ist aussichtslos
beziehungsweise bietet ein Rezept, welches evolutionär sich nicht als leistungsfähig
herausstellt, seine Beschwörung mit dem Zauberspruch bewährt sich nur rein zufällig
und überwindet die Konfrontation nicht. Mit dem Gegenüber ins Benehmen zu
kommen durch Tausch, Opfer und Gebet, 231 ist für beide Seiten verbunden mit einer
gesteigerten Identität; es ist ein der Versuch eines Wandels durch Annäherung. Im
Ritual wird das Benehmen durch Opfer, Tausch und Gebet 232 - als Gesinnungsopfer
zur Anerkennung einer höheren Macht - begangen und institutionalisiert. Das Ritual
als Abwehr des Schrecklichen durch die Gegengabe bietet zwei verschiedene
Anschlüsse. Der eine Ausgang geht den Weg der Theologisierung 233 und
Dogmatisierung und errichtet mit dem Verbot des Dekalogs, 234 den Gottesnamen
unnütz zu gebrauchen und von Gott als von einem affektverhafteten Wesen mit
geschichtlichem Anfang und Ende zu sprechen, eine strikte Gegenposition zur
mythologischen Poesie mit ihren Umbesetzungen und phantastischen Geschichten.
Der andere Ausgang spricht vom Schrecklichen als von dem, was vergessen werden
darf, von dem, was man hinter sich hat, von den traumatischen Ängsten und
Drohungen, die man abgestreift hat, vom Aufatmen des Überstandenhabens 235 auch
im Sinne der aristotelischen Katharsis. Nicht von ungefähr geht Mythologie in
Dichtung über 236 und eröffnet eine Tradition, die gleichzeitig auf Variation und die
dadurch explizit gemachte Invarianz des Ausgangsbestands setzt, die davon lebt,
dass wie in der Musik das Thema in unabschließbarer Variation bis an die Grenze
230
Vgl. C. A. Burland, Peoples of the Sun. The Civilization of Pre-Columbian America (1967), dt.
Völker der Sonne. Azteken, Tolteken, Inka und Maya, Bergisch Gladbach 1977, S. 70: „Belege für die
Opferung von Herzen gibt es genügend auf den Malereien und in wenigstens einem Fall auch in Form
einer Plastik. Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Opfer, die man mit großem Zeremoniell in den
Himmel schickte, wichtige Kriegsgefangene waren“. Dazu S. 69 die Abbildung einer Steinstele, „die
einen Ballspieler zeigt, der die Sonne grüßt“.
231
Reinhold Schneiders Sonett „Allein den Betern“ (1939) in: ders. Dreißig Sonette, Privatdruck, Halle
1941, kann als Anleitung zur ‚archaischen Gewaltenteilung’ gelesen werden, wonach der
heilsökonomische Leistungsaustausch, nicht aber prometheische Selbstermächtigung zum Erfolg
führen. „Allein den Betern kann es noch gelingen, / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten /
Und diese Welt den richtenden Gewalten / Durch ein geheiligt Leben abzuringen. // Denn Täter
werden nie den Himmel zwingen: / Was sie vereinen, wird sich wieder spalten, / Was sie erneuern,
Über Nacht veralten, / und was sie stiften, Not und Unheil bringen. // Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil
verbirgt, / Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert, / Indes im Dom die Beter sich verhüllen. //
Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt / Und in den Tiefen, die kein Aug verschleiert, / Die trocknen
Brunnen sich mit Leben füllen“.
232
Vgl. Charles Baudelaire, Œuvres complètes Bd. II, Paris 1961, S. 1256 : « Le sacrifice et le vœu
sont les formules suprêmes et les symboles de l´échange ».
233
Gen. 8, 20-21 erzählt die erste Gegengabe nach überstandener Katastrophe: „Dann baute Noach
dem Herrn einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf
dem Altar Brandopfer dar. Der Herr roch den beruhigenden Duft, und der Herr sprach bei sich: Ich will
die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist
böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe“.
234
Ex. 20, 7: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt
den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“.
235
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften, S. 335
236
Hans Blumenberg, ebenda
63
seiner Kenntlichkeit abgewandelt werden kann. Die Grundverfassung dieser Tradition
der Freiheit und Gebundenheit ist die einer kanonisierten Lizenz, 237 was bedeutet,
dass der Mythos ein Muster ist, auf dem und mit dem man frei ausschreiten kann,
weil es alte Gefährdungen und Drohungen als das, was man getrost vergessen kann,
nur noch wie ferne Vermutungen anklingen lässt. Obwohl der Mythos die Erinnerung
an den Schrecken der rituellen Abwehr des Ungeheuren bewahrt, existiert er
ausschließlich in jeweils neu kombinierten narrativen Lösungen. Seine Varianten sind
Kopien von Kopien, aber nie Kopien einer Originalvorlage. Es gibt keinen Urmythos,
der ontologisch gegenüber allen anderen privilegiert wäre, sondern nur die je neue
Kombination des überlieferten Materials. Sollte ein erster Mythos existieren oder
jemals existiert haben, wäre dieser bereits das Produkt der Mythisierung eines
Sachverhalts, und auch seine Deutung eine mythologische Aussage.
Der Mythos erzählt die Abwehr des Schrecklichen durch die Gegengabe, behält sie
als Verfahren eines kultischen Kommerz für alle kommenden Fälle in Erinnerung und
organisiert den Übergang von der rituellen zur textuellen Kohärenz. Fraglos scheint,
dass der mythologische Bedarf als Mittel zur Bestimmung des Unbestimmten und als
Zelebration des Sinnlosen als Sinn 238 auch in Gegenwart und Zukunft vorhanden
und zu befriedigen ist. Ob und in welchem Umfang die literarische Erzählung sich
dieser Aufgabe annimmt, ist daran zu messen, inwieweit der Mythos aus der
Auslegung des Rituals und damit als Resonanz auf das blutige Geschehen ausbricht
und seine poetische Freiheit endgültig erringt. Nicht zu übersehen ist, dass das
mythische Verfahren in der Massenkultur, der Unterhaltungsindustrie einschließlich
des Sports und überall, wo soziale Dramen inszeniert werden, zur Anwendung
kommt, dass seine Morphologie mit deren Morphologie Entsprechungen aufweist.
Wenn Adorno von einem ‚nachlebenden Mythos inmitten einer nur zum Schein
entmythologisierten Menschheit’ spricht, scheint die ‚Arbeit am Mythos’ nicht zu Ende
gekommen zu sein, und es liegt nahe, eine Latenz des Mythos zu vermuten in der
Weise, wie Freud die traumatischen Früherlebnisse der Kindheit als latent vorhanden
und prägend für das individuelle Leben beschrieb. 239 Zu klären ist, welchen Beitrag
zur Weiterarbeit am Mythos beziehungsweise zu seiner Beendigung gegebenenfalls
die Literatur insbesondere mit dem Roman, der modernen bürgerlichen Epopöe 240
als der Gattung des sich als aufgeklärt das heißt weitgehend mythenfreien Zeitalters
zu leisten vermag.
In seinem engagierten Plädoyer für die Autonomie des Romans des 19.
Jahrhunderts wehrt Malraux 241 jede erzählerische Fremdbestimmung ab. Wie der
Maler, so entdeckt nun auch der Schriftsteller das künstlerische Schaffen als eine
Schöpfung ohne vorgegebenen Konstruktionsplan. Il n´ y a pas de partition, 242
lautet die Parole, und in der Erzählung geht es weder um eine Übertragung des
Wirklichen ins Fiktive noch um dessen Nachahmung. Was der Schriftsteller anstrebt,
237
Hans Blumenberg, Ästhetische Schriften S. 337
Th. W.Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, 1. Aufl. Frankfurt/M 2003, S. 122
239
Vgl. Mircea Eliade, Traité d´histoire des religions (1964), Paris 1974, S. 361 – 362 : « Le mythe
peut se dégrader en légende épique, en ballade ou en roman, ou encore survivre sous la forme
amoindrie de ‘superstitions’, d´habitudes, de nostalgies, etc.; il ne perd pas pour cela sa structure ni sa
portée. [...] Mais les modèles transmis du plus lointain passé ne disparaissent pas ; ils ne perdent pas
leur pouvoir de réactualisation. Ils restent ‘valables’ pour la conscience moderne ».
240
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835 – 1838), 2.- 4. Aufl. Bd. 2, Franfurt/M 1995,
S. 392
241
André Malraux, L´Homme précaire et la littérature, Paris 1977
242
André Malraux, L´Homme précaire, S. 148
238
64
ist die Vervollständigung der Bibliothek um seinen eigenen Beitrag, die Antwort, die
sein Buch auf die bereits geschriebenen Bücher gibt. Die bereits geschriebenen
Bücher bilden eine Art Museum, in dem noch ein Stellplatz frei ist und besetzt
werden will, und das Motiv zum Schreiben entsteht nicht aus der Erfahrung des
Autors mit seiner Umwelt, sondern aus seinem Kontakt mit der Welt der Bücher. Der
Künstler kann nicht anders, als seinem quasi natürlichen Schöpfungsdrang 243 zu
folgen. Mit der Feststellung jedoch, dass die Person Napoleons 244 in obsessiver
Weise die Romanproduktion des 19. Jahrhunderts bestimmt, relativiert Malraux nicht
nur den Verzicht auf Nachahmung und auf ideologische Vorgaben und stellt seine
eigene Forderung nach einem ‚Musizieren ohne Notenblatt’ in Frage. Indem er
sowohl
das
napoleonische
Grundmuster
zu
einem
Verfahren
der
Wirklichkeitsbewältigung erhebt und zum Ausdruck bringt, dass im Sinne von LéviStrauss der Mythos auf seiner kulturgeschichtlichen Wanderung im Roman
angekommen ist 245 und vor allem indem er lesend und dialogisierend durch das
‚imaginäre Museum’ der Bücher geht, reiht er sich ein in die Tradition der ‚Arbeit am
Mythos’ und widerlegt die Auffassung von der Voraussetzungslosigkeit des
künstlerischen Schaffens. In dem Kapitel Prometheus wird Napoleon, Napoleon wird
Prometheus 246 zitiert Blumenberg die Bemerkung Nietzsches, 247 Goethe habe sich
in seinem Schaffen weder durch die Freiheitskriege noch die Französische
Revolution beeindrucken lassen. Das Ereignis, um dessentwillen er seinen Faust, ja
das ganze Problem ‚Mensch’ umgedacht habe, sei das Erscheinen Napoleons
gewesen, den er am 1. Oktober 1808 in Erfurt trifft in einer prometheischen
Begegnung, 248 in der Goethe den Selbstvergleich mit Napoleon anstellt, weil es für
ihn darum geht, dem Auge des siegreichen Eroberers, der auf allen seinen
Feldzügen den Werther im Marschgepäck hat, standzuhalten. Blumenberg deutet die
von Goethe notierte Szene: Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er:
Vous êtes un homme. Ich verbeuge mich… als die Anweisung für eine Liturgie der
Initiation, 249 die Aufnahme in den Kreis der Großen dieser Welt. Somit wären
prominente Autoren, die auf die Freiheit ihres literarisches Unternehmertum pochen,
identifiziert als im Projekt des Mythos Beschäftigte, die in doppelter Hinsicht seinem
Werk verpflichtet sind: Sie treiben erfolgreich seine Metamorphosen voran und
beteiligen sich, ohne es zu wissen, an seiner Vergessens- und Verbergensleistung.
Um im Bild der Aphrodite zu bleiben: Sie produzieren die wunderbarsten Schäume
und kaschieren und verschweigen eo ipso die schreckliche Wunde des UranosOpfers.
243
André Malraux, L´Homme précaire, S. 202 : « L´appel à la création, que le Musée Imaginaire
ressasse irréfutablement, existe à l´égal du besoin religieux de communion – à l´égal du sentiment
maternel peut-être ».
244
André Malraux, L´Homme précaire, S. 107 : « Son obsession (de Balzac, d. Verf. ) de Napoléon va
plus loin qu´il ne croit, parce que ses personnages sont ordonnés par la passion qui règne sur toutes
les autres: l´ambition. Ressentir comme un monde d´ambition ce qui allait devenir le siècle de
l´individualisme, était lui donner son âme plus sûrement qu´en s´exténuant à suivre un plan de
Danaïdes; et d´autant mieux que le personnage qui nourrira de façon proclamée ou secrète
l´individualisme, depuis Stendhal jusqu´à Dostoëvski, est précisément Bonaparte ».
245
André Malraux, L´Homme précaire, S. 92 : « Le grand Jeu de l´homme et de l´imaginaire qui s´
était joué au théâtre, en peinture et à l´ église, se joue donc dans le roman [...] Il n´a ni modèles ni
passé. Ni conflits de doctrine ».
246
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 504 - 566
247
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 504
248
Goethes Motto zum vierten Teil von Dichtung und Wahrheit lautet „Nemo contra deum nisi deus.“
Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 570
249
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 510
65
8. Zusammenfassung
Dass der kultische Vorgang der Initiation, in welcher der Initiand nach schmerzhaften
Prüfungen und Kontakt mit der Tötungsgewalt schließlich in die Gemeinschaft
integriert wird, als Anfang der Erzählung gedacht wird, wird von Propp in der
morphologischen Resistenz der Funktionen des Märchens und darüber hinaus der
erzählenden Literatur ausgeführt. Burkert wendet die Proppsche Funktionentheorie
auf die antike Mythologie an und findet sie dort bestätigt, verlegt jedoch den
Ursprung der Erzählung von der kultischen Initiation in die biologisch programmierte
gemeinschaftliche Nahrungssuche, deren Sequenzen im Opferritual eingespielt und
gefestigt werden und über die mythologische Tradition bis zur zeitgenössischen
Roman- und Filmproduktion gelangen. Die ethnologische Beobachtung von LéviStrauss ersetzt die historische Analyse durch eine genetische und bemüht sich um
den Nachweis, dass es soziale Prozesse sind, die die narrative Technik bestimmen.
Gleichwohl beschreibt Lévi-Strauss vor einem historischen Horizont eine
Wanderungsbewegung des Mythos durch verschiedene Darstellungsformen
hindurch: durch die Religion, die Musik, das Drama, den Roman. Da es soziale
Konflikte sind, bei deren Bewältigung kulturelle Darstellungsformen entstehen, ist das
Stadium der mythischen Erzählungen keine geschichtliche Epoche, die sich bei
primitiven Kulturen verorten oder ethnographisch rekonstruieren lässt, vielmehr ein
bei der je aktuellen Verarbeitung der Konflikte mitlaufendes Phänomen. Diese
Bestimmung der kulturellen Darstellungsformen, insbesondere der Erzählung als
Korrelat gesellschaftlicher Prozesse wird von Turner weiter verdichtet, indem er mit
dem Begriff der Liminalität eine plausible Erklärung für die Situation liefert, in der
Bewältigungsmechanismen in Gang kommen, und mit dem sozialen Drama eine
Verlaufsform entwirft, die mit der dreischrittigen aristotelischen Grundform, die sich
bereits bei Propp und Burkert abzeichnet, zur Deckung gebracht werden kann. In der
systemtheoretischen Betrachtung von Luhmann wird zwar konzediert, dass die
Erzählung vom Ritus und dem Mythos abstammt, jedoch wird nach der Ablösung der
segmentären und stratifizierten durch die funktional differenzierte Gesellschaft jede
externe Rückbindung beziehungsweise metaphysische Einbettung der Literatur für
unmöglich gehalten. Doch bei der Untersuchung der Selektionskriterien, die bei der
literarischen Produktion und Rezeption, insbesondere bei der Codierung von
schön/hässlich und besonders von unterhaltsam/langweilig, maßgeblich sind, können
unübersehbare Anklänge an die erzählerischen Tiefenstrukturen und ihre
kognitionspsychologischen Entsprechungen wahrgenommen werden, wie sie in den
vorausgehenden Stationen aufgezeigt wurden. Wie Cassirer lässt auch Blumenberg
die mythische Erzählung aus dem Kult hervorgehen, behandelt sie jedoch nicht als
evolutionäre Passage vom Mythos zum Logos. Während Cassirer im opferbasierten
Umgang mit dem Übermächtigen – der von Marcel Mauss reflektierte Potlatsch
verlängert die Reichweite ins Soziologische - und nach der Herausbildung der
menschlichen und göttlichen Identität den Mythos übergehen und sich aufheben lässt
in den religiösen, den philosophisch-wissenschaftlichen und schließlich den rein
ästhetischen Formen, ersetzt Blumenberg die These von der Auflösung des Mythos
durch die Annahme, dass dieser seine apotropäische Funktion in jedem
Ausgangszustand beibehält, sei es beim stammesgeschichtlichen Übergang aus
dem Urwald auf die Savanne, sei es beim Überschreiten der Schwelle zur Zukunft.
Da die Urbedeutung des Mythos nicht in einem konkreten Ereignis angetroffen wird –
dieses wird vergessen oder verdrängt -, sondern immer nur in der Erinnerung an ein
offensichtlich unsagbares Geschehen, manifestiert sich der Mythos in künstlerischen
66
Rezeptionen und Interpolationen, die seinen Bedeutungskern enthalten, aber ihn
nicht enthüllen. Als so geartetes, Form gebendes Prinzip verrichtet der Mythos seine
Arbeit und kommt an kein Ende. Als ein solches erscheint der Mythos auch in der
Beschreibung, die Aristoteles von der Dramen- und Epenproduktion seiner Zeit gibt.
Auch wenn seine Poetik das erste systematische Nachdenken über das literarische
Schaffen und Wirken darstellt, die Geschichten, in denen sich für ihn die
Zusammenhänge zwischen Handlungs- und Erzählstrukturen manifestieren, haben
bereits eine lange Zeit der Selektion und Bewährung hinter sich, so dass neben den
antiken Dramen, welche eine Fülle an mythologischem Material verarbeiten und das
‚Imaginarium’ der westlichen Kultur begründen, auch die Poetik eine ‚Arbeit am
Mythos’ ist, welcher die Arbeit der ‚archaischen Gewaltenteilung’ voraus geht, die
den ‚Absolutismus der Wirklichkeit’ durchbrochen hat.
Dass der Mythos, indem er die Bewältigung einer sozialen Krise darstellt, auf ein
dahinter liegendes und ihn fundierendes Geschehen verweist, welches als
ursprünglich tatsächliches Ereignis zu einem geregelten Ritual geworden war, ist
argumentativ kaum fassbar. Dies schließt nicht aus, dass in einer spekulativen
Wendung in Form einer Rückspiegelung eine intuitive Anschauung von dem
unsagbaren Geschehen gewonnen werden kann, welche ihn strukturiert und ihn als
vielseitig einsetzbares Verfahren zur Krisenbewältigung qualifiziert. Auf dem langen
Weg der Rezeptionen, in denen die Akteure, die Anlässe, die Orte durch den
jeweiligen Erzähler in das Grundmuster interpoliert und umbesetzt werden können,
entstehen Beispiele, in denen sich der Mythos erfahren lässt. Besonders einprägsam
sind die Erzählungen, die als griechische Sagen nicht nur das Phantasie-Repertoire
der westlichen Literatur darstellen, sondern unter der fabulären Oberfläche die
Qualitäten des Mythos weiterreichen, die dazu legitimieren, die Werke der
künstlerischen Einbildungskraft als seine Verlängerung zu sehen. 250
Die
dichterische Freiheit und ‚Lust zu fabulieren’, auch die von Malraux reklamierte
Autonomie des Romans als nouvelle incarnation de l´imaginaire, 251 wären dann
eine Komposition mit mythisch gestimmten Instrumenten, eine Texterstellung mit
Hilfe einer Tastatur aus mythischen Typographen.
Gustav Schwab gehört als Philologe nicht zu denen, die in dieser Weise am Mythos
arbeiten. Er dient dem Mythos als Sammler, Archivar und Restaurator, auch da, wo
er eine Episode aus den trojanischen Sagen nacherzählt, deren Phasierung in
Anfang, Mitte und Ende klar konturiert ist und in der die Austauschbarkeit der
umstandhaften Elemente erkennbar ist. Dort wird erzählt, wie der Kriegszug der
Griechen gegen das feindliche Troja zu scheitern droht und der Seher Kalchas per
Götterspruch dem König Agamemnon zur Bewältigung der Krise das bewährte
Potlatsch-Verfahren in Gestalt der Opferung seiner Tochter Iphigenia nahelegt,
welches dann durch seine heilsame Wirkung das ‚soziale Drama’ auch zu einem
guten Ende bringt und die vom Auseinanderbrechen bedrohte soziale und
militärische Ordnung der Griechen wieder zusammenfügt.
[…] „Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich (König Agamemnon, d. Verf.) das
Schreckliche aus, aber ich muss es vollziehen. Ihr seht ja, welch ein Schiffsheer mich
umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer uns umstehen. Sie alle finden die Fahrt
nach Troja nicht. Troja würde nicht erobert, wenn ich dich nicht opferte, Kind, so sagt
Kalchas der Seher. Die Helden wollen den Entführungen griechischer Frauen ein Ziel
250
251
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 8
André Malraux, L´Homme précaire, S. 89
67
stecken. Sie sind fest entschlossen. Bekämpfte ich den Götterspruch, so mordeten
sie euch und mich.“
[…] „Ich (Iphigenia, d. Verf.) habe beschlossen, zu sterben: ich verbanne jede
niedrige Regung aus meiner Brust und will das Geschick vollenden. Auf mir ruht jetzt
das Auge Griechenlands, auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Trojas, auf mir die
Ehre der griechischen Frauen. Alles dies werde ich mit meinem Tod schirmen. Mit
Ruhm wird sich mein Name bedecken. Soll ich, die Sterbliche, der Göttin Artemis in
den Weg treten, weil es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu verlangen? Nein,
ich gebe es willig dahin; opfert mich, zerstöret Troja, das wird mein Denkmal sein und
mein Hochzeitsfest.“
[…] Währenddessen sammelte sich die griechische Heeresmacht in dem
blumenreichen Haine der Göttin Artemis vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet,
neben ihm stand der Seher und Priester Kalchas. Mitleid ergriff die Männer, als sie
Iphigenia, von ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf
Agamemnon zuwandeln sahen. Die Tochter aber stellte sich ihm zur Seite. „Lieber
Vater, hier bin ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der
Spruch so verlangt. Mich freut es, wenn ihr glücklich seid und im Sieg zur Heimat
kehrt. Berühre mich auch darum keiner; mutig und still will ich den Nacken dem
Opferstahl bieten.“
[…] Achill trat in voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte vor den
Opfertisch, Iphigenia zu verteidigen; aber ihr Blick verwandelte seinen Entschluss. Er
warf die Klinge auf die Erde, besprengte den Altar mit Weihwasser und sprach: „O
hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige Opfer gnädig an, das Blut der Jungfrau,
das Agamemnon und Griechenlands Volk dir weihen! Schenke unseren Schiffen
glückliche Fahrt und Trojas Sturz unseren Speeren.“
Die Atriden und das ganze Heer starrten zur Erde. Der Priester Kalchas nahm seinen
Stahl und betete. Dann hörte man den Fall seines Schlages. Aber, o Wunder, im
gleichen Atemzug war die Jungfrau aus den Blicken des Heeres entschwunden.
Artemis hatte sich ihrer erbarmt, eine Hindin von hohem Wuchs lag auf dem Boden
und besprengte mit ihrem Blute den Altar. „Ihr Führer des vereinten Griechenheeres“,
rief Kalchas, nachdem er sich von seinem freudigen Staunen erholt hatte, „sehet hier
das Opfer von der Göttin Artemis gesandt, das ihr willkommener ist als das der
Jungfrau! Die Himmlische ist versöhnt, sie gibt unseren Schiffen frohe Fahrt und
verspricht uns die Stürmung Trojas. Seid guten Mutes, ihr Seegenossen, noch an
diesem Tage verlassen wir die Bucht von Aulis!“
So sprach er und sah zu, wie das Opfertier allmählich vom Feuer verkohlt ward. Als
der letzte Funke erloschen war, unterbrach ein sausender Wind die Stille der Luft, die
Blicke der Männer kehrten sich dem Hafen zu. Ihre Schiffe schwankten auf
bewegtem Meere. 252
Wenngleich er die Möglichkeit einräumt, dass es kulturelle Emanzipationsprozesse
gibt, in denen die Objekte und Verhaltensweisen, die anfänglich einen instrumentalen
Sinn besaßen, einen eigenständigen Sinn gewinnen und nicht mehr an ihre
Genealogie gebunden sind, verzichtet Leszek Kolakowski auf die historische
252
Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838 - 1840), 9. Aufl. Bayreuth
1986, S. 211 - 212
68
Betrachtung des Mythos, da wir die unbedingten Anfänge der Mythologien nicht
kennen, genauso wenig wie wir die unbedingte Ausgangsphase einer beliebigen
Kulturform kaum noch jemals kennen werden: des Ritus, der Sprache, der Kunst, des
Eigentums, des Rechts. 253 Anstatt den Mythos historisch zu betrachten und ihn als
Übergangsphänomen zwischen vorausgehenden und nachfolgenden gesellschaftlich
tradierten und individuell angeeigneten Ausdrucksformen zu verorten, setzt Leszek
Kolakowski auf dessen radikale Gegenwärtigkeit und weist ihm als
Bewusstseinszustand, als Energiequelle und als spezifische Existenzordnung einen
eigenen Seinsstatus zu, der abzugrenzen ist vom Seinsstatus der alltäglichen,
gewöhnlichen und phänomenalen Erfahrungen. Diese Abgrenzung erfolgt aus dem
Bedürfnis, die leidvolle Gleichgültigkeit der Welt zu überwinden, den Mangel der
biologischen Unangepasstheit zu kompensieren und gegen die aus der
Unangepasstheit resultierende Verzweiflung anzukämpfen in Form einer Invention,
die weder mit den körperlichen noch mit den intellektuellen Werkzeugen geleistet
werden kann, mit denen der Mensch ausgestattet ist. Diese Invention ereignet sich in
einer Situation, 254 in der das menschliche Denken und Verlangen nicht mit
Information befriedigt werden kann, vielmehr sich auf eine unbedingte Ordnung zu
beziehen versucht, auf welche es nicht sein Erkennen, sondern sein Verstehen
bezieht. Obwohl diese beiden Ordnungen scheinbar getrennt und autark sind, kann
es weder der empirischen Wirklichkeit gelingen, die Zufälligkeit der Erfahrung, die
Zufälligkeit der Welt im Wort zu überschreiten, 255 noch vermag die mythische
Intuition zu entscheiden, dass sie einen wahrhaftigeren Zugang zur Realität besitzt.
Indem Kolakowski in einer wahrhaft Kantschen Wende sowohl den Sitz des
mythologisch-symbolischen als auch des technologisch-kognitiven Bewusstseins in
jedem von uns gegenwärtig 256 sieht, subjektiviert er nicht nur die Fähigkeit, mit dem
gewöhnlichen Bestand der Sprache unsere Erfahrungen zu organisieren, sondern
sieht auch in der jeweils eigenen mythischen Energie und Sprache das
apotropäische
Organ
der
Kontingenzbewältigung.
Wie
die
rationalen
Denkbewegungen und Denkergebnisse gehört auch das Repertoire mythischer
Bilder und Anschauungen zur menschlichen Orientierung und Weltbildung. Dass die
beiden Ordnungen sich nicht harmonisieren lassen, zu keiner Synthese fähig und
ewig zerstritten 257 sind, ist für ihn kein Anlass zur Resignation. Im Gegenteil: Die
Gegnerschaft zwischen Mythos und kritischem Rationalismus im Streit um die
authentische Wirklichkeit ist der unverzichtbare Antrieb des kulturellen Prozesses,
der davon lebt, dass die Synthese ausbleibt und dass es keiner der beiden Seiten
gelingt, sie in ihrem Namen und in ihrer Sprache zu definieren. Beide Gefahren gilt
es im Durchlaufen dieser Situation zu erkennen: die Gefahr der natürlichen
Eroberungslust des Mythos 258 mit der Folge der drohenden Remythisierung und
Hierokratisierung der Realität und andererseits die Gefahr, das mythische
Bewusstsein auszuschalten und den mythisch fundierten Werthintergrund als festen
253
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 155
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 148: „… die bloße Gegenwärtigkeit des spezifisch
menschlichen Bewusstseins schafft eine untilgbare mythogene Situation in der Kultur, wobei sowohl
die bindungsstiftende Rolle des Mythos im sozialen Leben wie seine Integrationsfunktionen im
Organisierungsprozess des Einzelbewusstseins unersetzbar scheinen, insbesondere aber nicht
austauschbar gegen Überzeugungen, die von den Kriterien der wissenschaftlichen Erkenntnis
geregelt werden“.
255
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 164
256
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 168
257
ebenda
258
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 156
254
69
Bestandteil der menschlichen Kommunikation mit der Natur oder mit anderen
Menschen durch die bloße Gegebenheit des Faktischen zu ersetzen.
Da der Mythos aber nur in der Intuition und Imagination erfahrbar ist und die
Teilnahme am Mythos eine ewige Herausforderung der Vernunft darstellt, ist es nicht
möglich, den Inhalt des mythischen Bewusstseins argumentativ zu erfassen, und
dies trotz oder gerade wegen des nicht isolierbaren Anteils, den die mythologische
Energie an allem hat, was Bestandteil der spezifisch menschlichen Praxis ist, der
technologischen, sozialen, intellektuellen, künstlerischen und sexuellen Praxis, 259 wo
über alles Faktische hinaus eine mythische Option zum Tragen kommt: etwa im
Willen zur Domestizierung der Natur durch die Technologie, in der Suche nach der
bergenden Integration durch den sozialen Körper im Sozialvertrag, im Verlass auf die
Rechtsbindung im Recht, im Glauben an die Strahlkraft der Vernunft in der Logik, in
der Erwartung, der gleichgültigen Wirklichkeit im schöpferischen Akt die Stirn zu
bieten, in der Kunst, nicht zuletzt in dem Traum, in der sexuellen Begegnung sich an
den Androgynen-Mythos von der vollkommenen Vereinigung anzuschließen und das
Versprechen der heilbaren Separation einzulösen.
III. René Girard: Mythos und Anti-Mythos
1. Einführung und Werkübersicht
Dass es dennoch möglich sei, nicht nur um das Zentrum der mythischen Intuition zu
kreisen und deren energetische Manifestationen zu identifizieren und zu legitimieren,
sondern in den Inhalt des mythischen Bewusstseins einzudringen und es selbst
bloßzulegen und zur Sprache zu bringen, also tatsächlich eine Synthese auf
rationaler Basis zu erstellen und den Mythos zu entmythisieren, dies und nichts
Geringeres ist das Anliegen von René Girard. Die genetisch und wohl auch
chronologisch dem Mythos vorausgehende und das Opferritual in der Abfolge von
Krise, dosierter Gewalt und Wiederherstellung bestimmende Handlungsstruktur, von
Blumenberg prägnant als apotropäisch bezeichnet, die als ‚kanonische Lizenz’ der
Erzählung zur Verfügung steht und die Voraussetzung für eine gelungene
Geschichte ist, deren Gelingen darin begründet ist, dass sie plausibel, gefällig,
unterhaltsam sowie merkfähig und merkwürdig ist, auch darin, dass sie dem
Interesse des Hörers/Lesers entgegenkommt, dass sie aus erwartbaren Sequenzen
besteht, die das Behalten und Weitererzählen und das Inszenieren auf der inneren
Bühne
der
Einbildungskraft
gewährleisten
und
für
einen
hohen
Wiedererkennungswert als dreischrittige Suche bürgen, diese Handlungsstruktur und
deren Spiegelung in der mythosförmigen Erzählstruktur wird von Girard an den von
ihm ausgewählten Texten und Materialien nachgezeichnet. Er kommt dabei zu einem
Ergebnis, welches die apotropäische Leistung der Such-Geschichten zwar bestätigt,
gerade aber in deren Prestige und Erfolg gleichzeitig ein weit reichendes Verhängnis
sieht, dessen Aus- und Fernwirkungen geradezu apokalyptische Formen annehmen.
Die ‚Arbeit am Mythos’, seine legislative Gewalt, seine Verfahrensweise, seine
Bewältigungsstrategie, welche eine Strategie zur Schreckensabwehr und
259
Leszek Kolakowski, Gegenwärtigkeit/Mythos, S. 163
70
Entängstigung, zur Überwindung von Liminalität, Inferiorität und Bedrohung ist, wird
von Girard mit gewollt biblischer Resonanz als Pfad der Vorzeit 260 bezeichnet, womit
er eine Methode meint, die unter dem Druck einer mythischen Korrektheit seit
Menschengedenken zur Abwehr von bedrohlicher Gewalt und zur Bereinigung von
krisenhaften Zuständen auf den Einsatz sakraler Gewalt baut und damit den
Teufelskreis der Gewalt perpetuiert, einen Teufelskreis, in dem angesichts der im
Laufe der Moderne gesteigerten Zerstörungsenergien jeder weitere Opfergang im
globalen Maßstab sich zur Menschheitsvernichtung, im lokalen Erlebnisraum zur
terroristischen Latenz ausweiten kann. Zeigte sich in den vorausgehenden
Betrachtungen der Mythos weitgehend unempfänglich für destruktive Argumente,
denunziert Girard die Komplizenschaft des Mythos mit dem gewaltsamen Verfahren
der Friedens-, Ordnungs- und Kulturstiftung, probt den Zusammenstoß zwischen
Mythos und Mythos-Erkenntnis und geht über dessen Deutung als religiöse,
soziologische oder biologische Projektion hinaus.
Zur Untersuchung von Handlungsstrukturen, die einen soziodramatischen Verlauf
und dessen post-rituelle, literarische Fixierung in Gang und ins Werk setzen, benötigt
Girard weder die rekonstruierten Inszenierungen einer Initiation oder jägerischen
Befehls- und Erzählkette von Propp und Burkert, noch die stammes- und
kulturgeschichtlich begründeten Ausgangszustände von Cassirer und Blumenberg,
auch nicht die Abstraktion einer Liminalität von Turner oder die rituelle Reduzierung
von Lévi-Strauss oder Mauss. Den Ausgangspunkt seiner ‚Sequenz’ und den
Erklärungsansatz für seine umfassende Kultur- und Literaturtheorie bildet die bereits
von Aristoteles formulierte anthropologische Gegebenheit der Nachahmung, 261
deren positive Funktion als Lernmotiv wohl beachtet aber gleichzeitig stark relativiert
wird durch das konfliktive Potenzial, das sie mit sich führt.
1923 in Avignon geboren, absolviert René Girard nach dem Besuch des dortigen
Lycée Mistral die Ausbildung zum Archiviste-Paléographe an der Ecole des Chartes
in Paris, die er 1947 abschließt mit einer Diplomarbeit über La vie privée à Avignon
dans la seconde moitié du XVe siècle. Im selben Jahr arbeitet er mit an der
Organisation einer Ausstellung mit Werken von Braque, Chagall, Gris, Picasso,
Mondrian, Léger und Matisse im Palais des Papes in Avignon, wo sein Vater als
chartiste tätig ist und 1949 mit der Leitungsaufgabe eines conservateur betraut wird.
Als sich die Gelegenheit bietet, der ungeliebten archivarischen Tätigkeit 262 an der
Ecole des Chartes zu entkommen, bewirbt er sich 1947 mit Erfolg um eine Stelle als
Lehrer für Französische Literatur und Geschichte an der Indiana University in
Bloomington (Indiana), von wo aus er 1952 an die Duke University nach North
Carolina wechselt. Dort erwirbt er 1953 er mit der Arbeit American Opinion of France,
1940-1943 ein Doktorat in Geschichte, wendet sich aber als Autodidakt der Literatur
zu und tritt unter dem publish or perish-Diktat der amerikanischen Hochschulkarriere
260
René Girard, La route antique des hommes pervers, Paris 1985, S. 26 : « Veux-tu donc suivre la
route antique / que foulèrent les hommes pervers ? / Ils furent enlevés avant le temps / et un fleuve
noya leurs fondations. / Car ils disaient à Dieu: ‘Reste loin de nous’ ! ». (Job 22, 15-17)
261
Aristoteles, Poetik, Kap. 4, S. 44: „Denn sowohl das Nachahmen (mímesthai) selbst ist den
Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von
den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten
Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude (chairein), die jedermann an
Nachahmungen hat“.
262
« Entretien avec René Girard », in: François Lagarde, René Girard ou la christianisation des
sciences humaines, New York 1994, S. 190 : « Je (François Lagarde, d. Verf.) me rends compte
que cette terreur amusée des Archives est à rapprocher de votre rejet de classification ».
71
mit literaturkritischen Arbeiten über Saint-John Perse, Sartre, Proust und Malraux
hervor. Von 1953 bis 1957 bekleidet er eine Stelle als Professeur Assistant de
français am Bryn Mawr College (Pennsylvania) und erhält dann nach der Position
eines Professeur Associé eine Professur an der Johns Hopkins University
(Maryland), 263 wo er die romanische Abteilung leitet (1965-1968) und die Zeitschrift
Modern Language Notes herausgibt (1961-1968 und 1976-1980).
Seine erste aufsehenerregende Publikation Mensonge romantique et vérité
romanesque, welche die Struktur von erotischen Dreieckskonflikten im realistischen
Roman des 19. Jahrhunderts untersucht und die Basis für seine integrale Lehre von
der conditio mimetica des Menschen bildet, erscheint 1961 in Paris, 1962 folgt in
New York unter seiner Herausgeberschaft der Band Proust: A Collection of Critical
Essays, 1963 wiederum in Paris mit der Studie Dostoïevski: du doble à l´unité eine
Anwendung der mimetischen Romandeutung an dem russischen Autor, der
zusammen mit Cervantes, Flaubert, Stendhal und Proust den Kanon bildet, der nach
Girard für das Romanschaffen von absoluter Gültigkeit und Autorität ist. 1966
organisiert Girard an der Johns Hopkins University ein internationales Symposion
zum Thema The Languages of criticism and the Sciences of Man, an dem unter
anderen Roland Barthes, Jacques Derrida, Jacques Lacan, Georges Poulet, Lucien
Goldmann, Tzvetan Todorov und Jean-Pierre Vernant teilnehmen und die in der
Literaturkritik implizierten anthropologischen Positionen diskutiert werden. Von 1968
bis 1972 ist er Vorstandsmitglied des Lehrerverbands für moderne Fremdsprachen in
Amerika und von 1971 bis 1976 Professor an der Buffalo University (New York). In
dem von der Stiftung Broquette-Gonin der Académie Française ausgezeichneten
Werk La Violence et le sacré, das 1972 in Paris erscheint, überträgt Girard die in den
Romananalysen gewonnenen Beobachtungen auf das Feld der Religionskritik und
Gesellschaftslehre und erarbeitet daraus unter Verwendung von ethnographischem
Material einen primären Dramen-Mechanimus, der aus den mimetischen Rivalitäten
entspringt und sich zu einem geregelten soziodramatischen Geschehen
zusammenfügt, das in Anlehnung an den von Vladimir Propp geprägten Leitbegriff
als ‚Girardsche Sequenz’ angesprochen werden kann. Seit 1974 lehrt Girard an der
Stanford University (California), zuerst als Professor für französische
Literaturgeschichte und Modern Thougt, seit 1983 für Vergleichende
Literaturwissenschaft. Nach einer erneuten Spezialstudie zu Dostojewski, Critique
dans un souterrain, die 1976 in Lausanne vorgelegt wird, erscheint 1978 das
Hauptwerk, Des Choses cachées depuis la fondation du monde, welches in Dialogen
mit den Psychologen und Psychiatern Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort die
Resultate der Romandeutung, der Religions- und Gesellschaftsanalyse, der Befunde
der Ethnologie sowie der Interpretation der antiken und biblischen Texte
zusammenfasst und daraus eine umgreifende Kulturtheorie formuliert. Im gleichen
Jahr erscheint in Baltimore der thematisch korrespondierende Sammelband To
Double Business Bound: Essays on Literature, Mimesis and Anthropology.
Seine gesteigerte Bekanntheit macht ihn 1979 zum Mitglied der amerikanischen
Akademie der Künste und Wissenschaften. Während er erneut in Amerika, in
Stanford, im Jahr 1981 ein internationales Symposium mit dem Thema Disorder and
263
Dazu René Girard, Les origines de la culture, Entretiens avec Pierpaolo Antonello et João Cezar
de Castro Rocha, Paris 2004, S. 29 : « L´autre offre à laquelle j´ai failli dire oui venait de l´université
de Fribourg (en Suisse, d. Verf.), pas trop grande, calme, proche de la France. Mais j´étais alors à
Hopkins, j´avais de bons étudiants et je m´intéressais trop à mes recherches pour prendre le temps de
déménager ».
72
Order durchführt, veröffentlicht er ein Jahr später in Paris mit Le Bouc émissaire eine
Studie, die ebenso wie La Route antique des hommes pervers, erschienen 1985, der
Dekonstruktion der Mythen gewidmet ist, welche in der Gegenüberstellung mit
biblischen Texten als Hetz- und Verfolgungsgeschichten entlarvt werden und in
denen die Formation des ‚Alle-gegen-einen’ als unausgesprochenes dramatisches
Prinzip bloßgestellt wird. Im April 1984 erhält Girard in seinem Heimatland die
öffentliche Anerkennung und die Auszeichnung eines Chevalier de l´Ordre National
de la Légion d´Honneur et Officier dans l´Ordre des Arts et des Lettres, obwohl er
nach wie vor in den USA lebt und lehrt, wo er seit 1985 Gastdozent der University of
North Carolina und seit 1986 in Stanford als Vizedirektor ein interdisziplinäres
Forschungsprogramm leitet. Mehrere internationale Symposien, in der Regel in
Stanford, folgen, deren Themen sich mit seinen anthropologischen und
kulturtheoretischen Entwürfen befassen: Understanding Origin, Paradoxes of SelfReference in the Humanities, Law an the Social Sciences, Vengeance: A Colloquium
in Literature, Philosophy an Anthropology. Seit 1994 existiert ein ständiges
Colloquium on Violence & Religion, welches periodisch an wechselnden Orten in
Europa und Amerika zusammentritt und von der Leopold-Franzens-Universität
Innsbruck aus organisiert wird, deren Ehrendoktor Girard seit 1988 ist, nachdem er
drei Jahre zuvor als solcher von der Freien Universität Amsterdam geehrt worden
war. Mit Shakespeare, Les feux de l´envie erscheint 1990 eine detaillierte und
engagierte Textanalyse, in der der Nachweis geführt wird, dass Shakespeare seine
Dramen konsequent, wenn auch vom Publikum fast unbemerkt, nach den Regeln
des mimetischen Konflikts konstruiert hat. Es folgt 1994 mit einem Zitat aus dem
Lukas-Evangelium (21, 28) Quand les choses commenceront… die Veröffentlichung
eines Interviews mit dem Filmemacher Michel Treguet, in dem verschiedene GirardThemen vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situation der 90er Jahre diskutiert
werden. Schließlich wird unter dem neutestamentlichen Titel Je vois Satan tomber
comme l´éclair , welcher eine Zeitdiagnose zur Jahrtausendwende auf der Grundlage
einer anthropologischen Neudeutung des Zehnten Gebots versucht, die Grenze der
wissenschaftlichen Abhandlung überschritten. War der bekennende Unterton in
seinem vierzigjährigen Schaffen immer zu vernehmen, so gerät dieses Buch, 1999 in
Paris publiziert, explizit zur christlichen Apologie 264 und dokumentiert a posteriori die
Konversion zum Katholizismus, die sich zu der Zeit ereignete, als er sein Leben
während der Arbeit an seinem ersten Buch Mensonge romantique et vérité
romanesque von einer schweren Krankheit 265 bedroht sah. Die beiden folgenden
Veröffentlichungen in Buchform, Celui par qui le scandale arrive, Paris 2001, und La
voix méconnue du réel. Une théorie des mythes..., Paris 2002, können als
Anwendungen der mimetischen Theorie betrachtet werden und als Versuche, deren
Erschließungskraft zu erweitern. Die 2004 erschienene und ins Französische
übersetzte Schrift Les origines de la culture, Entretiens avec Pierpaolo Antonello et
João Cezar de Castro Rocha kann den Rang einer biographie intellectuelle
beanspruchen und ist die eindrucksvolle Bilanz einer vierzigjährigen, um die Themen
der Mimesis und ihrer persönlichen und sozialen Bewältigung kreisenden
Denkbewegung.
264
Auf die Frage: « Est-ce que vous êtes un anthropologue chrétien ? » antwortet René Girard. « Oui,
pourquoi pas ? Ou un chrétien anthropologue ». in : François Lagarde, René Girard ou la
christianisation des sciences humaines, S. 203
265
René Girard, Quand les choses commenceront, Entretiens avec Michel Treguet, Paris 1994, S.
194 : « Je n´ai jamais connu de fête comparable à cette délivrance-là. Je me voyais mort, et d´un seul
coup, j´étais ressuscité ».
73
Am 17. März 2005 wird Girard zum Mitglied der Académie Française gewählt und
folgt dort dem Theologen Pater Carré.
2. Die methodische Position von René Girard
Da es Girard, wie die Titel seiner Werke zu Recht vermuten lassen, um eine integrale
Literaturbetrachtung geht, deren Reichweite mit der ganzheitlichen Perspektive eines
Vladimir Propp oder eines Walter Burkert vergleichbar ist, wird der Einsatz seiner
Untersuchungen nicht das künstlerische Detail sein. Es wird auch für ihn die
Herausforderung lauten: Es gibt Handlungsstrukturen, die für die Begründung einer
menschlichen Gemeinschaft maßgebend sind, und diese Handlungsstrukturen
lassen sich erkennbaren Erzählstrukturen zuordnen. Und wie beispielsweise die
Märchen- und Mythenanalyse einen Bauplan skizzierte, in dem ethnologisch und
archäologisch rekonstruierte Handlungsstrukturen mit Erzählstrukturen zur Deckung
gebracht werden konnten, die als literarische Konstruktions- wie Rezeptionsvorgaben
bis
heute
wirksam
sind,
müssen
auch
andere
Erzählformen
als
Gründungsdokumente menschlicher Vergemeinschaftung gelesen werden können
und muss auch in diesen der Gang der Hominisation nachvollzogen werden können,
einer Hominisation, die immer auch zugleich mit einer Soziogenese 266 zu denken ist.
Wählt man eine mehr genetische Perspektive, kann dies heißen: Es gibt dieses
Urereignis, das ursprüngliche Soziodrama, welches das Zusammenleben von
Menschen in einem gegebenen Raum und zugleich ihren homineszenten
Augenaufschlag ermöglicht. Diese Urszene ist aber nicht unmittelbar dokumentiert,
es gibt davon keinen objektiven Bericht, niemand war dabei. Sie wird jedoch
vermittelt, und die Medien, die die Erinnerung an das Urereignis aufbewahren, sind
die Riten sowie die mythischen Erzählungen mit ihren narrativen Derivaten. Deren
Lesbarkeit ist indes problematisch, weil das mediale Eigeninteresse und die
Absichten der Medienarchivare in Konflikt geraten können mit der Repräsentationsund Reaktualisierungsfunktion der Zeichenträger und Sinnbewahrer. Indem Girard
die objektiv vorhandenen Mythen und Riten gewissermaßen gegen den Strich liest,
ihren verschwiegenen Anteil zum Vorschein bringt und die auf den Anfang
zurückweisenden Spuren frei legt, rekonstruiert er deren über alle Kulturen und
Zeiten identischen Subtext und formuliert aus diesem Text im Rückschluss die
Hypothese für die Realität des Urereignisses. Den Texten lauscht er den
dramatischen Ablauf des ersten Ereignisses ab. Aus dem So-ist-es des Textes
schließt er auf ein So-muss-es-gewesen-sein dieses Ereignisses, aus der
erzählerischen auf die operative Sequenz mit der entsprechenden Phasierung von
Anfang, Mitte und Ende, von Exposition, krisenhafter Zuspitzung und Lösung.
Auf seiner Spurenlese trägt Girard Indizien aus den verschiedenen, ihm
zugänglichen fachwissenschaftlichen Bereichen zusammen, deren jeweilige
traditionelle Definitionsbereiche er konsequent ignoriert und überschreitet. Die Frage
nach der Einheit des Forschungsgegenstands und damit nach der Girardschen
Methode wird insofern beantwortet, als sichtbar wird, dass dem Problem des
266
Peter Sloterdijk verbindet die beiden Aspekte in dem Begriff der ‚anthropogenen Insel’, von der es
heißt: „…wir definieren die menschenbrütenden Primatenkollektive als Einheiten insularen Typs und
sehen in den dort erzeugten Menschen die Vektoren der schöpferischen Bewegungen, die in ihrem
Denken münden, reifen und fortgehen“. In: P. S., Spären III, Schäume, S. 358 - 359
74
Nachahmens 267 und der Folgenbewältigung auf verschiedenen Wegen
nachgegangen wird, dem anthropologischen, ethnologischen und literarischen, wobei
bei letzterem die Gattungsunterschiede trotz der scheinbaren Engführung durch eine
vérité romanesque fast belanglos sind und Texte wie die biblischen Verse, denen
nach den üblichen Kriterien der Literaturbetrachtung ein überwiegend entlegener
Status zugewiesen wird, mit Werken der so genannten Weltliteratur zu einem unter
einem gleichen Aspekt zu befragenden Ensemble zusammengefasst werden.
Obwohl Girard eher intuitiv vorgeht und durch die Verknüpfung von
wissenschaftlichem und religiösem Engagement 268 bisweilen den Eindruck
aufkommen lässt, dass das Ergebnis seiner Ermittlungen feststeht, bevor die Indizien
zum Sprechen gebracht werden, lässt sich seine spezifische Arbeitsweise erfassen
und zu einem Girardschen System ausformen.
Mit dem für sein Projekt programmatischen Titel Mythos und Gegenmythos beteiligt
sich Girard an einer von verschiedenen Autoren unter ihren jeweiligen
literaturkritischen Aspekten vorgenommenen Analyse von Kleists Das Erdbeben in
Chili (1804) 269 und macht explizit, wie sich die lecture girardienne den Texten nähert,
wie sich eine Girardsche Handlungs- und Erzählsequenz herausbildet und wie sich
aus der Verarbeitung der ethnologischen, anthropologischen und literarischen
Befunde und vor allem der Verwertung ihrer dialogischen beziehungsweise polylogischen Bezüge eine veritable Kulturtheorie konfiguriert. Ohne seine Entscheidung
bezüglich der Gegenstandskonstitution und der Methodenwahl in der
Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Subdiskursen wie der Diskursanalyse,
der Hermeneutik, der Kommunikationstheorie, der Literatursemiotik, der
Institutionssoziologie oder der sozialgeschichtlichen Werkinterpretation zu
begründen, enthält seine Interpretation der Kleistschen Novelle die Formel für eine
spezifische Art der kontrollierten Textdecodierung, die als seine eigene Entdeckung
gelten kann, seine Individualität und Profiliertheit ausmacht und die Voraussetzungen
erfüllen dürfte, dass die methodologische Diskussion der Zukunft sie zur Kenntnis
nimmt.
Dreh- und Angelpunkt der methodischen Positionierung Girards ist die Mimesis 270
als anthropologische Konstante, die von Platon bis zur modernen Massen- und
Mediengesellschaft die Existenz des Individuums und der menschlichen Gesellschaft
ermöglicht und bestimmt. Der von Platon und Aristoteles 271 vertretene Begriff der
Mimesis wird von Girard als einseitig und verstümmelt kritisiert, weil darin übersehen
wird, dass das Nachahmen nicht nur positive Wirkungen wie bei den existenziell und
kulturell unabdingbaren Vorgängen des Bildens, Lernens, Erziehens erzeugt,
267
René Girard, Avant-propos, in : Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale mimétique, Paris 2001, S. 7 :
« La théorie mimétique n´est pas une Académie ni l´une des multiples écoles ou courants postmodernes ; elle est une proposition concrète pour étudier et mieux comprendre la réalité humaine ».
268
René Girard, Avant-propos, in : Maria Stella Barberi, La spirale mimétique, S. 8 : « ...dans une
recherche aussi bien scientifique que religieuse ».
269
René Girard, Mythos und Gegenmythos, Zu Kleists Erdbeben in Chili (Übers.) in: David E. Wellbery
(Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft, Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das
Erdbeben in Chili, (1985), 4. Aufl. München 2001, S. 130 - 148
270
Zur Geschichte und Funktion der Mimesis als ästhetische und politische Kategorie vgl. Erich
Auerbach, Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), 9. Aufl.
Tübingen u. a. 1994, sowie Philippe Lacoue-Labarthe, L´imitation des modernes, Paris 1986 und
ders., La fiction du politique, Heidegger, l´art et la politique, Paris 1988
271
Der erste Teil des theoretischen Hauptwerks Des choses cachées depuis la fondation du monde
mit dem Titel Anthropologie fondamentale beginnt mit dem Zitat aus der Poetik des Aristoteles:
L´homme diffère des autres animaux en ce qu´il est le plus apte à l´imitation.
75
sondern auch zu hochgradig konfliktiven Reaktionen führt, zu Reaktionen, deren
Beherrschung die kulturelle Herausforderung schlechthin ist. Er erinnert daran, dass
die Göttin Mimesis zwei Gesichter hat und neben der gutartigen auch die maligne
Nachahmung ihren Namen leiht. Wenn nämlich das Nachahmen sich nicht auf das
Tun des Anderen, sondern auf dessen Begehren und Habenwollen richtet,
verwandelt sich das Verhältnis zwischen dem imitierenden Subjekt und seinem
Modell in eine Rivalität zwischen Kontrahenten, und aus der um sich greifenden
mimetischen Proliferation innerhalb der gegebenen Menschengruppe entsteht eine
Kettenreaktion unaufhaltsamer Antagonismen, welche, vor allem wenn es sich um
nicht teilbare Appropriationsgüter wie soziales Prestige, Macht, Sexualpartner
handelt, gewaltsame Formen annimmt und letztendlich das Kollektiv dem Risiko der
Selbstauslöschung aussetzt. Weil die Partner im Duo der Begehrensnachahmung
einander zugleich unerlässliche und unerträgliche Doppelgänger, Vorbilder und
Hindernisse sind, ist ihr Konflikt unvermeidlich. Im Unterschied zu den animalischen
Konfliktlösungen, deren innerartliche Rituale dafür sorgen, dass die aus der
Nachahmung entspringenden Aggressionen immer wieder zu einer Erneuerung des
Gruppengleichgewichts führen, verfügen die Menschen nicht von Natur aus über ein
derartiges Warnsystem, das das entzweiende und konfliktgeladene Potenzial der
Nachahmung amortisiert. Weder in der Philosophie mit ihrem Subjektorientierung,
noch in der Psychologie mit ihrer Auffassung eines linear operierenden Triebs oder in
der Soziologie mit dem unhinterfragt angenommenen menschlichen Veranlagung zur
Geselligkeit und Häuslichkeit wird der einseitige Mimesisbegriff ernsthaft in Frage
gestellt. Auch die ästhetische und die erzieherische Mimesis werden in einer langen
Tradition ebenso ausschließlich positiv bewertet wie die religiöse und die
weltanschauliche Nachfolge.
Meine eigene Theorie des mimetischen Begehrens (mimetic desire) beruht auf
literarischen Texten, 272 statuiert Girard im Gespräch mit David E. Wellbery über die
Kleistsche Novelle und führt damit in einem kühnen, aus der Sicht der akademisch
verfassten Literaturbetrachtung wohl abenteuerlich zu nennenden Akt, den
Mimesisbegriff als ein literaturwissenschaftliches Kriterium ein, dessen
naturwissenschaftliche, soziobiologische Herkunft die geisteswissenschaftlich
orientierte Ästhetik irritiert und provoziert, zugleich jedoch die Chance bietet, der
Literaturkritik ein neues Um- und Betätigungsfeld zu erschließen. Da die so
verstandene Mimesis – Girard lässt sich nur en passant ein auf die Diskussion der
traditionsgesättigten, philosophischen Variante - experimentell reproduziert und
unter Beweis gestellt werden kann, geht sie auch über die von Marx und Freud
inspirierte Literaturkritik hinaus, deren Ansätze insofern als hypothetisch markiert
sind, als sie auf einer wenn auch anschluss- und einflussreichen Deutung der
historischen beziehungsweise psychischen Vorgänge basiert sind.
Wenn Girard sich in der Erforschung des mimetischen Begehrens auf Befunde stützt,
die von der tierischen und menschlichen Verhaltensforschung sowie von der die
rituellen Spuren sozialer Prozesse frei legenden Ethnologie erhoben werden, betreibt
272
In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen skizziert Girard im Gespräch mit Maria Stella Barberi
den Weg von der Literaturanalyse zur Kulturtheorie, in: ders. , Celui par qui le scandale arrive, Paris,
2001, S. 154 : « Le livre que vous mentionnez est consacré aux romanciers européens qui m´ont
révélé le désir et la rivalité mimétique. Après l´avoir écrit, j´étais curieux de savoir si ce désir est
vraiment universel, si on en repère les traces dans les cultures non occidentales et les cultures
archaïques. Je me suis donc mis à lire les classiques de l´ethnologie. J´étais littéralement submergé
de découvertes mimétiques et je ne savais pas comment classer mes notes ».
76
er damit nicht eine Art Propädeutik, die auf das Hauptstudium der literarischen
Mimesis hinzuführen hätte. Es geht ihm vielmehr darum, den literarischen MimesisBelegen den gleichen Status zu verleihen wie den experimentellen, also einen
erzählenden Text prinzipiell so zu lesen wie das Protokoll eines Laborversuchs und
ihn ethnologisch, verhaltentheoretisch und soziologisch auszuwerten. Er ist
überzeugt, dass die literarischen Texte mehr über die mimetische Natur des
menschlichen Verlangens als dem Wesenszug der condition humaine wissen als die
so genannten Lebenswissenschaften. Einschränkend bemerkt er zwar im Rahmen
der Kleistschen Modellanalyse: Ich spreche nicht von allen literarischen Texten, nicht
von Literatur per se, sondern von einer relativ kleinen Gruppe von Werken. […]
Implizit und manchmal explizit enthüllen diese Werke die Gesetze des menschlichen
Begehrens. Aber er lässt sich nicht beirren: Das zentrale Archiv, welches die
menschlichen Beziehungen, ihre Strategien und Konflikte sowie ihre
Missverständnisse und Täuschungen dokumentiert, sind die großen Werke der
Literatur, das heißt, wie zu zeigen sein wird, diejenigen Werke, die das mimetische
Begehren durchschauen, im Unterschied zu denjenigen, die es nur abbilden.
Obwohl die mimetische Theorie sich im Kontext von Mensonge romantique et vérité
romanesque entfaltet – mit Figuren des Begehrens löst sich der deutsche Titel
folgerichtig von dem Bezug auf das Genre des Romans – und Kritiker wie Lucien
Goldmann das mimetische und degradierende Begehren als ein Charakteristikum
bestimmter sozialer Klassen oder einer exklusiven Gattung, des Romans,
interpretieren, überschreitet Girard mit seinem Begriff der großen Werke alle
herkömmlichen Klassifikationen; er meint Werke aus allen Gattungen, die zu
verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen geschrieben sind und deren
Identität allein darin besteht, dass sie die menschliche Mimesis zum Sujet haben.
Was in den theoretischen Definitionen des Mimesisbegriffs nie ausreichend
mitbedacht worden ist - Girard macht dafür die abendländische Grundströmung der
Subjektautonomie verantwortlich, für die das Nachahmungsbegehren in der Tat eine
Demütigung darstellt -, wird in den Meisterwerken der Literatur reflektiert und
begründet ihre Universalität. Dass die Mimesis in der Geschichte und im Corpus der
westlichen Literatur gewissermaßen als intelligente poetische Zelle zwar immer
aktualisiert, nie aber thematisiert wird, mag nach Girard auch mit der Neigung der
Literaturkritiker zusammenhängen, selbst mit autorhaften, innovativen und originellen
Erklärungen aufzutreten und sich über mimetische Versuchungen erhaben zu fühlen.
Wer will schon zugeben, dass sein Verlangen ein durch das Verlangen eines andern
entzündetes Verlangen ist, wo doch das Platonische Verlangen sich entweder der
Strahlkraft des begehrten Objekts oder der Verlangenspotenz des begehrenden
Subjekts verdankt, wo das aristokratische Verlangen des Renaissancemenschen
jede Vermittlung von sich weist oder das romantische Verlangen sich auf seine
Spontaneität und Unmittelbarkeit beruft? Eine wirkliche Vergegenwärtigung unseres
mimetischen Begehrens bedrohte die schmeichelhafte Selbsttäuschung, der wir uns
nicht nur in bezug auf unsere eigene Indivualität, sondern auch in bezug auf
Ursprung und Wesen jener kollektiven Identität, Gesellschaft genannt, hingeben. Hier
erweitern sich literarische Belange zu generelleren anthropologischen Fragen.
Die Vergegenwärtigung des mimetischen Begehrens, das ist nach Girard die
Domäne der erzählenden Literatur und dies macht ihre Superiorität 273 aus
273
Vgl. Pierre Ganne SJ, La violence originelle, in: Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale mimétique, S.
33 : « Il a violé un tabou culturel, à savoir la distinction, typiquement bourgeoise, entre la littérature et
le scientifique et il a prétendu découvrir chez les grands créateurs romanesques une analyse du désir
77
gegenüber den vermeintlich überlegenen Einsichten der Marxisten, Freudianer und
Strukturalisten. Daher soll die Literaturkritik nicht länger entweder dem formalen
Reduktionismus oder der artistischen Ästhetik dienen; ihre wahre Aufgabe liegt in der
Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, welche nicht auf der Höhe ihrer
Aufgabe agieren, wenn sie sich beständig in phänomenologische oder empirische
Sackgassen verlaufen, anstatt auf die Erkenntnisse über das mimetische Begehren
und die mimetischen Rivalitäten zurückzugreifen, die allein in den literarischen
Meisterwerken zu finden sind. Die Literatur ist zugleich die Morphologie und die
Metamorphosenlehre, in der sich das menschliche Erototop 274 studieren lässt
Besteht Girards Originalität zunächst in der Aufnahme einer naturwissenschaftlichen
Kategorie in die Literaturkritik, im Postulat der wissenschaftlichen Gleichrangigkeit
aller literarischen Quellen einschließlich der juden-christlichen Bibel sowie in dem
Anspruch der Hin- und Herübersetzbarkeit zwischen den ethnologischen und
ethologischen Fakten auf der einen und den literarischen Befunden auf der anderen
Seite, imponiert sein Werk durch den Nachdruck – Kritiker empfinden dies auch als
Monotonie oder Penetranz - , mit dem er die Frage nach dem Ablauf der vom
mimetischen Ausgangsmotiv in Gang gesetzten Urszene stellt. Der Ablauf der
soziogenetischen Urszene ist für ihn nicht von archäologischem Interesse, sondern
insofern erhellend, weil sich dort ein sozialer Mechanismus zu erkennen gibt, der für
die gesellschaftlichen Prozesse nicht nur einer entfernten Frühgeschichte, sondern
für die Organisation des Zusammenlebens schlechthin von Bedeutung ist.
Jede Menschengruppe – nicht nur die modernen Staaten mit ihren gesetzlichen
Gedenktagen und die religiösen Konfessionen mit ihren Feiertagen - ist darauf
angewiesen, sich immer wieder auf ihre Ursprungsbedingungen zurückzubesinnen,
Indem Girard alle die von ihm
sich in ihrem Ursprung zu verorten. 275
herangezogenen, fachlich heterogenen Quellen, von den Mythen und Riten über die
biblischen und nichtbiblischen Erzählungen bis hin zu den modernen narrativen
Werken unter diesem Aspekt befragt, kann sein Leseverfahren
als radikalsoziologisch verstanden werden, was vor allem für seine Bibellektüre
bedeutet, dass sie nicht den Rang einer theologischen Exegese oder dogmatischen
Kritik beansprucht. Seine Lektüre ist deswegen radikalsoziologisch zu nennen, weil
sie für alle Formen der Transzendenz, also dessen, was die Fassungskraft des
einzelnen oder der Gruppe übersteigt und als übermenschlich und heilig gilt, eine
Erklärung zu finden sucht, die sich nicht auf eine metaphysische, himmlische Folie
projizieren, sondern sich im gesellschaftlichen Horizont repräsentieren lässt. Der mit
der radikalsoziologischen relecture verbundene Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
bezieht sich nicht auf die christlichen Lehraussagen; sein Gegenstand ist die mit
écriture judéo-chrétienne bezeichnete und als Alternative zum Mythos zu
verstehende Art und Weise, die originären Ereignisses zu erzählen und durch ihre
spezifische Erzählweise zu interpretieren. Beide Quellen, die Mythen und die
biblischen Texte, reden von derselben Art von Krisen und ihrer kathartischen
beaucoup plus scientifique que celle des psychologues patentés : il le montre de façon très
pénétrante. C´est de là qu´il a tiré sa théorie du désir triangulaire ».
274
Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären II, Schäume, Frankfurt/M 1999, S. 357 – 468, wo bei der Darstellung
der anthropogenen Inseln das Erototrop als Eifersuchtsfeld mit seinen Stufen des Begehrens und
seinen Techniken der Begehrenshemmung unter Bezugnahme auf Girard als Ort der triangulären
Provokation mit suggestiver Pointierung beobachtet wird.
275
Besonders expressiv scheint die von Pierre Ganne SJ verwendete Verbform aus La violence
originelle, in : Maria Stella Barberi, La spirale mimétique, S. 22 : « La victime émissaire permet à la
communauté de s´originer, mettant la violence en dehors de la communauté, dans le sacré.[...] Le jeu
du sacré maintient la communauté en l´originant sans cesse ».
78
Auflösung. Was sie zu lesen geben, sind nicht ihre Erfindungen; es handelt sich stets
um eine jeweilige réécriture des Gründungsereignisses, um konkurrierende Entwürfe
und Interpretationen eines solchen Ereignisses. Sie lassen sich daher mit- und
aneinander anhand von angebbaren Kriterien messen und befragen, wie sie das
Gründungsereignis und seine rituellen und kulturellen Wiederholungen in Szene
setzen und inwiefern sie dabei mit welcher Absicht voneinander abweichen. 276
Wie der Mimesisbegriff die kulturhistorischen Grenzen überschreitet, die die
Naturwissenschaft von der Geisteswissenschaft trennen, und wie dieses Grundmotiv
sich als textübergreifende Konstante in den Kulturen aller Zeiten und Orte
herausstellt, entzieht er sich auch der Erkenntnis, wenn diese ihn als ein pures
Faktum zu definieren sucht. Wer sich dieser Mimesis-Göttin mit den zwei Gesichtern
nähert, findet sich sogleich in einer Geschichte, in einem Beziehungsgeflecht, einem
dramatischen Geschehen. Wenn er auch die Regeln dieses Geschehens nicht in der
formalistischen Art eines Vladimir Propp mathematisiert, deutet Girard dessen Ablauf
als eine kontrollierbare, also auch vorhersehbare Ereignis- und Erzählfolge, deren
gleichsam soziophysikalisches Kräftespiel enthüllt und insofern entfatalisiert werden
kann. Mimesis wird nicht nur als relationale Größe gewürdigt, sie wird zur ersten und
zentralen Triebfeder einer Mechanik, für deren präzisen Ablauf sie nicht nur die
Energie bereitstellt, sondern deren Richtung sie bestimmt.
Das Ur-Drama, das nach Girard von der Mimesis in Bewegung gesetzt wird, ist die
mimetische Krise, welche trotz aller rituellen und mythischen Reproduktion sowie in
einer endlosen Reihe von literarischen Neubearbeitungen und Neuinszenierungen
über alle Epochen und Kulturen hinweg das Grundmuster beibehält, das den an der
Wiederaufnahme beteiligten Autoren weitgehend unbewusst ist und gerade aus
diesem Grund tradierbar bleibt und gerade durch die Variierbarkeit und
Adaptionsfähigkeit seine Typologie konserviert und unter Beweis stellt. Dieses
Urereignis, das in Freuds Deutung ein wirklich geschehener Kollektivmord ist, der
den Ursprung und das Modell aller Rituale und Verbote darstellt, wird von Girard aus
dem familialen in den sozialen Kontext und damit in das offene Feld
konfliktgeladener Nachahmung übertragen, wo es den geradezu maschinenhaft und
fabrikmäßig verlaufenden Prozess dieser Krise und deren Bewältigung determiniert.
Es überrascht daher nicht, wenn Girard immer wieder sich einer mechanischen
Semantik bedient, um seiner Methode eine szientistische Gewichtung zu verleihen.
Im Gespräch mit Maria Stella Barberi, die ihren Girard-Studien aus gutem Grund den
endlos-prozessförmigen Titel La spirale mimétique gibt, resümiert er, 30 Jahre nach
der Entdeckung des mimetischen Motivs, das methodische und programmatische
Projekt, das ihn beseelt:
Pourquoi les mythes et le judéo-chrétien se ressemblent-ils autant qu´ils le font?
Réponse: parce qu´ils sont tous confrontés au même type de crise, à la machine à
fabriquer de faux ‘vrais coupables’. Pourquoi le judéo-chrétien diffère-t-il plus encore
des mythes qu´il ne leur ressemble? Réponse: parce qu´il réagit à cette épreuve
autrement que les mythes […].
Dans le cas des mythes la machine à fabriquer de faux ’vrais coupables’ fonctionne
si efficacement, si irrésistiblement que toute opposition est éliminée. Et ce sont les
276
René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S. 87 : « Le mot scientifique ne s´applique pas à la
lecture de l´Evangile, mais à la lecture que les Evangiles donnent des mythologies. Les Evangiles
lisent le mythe ».
79
effets de cette machine que les mythes représentent comme s´il s´agissait de vérités
[…].
Dans le judéo-chrétien, la machine fonctionne encore, mais de moins en moins bien
et finalement, dans les deux Testaments, elle fonctionne si mal que la vérité entière
des boucs émissaires et du mécanisme qui les produit est révélée […].
Cela explique pourquoi, à la différence des conclusions mythiques, toujours
harmonieuses et ‘constructives’, car elles reflètent l´effet cathartique, purgatif de
l´unanimité violente, les violences collectives, dans le judéo-chrétien, débouchent
toujours sur une désunion que les Evangiles n´hésitent pas à souligner. 277
Diese Scheinschuldigen, denen die Rolle von tatsächlich Schuldigen zugeteilt wird,
sind, obwohl sie nicht als dessen Akteure auftreten, die Hauptfiguren des
mimetischen Stücks, welches wieder und wieder erzählt wird und das kernhafte
‚ready made’ aller Erzählungen ist. Diese Scheinschuldigen erscheinen auf dem
Höhepunkt der durch die konfliktgeladene Nachahmung ausgelösten mimetischen
Krise, und im letzten Moment vor und als einige Alternative zu dem kollektiven
Untergang geschieht das, was sich im nachhinein den Überlebenden und Geretteten
als ein die Vorstellungskraft transzendierendes Heilsmoment und Gnadenmittel
engeprägt hat, wovon die Mythen und Riten Zeugnis ablegen und was diese dann
repetitiv auf Dauer stellen, in dem sie es kulturell-religiös absichern: Überall auf der
Welt geschieht das Opfer auf dem Höhepunkt und als Abschluss eines alle
ergreifenden mimetischen Furors. Dieser Kulminations- und zugleich Wendepunkt ist
die spontan einstimmige Opferwahl, die eine akut von der Selbstauslöschung
bedrohte Gruppe gegen einen einzigen machtlosen Gegner vereint. Da nach der
Rettung der Gruppe, die den vom gegenseitigen Totschlag Bedrohten wie durch ein
Wunder geschehen vorkommt, der Geopferte als der Urheber dieser Rettung, als
Friedensstifter und Heilbringer gilt, muss seine Rolle uminterpretiert werden. Konnte
er am Beginn der Krise nur als Schuldiger die Einmütigkeit aller gegen sich
polarisieren, muss er nach deren Auflösung als der allmächtige Manipulierer aller
menschlichen Beziehungen innerhalb der Gruppe auftreten, mit anderen Worten als
Gottheit, für deren Gottesdienst die Gruppe zu Dank verpflichtet ist, weil sie ihr alles
verdankt, ihren Bestand, aber auch den gewaltbereinigten Freiraum, der die
elementare Voraussetzung für jede kulturelle und technische Schöpfung ist.
Damit sich die Sündenbockwirkung zugunsten der Gruppenkohäsion immer wieder,
das heißt beim Aufkommen der jeweils nächsten Krise einstellt, die infolge der
unüberwindbaren mimetischen Tendenzen der Gruppenmitglieder unvermeidlich ist,
muss die Maschine zur Bereitstellung von Scheinschuldigen zuverlässig
funktionieren. Da es ihre Aufgabe sein muss, sowohl die Opferwahl zu begründen als
auch das geopferte Wesen zu heiligen und dessen Kult zu organisieren, muss sie
ihren Betrieb auf einer symbolischen Ebene ausführen; sie muss vor allem sich die
Interpretationshoheit sichern und bedingungslos den Standpunkt derer einnehmen,
die dem Opfer gegenübertreten, also Partei ergreifen für die Opferer und gegen das
Opfer, solange dieses verfolgt wird, jedoch ebenso bedingungslos den Standpunkt
des Opfers vertreten, wenn diesese sakralisiert ist.
277
René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S. 69 - 70
80
Um diese Konditionen zu erfüllen, kann die Interpretationsinstanz nicht umhin,
falsche Aussagen zu machen. Sie muss schuldig sprechen, ohne dass ein
schuldhaftes Verhalten nachgewiesen ist, und sie muss heilig sprechen, ohne dass
übermenschliche Qualitäten dokumentiert sind. Es sind die Religionen der frühen
Gesellschaften, die in diesem Sinn interpretieren, und Girard führt diesen
Mechanismus nicht nur vor, weil alle seine Quellen darauf schließen lassen, dass
diese Prozesse tatsächlich so abgelaufen sind, sondern weil auch in modernen
Gesellschaften, obwohl dort alle Beziehungen als Rechtsbeziehungen ausgestaltet
sind, diese Interpretationen zur Identifizierung von Scheinschuldigen – als
Minderwertige, Klassenfeinde, Ausbeuter, Parasiten, Sozialschädlinge 278 aller Art eine krisenbedingte, also ungebrochene und ununterbrechbare Konjunktur haben.
Entsprechend schroff ist sein in dem Positionentext formuliertes Urteil: Man kann
unzählige Male nachprüfen, dass sowohl alle Variablen wie auch alle Konstanten
religiöser Praxis und Anschauungen auf der ganzen Welt mit dem übereinstimmen,
was logischerweise von der verfälschenden Interpretation mächtiger SündenbockEffekte durch diejenigen, die sich davon einen Gewinn versprechen, erwartet werden
kann. Mit anderen Worten: Würde das Opfer freigesprochen und daran gehindert, die
Aggression aller gegen sich zu bündeln, könnte ihm auch nicht die Wiederherstellung
der Ordnung zugerechnet werden. Würde es dennoch sein Leben lassen, handelte
es sich um Mord und eine Tat von Mördern, deren Brutalität anstatt der
Wiederversöhnung und kulturellen Neustiftung zu dienen, eine weitere Drehung der
die Gruppenexistenz bedrohenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt zur Folge
hätte.
Während die biblische Interpretation anfangs noch unsicher, jedoch zunehmend
entschieden für die Unschuld des Opfers eintritt und schließlich eindeutig Stellung
nimmt gegen die sakrifizielle Konfliktlösung, verfährt die mythische Interpretation so,
dass wider besseres Wissen – aber den Beteiligten ist dies nicht bewusst und darf es
nicht bewusst sein – die de facto erfolgte Versöhnung auf die einstimmige Opferwahl
zurückgeht und auf die religiösen Gebote, die von der Wahl abgeleitet werden und
die zur Erhaltung und Reaktualisierung des am Beginn der Gruppenexistenz real
geschehenen und diese erst ermöglichenden Alle-gegen-einen bestimmt sind. Es ist
gerade und ausschließlich diese verfälschende Interpretation, die sowohl zur
Konstituierung der Riten führt, welchen die Aufgabe zukommt, das originelle Opfer
nachzuvollziehen, als auch zur Bildung der Mythen als dem Archiv der kollektiven
Erinnerung. Da in der Mythenbildung die Sehweise der Opferer maßgebend ist, wird
das Urereignis nicht auf jene Weise nachvollzogen, im Bewusstsein gehalten und
erzählt, in der es in Wirklichkeit abgelaufen ist, sondern so, wie es von dem Kollektiv,
dem es wieder zur Einheit verholfen hat, verstanden beziehungsweise
missverstanden werden muss. Auf keinen Fall darf der ganze Opfervorgang von
Willkür beherrscht sein, der viktimäre Heilsweg des Opfers vom Unruhe- zum
Friedensstifter muss dramatisch geregelt und einwandfrei inszeniert sein. Der
Opfervorgang kann, radikalsoziologisch betrachtet, seine unifikatorische Aufgabe nur
dann erfüllen, wenn sein illusionärer Charakter erhalten bleibt, wenn die Beteiligten
diesseits der reflexiven Distanz verharren und die externe Beobachtung
ausgeschlossen ist.
In seiner relecture des Erdbebens von Chili zeichnet Girard die Krisen und die zu
ihren Lösungen führenden kollektiven Mechanismen nach, die er mit dem mythischen
278
Eine ähnliche polarisierende Funktion im Umkehrsinn kommt den Popstars aus Showbusiness und
Spitzensport zu.
81
und rituellen Grundmuster identifiziert, und gleichzeitig weist er den Autor der Novelle
als den externen Beobachter aus, der die Opferillusion durchschaut, den Mythos
dekonstruiert und die soziale, über jeweils punktuelle und ephemäre Opfer-Erfolge
hinausgehende Wirksamkeit der mythischen Befriedungsstrategie bestreitet. Der
Ereignisablauf folgt in quasi kausaler Strenge dem Ineinandergreifen von
Gewalttätigeit und friedlichen Zustand, einer Phasierung, die von der Erwählung von
Opfern bestimmt ist. Ausgehend von der erdbebenartigen Erschütterung der ganzen
sozialen Ordnung wird eine sprunghafte Abfolge von Krisen und Lösungen erzählt,
deren atemloses Tempo als fortschreitende Entdifferenzierung
und als
Verfallsprozess des kulturell-symbolischen Systems gedeutet werden kann. In
Konsequenz zum mythischen Programm wird der dramatische Dreischritt von KriseOpfer-Lösung praktiziert, der die strukturelle Parallelität zwischen rituellem Opfer und
literarischer Form offen legt. Auf das Erdbeben, 279 welchem viele zum Opfer fallen,
folgt nach und nach die Versöhnung, die Reorganisation und die Wiedergeburt der
Kultur. Die antimythische Pointe der Novelle besteht indes darin, dass die
sakrifiziellen Lösungen nicht von Dauer, sondern äußerst kurzlebig sind; das
vermeintlich letzte Opfer muss beinahe sofort wiederholt werden, die Maschine zur
Herstellung von Scheinopfern ist demontiert. Da der Erzähler den mythischen Gang
phasengetreu nachgegangen ist, ist er in der Lage, die mythische Konstruktion von
innen her zum Einsturz zu bringen und den Moment ihrer Implosion zu beobachten.
In der auf Wellberys Einladung hin vorgelegten Interpretation der Kleistschen Novelle
präsentiert sich Girard nicht als Vertreter einer ausgewiesenen literaturkritischen
Richtung; vielmehr nimmt er den Anlass wahr, um seine eigenständigen, mehrere
Spezialisierungen zusamenfassenden Anforderungen an die literarische Produktion
und Rezeption zum Ausdruck zu bringen. Übernimmt man Sloterdijks Vorschlag, ihn
den Schwellengrößen der europäischen Moderne zuzurechnen, wird für den Leser
und gegebenenfalls den Verfasser der Text zwischen dem ersten und dem letzten
Satz der Erzählung zu einem Interrogatorium der unverwechselbaren Art. Der Text
wird sich daraufhin befragen lassen müssen, wie sich die handelnden,
reflektierenden, begehrenden und sprechenden Personen in der triangulären
Mimesiskonstellation verhalten, wie die von dem Begehrensnachahmen erzeugte
konfliktive Energie sich auflädt und zur Entladung kommt, schließlich – und in diesem
Anliegen äußert sich das religiöse Interesse Girards – zu welchem der beiden
möglichen Konklusionen der Erzähler sich bekennt: zu derjenigen, die das
jahrtausendhaft praktizierte und kulturell etablierte opferlogische Programm in immer
neuen Variationen fortschreibt oder zu derjenigen, die das von der judenchristlichen
Interpretation der Gründungszusammenhänge inspirierte Modell aufgreift und einen
ultimativen Verzicht auf die mythologische Lösung mit ihrem Frieden dieser Welt 280
propagiert. Die dritte mögliche Konklusion, die sich auf die Ausscheidung des
mimetischen Gifts über ein pharmakologisches oder ein biotechnisches Verfahren
besinnt, wird von Girard nicht thematisiert. Dass diese Konklusion jenseits der soziound psychotechnischen Diskurse, also jenseits der durch heldenhafte
Opferfortsetzung beziehungsweise umkehrhaften Opferverzicht markierten
Erzählprogramms am literarischen Horizont des 21. Jahrhunderts mehr als nur
umrisshaft heraufdämmert, kann indes nicht überraschen. Da das Vertrauen in die
Verlässlichkeit
sowohl
der
sozialen
als
auch
der
zivilisatorischen
279
Unter dem Gesichtspunkt der Entdifferenzierungssemantik ist das Erdbeben gegen die Pest oder
die Flutkatastrohe austauschbar.
280
Vgl. Joh 14, 27: „ Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden,
wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht“.
82
Befriedungsstrategien erschüttert ist und die aktive Eigenschaftsplanung im
Mikrobereich des Menschenparks 281 bereits den Weg von den Labors in die
Parlamente gefunden hat, wird sich auch in der Erzählung die Frage nach der
Funktion der Mimesis neu stellen. Sollte die Grundannahme des mimetischen
Verlangens dann noch Bestand haben, müsste sich dessen Arena in die Planungen
der Gen-Ingenieure verlagern. Beiläufig und eher wegwerfend bemerkt Girard: de
nos jours on recherche les gènes de l´aggressivité, um alsdann sich wieder mit der
originären und seiner Anthropologie als Eckstein dienenden Theorie der Gewalt kurz
zu schließen: Car la violence n´est pas politique, encore moins biologique, mais
mimétique. 282
3. Alles beginnt mit der Nachahmung
Wie bereits mehrfach vorweggenommen, scheint es durchaus angebracht und
zulässig, auch im Fall von Girard von einer Sequenz von Handlungen zu sprechen,
die sich in narrativen Strukturen abbilden. Der Begriff der Sequenz scheint auch
deshalb angemessen, weil er Raum lässt für das Zusammenspiel der scheinbar
widerstrebenden Perspektiven, unter denen Girard seine Gegenstände in den Blick
nimmt. Auf der einen Seite wird er nicht müde, den streng wissenschaftlichen
Charakter seines Umgangs mit dem ethnographischen und literarischen Material zu
betonen, 283 und andererseits bekennt er sich als Botschafter einer visionären
Sendung, die ihn erfüllt, ja ihn bisweilen zu überwältigen scheint. 284 Auch in der
Prozessform, die er seinem Soziodrama verleiht, scheint sowohl die szientistische als
auch die intuitive Perspektive durch. Mit fast aufdringlicher Monotonie beschreibt er –
auch um sich vom Strukturalismus und Positivismus der Ethnologen abzusetzen seine Sequenz als präzise und quasi automatisch ablaufenden Mechanismus, der an
unzähligen Stellen als mécanisme de la répétition mimétique, als caractère
automatique de la rivalité, als mécanisme de la réconciliation, als mécanisme
victimaire, mécanisme d´unanimité, engrenage de la victime émissaire oder gar
mécanique infernale du désir auftritt und der sich dennoch hin und wieder
zurücknimmt, indem er etwa seinen maschinenhaften semantischen Zugriff lockert 285
und – man erinnert sich an Goethes Morphologie – sein Werk mit einer Straßenkarte
286
vergleicht, die in den verschiedensten Situationen aufgeschlagen, entfaltet und
wieder in ihre Urform zusammengefaltet werden kann, eine Urform, die im Keim alle
Erklärungen abdeckt und für alle möglichen Anwendungen herangezogen werden
kann.
281
Vgl. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Frankfurt/M 1999
René Girard, Celui par qui le scandale arrive, S.33
283
René Girard, Des choses cachées depuis la fondation du monde. Recherches avec J. M.
Oughourlian et Guy Lefort, Paris 1978, S. 45 : « Tout ceci va bientôt entrer dans une lumière
scientifique. J´ insiste sur le terme ».
284
René Girard, Quand les choses commenceront, S. 190 : « Il n’ y a pas de système Girard.
J´exploite une intuition unique mais très dense ».
285
René Girard, Quand les choses commenceront S. 187 : « J´ai l´impression que je n´ai jamais
réussi à exposer mon intuition dans l´ordre le plus logique, le plus didactique, le plus
compréhensible ».
286
René Girard, Quand les choses commenceront, S. 188, wo Michel Treguet zur Kennzeichnung
dieser Sequenz in bewusster Abkehrung von einer linearen Abhandlung (exposé linéaire) das Bild
eines Wollknäuels (inextricable pelote), einer netzartigen Neuronenverknüpfung (réseau de neurones)
oder eines Hologramms verwendet « parce que tout est dans chaque partie ».
282
83
Die Entdeckung, die den Schlüssel zum Entziffern der verborgenen Dinge liefert und
zum Antrieb für die Girardsche Mechanik wird, verdankt Girard der Romanlektüre
und zwar einer Lektüre, die unter Ausblendung der biographischen, soziologischen,
psychologischen oder auch formalästhetischen Interpretationsmuster die Frage nach
der condition humaine auf einer anthropologischer Grundlage beantwortet haben will,
die gleichzeitig den Anschluss für eine allgemeine Kulturtheorie liefert. Die
Handlungssequenz, deren Leistung nach der via antiqua darin besteht, dass die
vormenschlichen Horden sich in menschliche Ritual- und Opfergemeinschaften
verwandeln, indem sie die mimetische Pest, in der jeder jeden mit seinem Begehren
ansteckt und bedroht, durch die Anwendung ritueller Gewalt austreiben und für eine
gewisse Dauer über die Sakralisierung des Opfers Einmütigkeit herstellen, diese
Ereignisreihe der Hominisierung und Soziogenese hat ihren Ausgangspunkt und ihre
erste Etappe in der Nachahmung. Jede menschliche Gemeinschaft wird periodisch in
Erregung versetzt durch die spontan ausgelösten Mechanismen der Nachahmung
und gegenseitigen Eifersucht, die unweigerlich die Gewalt auf den Plan rufen. Jeder
begehrt was der andere hat: Hab und Gut, Anerkennung, Sexualpartner, und ein
jeder imitiert wiederum des anderen Begehren. Aus einem bestimmten Anlass oder
in einem zyklischen Rhythmus treibt dieser aussichts- und endlose Wettbewerb auf
eine Krise zu, in der die Gruppe auseinanderzubrechen droht. Diese krisenhafte
Zuspitzung ereignet sich in allen Gemeinschaften, angefangen von der
Zweierbeziehung bis hin zu gesellschaftlichen und politischen Ensembles. Die
primitiven Gemeinschaften bewältigen diese immer wieder von neuem
ausbrechenden mimetischen Krisen dadurch, dass sie einem Opfer oder in dessen
Stellvertretung einem Sündenbock alle Vergehen und Untaten der Gruppe anlasten
und diesen Sündenbock hinrichten oder aus ihrere Mitte verstoßen. Nach und nach
machen die Menschen die Erfahrung, dass der tatsächliche Opfermord, der sie einst
gerettet hat, auch nur simuliert werden kann, ohne seine konfliktlösende Wirksamkeit
zu verlieren. Dieses Opferbringen als ob geschieht in den Riten der primitiven
Religionen, und den Mythen kommt die Aufgabe zu, die Riten zu legitimieren und sie
zu verknüpfen mit dem heiligen Schauder der ursprünglichen realen Opfer. Durch die
Initiation der Heranwachsenden wird diese antike Methode der Aufrechterhaltung
und notfalls Restabilisierung des sozialen Gefüges auf Dauer gestellt, eines sozialen
Gefüges, dessen Formfestigkeit dem gewaltsamen Tod des Sündenbocks zu
verdanken ist, mit dessen Hilfe die Gemeinschaft sich gegen das Gift der
Nachahmung immunisiert. Dem Sündenbock wird dabei die magnetische Kraft
zugeschrieben, die die im Kollektiv frei zirkulierende Gewalt auf sich zu ziehen und
sie durch seinen Tod diesem Kollektiv anschließend zu entziehen.
In seiner Shakespeare-Studie von 1990 erinnert sich Girard an die 30 Jahre zu vor
gemachte Entdeckung:
Mon travail sur Shakespeare est indémêlable de tous mes travaux antérieurs, à
commencer par l´étude que j´ai consacrée à cinq romanciers européens (Cervantes,
Stendhal, Flaubert, Dostojewskij, Proust, d. Verf.). Je vouais à ces auteurs un amour
si égal et si impartialement réparti que, dans mon ignorance béate des exigences de
la mode littéraire, laquelle exige toujours qu´un critique s´attache à ce que ses
écrivains préférés ont de singulier, d´ unique, d´incomparable (chacun d´eux étant
par conséquent totalement coupé de tous les autres), je misais, moi, sur l´ idée que
84
mes cinq romanciers avaient quelque chose de commun. Je crus faire, chemin
faisant, une découverte et lui donnai le nom de désir mimétique. 287
Wenn also das mimetische Verlangen als exklusiver Auslöser der verschiedenen
Mechanismen der Girardschen Sequenz festgemacht wird und dieses Verlangen
nach der Turnerschen Diktion die Situation der Liminalität als Auftakt zum sozialen
Drama begründet, wird dem sozialen Prozess bei aller Spontaneität seines Ablaufs
eine Ursache zugeschrieben – und,
wie zu zeigen sein wird, eine
Bewältigungsstrategie angeboten – , die in kulturgeschichtlicher Perspektive
unerklärbar ist und sich vielmehr von der animalischen Ausstattung des Menschen
herleitet. Dass diese jedem Menschen vom ersten Atemzug an mitgegebene Mimesis
als Prinzip des Lernens für das individuelle und kollektive Überleben unerlässlich ist,
wird von Girard nicht in Frage gestellt. 288 Gleichzeitig bemerkt er, dass in der
herrschenden Verhaltenslehre ein flacher und zu einseitiger Nachahmungsbegriff
propagiert wird, für den er zwei Traditionen verantwortlich macht: Zum einen die am
Beginn der Neuzeit sich entfaltende und in der Romantik mit ihrem Genie- und
Individualismuskult zum Ausdruck gelangte Auffassung vom Menschen als
autonomem Subjekt, welche den Nachahmungstrieb als Ursache von Entfremdung,
Uniformierung, Vermassung denunziert, 289 zum andern eine Tendenz in der
Soziologie des 19. Jahrhunderts, wie sie vor allem Gabriel Tarde vertritt, wonach die
Nachahmung zu überwiegend positiven Ergebnissen führt und nicht nur Garantin der
sozialen Harmonie, sondern des Fortschritts ist.
Gabriel Tarde (1843-1904), der 1890 als Professor am Collège de France, als
Mitglied des Institut de France und als Präsident der Internationalen Gesellschaften
für Soziologie und Rechtswissenschaften sein Hauptwerk Les lois de l´imitation 290
vorlegt und drei Jahre später vom Justizministerium den Auftrag erhält, eine
Denkschrift über die Kriminalstatistik in Frankreich zu verfassen, gilt als der
Widersacher von Emile Durkheim, der die Gesellschaft aus den Riten und
insbesonders dem religiösen Ritual hervorgehen sieht 291 und mit dieser These die
lange Zeit unangefochtene Vertragstheorie in Bedrängnis bringt. Tardes
Grundargument besteht darin, dass sich die Gesellschaft in einer unendlichen
Vielzahl sozial aneinander anschließender Akte des Imitierens herstellt und dass
auch jede gesellschaftliche Veränderung bis hin zum technischen Fortschritt durch
die Nachahmung zu erklären ist.
Wäre Tarde nicht dem Fortschrittsgedanken seiner Zeit verpflichtet und ließe er sich
angesichts der zunehmenden sozialen Spannungen und anarchistischen
Erscheinungen nicht zu einer Art gesellschaftlichem Zweckoptimismus verleiten, der
287
René Girard, Shakespeare, Les feux de l´envie, Paris 1990, S. 9
René Girard, Des choses cachées, S. 15 : « Il n´y a rien ou presque, dans les comportements
humains, qui ne soit appris, et tout apprentissage se ramène à l´imitation. Si les hommes, tout à coup,
cessaient d´imiter, toutes les formes culturelles s´évanouiraient. Les neurologues nous rappellent
fréquemment que le cerveau humain est une énorme machine à imiter ».
289
Bespielhaft für Girard dargestellt in der Person des M. Teste, in: Paul Valéry, Monsieur Teste, Paris
1946, S. 60 : « Je confesse que j´ai fait une idole de mon esprit, mais je n´en ai pas trouvé d´autre. Je
l´ai traitée par des offrandes, par des injures... ».
290
Gabriel Tarde, Les lois de l´imitation, Paris 1890, dt. Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/M,
2003
291
Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912), 4. Aufl. Paris 1960, S. 598 :
« [...] c´est par l´action commune qu´elle (la société, d. Verf.) prend conscience de soi », S. 610 « [...]
entretenir et réaffirmer, à intervalles réguliers, les sentiments collectifs et les idées collectives qui font
son unité et sa personnalité ».
288
85
die aufeinanderstoßenden mimetischen Reaktionen gewissermaßen auf das Endziel
der Harmonie 292 hin programmiert, wäre er für fortschritsskeptische Denker wie
Girard nicht nur ein Wegbereiter hinsichtlich des begrifflichen Instrumentariums.
Würde ihn nicht die Erfahrung von zwei Weltkriegen mit den vielfältigen kulturellen
Folgeschäden und -einsichten von Girard trennen, ist durchaus vorstellbar, dass
auch er die konfliktive Energie der Imitation zu einer Theorie der Gewalt
weiterdenken würde.
Die Einsichten, die Tarde bereitstellt und mit denen Girard seine Sequenz
zusammenfügt, reichen vom ansteckenden Charakter des Verlangens 293 bis hin zum
Umschlagen der Verfolgungsmeute in die Anbetungsgemeinschaft, 294 von der
medienvermittelten contagion à distance 295 der Ideen und Meinungen bis hin zum
plötzlichen Ausbruch der Gewalt, 296 von der Doppelfunktion der nachgeahmten
Person beziehungsweise Personengruppe als Vorbild und als Rivale 297 bis zu dem
objektlosen Verlangen, der Präfiguration des Girardschen désir métaphysique,
welches gerade deswegen, weil es durch kein Objekt zu stillen ist und weil sein
Begehren nicht einem Ding sondern einem Sein gilt, 298 die zerstörerischen
Wirkungen des endlosen Verlangens offen legt. Tarde formuliert, 299 was Girard
dann die médiation externe und médiation interne nennen wird und antizipiert den
Prozess der Entdifferenzierung, 300 welcher bei Girard über das gewaltsame
Sündenbockopfer zu einer Redifferenzierung und einer neuen, vorübergehend
haltbaren Ordnung führt.
Doch obwohl Tarde die infektiöse Wirkung der imitation, wie auch der contre-imitation
beobachtet, wobei er die Nivellierungs-Analysen von Tocqueville und Spencer
aufgreift und fortsetzt, und obwohl er Fälle von Lynchmorden 301 erzählt, in denen die
292
Gabriel Tarde, L´opinion et la foule, Paris 1908, S. 61 : « Les foules, donc, les rassemblements, les
coudoiements, les entraînements réciproques des hommes, sont beaucoup plus utiles que nuisibles
au déploiement de la société ».
293
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 43 : « Leur désir se nourrit du désir d´autrui, et, dans leur émulation
même, il y a une secrète sympathie qui demande d´accroître ».
294
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 184 : « Quand la foule féroce s´acharne sur le martyr, quelques
spectateurs sont fascinés par elle, mais d´autres le sont par lui ».
295
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 150
296
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 151 : « Les fusils partent tout seuls exposés aux emballements ».
297
Gabriel Tarde, Les lois, S. 216 : « De tout temps, les classes dominantes ont été ou ont commencé
par être les classes modèles. Nous voyons nettement au berceau de la société, dans la famille, se
montrer cette intime corrélation de l´imitation proprement dite avec l´obéissance et la crédulité. Le
père, à l´origine surtout, est l´infaillible oracle et le souverain roi de l´enfant ; par cette raison, il est son
modèle suprême ».
298
Gabriel Tarde, Les lois, S. 160 : « Le véritable et final objet du désir, donc, c´est la croyance ; la
seule raison d´être des mouvements du coeur, c´est la formation des hautes certitudes ou des pleines
assurances de l´esprit... ».
299
Gabriel Tarde, Les lois, S. 243 : « En effet, c´est en raison inverse de la distance du modèle et non
pas seulement en raison directe de sa supériorité que l´influence de son exemple est efficace... ».
300
ebenda: « Le corps chaud est le fait capital en physique, où il explique la tendance finale de
l´univers à un équilibre éternel de température; et de même, en sociologie, le rayonnement des
exemples de haut en bas est le seul fait qui importe de considérer, à raison du nivellement général
qu´il tend à proclamer dans le monde humain ».
301
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 159 : « Dans la plupart des villages, dès qu´on a souçonné la lèpre, ou
qu´ on accuse à tort quelqu´un de l´avoir, le peuple, sans s´adresser à l´autorité ou tout au moins à un
médecin, se constitue illico en jury, et lynche celui qu´il déclare lépreux en le pendant à l´ arbre le plus
proche ou en le pourchassant à coups de pierres. Mais cette même populace fréquente les chapelles
des léproseries, baise les images aux endroits mêmes où les lépreux ont posé leurs lèvres et
communie dans les mêmes calices ».
86
willkürlichen Opfer eine heiligmäßige Bedeutung anzunehmen scheinen und die
Transformation von violence zu sacré ‚zelebrieren’, gelingt es ihm nicht, das
konfliktive Moment der Nachahmung mit seinen nivellierenden und
gemeinschaftsgefährdenden Tendenzen zu thematisieren und die mit Opfergewalt
verbundenen Reparationsstrategien zu durchschauen. Er ist unerschütterlicher
Fortschrittsoptimist, und wo Girard davon ausgeht, dass die Nachahmung die Feuer
des Neides entzündet und die moderne urbane Gesellschaft mit den Folgewirkungen
des neidvollen Wettbewerbs – auch im internationalen Maßstab - vor kaum lösbare
Probleme stellt, sieht Tarde jenseits der durch die Nachahmung beförderten
gesellschaftlichen Entdifferenzierung die wissenschaftlich begründete Ankunft einer
befriedeten sozialen Synthese, die keiner proletarischen Revolution bedarf und deren
Ausbreitung geräuschlos 302 vor sich geht und eine glückliche universelle Republik
303
schafft, in pathetischer Wendung: un traité de paix final oder un simple et puissant
unisson. 304
Während Tarde die Gesetze der Imitation aus der Kriminalstatistik gewinnt, wo er in
Konkurrenz zur domonierenden Vererbungslehre und zum darwinistischen
Paradigma die kriminelle Tat weder deterministisch noch als letzten absurden Akt
einer zur Freiheit verdammten Existenz betrachtet, erschließt Girard das MimesisKonzept, das er in vierzig Schaffensjahren zu einer Theorie der Vergesellschaftung,
der Religion und der Geschichte erweitert, aus der höchst eigenwilligen und mit
überschaubarem Begriffsapparat durchzuführenden Analyse der ausgewählten
großen Romane des 19. Jahrhunderts.
Den archimedischen Punkt, das heißt die nicht zu erschütternde, weil aus der Natur
des Menschen hergeleitete Position, 305 von der aus seine ganze Sequenz zu
beobachten ist, skizziert Girard auf den ersten Seiten seiner Auftaktstudie Mensonge
romantique et vérité romanesque von 1961. Was den Don Quixote des Miguel de
Cervantes Saavedra zu seinen seltsamen Heldentaten antreibt, ist nicht das
Verlangen nach Objekten seiner Wahl, Objekten der Eroberung, der Anerkennung,
der Machtsteigerung, es ist kein lineares, libidinöses Begehren, das seinen Reiz etwa
im begehrenden Subjekt oder im begehrten Objekt hätte; Don Quixote kann nicht von
sich aus etwas wünschen. Was er tut, und was ihn regelmäßig scheitern lässt, tut er
im Zustand der Hypnose, wie Tarde sie beschreibt, in der ein Dritter oder ein Drittes
im Spiel ist. Sein Begehren ist von Anfang an in ein Dreiecksverhältnis ausgespannt,
es ist ein désir triangulaire.
Doch um dich nicht zu lange in Spannung zu halten und darüber im Ungewissen zu
lassen, was meine Wort bedeuten, so wisse, Sancho, dass der berühmte Amadis von
Gallien einer der vollkommensten fahrenden Ritter war. Ich tue ihm unrecht, wenn ich
sage, einer; er war der erste und einzige, ja die Krone von allen, die es zu seiner Zeit
302
Gabriel Tarde, Les lois,, S, 221 - 222 : « Comment alors, d´un cerveau à l´autre, s´opérait le
transvasement de leur contenu intime, de leurs idées et de leurs désirs ? Il s´opérait [...] comme en
vertu d´une sorte d´électrisation psychologique par influence – une action inter-cérébrale à distance –
dont la suggestion hypnotique peut nous donner vaguement l´idée ».
303
Gabriel Tarde, Les lois, S. 246 : « La fascination suggestive, impérative qu´il (Paris, d. Verf.)
exerce sur un vaste territoire est si profonde, si complète et si continue, que presque personne n´en
est plus frappé. Cette magnétisation est devenue chronique. Cela s´appelle égalité et liberté ».
304
Gabriel Tarde, L´opinion, S. 47 bzw. S. 49
305
René Girard, Des choses cachées, S. 464 – 465 : « Nous allons plus loin que nos prédecesseurs
dans le refus de l´anthropocentrisme puisque nous enracinons notre anthropologie dans la vie
animale ».
87
auf der Erde gab. Pfui über Don Belianis und alle, die sich mit ihm messen wollen;
sie täuschen sich, ich schwöre es dir. Auch sage ich dir, wenn ein Maler in seiner
Kunst berühmt werden will, so nimmt er sich die Originale der besten Meister zum
Muster und Vorbild. Diese Regel gilt von allen wichtigen Künsten und
Wissenschaften, die da dienen zur Verherrlichung der Staaten; und ebenso macht es
und muss es derjenige machen, der den Namen eines Weisen und Standhaften
erwerben will; er muss den Ulysses nachahmen, in dessen Gestalt und Drangsal uns
Homer ein Muster der Klugheit und Langmut schildert, so wie uns auch Virgil in
seiner Äneas die Tugend kindlicher Liebe und den Scharfblick eines klugen und
tapferen Heerführers darstellt. Beide zeichnen und schildern ihre Helden nicht, wie
sie waren, sondern wie sie sein sollten, um der Nachwelt in ihren Tugenden ein
Beispiel zu geben. Ebenso war Amadis der Nordstern, der Leuchtturm und die Sonne
aller tapferen und liebenden Ritter, und wir alle, die wir unter dem Banne der Liebe
und der Ritterschaft streiten, müssen ihm nachahmen. Da dies nun ist, wie es ist,
Freund Sancho, so muss auch derjenige fahrende Ritter, der ihm am meisten
nachahmt, der Vollkommenheit in seinem Stande am nächsten kommen. 306
In dieser Ansprache des Ritters an seinen Knappen, in der sich Cervantes nebenbei
in der Gefolgschaft von Homer und Virgil in die Tradition der ‚Arbeiter am Mythos’
einreiht und die Abenteuer seines Don Quixote mit den Aus- und Einfahrten der
antiken Protagonisten vergleicht, wird die Triangulierung des Begehrens explizit,
ohne dass gleichzeitig der Anspruch erhoben wird, die beiden Helden seien frei von
unmittelbaren, linearen oder direkten Wünsche, die an die elementaren körperlichen
Bedürfnisse anschließen und auch ohne Einwirkung eines Vermittlers zustande
kommen. Dass im Laufe der Abenteuer das nicht imitierte Verlangen zum Zuge
kommt - bei dem Ritter von der traurigen Gestalt ebenso wie bei seinem Knappen dass beide also nach Art der romantischen Helden in der Lage sind, spontan und in
eigener Regie etwas zu begehren, wird zugestanden. Mehr als Don Quixote eignet
sich Sancho für eine glaubhafte Verkörperung der ligne droite des Verlangens. Der
Anblick eines Stücks Käse oder eines gut gefüllten Weinschlauchs weckt spontan
seinen Appetit, ohne dass die Präsenz eines Vorbilds oder Rivalen diesen
Gaumenreiz auslöst. Als sein Herr ihm aber in als Lohn für seine Treue eine eigene
Insel und für seine Tochter einen Herzogstitel in Aussicht stellt, wird klar, dass der
Sancho, der sich immer wieder nach der Fälligkeit seines Lohns erkundigt, dieses
Streben nach einer aus seinem Bauernstand nicht erreichbaren gehobenen Stellung
einer Vermittlung verdankt, wobei sein Herr, obwohl er die Zusage nicht einlösen
können wird, als médiateur des Verlangens fungiert. Bei Don Quixote, der besessen
ist von der Vorstellung, sich als idealer Ritter zu bewähren, lässt sich kein Abenteuer,
keine Unterhaltung und keine Überlegung ohne die imaginäre Präsenz seines
Vorbilds Amadis von Gallien denken, das er nachahmen will. Beide Protagonisten
werden zu Opfern des désir triangulaire, in welchem ein Dritter Macht über sie
gewinnt, ohne dass sie sich des Zustands der Inferiorität und Abhängigkeit bewusst
werden, in den dieser parasitäre 307 Dritte sie versetzt. Sobald die Autorität eines
Vermittlers in das Begehren einfließt und die Autonomie des Subjekts herausfordert,
löst sich dessen Relitätssinn auf und lähmt sein rationales Urteil.
306
Cervantes, Don Quixote (1605-1615), dt. Miguel de Cervantes Saavedra, Der scharfsinnige Ritter
Don Quixote von der Mancha, nach der anonymen Ausgabe 1837 von Konrad Thorer, 2. Aufl. 11. 14. Tausend, Frankfurt/M 1908, S. 298 - 299
307
Vgl. Michel Serres, Le Parasite, Paris 1979
88
Während der Imitator Sancho es mit einem Imitanden zu tun hat, der durch den
sozialen Status unerreichbar weit von ihm entfernt ist, kennt Don Quixote sein Vorbild
aus den phantastischen Rittergeschichten, wie sie in den trivialen Romanen seiner
Zeit erzählt werden und wo die gesellschaftlich längst überholten Ritterideale der
Vasallentreue, der Selbstlosigkeit in der Liebe, der Armenhilfe und des Engagements
für die Christenheit besungen werden. Aufgrund der unüberbrückbar großen
Entfernung zwischen den beiden Helden und ihren jeweiligen Vorbildern ist eine
rivalisierende Auseinandersetzung und direkte Konfrontation mit diesen
ausgeschlossen. Obwohl Don Quixote dem Sancho in mancherlei Hinsicht
unterlegen ist, besitzt er ihm gegenüber als Junker einen uneinholbaren Status. Ist
zwischen diesen beiden Protagonisten eine reale Konkurrenzsituation aus
gesellschaftlichen Gründen undenkbar, kann die suggestive Wirkung, die von Amadis
von Gallien auf Don Quixote ausgeht, aus dem einfachen Grund nicht in Rivalität
ausarten, weil dieser Amadis eine fiktive Gestalt ist und dem Don Quixote im Dreieck
von Subjekt, Objekt und Vermittler nicht körperlich begegnen kann. Der
nachahmende Eifer entfaltet zwar eine beträchtliche Energie 308 hinsichtlich des
erstrebten Objekts oder Status, wendet sich jedoch nicht eifersüchtig gegen den
Vermittler als einen potenziellen Konkurrenten, der hinsichtlich des Objekts das
gleiche Verlangen haben könnte. Girard vergleicht dieses innige Begehren, welches
die souveräne Position des Vermittlers akzeptiert, mit der aus religiöser Motivierung
begründeten Lebenspraxis, wie sie nach dem Verständnis der christlichen Lehre das
Verhältnis des Gläubigen zu Jesus als dem Christus charakterisiert. 309
Dieses Begehren, in dem das Subjekt seinen Wunsch auf ein Objekt richtet, das
durch einen starken und in seiner Überlegenheit anerkannten Vermittler als
Wunschobjekt bezeichnet wird, entdeckt Girard auch im Werk Gustave Flauberts als
Generalmotiv der Akteure. Und in einer geschichtsphilosophisch – in späteren
Darstellungen theologisch – begründeten Fortentwicklung wird dieses Motiv bei der
Analyse der Romane von Stendhal, Proust und Dostojewski, in denen die Position
des Vermittlers ihren fixen Ort nach und nach verliert, variiert und zu einem
Leseverfahren formuliert, welches als vérité romanesque den Anspruch erhebt,
sämtliche narrativen Texte zu beobachten und zu decodieren.
So wie Don Quixote in seinem désir selon l´Autre 310 den sagenhaften Amadis von
Gallien nachahmt, ist Emma Bovarys Phantasie- und Wunschhorizont dicht besetzt
von den romantischen Heldinnen der Liebesromane, die sie in ihrer Mädchenzeit
gelesen hat. Auch sie will etwas werden, was sie nicht selbst ist und was sie bei
anderen verwirklicht sieht. Jedes spontane Tun und Denken ist ihr fremd. Um sich als
eine andere, erfolgreichere und vollkommenere zu erleben, orientiert sie sich an
Vorbildern, 311 welche sie so genau wie möglich in ihrem Auftreten, ihren Gesten,
308
Cervantes, Don Quixote, S. 299: „Aber was wollt ihr denn eigentlich in dieser Wüste beginnen,
gestrenger Herr?“ fragte Sancho. „Ich habe es dir ja schon gesagt “, versetzte Don Quixote; „ich will
Amadis nachahmen und mich verzweifelnd, wahnsinnig und rasend stellen…“
309
René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961, S. 12 : « L´éxistence
chevaleresque est l´imitation d´Amadis au sens où l´existence du chrétien est l´imitation de JésusChrist ».
310
René Girard, Mensonge romantique, S. 13
311
Gustave Flaubert, Madame Bovary, Mœurs de Province (1857), Paris 1994, S. 290 : « J´ai un
amant! un amant! – Elle allait donc posséder enfin ces joies de l´amour, cette fièvre du bonheur dont
elle avait désespéré. [...] Elle entrait dans quelques chose de merveilleux où tout serait passion,
extase, délire. [...] Alors elle se rappela les héroïnes des livres qu´elle avait lus, et la légion lyrique de
ces femmes adultères se mit à chanter dans sa mémoire avec des voix de sœurs qui la charmaient ».
89
ihrer Redeweise nachahmt. Und selbst als sie erkennt, dass ihre Vorbilder sich
ihrerseits wieder an Vorbildern orientieren und sich ihrem mimetischen Zugriff
entziehen, lässt sie sich nicht davon abhalten, sich nach neuen, vermeintlich
enttäuschungsresistenten Garanten ihres Verlangens umzusehen. 312
In beiden Erzählwelten, der des Don Quixote wie der der Emma Bovary, erfolgt die
Nachahmung insofern über eine externe Vermittlung, als die Vorbilder/Vermittler des
Verlangens außerhalb der zeitlichen und räumlichen Reichweite ihrer Adepten sind.
Trigonometrisch übersetzt: In dem Dreieck stünde den Punkten A (Subjekt) und B
(Objekt) ein Punkt C (Vermittler) mit großer Höhendistanz gegenüber, dessen
Aktionsradius auch durch den mit steigender Höhe enger werdenden Winkel
eingeschränkt ist. Zusätzlich wird der Abstand der Punkte dadurch markiert, dass
diese Vorbilder nicht unvermutet auftauchen, sich aufdrängen oder sich aktiv in die
Begehrens-Geschichten einmischen; sie verdanken ihre Existenz der
kontaminierenden Wirkung, die sie auf die Nachahmungssüchtigen ausüben, und
diese Nachahmungssüchtigen entnehmen ihre Vorbilder dem Personal der
gelesenen Bücher und rufen sie ins Leben als livreske ‚Stars’, deren Strahlkraft
derjenigen von relativ fernen Sonnen zu vergleichen ist. Diese fernen Sonnen wären
solche, die zwar hell leuchten, deren blankes Licht aber nicht auch noch Hitze
erzeugt und damit Näheprobleme neuer Art schafft.
Mit dem Begehren nicht in eigener Regie, sondern aus der Hand des Anderen in
Verbindung mit der infizierenden Funktion der Literatur beziehungsweise der
Geschichte überträgt Girard seine anthropologisch basierte relecture von Cervantes
auf Stendhal und Flaubert, wobei die Intention nicht zu übersehen ist, die
literarischen Phänomene, insbesondere der Romankonstruktion, im Hinblick auf
gesellschaftliche Prozesse zu reflektieren und den Übergang des 19. Jahrhunderts
von der ständischen in die sich ausdifferenzierende, egalitäre Gesellschaft mit der
entsprechenden Neuformulierung der condition humaine auf eine historische Linie zu
bringen. Wie die Fremdbestimmung des Verlangens bei Flaubert oder auch bei
Cervantes durch einen ‚abwesend anwesenden’ Dritten erfolgt, ist auch die
Motivation von Stendhals Protagonisten zunächst fremdkonditioniert. Was bei
Flauberts Personen der schwärmerische bovarysme ist, an dem sie leiden und
scheitern, ist bei Stendhals Figuren die vanité, die sie nicht zur Ruhe und zu sich
selbst kommen lässt. Während Mathilde de la Mole in Le Rouge et le Noir ihre
Vorbilder aus der Geschichte ihrer adligen Familie bezieht, gesteht Julien Sorel offen
ein, dass er keinen Geringeren als Napoleon nachahmt und dass dessen Schriften,
Le Mémorial de Sainte-Hélène und die Bulletins der Großen Armee für ihn von
existenzieller Bedeutung sind. 313
Im Hinblick auf die Distanzen, die die begehrenden Personen von den Vorbildern
trennen, übersteigt Stendhal die relativ stabile Dreieckskonstellation von Cervantes
und zeigt sich in diesem Punkt der Konkurrenzanalyse fortgeschrittener als Flaubert.
Amadis ist in jeder Hinsicht unerreichbar weit von Don Quixote entfernt, die
Entfernung zwischen Emma Bovarys normannischem Provinzstädtchen Yonville und
312
Gustave Flaubert, Emma Bovary, S. 356 : « Elle voulait devenir une sainte ». S. 358 : « Alors, elle
se livra à des charités excessives ».
313
Stendhal, Le Rouge et le Noir (1830), Paris 1958, S. 17 : « ...son livre, c´était celui de tous qu´il
affectionnait le plus, le Mémorial de Sainte-Hélène». S. 74 : «...mais à cet âge, Bonaparte avait fait
ses plus grandes choses ». S. 102 : « Il voyait dans les yeux des femmes qu´il était question de lui.
[...] Il était officier de Napoléon et chargeait une batterie ».
90
dem strahlenden Zentrum ihrer Idole in Paris ist zwar groß, aber immerhin messbar
und zur Not mit Hilfe von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, Modeheften und
Zeitungen überwindbar. Stendhal hingegen ist nicht nur Zeitgenosse seines Vorbilds
und Vermittlers; er ist dessen Offizier und begleitet ihn auf diversen Feldzügen. Seine
Beziehung zum Vorbild ist nicht nur spiritueller Natur. Daher ist er in der Lage, seinen
Personen diese erlebte mimetische Nähe zum bewunderten Modell einzuhauchen
und sie in dieser gewissermaßen thermisch aufgeladenen Arena in ihrer
Doppelfunktion als Komplizen und Rivalen aufeinander treffen zu lassen. Die
Verkürzung des Abstands zum Vorbild, die Stendhal in seinem 1822 erschienenen
philosophischen Essay De l´Amour analysiert, wird in dem neun Jahre später
veröffentlichtem Roman in kunstvollen Variationen durchgespielt und reicht hinein bis
in die Gestaltung des erzählerischen Dekors. 314 Durch diese Verkürzung des
Abstands erhält die Nachahmung eine neue, konfliktive Qualität. Das Vorbild wird, da
das kompetitiv begehrte Objekt nicht aufgeteilt werden kann, zu einem Gegenüber,
welches einerseits aus der Position des Idols heraus das Verlangen suggeriert und
stimuliert, andererseits es verneint, welches gleichzeitig fasziniert und frustriert,
welches zugleich das höchste Glück verspricht und die größte Gefahr androht. 315
Thront bei Cervantes der Vermittler in einer himmlischen Höhe, von wo auch ein
gewisser Glanz auf seinen gläubigen Don Quixote fällt, setzt er sich in Le Rouge et le
Noir in Bewegung und treibt im Überschreiten der napoleonischen und der
rousseauistischen 316 Distanz auf den Punkt zu, wo er gewissermaßen auf gleichem
Fuß und in Augenhöhe mit dem begehrenden Subjekt verkehrt beziehungsweise ihm
gegenübertritt.
Der mécanisme mimétique, der als Thema mit Variationen den Roman orchestriert,
hat seine erste tonangebende Episode und motivische Umsetzung in der
Auseinandersetzung um Julian Sorel, an dem das Ehepaar de Rênal nicht nur wegen
seiner Lateinkenntnisse interessiert ist, sondern vor allem deswegen, weil auch die
Familie Valenod einen Hauslehrer einstellen könnte, wodurch deren Reputation
gegenüber dem Dorfbürgermeister aufgewertet würde. Das Interesse der Rênals an
Julien ist also nicht spontan und gilt nicht direkt seiner Person. Julien wird ihnen als
Wunschobjekt angezeigt, sein Gütesiegel erhält er durch den mitbietenden,
mitwerbenden und damit valorisierenden Konkurrenten Valenod, der auch wegen
seines Status als reicher Emporkömmling eine Herausforderung für den unter
Napoleon geadelten, also nicht deutlich sozial überlegenen de Rênal, darstellt. In
diesem Spiel des imitierten Begehrens spielt auch Juliens Vater, der in Verrières das
Sägewerk betreibt, seine Rolle, indem er, als es um die Lohnvereinbarung für seinen
Sohn geht, den Tarif steigert und den Bürgermeister unter Androhung eines
314
Stendhal, Le Rouge et le Noir, S. 5 : « En Franche-Comté, plus on bâtit de murs, plus on hérisse
sa propriété de pierres rangées les unes au-dessus des autres, plus on acquiert de droits aux
respects de ses voisins ».
315
Stendhal, De L´Amour (1822), Paris 1980, S. 119 : « Chaque perfection que vous ajoutez à la
couronne de l´objet que vous aimez, et qui peut-être en aime un autre, loin de vous procurer une
jouissance céleste, vous retourne un poignard dans le cœur. Une voix vous crie : Le plaisir si
charmant, c´est ton rival qui en rejouira.[...] l´on ne se rappelle plus qu´en amour : posséder n´est rien,
c´est jouir qui fait tout ; l´on s´exagère le bonheur du rival, l´on s´exagère l´insolence que lui donne ce
bonheur, et l´on arrive au comble des tourments, c´est-à-dire à l´extrême malheur empoisonné encore
d´un reste d´ espérance ».
316
Als Julien seine Hauslehrerstelle im Hause Rênal antritt, erinnert er sich an die Confessions von
Rousseau und die Weigerung des Protagonisten, am Tisch des Hauspersonals zu essen. s. Stendhal,
Le Rouge et le Noir S. 19 : « Animal, qui te parle d´être domestique, est-ce que je (Juliens Vater, d.
Verf.) voudrais que mon fils fût domestique ? – Mais avec qui mangerai-je ?»
91
anonymen Rivalen schlagartig in die Knie zwingt. 317 Man sieht, das imitierende
Begehren ist ansteckend und nicht aufhaltbar. Durch einen Wink des Vermittlers
kann die Extase des Begehrenden in Demütigung umschlagen und umgekehrt. Unter
der Oberfläche der ausgetauschten Gesten, Worte und Reflexionen treibt das
metamorphosierende Dreieck sein Spiel und gibt wie ein unter der Tischplatte
geführter Magnet die Richtung der Figuren vor, welche indes in ihrer romantischen
Selbsteinschätzung sich dem Glauben wiegen, sie seien die souveränen Urheber
ihrer Entscheidungen.
Indem Girard diesen mimetischen Mechanismus mit der Zuverlässigkeit eines
Uhrwerks funktionieren sieht, verbindet er seine relecture der großen Romane mit
den von Tarde formulierten Nachahmungsregeln, welche als Naturgesetze
vorgetragen werden und ihre Metaphern mit Vorliebe der Elektrizitäts- und
Wellenlehre entnehmen. Wenn Begehren sich fortpflanzt und ausbreitet, ansteckend
und übertragen wird und mehrere Grundannahmen der Propagation zur Verfügung
stehen, scheint es eine Frage des Weltbilds, des Blickregimes oder der
vorherrschenden Medientheorie zu sein, für welche Übertragungsform auch der
mimetischen Prozesse sich die Beobachter entscheiden, ob sie einer biologischen 318
, physikalischen, kybernetischen oder chemischen Sprechweise den Vorzug geben.
Girard, der im Unterschied zu dem fortschrittsoptimistischen Tarde in dem Phänomen
der Verbreitung eher ein Moment der Bedrohung und Verführung, den Beginn einer
mit Pest und Cholera assoziierten Epidemie, einen um sich greifenden
katastrophischen Brand in der Form zerstörerischer Feux de l´envie sieht, pendelt
zwischen mehreren Registern, greift aber gern für die Darstellung der verschiedenen
Spielformen seines mécanisme auf eine weitgehend technische und von
Alltagserfahrung gestützte Semantik zurück. 319
Die Option für die technische Übertragunsweise ist freilich keine absichtlose
Medienentscheidung. Mit ihr verknüpft ist die Prämisse, dass es sich mit dem Raum,
in dem die Nachahmungen geschehen, wie mit einem Raum verhält, in dem die
Regeln der Mechanik, mithin der klassichen Physik mit Aussicht auf
Mathematisierbarkeit herrschen und der sich durch ein hohes Maß an objektiver
Überprüfbarkeit und Voraussagbarkeit auszeichnet. Auf der einen Seite erhöht diese
Option für technische Bildgebung und Modellbau die Nachvollziehbarkeit durch den
mit der Populartechnik vertrauten Leser, andererseits weisen die dabei gewonnenen
Diagnosen und Analysen bisweilen einen Grad von Konstruiertheit auf, der den Blick
auf die vermeintlich abschließende Gleichung einengt und den Beobachter
vorschnell in Sicherheit wiegt. Obwohl Girard wissen muss, dass jede Botschaft
durch ihr Medium vorgeprägt und mitentschieden wird, hält er sich nicht damit auf,
sich kritisch mit seiner Semantik und seinen Metaphern auseinanderzusetzen.
Möglicherweise führt aber auch gerade das Wissen um die Gefährdung durch den
medialen Eigensinn dazu, dass Girard sich mehrerer Register bedient. Wenn auch
der Zentralbegriff des Mimetismus in den meisten Fällen mit dem Begriff des
Mechanismus
assoziiert
und
damit
ein
technisch-physikalischer
317
Stendhal, Le Rouge et le Noir, S. 21 : « Nous trouvons mieux ailleurs. A ces mots la figure du
maire fut bouleversée ».
318
Vgl. Boris Groys, „Das Märchen vom Begehren“ in: Politik der Unsterblichkeit, München 2002, S.
64: „Die virale Verbreitung ist die geheime Wahrheit jeder Kommunikation, die aber von den meisten
Kommunikations- und Gesellschaftstheorien nicht angemessen berücksichtigt wird“.
319
z. B. des Effekts der Kapillaraszension von netzenden Flüssigkeiten, in: René Girard, Mensonge
romantique, S. 15 : « Un peu d´eau suffit à amorcer une pompe; un peu de désir suffit pour que désire
l´être de vanité ».
92
Verständnishintergrund vorgegeben wird, weisen Begriffe wie contagion,
contamination, peste, fièvre, hallucination auf eine mehr organistische Verfasstheit
einer Wirklichkeit hin, in der gewissermaßen unter anderen Laborbedingungen mit
den Phänomenen umgegangen wird und wo die Diagnosen weniger auf rechnerische
als auf beobachtende und analogisierende Verfahren zurückgehen.
Das gültigste Modell jedoch für die Abbildung der vom Mimetismus ausgehenden
Prozesse ist für Girard nicht die Maschine, denn sie lässt die Fragen nach ihrem
Konstrukteur und der extern zugeführten Bewegungsenergie offen. Es ist auch nicht
der Organismus, denn auch dessen Funktionen sind von einer Energie abhängig, die
er nicht selbst erzeugt. Das Modell par excellence, in dem sich die Vorzüge des
Maschinenhaften und die des Organischen verbinden, ist das des Spiels, welches als
jeu mimétique oder als jeu de la violence vor allem Girards kultur- und
religionstheoretischen Arbeiten als Funktionsmodell dient und sich hervorragend
dafür eignet, den autopoietischen Charakter der mimetischen Prozesse explizit zu
machen und diese Prozesse sowohl auf eine natürlich-anthropologische wie auch
kulturell-institutionelle Grundlage zu stellen.
Maßgebend und erhellend für die Romananalyse, von der aus Girard seine geregelte
soziodramatische Ereignisabfolge startet, sind demnach nicht die mechanistischen
Versuchsanordnungen der sozialen Maschine, wo die Leidenschaften und
Gesinnungen wie Räder und Transmissionen ineinandergreifen und einen
gesellschaftlichen Schicksalsmechanismus in Gang setzen, der zu Ergebnissen führt,
die so von niemand beabsichtigt werden; es ist das spielerische, geometrische
Experiment des Dreiecks von Subjekt, Objekt und Vermittler und die in diesem
jeweils doppelten Gegenüber vorkommenden oder denkbaren Distanzen mit ihren
Auswirkungen auf das Subjekt, welches wiederum einem anderen Subjekt
gegenüber als Vermittler auftritt und die zunehmend unbeherrschbare Kettenreaktion
des auslösenden und zugleich verwehrenden Wollens und Liebens ins Unendliche
fortsetzt, wobei, wie beim Fortgang der Sequenz in La violence et le sacré zu zeigen
sein wird, periodisch kritische soziale Aggregatszustände erreicht werden, zu deren
Auflösung dosierte Gewaltanwendung angezeigt ist. Dieses Seinsmodell des
Begehrens, welches wie jedes Modell gleichzeitig reduktionistisch ist und gerade
deswegen eine ungeheur konsequente Wirkung entfacht, geht davon aus, dass
innere Vorgänge, indem sie wie äußere Abläufe beschrieben werden, anschaulich
gemacht und in letzter Konsequenz verräumlicht werden.
In seiner Schiller-Studie 320 ruft Safranski in Erinnerung, dass seit dem 17.
Jahrhundert mit Descartes und Spinoza versucht wurde, mit den Prinzipien der res
extensa den Geist zu verstehen und die von der ausgedehnten Körperwelt
abgelesenen Merkmale auf den Geist zu übertragen, welcher zuvor als ein Spiegel
des göttlichen Geistes betrachtet und mit theologischen Begriffen erfasst worden
war. Seitdem ist die Auffassung plausibel, dass die Körper, die beseelten und die
unbeseelten, sich im Raume stoßen, aufeinander einwirken und sich zu neuen
Konstellationen verbinden, dass auch die Verknüpfung von Gedanken, Affekten und
Motiven von einer Art Bewusstseinsmechanik gesteuert wird, die einer mathematisch
darstellbaren Gesetzmäßigkeit gehorcht. Demnach sind in strikter Verfolgung dieses
assoziationspsychologischen Ansatzes die inneren und äußeren Handlungen, somit
320
Rüdiger Safranski, Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, München 2004, S. 61 f.
93
auch das Begehren, more geometrico zu behandeln, als wäre von Linien, Flächen
und Körpern die Rede.
Nicht alle Romane sind nach Girard in der Lage, die trianguläre
Experimentalanordnung zu reproduzieren und die Wahrheit des Begehrens
aufzudecken. Viele, und damit meint Girard nicht nur die Ritterromane, die dem Don
Quixote den Kopf verdreht haben, sondern die Werke der so genannten
romantischen Literatur mit der Verherrlichung des spontanen, souveränen,
selbstbewussten und in eigener Regie begehrenden Helden, mit dem Kult des
Genies 321 und der Originalität sagen die Unwahrheit über die menschliche Situation,
befinden sich im Irrtum des mensonge romantique.
Mit romantisch meint Girard nicht die Literatur einer Epoche oder eines bestimmten
Erzählstils. Diese Bezeichnung wird für ihn zum Inbegriff der menschlichen
Selbsttäuschung und Verirrung, zur Kennzeichnung einer épouvantable maladie
ontologique. 322 Die romantischen Autoren sind insofern Lügner, als sie dem
Individuum einreden, es sei Herr seiner selbst und souveräner Autor seines
Beobachtens, seines Denkens, Handelns, Liebens und Begehrens. Romantisch ist
derjenige, der den anderen gegenüber darauf besteht, dass er kein Herdenwesen ist,
dass sein Verlangen echt ist und aus seinem Inneren, quasi von Herzen
beziehungsweise und in abgeleiteter umgangssprachlicher Version‚ aus dem Bauch
kommt. Für das romantische Ich ist der Andere nicht konstitutiv, das Ich kommt als
pures Ich vor, ist von den anderen unabhängig und findet sich ausgeführt in den
modernen Individualismen, angefangen vom Romantizismus und Symbolismus bis
hin zum Surrealismus und Existenzialismus, wie es zum Beispiel in den Werken von
Nietzsche, Valéry 323 und Gide dargestellt wird. Für Girard ist das autonome Ich eine
Illusion, welches nach der Art des M. Teste glaubt, es sei das unverrückbare
Beobachtungs-, Erkenntnis- und Verfügungszentrum gegenüber dem Anderen und
den Anderen, obwohl es nach der in der Romanliteratur freigelegten Topologie des
Begehrens in Wirklichkeit erst als Produkt der Relativität und des Verwiesenseins in
Erscheinung tritt. 324
Girard sieht im désir triangulaire die universelle Matrix, mit deren Hilfe sich die
Wahrheit des Romans herausstellen lässt. Mit diesem Prüfverfahren bringt er die
321
Zur Kritik der Aktionskultur vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraums des Kapitals, Frankfurt/M 2005,
S. 108: „Das notorische Gestammel von Genie und Schöpfertum, das seit dem Ende des 15.
Jahrhunderts über Europas Kunstbetrieben liegt, ist ein Beweis für die Unfähigkeit der Modernen, zu
iher eigenen Initiativkraft sinnvoll Stellung zu nehmen. Beruft man sich auf einen genius, um Werke
und Handlungen von ihm herzuleiten, so erklärt man den Akteur impicite für einen Besessenen, sei es
auch im achtunggebietenden Sinn; folglich wird die Tat vom Täter auf eine überpersönliche Instanz
verschoben, die ihn durchgreift und in einen Zustand erhabener Unverantwortlichkeit versetzt“.
322
François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, S. 27
323
Paul Valéry, M. Teste, S. 84 : « La nature les (les deux énergies, d. Verf.) a jointes pour toujours,
quoique furieusement ennemies. L´une est l´éternel mouvement d´un gros électron positif, et ce
mouvement engendre une suite de sons graves où l´oreille intérieure distingue sans nulle peine une
profonde phrase monotone : Il n´y a que moi, moi, moi... Quant au petit électron radicalement négatif,
il crie à l´extrême de l´aigu, et perce et reperce de la sorte la plus cruelle le thème égotiste de l´autre :
Oui, mais il y a un tel... Oui, mais il y a un tel... Tel, tel, tel. Et tel autre !... Car le nom change assez
souvent ».
324
René Girard, Mensonge romantique, S. 100 : « ...elle (la phénoménologie du roman, d. Verf.)
cherche à établir une topologie du désir selon l´Autre ». Sowie S. 79 : « L´espace du désir est
euclidien. Nous croyons toujours nous mouvoir en ligne droite vers l´objet de nos désirs et de nos
haines. L´espace romanesque est einsteinien ».
94
Unterscheidung zwischen dem anthropologisch begründeten Romanhaften oder
Romanesken und dem illusionären Romantischen zum Vorschein, was
gleichbedeutend ist mit dem Unterschied zwischen dem, was bei der Aufklärung und
Aufhellung der condition humaine weiterhilft und dem, was in die Sackgasse der
Selbstverblendung
mit
den
katastrophischen
Konsequenzen
auf
der
zwischenmenschlichen und der sozialen Ebene führt. Dabei ist die Testmethode, mit
der er die Romanlektüren verarbeitet, von geradezu verblüffender Einfachheit. Indem
er in der Topologie des Begehrens zwischen Subjekt (A) und Objekt (B) die Position
des Vermittlers/Rivalen (C) wie einen Schiebewiderstand bewegt, also die Distanz
von C gegenüber A oder B jeweils neu einstellt, bringt er alle denkbaren
Metamorphosen des Begehrens zum Vorschein. Er kann damit sowohl innnerhalb
eines jeweiligen Romans als auch innerhalb des Gesamtwerks eines Autors sowie
innerhalb einer jeweiligen literarischen Richtung die verschiedenen Intensitäten des
Begehrens gleichsam stufenlos regeln und den dadurch ausgelösten Mechanismus
nachstellen. Er gelangt so zu einer mit reduziertem begrifflichem Aufwand
überschaubaren intra- und intertextuellen Phänomenologie des Romans, in der sich
die Karriere des mimetischen Verlangens auch in einem literaturhistorischen Rahmen
verfolgen lässt.
Die besondere Pointe dieses Dreipunktearrangements besteht darin, dass sich durch
Verschieben nicht nur die Distanzen manipulieren lassen, sondern dass etwa die
Punkte B (Objekt der Begierde) oder C (Vermittler/Rivale) de facto aus dem Spiel
genommen 325 und als pure Imagination mitgeführt werden können, ohne dass die
Logik des nachahmenden Begehrens außer Kraft gesetzt wird und dass dann dieses
Begehren als ein désir métaphysique selbst ohne Objekt, auf das es sich richtet, und
ohne Konkurrenten, der ihm den Weg zugleich weist und versperrt, sein konfliktives
und in diesem Fall selbstzerstörerisches Potenzial entfaltet. Für den Fall, dass das
begehrte Objekt aus dem Spiel genommen wird, richtet sich der Argwohn des
Begehrenden unmittelbar und ohne Objektablenkung auf das Gegenüber, dessen
Blick, da er nicht durch ein Objekt umgeleitet wird, eine direkte Konfrontation Auge in
Auge erzeugt. Wird nun auch der jeweilige leibhaftige Rivale liquidiert, kommt das
begehrende Ich dennoch nicht zur Ruhe. Im Gegenteil: Es beginnt in dieser
Konstellation die Halluzination des Doppelgängers, das heißt die Vorstellung, dass
immer jemand da ist oder auch nur da sein könnte, ein double, dessen Begehren nur
darauf wartet, dass es sich über mein Begehren hermacht. Un da ich ihn nicht kenne
und nicht weiß, von woher und wann er sich mir in den Weg stellt, führe ich – auf
verlorenem Posten - einen permanenten Abwehrkampf gegen einen unsichtbaren
Gegner. Ich sehe mich in meinem Begehren umringt von erdachten anonymen,
feindlichen Rivalen. Vermittler meines Begehrens ist nicht mehr ein ferner und
buchförmiger Amadis, auch nicht ein M. Valenod aus meiner Stadt oder ein M. de
Norpois, ein Vertrauter des Salons meiner Eltern. Ich befinde mich in der
verzweifelten Lage des Kellerlochbewohners, den Dostojewski sagen lässt: Ich bin
Einer, und sie sind Alle. 326
Je größer die Distanz des Wunsch-Vermittlers beziehungsweise potenziellen Rivalen
und insofern möglichen Gegners zum vermeintlich autonom begehrenden Ich und
zum Objekt der Begierde ist, desto sicherer fühlt sich dieses Ich. Im Idealfall ist das
325
Vgl. Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1861 – 1862), dt., Stuttgart 1984, S.
19: „Bei näherer Betrachtung verflüchtigt sich das Objekt, die Gründe verdunsten, ein Schuldiger ist
nicht mehr aufzutreiben…“.
326
Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, S. 50
95
Vorbild ein transzendenter Gott, der seine Nachahmer als seine ebenbildlichen
Geschöpfe betrachtet, die wiederum sich nicht als Konkurrenten sondern als Kinder
eines gemeinsamen Vaters erkennen. Das Verlangen diesem Vermittler gegenüber
wird heilsökonomisch in einem vertikalen Begehren ausagiert, die Rivalität durch die
Leistung und Gegenleistung, durch den ‚wunderbaren Tausch’ in Form von Opfer
und Segen ruhig gestellt. Rückt das Vorbild aus seiner jovialen Position in die
zunächst literarisch vorgestellte und insofern eingebildete Nähe zum Subjekt, erfährt
das Objekt eine gewisse Wertsteigerung, es wird auffällig und wird deutlicher
wahrgenommen; es konstituiert sich gewissermaßen erst als Objekt. Auch der
Vermittler wird deutlich wahrgenommen; indem er auf das Objekt hinweist, wird er
bedeutend, wegen seiner Überlegenheit wird er respektiert, bisweilen gefürchtet,
genießt aber auch ein gewisses Maß an Verehrung. Variiert das Dreipunkte-Schema
in der Regel von Autor zu Autor, kann es auch innerhalb eines einzigen Werks je
nach Bedarf und erzählerischer Absicht seine Form verändern. So lässt Cervantes
seinen Don Quixote unter der Verzauberung durch den symbolisch entrückten
Amadis auf Abenteuerreise gehen und eine in Schönheit erstrahlende Dulcinea
lieben, die es nicht wirklich gibt, präsentiert aber in der Novelle von der
unbesonnenen Neugier 327 eine Konfiguration von real existierenden Anwesenden,
in der die Logik der triangulären Begierde mit ihrer konfliktiven Energie freigelegt
wird. Indem die Formen des désir triangulaire innerhalb dieser universellen Struktur
in großer Freiheit verstellt werden können, verfügt der Erzähler über eine bewährte
Anleitung, Personen in Szene und in ein dynamisches Verhältnis zueinander zu
setzen und, was der Forderung nach Unterhaltsamkeit entspricht, das
Überraschende mit dem Vertrautem zu kombinieren. Für Girard ist dies die den
großen Autoren abgelauschte Prozessformel des Romans. 328 Sie treibt mit
naturgesetzlicher Notwendigkeit das Romanschaffen an, ohne dass sich die
einzelnen Autoren dessen bewusst sind. Denn dadurch dass sie im Sinne des musée
imaginaire von Malraux sich in eine künstlerische Tradition einreihen und ihre Werke
als Antworten auf Vorhergegangenes verstehen, übernehmen sie gleichzeitig, sei es
in der Affirmation oder in der Negation, die reflektierten oder auch ungeprüften
Prämissen dieser Logik des Begehrens.
Da auch die Autoren auf der Suche nach Anerkennung sich mit Mitbewerbern – in
der Regel mit denen, die nur noch durch ihre Bücher am Leben sind –
auseinandersetzen müssen, gilt auch für ihr künstlerischen Schaffen, dass es nicht
ein Handeln aus freien Stücken ist, dass auch hier am Eingang zum Paradies des
Erfolgs als doppelte Faszination ein engelhaftes Vorbild steht, das mit der einen
Hand auf die offene Pforte zeigt, mit der anderen Hand, die ein flammendes Schwert
hält, die Näherkommenden und Nachahmenden vom Eingang fern hält. 329
327
Cervantes, Don Quixote S. 411 f. Anselmo bittet seinen Freund Lothario, der die Heirat mit Camila
angebahnt hatte, er solle seiner jungen Ehefrau zum Schein den Hof machen in der Erwartung, dass
seine Liebe zu ihr durch die Eifersucht auf seinen Freund noch stärker würde. Lothario stellt Camilla
zwar widerwillig aber weisungsgemäß auf die Probe und wird dann unversehens für Anselmo zum
veritablen Rivalen. Als dieser erfährt, dass er betrogen wurde und seine Ehre verlor, bringt er sich um.
Fazit: begehrenswert ist, was den Rivalen frustriert. Begehren ist die Nachahmung des Begehrens
eines Konkurrenten. Der Stopp der Spirale des Begehrens kostet einen hohen Preis.
328
René Girard, Mensonge romantique, S. 100 : « Le désir apparaît donc comme une structure
dynamique se déployant d´un bout à l´autre de la littérature romanesque. On peut comparer cette
structure à un objet qui tombe dans l´espace et dont la forme se modifie sans cesse en raison de la
vitesse croissante imprimée par la chute ».
329
Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of the Mind, NewYork 1972. Die hier in einer Theorie
der Schizophrenie formulierte intersubjektive Reaktion des double bind mit dem positiven und
96
4. Das mimetische Begehren als literaturtheoretisches Prinzip
Die Romananalyse, die zur Entdeckung des mimetischen Verlangens (désir
mimétique) und zur Unterscheidung der äußeren und inneren Vermittlung (médiation
externe, médiation interne) führt, wird von Girard eingeschrieben in eine neuzeitliche
gesellschaftliche Entwicklung, die mit dem Begriff der Demokratisierung ebenso
umschrieben werden kann wie mit der Lukács-Formel der transzendentalen
Obdachlosigkeit 330 oder der Goldmann-Formel der Degradierung, 331 wobei letztere
nicht kulturpessimistisch als Abstieg und Verfall, sondern als Verlust
beziehungsweise Abschaffung der Unterschiede zu verstehen ist. Blickt man von der
siebzehn Jahre später in Des choses cachées depuis la fondation du monde
vorgelegten Fundamentalanthropologie auf die Romananalyse von Mensonge
romantique et vérité romanesque zurück, lässt sich die geschichtsphilosophisch
gefasste Degradierung in den metahistorischen und nur mit religiösen Kategorien
kenntlich zu machenden Rahmen einer offenbarenden, also apokalyptischen Drift
einzeichnen, als deren Anfang die Begründung der menschlichen Gemeinschaft aus
dem Geist der Gewalt eingestanden wird und als deren Enthüllung, jedenfalls aus
jüdisch-christlicher Sicht in der Lesart von Girard, die Bloßstellung und
Defaszinierung dieser Gewalt in Form der biblischen Enthüllung der sieben Siegel
durch das Lamm in Aussicht gestellt wird. 332
In seiner Standard-Analyse, die sein ganzes Werk durchzieht und in zahlreichen
Varianten auftaucht, diagnostiziert Girard in der Geschichte der Neuzeit eine
fortschreitende metaphysische Vergiftung, 333 deren Ursache in dem Versuch zu
sehen ist, den Gott der mittelalterlichen Philosophie durch das cogito des
abendländischen Individualismus zu ersetzen. Da infolge dieser Umbesetzung jede
Subjektivität ihre Wirklichkeit in sich selbst zu begründen hat, kommt es zu einer
Selbstvergottung, die dem Individuum eine Identifikationsleistung abverlangt, die es
überfordert. In der Frage, wer den toten Gott oder seinen Sohn beerben soll, glauben
die Philosophen der Aufklärung, es genüge, das Ich in die frei gewordene Position
einzurücken. Dabei wird aber übersehen, dass das Ich keine Monade ist und dass es
dieses Ich ohne den Anderen nicht geben kann. Tritt also das Ich an die Stelle des
biblischen Gottes, wird zwangsläufig die Beziehung zu dem Anderen vergiftet, weil
der Andere diese göttliche Position mit dem gleichen Recht beansprucht. Der
Divinitätsanspruch kann nicht zugleich vom Ich und dem Anderen erhoben werden,
er ist also ständig zwischen diesen beiden Polen umstritten. Diese umstrittene
Göttlichkeit infiziert mit einer wie im Untergrund des Bewusstseins agierenden Kraft,
einer métaphysique souterraine, sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen
insbesondere die Sexualität, das Streben nach Geltung und Erfolg und das Ringen
negativen feedback wird von Girard gern zur Absicherung seiner Mechanik des Begehrens
herangezogen.
330
Georg Lukács, Die Theorie des Romans (1962), 9. Aufl. München 1984, S. 32
331
Lucien Goldmann, Soziologie des modernen Romans (Übers.), Neuwied 1970, S. 20: „Girards
Romantheorie basiert auf der Idee, dass die Degradierung der Welt des Romans das Ergebnis eines
mehr oder weniger fortgeschrittenen ontischen Übels ist […], dem ein Wachsen des metaphysischen,
d. h. degradierten Verlangens entspricht“.
332
Offb 7, 9-10: „ Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und
Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem
Lamm und trugen Palmzweige in den Händen. Sie riefen mit lauter Stimme: Die Rettung kommt von
unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm“.
333
René Girard, Dostoïevski, du double à l´unité, Paris 1963, S. 101
97
um künstlerische Anerkennung. Girard sieht das Unvermögen des Rationalismus zur
Identifizierung und zur ontischen Sättigung und Besiegelung des Subjekts darin,
dass es lange vor Dostojewski und bereits bei Descartes und Corneille insofern zu
einer pathologischen Doppelung des Individuums kommt, als das klassische Ideal
einer irrationalen générosité, welches von Descartes philosophisch und von Corneille
dramaturgisch dargestellt wird, nicht von einem cogito deduziert werden kann. Girard
betrachtet diese Doppelung als den Beginn einer unterirdischen Dialektik, in der das
generöse, in der romantischen Epoche das empfindsame Ich dem Andern in einer
moralisch-ästhetischen Überlegenheitspose gegenübertritt, es aber nicht schafft,
diese Überlegenheitsgeste in echte Souveränität zu verwandeln: Le Moi est
incapable de réduire l´Autre, tous les Autres, en esclavage. 334 Der Antagonismus
zwischen dem Ich und seinen Rivalen wird jedoch mit einiger Verzögerung erst
explizit. Der Individualismus versucht die ihm antwortende dialektische Reaktion
unter Kontrolle zu halten und hält den Anderen mit diplomatischen Mitteln auf
Distanz: Il cherche à signer un pacte de non-agression métaphysique avec l´Autre335.
Dies ist, am Ende des 18. Jahrhunderts, die spirituelle Situation, in der die Menschen
sich einander in die Arme werfen und das Alle Menschen werden Brüder-Lied
anstimmen, bevor die Revolution schließlich über die Brüderlichkeit hinaus zur
Geschäftsordnung der ungehinderten Konkurrenz übergeht, was sich alsbald in einer
Literatur abbildet, in der der Sadismus und Masochismus jegliche Individualdistanz
unterlaufen. Nur wenigen Autoren gelingt es, die offene Flanke der
zwischenmenschlichen Beziehungen angemessen zu reflektieren; die meisten
plädieren entweder für die Einsamkeit des Subjekts gegenüber einer unheimlichen
Welt oder für den Eigensinn der Dinge gegenüber den zur Erkenntnis unfähigen
menschlichen Voyeuren. Einigen großen Romanciers ist es vorbehalten, das
unterirdische Doppel- und Wiedergängertum aufzudecken, das, angetrieben von der
Nachahmungsmimesis, die zwischenmenschlichen Beziehungen beherrscht. Die
Literatur, so sieht es Girard, wird nun eingespannt in diesen ungelösten Konflikt
zwischen dem Ich und dem Anderen und hat sich zu entscheiden, ob sie diesen
Konflikt austrägt und einer Lösung zuführt, oder ob sie ihn nur darstellt, ob sie die
mimetischen Schwingungen zu einem Stillstand bringt, oder ob sie sich von ihnen
mitreißen lässt. Dass Dostojewski zu denen gehört, die dieses untergründige und
selbstzerstörerische Kräftemessen durchschauen, verdankt er nicht einer Eingebung.
Er hat, wie es der Konflikt mit seinem frühen Förderer und nachmaligen Rivalen
Bielinski bezeugt, diese Erfahrung, bevor sich zu dem Verzicht auf seinen eigenen
Stolz durchringen kann, existenziell durchlebt und durchlitten, so dass Girard zu dem
Schluss kommt: La lucidité du Dostoïevski génial n´est pas donnée, mais conquise,
et nous comprendrons que cette conquête n´avait rien de nécessaire, qu´elle est
presque miraculeuse. 336 Was hier sich bei dem visionären russischen Dichter wie
durch ein Wunder ereignet, ist offensichtlich nur zum Teil das Ergebnis einer
unbefangenen Literaturkritik. Allzu deutlich ist die Parallele mit Girards
biographischem Hintergrund. Girard steht noch ganz unter dem Eindruck der
mimetischen Entdeckung in der zwei Jahre vorher veröffentlichten Romanstudie, eine
Entdeckung, für ihn ebenso wundersam ist wie das von ihm formulierte Mirakel der
romanesken Konklusion, beides in erlebnishafter Nähe zu der von ihm als
gnadenhaft empfundenen Genesung von einer malignen Krankheit sowie zu der
religiösen Neubekehrung zum abhanden gekommenen Glauben seiner Kindheit.
334
René Girard, Dostoïevski, S. 104
René Girard, Dostoïevski, S. 105
336
René Girard, Dostoïevski, S. 106
335
98
Was Girard in seinem theoretischen Hauptwerk systematisch dargestellt und
argumentativ erörtert, ist in der Romananalyse des mensonge romantique im Kern
enthalten, obwohl diese nur die gesellschafts- und literargeschichtlicheZeitspanne
von Cervantes bis Proust umfasst. Diese liest sich als die Diagnose eines
fortschreitenden und sich verschärfenden Übels, als progrès de la maladie
ontologique, 337 deren Etappen an ausgesuchten Erzählungen fixiert werden.
Während die anthropologische Studie das Menschenganze in den Blick nimmt und
mit einer Theorie über den Ursprung der Kultur einsetzt, ist die Stunde Null der
modernen Verhängnisgeschichte gleichzusetzen mit dem Übergang der
aristokratischen Ordnung des Ancien Régime zu demokratischen Strukturen mit ihren
nicht nur neuartigen Regierungsformen, sondern vor allem neuartigen
zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Übergang, den unter anderen
Montesquieu, Saint-Simon und Tocqueville als Zeugen der Depotenzierung des
Adels durch die königliche Zentralgewalt aus nächster Nähe beschrieben, schlägt
sich für Girard gleichzeitig nieder im Übergang vom Theater zum Roman und dort
besonders von dem Typ des Helden, der nach Art des Renaissance-Ideals Autor und
Herr seines Begehrens ist, 338 zu dem Protagonisten, dessen Verlangen in Richtung
auf das Wunschobjekt verunsichert wird durch den Blick des egalitären
Konkurrenten, ja dessen Verlangen erst durch den Rivalen hervorgerufen wird und
auch aus dem Grund seiner selbst nicht sicher sein kann, weil es unwillkürlich
Nachahmer auf den Plan ruft, die ihm die Inhaberschaft am Verlangen bestreiten.
Erzähltechnisch gesehen ist dies der Übergang von der äußeren Vermittlung mit
einem relativ fernen Vermittler zu einer inneren Vermittlung, zum travail souterrain de
la médiation interne. 339 Es ist die Arbeit am Dreipunkteschema.
Die ersten Etappen dieses pathologischen Verlangens lassen sich, wie ausgeführt,
an der relativ äußeren Vermittlung durch den fernen und kalten Stern namens
Amadis im Falle des Don Quixote darlegen, ebenso wie an der durch das
Näherrücken des konkurrierenden Vorbilds aufgeheizten Vermittlung im Falle des M.
de Rênal und der Emma Bovary. Fazit: Das Subjekt begehrt ein Wunschobjekt nicht,
weil es von einer libidinösen Energie dazu veranlasst wäre oder wegen der
spezifischen Eigenschaften des Objekts, vielmehr weil ein anderes Subjekt sich für
das Objekt interessiert. Das Verlangen ist also nicht gegenständlich; es ist
mimetisch. Es geht ihm nicht um eine Sache, es geht ihm um ein Sein. Hinter dem
vordergründigen Habenwollen ist ein vor sich selbst und nach außen
uneingestandenes Seinwollen am Werk; was die Menschen an den Dingen
interessiert, ist der Wunsch, so zu sein wie deren Besitzer. Und weil dieses Sosein
sich nicht in dem Maß realisieren lässt, wie man Dinge sich aneignen kann, kommen
die Begehrenden niemals auf ihre Kosten. Die Seins- und Statusdifferenzen lassen
sich niemals als Besitzdifferenzen bearbeiten. Identifikation gelingt nicht via
Appropriation, selbst dann nicht, wenn wie im Akt der sexuellen Vereinigung das
Habenwollen sich auf den Körper des anderen bezieht und die Appropriation die
Form einer Einverleibung annimmt. Dies ist die Antwort auf die Frage, warum die
Menschen in der modernen Welt nicht glücklich werden können. 340 Wenn in
337
René Girard, Mensonge romantique, S. 153
René Girard, Mensonge romantique, S. 122 : « Est noble, aux yeux de Stendhal, l´être qui tient ses
désirs de lui-même et s´efforce de les satisfaire avec la dernière énergie ».
339
René Girard, Mensonge Romantique, S. 138
340
René Girard, Mensonge romantique, S. 122 : « Nous ne sommes pas heureux, dit Stendhal, parce
que nous sommes vaniteux ».
338
99
Anlehnung an die grammatische Norm die Position des Begehrenden mit Subjekt
bezeichnet wird und damit immer wieder in den Anschein eines autonomen, im Sinne
Girards romantischen Subjekts gerät, welches nach Heideggers Sprechweise sich
anmaßt, das Gegenüberliegende als Objekt zu stellen und zum Gegenstand zu
machen, und wenn auch der Subjekt-Objekt-Substitution durch das Ich und das Es
noch zu sehr der lineare Charakter des Begehrens anhaftet, ist der Hinweis auf die
Unterscheidung möglicherweise erhellend, die einer der Begründer des
Existenzialismus, Gabriel Marcel, in Form eines qui und quid getroffen hat, die in
ihrer schwachen pronominalen Determiniertheit den krisenhaften Aspekt des
Verlangens etwas deutlicher in den Blick rücken. 341
Sieht Girard in der Freilegung des triangulären Begehrens die von dem an der
Erhellung der condition humaine interessierten Romancier zu lösende Aufgabe,
besteht dessen Technik darin, die Positionierung der drei Punkte so zu variieren,
dass verschiedene Aggregatszustände des Begehrens explizit werden. Was in
seinem Erstlingswerk als problèmes de technique bei Stendhal, Cervantes, Flaubert,
Proust und Dostojewski herausgearbeitet und in seinem theoretischen Hauptwerk
systematisch dargestellt wird, ist der Stationenweg des Verlangens, 342 der
gleichzeitig einen Zugang in die Problemlage der Moderne eröffnet. Es geht ihm beim
Abschreiten der großen Romanschöpfungen im Pathos der révélation um nichts
weniger als um das Aufdecken eines Verlangens, welches sowohl in den extern als
auch den intern vermittelten Formen des Begehrens unstillbar bleibt und sich letzten
Endes als ein objektloses und sogar rivalenfreies und demzufolge metaphysisches
Verlangen herausstellt, welches, da es sich nicht mehr am Objekt oder am Rivalen
abarbeitet, sich in selbstzerstörerischer Frontstellung gegen sich selber wendet. Ein
Objekt begehren heißt zuerst, darunter zu leiden, dass man nicht so ist wie der
Andere, der es besitzt, und den man dann kopiert. Wer begehrt, nimmt mit Gabriel
Marcel in Kauf, dass seine Permanenz bedroht ist, was er aber weder sich selbst
noch dem Konkurrenten der Kompetition eingestehen kann, da so seine Inferiorität
offenkundig und seine Identität brüchig würde. Um seine Schwäche zu kaschieren,
versucht er, sich der vermeintlich starken Position des Anderen zu bemächtigen,
indem er ihn nachahmt. Da die Nachahmung aber nicht zur deckungsgleichen
Identifikation mit dem Vorbild führt und den Prozess des Begehrens nicht zum
Stillstand bringt, bleibt ein deprimiertes und enttäuschtes Verlangen zurück. Da
dieses Verlangen, da es dafür kein einlösbares Gut gibt, unstillbar ist, erhält es bei
Girard den Rang eines désir métaphysique.
In seiner Analyse des Ressentiments beschreibt Max Scheler – als Motto von
Mensonge romantique un vérité romanesque zitiert ihn Girard mit L´Homme
possède un Dieu ou une idole - die Situation des auf der Objektebene unstillbaren
341
Vgl. Gabriel Marcel, Etre et Avoir, Paris 1935, S. 236 : « Sans doute il y a dans l´avoir une double
permanence: permanence du qui, permanence du quid; mais cette permanence est par essence
menacée ; elle se veut, ou du moins elle se voudrait; et elle s´échappe à elle-même. Et cette menace,
c´est la prise de l´autre en tant qu´autre, l´autre qui peut être le monde en lui-même, et en face duquel
je me sens si douloureusement moi ; je serre contre moi cette chose qui va m´être arrachée peut-être,
je tente désespérément de me l´incorporer, de former avec elle un complexe unique, indécomposable.
Désespérément, vainement... ».
342
René Girard, Mensonge romantique, S. 145 : « Les romans de Stendhal, de Flaubert, de Proust et
de Dostoëvski sont autant d´étapes sur une même route. Ils nous décrivent les états successifs d´un
désordre qui s´étend et s´aggrave sans cesse ».
100
Verlangens dem Anderen gegenüber als Existenzialneid 343 und nimmt mit seiner
Diagnose der Grenzenlosigkeit des Strebens das transzendente Verlangen vorweg,
das nach Girard die Roman-Protagonisten zerreibt. Mit seinem Befund des
Ressentiments als seelischer Selbstvergiftung, als seelischen Dynamits oder als
mächtiger Ladung widerspricht er der harmoniestiftenden Imitation nach Tarde
ebenso, wie er mit Girard in dem übereinstimmt, worin sich der vor der neuzeitlichen
Degradierung herrschende, ‚präliminare’ Weltzustand unterscheidet von dem Stand,
präziser formuliert: der reaktiven Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen,
wie sie in den Romanen der bürgerlichen Zeit inszeniert werden.
Wird dieser Typus des Auffassens der Werte zu dem in einer Gesellschaft
herrschenden Typus, so wird das ‚Konkurrenzsystem’ die Seele einer solchen
Gesellschaft. Es wird um so ‚reiner’ gegeben, je weniger sich der Vergleich in
bestimmten Sphären bewegt, die z. B. Ständen entsprechen, sowie mit den damit
verbundenen
Ideen
von
standesgemäßem Unterhalt,
‚standesgemäßer’
Lebensführung, Sitte usw. Der einzelne Ackerbauer vor dem 13. Jahrhundert
vergleicht sich nicht mit dem Feudalherrn, der Handwerker nicht mit dem Ritter usw.
Er vergleicht sich höchstens mit dem reicheren oder angeseheneren Ackerbauer,
und so jeder nur innerhalb seiner Standessphäre. Gewisse Ideen sachlicher
Einheiten von Lebensaufgaben jeden Standes, die der Gruppe als solcher eigen
sind, binden hier jene vergleichende Auffassung in die Grenzen von Ganzheiten, die
höchstens wieder als Ganzheiten verglichen werden. Darum beherrscht in solchen
Zeiten allenthalben der Gedanke der gott- und naturgegebenen ‚Stelle’, auf die sich
jeglicher ‚gestellt’ fühlt und auf der er seine besondere Pflicht zu tun hat, alle
Lebensverhältnisse. Nur innerhalb dieses Stellenwertes kreist sein Selbstwertgefühl
und sein Verlangen. Vom König bis zur Hure und zum Henker trägt jeder jene
formale ‚Vornehmheit’ der Haltung, an seiner ‚Stelle’ unersetzlich zu sein. Im
‚Konkurrenzsystem’ hingegen entfalten sich die Ideen der sachlichen Aufgaben und
ihre Werte prinzipiell erst auf Grund der Haltung des Mehrsein- und
Mehrgeltenwollens aller mit allen. Jede ‚Stelle’ wird nun zu einem bloß
transitorischen Punkt in dieser allgemeinen Jagd. 344
Wie Tarde die Nachahmung als Ansteckung mit neuen Bedürfnissen reflektiert und
sozialkonstitutiv deutet, kann Scheler in Anspruch genommen werden als Denker,
der den reaktiven Impuls der Nachahmung in den Blick nimmt und deren Beitrag zur
sozialen Synthese überaus skeptisch beurteilt. Wenn auch Girard diese Vordenker
nicht ausdrücklich zitiert – sie werden eher beiläufig namentlich erwähnt -, so zeigt
sich doch seine Romananalyse ihren Beobachtungen in erkennbarer Weise
verpflichtet. Es ist insbesondere Scheler, der das Terrain für die gewaltsame
Zuspitzung des désir mimétique vorbereitet, wenn er einen Fortschritt des Gefühls
und Impulses bis zur Entstehung des Ressentiments aus dem Rachegefühl, dem
Groll, dem Neid, der Scheelsucht und Hämischkeit diagnostiziert und auf das
verbissene und verbitterte Ohnmachtsgefühl hinweist, das aus dem Streben nach
einem Gut dadurch entsteht, dass ein anderer dieses Gut besitzt und das sich in
343
Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912), Frankfurt/M 1978, S. 11: „Der
Neid, der die stärkste Ressentimentbildung auslöst, ist daher derjenige Neid, der sich auf das
individuelle Wesen und Sein einer fremden Person richtet: der Existenzialneid. Dieser Neid flüstert
gleichsam fortwährend: „Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, dass nicht ich bin, was du bist; ja dass
‚ich’ nicht ‚du’ bin.“ Dieser ‚Neid’ entmächtigt die fremde Person von Hause aus schon ihrer bloßen
Existenz, die als solche als ‚Druck’, ‚Vorwurf’, furchtbares Maß der eignen Person empfunden wird“.
344
Max Scheler, Das Ressentiment, S. 14
101
Aggression, Autoaggression und terroristischem Wahn entlädt, wenn kein
befriedigender objektaler Ausgleich möglich ist. Indem er darauf hinweist, dass das
vorbürgerliche Wertebewusstsein im Zuge der Demokratisierung sich auflöst und zu
einem unaufhörlichen Wertevergleichen 345 verflüssigt, wird unwillkürlich die Frage
nach dem Vergleichspartner, und da nur der stärkere Partner das Ressentiment
provoziert, nach dem überlegenen Vorbild laut. Da ein solcher Wertevergleich
gleichzeitig die Bindung an einen Helden impliziert, entsteht eine Abhängigkeit, die
sich in Eifersucht äußern kann und in Ehrgeiz, aber auch in einer bewussten und
rivalitätsfreien Haltung wie zum Beispiel die der Nachfolge Christi oder in einer
unbewussten Haltung dessen, der jeden Vergleich ablehnt und wie der Snob, der
Dandy 346 beziehungsweise Stendhals vaniteux oder Goethes Original seine
Vergleichsbemühungen darauf richtet, dass er sich mit sich selbst vergleicht und
darauf spekuliert, dass sich andere mit ihm vergleichen.
Girard markiert in seinen literarischen Analysen die transitorischen Stellen dieser
allgemeinen Jagd und verfolgt ihre Bewegung auf einer sowohl intra- als auch
intertextuellen Bahn, die, obwohl sie mit einer großen Verlustmeldung anhebt und mit
allen Merkmalen einer Verfallsgeschichte versehen ist, mit einer überraschenden
Konklusion aufwartet: Das mimetische Verlangen ist die Dreipunkte-Schablone, mit
der er - ohne Scheu vor methodischer Reduzierung oder Einseitigkeit – das humane
Wünsche-Feld vermisst und das Eifersuchtsmanagement beobachtet, welches den
affektiven Wettbewerb in den menschlichen Gruppierungen stimuliert und unter
Kontrolle zu halten versucht.
Wenn Girard in der Figur des Don Quixote das Umschlagen des authentischen zum
vermittelten, degradierten Verlangen festmacht – in der Hegelschen Diktion ist dies
vergleichbar mit dem Übergang des romantischen Helden des Epos zum
prosaischen Jüngling des Romans, der sich durchschlagen 347 muss -, ist gleichzeitig
die dieser Wende vorausgehende Zeit als eine Epoche datiert, in der die Menschen
noch nicht von diesem mimetischen Übel befallen sind. In seiner auf die mimetische
Theorie bezogenen Unterscheidung von Anciennität und Modernität parallelisiert
Girard den Verlauf zwischen dem Alten und Neuen mit dem einerseits extern,
andererseits intern vermittelten Begehren und erweitert den Bereich der anciens um
den Begriff der Repetition, den der modernes um den Begriff der Innovation. 348
345
Max Scheler, Das Ressentiment, S. 12: „Vergleiche unseres Selbstwertes überhaupt oder
irgendeiner unserer Eigenschaften mit den Werten, die anderen zukommen, vollziehen wir
fortwährend; und jeder vollzieht sie, der Vornehme und Gemeine, der Gute und Böse“.
346
Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1961, S. 678 : « Le dandy doit aspirer à être
sublime sans interruption ; il doit vivre et dormir devant un miroir ».
347
G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1832 - 1845), 1. Aufl. Frankfurt/M 1986, Bd. II, S.
219: „Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der
bürgerlichen Gesellschaft und des Staats, so dass jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die
Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch
verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehen als
Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der
Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa gegenüber, die ihnen von allen Seiten
Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in
diesem Gegensatze ins Unermessliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn
ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muss, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden
Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante,
bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen
Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen…“.
348
René Girard, ‘Innovation et répétition‘, Vortrag im Dez. 1989 in Tel-Aviv, in : ders. La voix
méconnue du réel, Paris 2002, S. 292 f.
102
Beide Lager haben gemeinsam, dass sie verlässliche Vorbilder brauchen und dass
sie das Prinzip der Nachahmung nicht in Frage stellen. Beide wissen, dass die
Sicherheit des eigenen Standpunkts auf einer topologischen Basis beruht, die eine
trianguläre Struktur aufweist und dass das richtige Tun und Wollen nicht aus der
Selbstbezüglichkeit entsteht, sondern eines Vorbilds bedarf. Die Welt der externen
Vermittlung ist besorgt um das Verschwinden ihrer transzendenten Modelle, denn sie
weiß um die Fragilität der zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn die Modelle
der Nachahmung nicht mehr dem unmittelbaren Zugriff enthoben sind, sondern sich
im horizontalen Blickfeld des wünschenden Subjekts bewegen und ihm körperlich in
die Quere kommen. L´objet de la crainte générale, c´est un effondrement de la
religion et de la société dans son ensemble par le biais d´une contagion mimétique
susceptible de transformer la foule en meute. 349 Was den Zusammenbruch der
religiösen und sozialen Ordnung verhindern kann, ist die rituelle Wiederholung des
alten Bewährten. Demgegenüber muss aus der Sicht der Bewahrer alles Innovative
bedrohlich wirken und einen geradezu apokalyptischen Anklang haben. Doch auch
die Erneuerer sind keine Erfinder, auch sie imitieren trotz des revolutionären
Anscheins ihre Vorbilder. Beide Parteien bekämpfen sich indes heftigst und werfen
sich gegenseitig vor, das falsche Modell zu imitieren, wobei die anciens sich die im
Mittelalter herausgebildete und bis in das 17. Jahrhundert reichende negative
Konnotation des Innovationsbegriffs nutzbar machen können, dessen Negativität sich
allerdings mit dem Fortschritsglauben der von Naturwissenschaft und Technik
beherrschten Moderne in ihr Gegenteil umkehrt.
Der Streit der Bewahrer und Erneuerer um das richtige Modell endet nicht durch den
Sieg der einen oder anderen Partei; er geht dadurch zu Ende, dass die Zeit der
externen Vermittler abläuft, dass sich deren Mediationskapazität erschöpft und – das
ist die Entdeckung, die sich aus Girards Romananalyse herauskristallisiert – die
sozusagen zur Nachahmung Verdammten ihre Vorbilder unter ihresgleichen suchen
müssen und so den folgenreichen mimetischen Konflikt provozieren. Nach dem
Verschwinden der transzendenten Modelle ist, falls nicht diktatoriale oder totalitäre
Gesellschaftsmodelle ihre Stelle einnehmen, der Weg endgültig frei für die Innovation
und für die Besetzung der Vermittlerposition durch im Prinzip austauschbare und
zumeist massenmedial auftretende Größen aus Popkultur und Sport. La médiation
externe fait désormais place à un monde où, au moins en principe, individus et
communautés sont libres d´adopter les modèles de leur choix ou, mieux encore, pas
de modèles du tout. 350
Eine literaturhistorisch abgesicherte Epoche der stabilen externen Mediation wird von
Girard nicht postuliert. Wie in der Cervantes-Analyse angedeutet, versteht Girard das
Erzählen immer schon als ein Infragestellen des transzendenten Modells und als ein
Abgleiten von der bedingungslosen Nachahmung des transzendenten Modells auf
das Niveau der konfliktiven Nachahmung der doubles. Sein Fall und sein
Fortschreiten in der Degradierung der internen Mediation werden in Anlehnung an
gängige kultur- und geistesgeschichtliche Phasentheorien eher umrisshaft
wiedergegeben. Im Dialog mit dem Psychologen Oughourlian 351 betonnt er, dass
das animalisch bedingte Aneignungsverlangen, le désir d´appropriation, da es neben
der objektalen Aneignung immer auch eine Statusveränderung anstrebt, zwar nie
ohne mimetische Schlagseite mit allen konfliktiven, kompetitiven und subversiven
349
René Girard, La voix méconnue du réel, S. 294
René Girard, La voix méconnue du réel, S. 298
351
René Girard, Des choses cachées, S. 307 f.
350
103
Konnotationen denkbar ist, dass aber in den religiös strukturierten Sozietäten der
externen Vermittlung dafür gesorgt ist, dass die zerstörerische Energie durch Verbote
und Regeln sowie durch die über das gemeinsame Opfer hergestellte Einmütigkeit
periodisch absorbiert wird, dass somit bei der drohenden Ausdehnung der Feuer des
Neids zu einem verheerenden Flächenbrand geeignete ‚Löschvorrichtungen’ zur
Verfügung stehen. Werden aber am Ende des religiösen Zeitalters die nicht mehr
durch einen obersten Gesetzgeber garantierten Regeln und Verbote kraftlos und die
ruhestiftenden gemeinsamen Opfer nicht mehr begangen, wird das Einhaltgebieten
gegenüber den mimetischen Kettenreaktionen zum Problem. Den menschlichen
Gemeinschaften droht Gefahr von innen, wenn die Kontamination durch das
Begehren nicht durch religiöse oder kulturelle Interventionen unterbunden wird. 352
Vor Ausbruch der mimetischen Epidemie also steht der Mensch im Status der
religiösen Transzendenz dem einen und allmächtigen Gott gegenüber. 353 Nach
dessen Tod, nach Nietzsches Formel die Eröffnung des Zeitalters der Immanenz,
gibt es keine Instanz mehr, die den Menschen a priori als Orientierung, als Helfer und
als tiers garant 354 inmitten ihrer mimetischen Krisen dienen kann. Für Girard wird
diese Orientierung in dem Kirchturm von Combray in Prousts A la recherche du
temps perdu symbolisiert, einem Turm, der als Mittelpunkt der Stadt von weitem
sichtbar ist und über den Häusern und dem Treiben der Menschen herrscht, der aber
auch Teil einer Kirche ist, die leer steht. Der Bruch ist vollzogen: Le clocher est
partout visible mais l´église est toujours vide. Les dieux humains et terrestres de la
médiation externe sont déjà des idoles; ils ne s´alignent pas sur la verticale du
clocher.[...] A mesure que le médiateur se rapproche du sujet désirant la
transcendance s´éloigne de cette verticale. 355
Die durch das Herabsteigen von der Turmhöhe auf das menschliche Niveau zu
Idolen gewordenen Götter markieren den Abschied von der Transzendenz und
breiten auf dem ‚Boden’ der Wirklichkeit das Feld aus, in dem die
Zusammenlebenden ihr Wunschleben zu organisieren haben. Der aus der
transzendenten Verankerung, genauer: Verhimmelung gelöste Vermittler hat sich
gleichsam emanzipiert und genießt eine Bewegungsfreiheit, die ihn befähigt, sich
sowohl den Wunsch-Subjekt als auch dem Wunsch-Objekt anzunähern bis hin zu der
Idenfizierung mit dem einen oder dem anderen. Sieht man in dem symbolischen
Höhenverlust des Kirchtums von Combray eine Metapher für die Kulturrevolution des
19. und 20. Jahrhunderts, die sich gewöhnlich mit dem Begriff der Säkularisierung als
der Enteignung der kirchlichen Güter verbindet, lässt sich dieser Vorgang auch
philosophisch deuten als Prozess der Verweltlichung und Absolutsetzung des
352
Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären Bd. III, S. 408: „Der erste Unterricht in der Schule des Begehrens
wird durch Verbote erteilt. Hier lernt man das Nötigste durch das Tabu und das Du-sollst-nicht. Je
ruhiger der Besitz, desto eher wird die Wunsch-Eskalation verhindert. Im Verbot macht sich die
Anwesenheit des Dritten bemerkbar, der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist, bevor wir uns
empirisch begegneten: Dieser garantieleistende Dritte trennt mich von meinem naiven Begehren nach
den Vorteilen des anderen ebenso, wie er dem anderen die Exhibition seiner Begünstigungen
untersagt“.
353
Vgl. Peter Sloterdijk, „Mir näher als ich selbst“ in: Sphären Bd. I, S. 549 f., wo in der Deutung von
Augustinus und Nikolaus von Kues das Gegenüber von menschlicher Seele und Gott als
Resonanzverhältis, Bannkreis des absoluten Ich, Kosubjektivität, Ineinander- und Miteinandersein
beschrieben wird.
354
Vgl. Pierre Legendre, Sur la question dogmatique en occident, Paris 1999, wo die gängigen
Kommunikationstheorien und Diskursethiken kritisiert werden und die Funktion des garantieleistenden
Dritten als Voraussetzung für den allgemeinen Normengehorsam betont wird.
355
René Girard, Mensonge romantique, S. 218
104
Säkularen. Die Welt wird zum gegensatzlosen Inbegriff des Seienden erhoben, und
gleichzeitig werden die beiden supranaturalen Größen, die im Seinsmodell des
metaphysischen beziehungsweise religiösen Zeitalters von der Welt zu
unterscheiden und ihr entgegenzusetzen waren, nämlich Gott und die Seele,
liquidiert. In der radikal verweltlichten Welt ist es nicht mehr möglich, neben der Welt
ontologisch eigenständige Positionen wie Seele und Gott bestehen zu lassen. Damit
implodiert das klassiche metaphysische Dreieck von Gott, Welt und Seele, und an
die Stelle der wohltemperierten Abstände zwischen den Polen der dreifaltigen
Totalität tritt nun, vage und monolithisch, ein absoluter Block, die ‚Welt’ schlechthin.
356
Die a priori abstandslose Welt, in der keine Instanzen über die Distanzen wachen,
diese Welt ist alles, was der Fall ist. Sie ist ein offenes und weites Feld und bietet
reichlich ‚Spielmaterial’ für Erzähler, wenn sie Personen auf die Bühne stellen, die
unter der Bedingung der aufgehobenen Distanzen eine Antwort auf die
Anforderungen sowohl des Wunsch-, als auch des Zusammenlebens geben sollen.
Für den Literaturkritiker die Gelegenheit, den Prozess der Soziogenese vom
animalischen Nullpunkt her in der erzählerisch gebotenen Sequenz wiederzufinden
und die Aussagekraft der Erzählung – oben dargestellt als Schönheit, Trefflichkeit,
Unterhaltsamkeit, Merkwürdigkeit, Übersetzbarkeit usw. - an dem Maß ihrer
Entsprechung mit der handlungsstrukturellen Folie zu messen, mit Girard
gesprochen: an der Wahrheit. 357
Neben der Horizontalisierung des Verlangens symbolisiert die St. Hilarius-Kirche von
Combray einen weiteren Ausgangspunkt für den Girardsche Stationenweg des
Begehrens. Die Kirche bildet das Zentrum der Stadt, die Straßen laufen dort
zusammen, die Erinnerungen der Generationen werden dort aufbewahrt, die
Zusammengehörigkeit der Einwohner findet dort ihr architektonisches Muster, aber
die Kirche ist leer. Diese Leere hat Aufforderungscharakter; sie bilanziert nicht eine
bloße Abwesenheit; sie signalisiert vielmehr ein Bedürfnis nach Fülle und nach
Erfüllung, sie ist der Abgrund, der nach dem Tod Gottes im Herzen der Menschen
klafft, eine Leere, die nach Sättigung verlangt, in der pessimistischen Anthropologie
des Augustinus, 358 zu der sich Girard bekennt, die Ursache der metaphysischen
Unruhe, die allein durch die Umkehr zu Gott gestillt werden kann. In Anlehnung an
die augustinische Lehre von der Erbsünde geht dem transzendenten Elan die
356
Peter Sloterdijk, „Chancen im Ungeheuren“ , Vorwort zu : William James, Die Vielfalt religiöser
Erfahrung (1902), dt., Frankfurt/M-Leipzig 1997, S. 13
357
René Girard, Mensonge romantique, S. 220 : « La vérité du romancier est totale. Elle embrasse
tous les aspects de l´existence individuelle et collective. Même si le roman néglige un peu certains de
ses aspects il indique clairement une perspective. Les sociologues ne reconnaissent rien chez Proust
qui rappelle leur propre démarche parce que l´opposition entre la sociologie romanesque et la
sociologie des sociologues est fondamentale ».
358
René Girard, Quand ces choses commenceront, Entretiens avec Michel Treguer, Paris 1994, S.
196 : « Les trois quarts de ce que je dis sont dans Saint Augustin. » Dazu Aurelius Augustinus (354 430), Confessiones, dt. Des Heiligen Augustinus Bekenntnisse, Freiburg 1949, S. 65: „ Denn du hast
uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir.“ Die Bekenntnisse
enthalten mehrere Belege für die Positionsverschiebung zwischen médiation interne und médiation
externe/absolue, z. B. S. 80 – 81: „Der Mann (ein berühmter Redner in Rom, d. Verf.) wurde gelobt,
und so wurde er geliebt, obgleich er nicht zugegen. Kommt also aus dem Mund des Lobenden die
Liebe in das Herz des Hörers? Gewiss nicht. Aber an der Liebe des einen entflammt sich die Liebe
des anderen […] Jener Redner aber, den ich so liebte, war von der Art, dass ich ihm zu gleichen
wünschte. Und ich ging in die Irre in meinem Stolz und wurde umhergewirbelt von jedem Wind, aber
ganz im Verborgenen leitete mich deine Hand“.
105
göttliche Adresse 359 verloren, sie kommt vom rechten Weg ab, und anstatt sich in
der Vertikalen auf den einen Punkt zu beziehen, von dem aus alle Menschen als
Gleiche, nach christlichem Verständnis: Brüder und Schwestern eines Vaters,
erscheinen, verlegt sie sich in die Horizontale. In der Horizontalen erscheinen die
Menschen nicht als gleiche, sondern als andere, als Menschen, deren
Transzendenzverlangen ebenfalls abgefälscht und umgeleitet ist, so dass
personifizierte ‚metaphysische Unruhen’ einander in der Erwartung auf Ruhigstellung
und Befriedung entgegenkommen und entgegenstehen, was zwangsläufig dazu
führt, dass sie in dieser Erwartung enttäuscht werden und umso mehr ihre verbitterte
und verbissene Energie investieren, um fortan die Enttäuschung zu überwinden. Da
jedes objektale Verlangen ein verkapptes und abgefälschtes transzendentes
Verlangen ist, das sich in Abwesenheit des göttlichen Vermittlers am externen
beziehungsweise internen Vermittler abarbeitet, ist von Anfang an das Begehren
mimetisch, und damit ist es triangulärer und somit konfliktiver Natur. Daher geht es
dem begehrenden Subjekt nicht einmal darum, das Wunschobjekt als Objekt der
Begierde eines Vermittlers sich anzueignen. Im Kern seines Begehrens pulst das
Verlangen, sich mit seinem Vermittler-Rivalen zu identifizieren, ein Verlangen, das a
priori unerfüllbar ist. Begehren heißt demnach: daran leiden, dass man nicht der
andere ist, der man sein will, und dennoch alles tun, um ihn nachzuahmen.
In A la Recherche du temps perdu empfindet der junge Marcel eine leidenschaftliche
Zuneigung für die Schauspielerin Berma. Als er erfährt, dass sie in Racines Phädra
die Hauptrolle spielt, brennt er darauf, ins Theater zu gehen, um sie zu sehen. Es
stellt sich aber heraus, dass dieses unwiderstehliche Verlangen seinen Grund
keineswegs in seinem freien Ich hat, sondern bedingt ist durch eine Reihe von
Bewunderungsverhältnissen, die nach seiner Beobachtung gewisse Personen in
seiner Umgebung mit der Schauspielerin unterhalten. Nicht der junge Marcel denkt
oder hat das Gefühl, dass es nichts Schöneres als die Berma gibt; diese Sicht wird
ihm vermittelt und eingeimpft durch den Schriftsteller Bergotte sowie den Diplomaten
de Norpois, der mit Marcels Eltern befreundet ist. Im Sinne der Freudschen
Identifizierung geht es für Marcel mehr darum, diesen angesehenen Männern mit
ihren interessanten Berufen zu gleichen, als darum, die Berma auf der Bühne zu
sehen und zu hören. Er ist zwangsläufig von dem Theaterbesuch enttäusch, aber als
im Tischgespräch de Norpois wiederum lobend die Berma erwähnt, erwacht in
Marcel erneut die Bewunderung für die Schauspielerin. Die Bewunderung für die
Berma ist also die Nachahmung der Bewunderung der beiden ob ihres Könnens und
ihrer Status bewunderten erwachsenen Vorbilder. Und diese mimetische
Kettenreaktion gedeiht besonders gut, wenn die Vermittlerfunktion durch
entsprechende Träger, vor allem Bücher, mediatisiert wird, welche die Attraktivität
des Wunschobjekts verstärken, indem sie es in einem blow-up-Effekt aus dem
Kontext isolieren, in den Blick bringen, mit einem neuen, starken Licht beleuchten
und die Vorstellungskraft des Betrachters mobilisieren. 360
359
Für Baudelaire ist die göttliche Adresse eine aus der menschlichen Natur zu erklärende Projektion.
Vgl. Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, S. 1295 : « C´est toujours l´animal adorateur se
trompant d´idole ». sowie S. 1247 : « Dieu est le seul être qui, pour régner, n´ait même pas besoin
d´exister. [...] Quand même Dieu n´existait pas, la Religion serait encore Sainte et Divine ».
360
Vgl.Marcel Proust, A la Recherche du temps perdu (1913 - 1925), Paris 1987, Bd. III, S. 402 : « ...
et comme chacun a besoin de trouver des raisons à sa passion, jusqu´à être heureux de reconnaître
dans l´ être qu´il aime des qualités que la littérature et la conversation lui ont appris être de celles qui
sont dignes d´exciter l´amour, jusqu´à les assimiler par imitation et en faire des raisons nouvelles de
son amour, ces qualités fussent-elles les plus opposées à celles que cet amour eût recherchées tant
qu´il était spontané... » Dazu auch S. 103 : « Quant à Bergotte, ce vieillard infiniment sage et divin à
106
Erwächst das Verlangen jenseits des natürlichen Bedürfnisses von dem Augenblick
an, wo dessen Erfüllung von einem Konkurrenten bedroht oder bestritten wird, 361 so
wird aus dem Verlangen in dem Maß, wie die Bedeutung des Wunschobjekts hinter
der des Vermittlers zurücksteht, ein metaphysisches Verlangen, wobei Girard das
Metaphysische nicht im aristotelischen Begriff als das Fragen nach den ersten
Gründen und Ursprüngen des Seienden gebraucht. Ein metaphysichen Verlangen ist
in der Stationenlehre des Begehrens ein Verlangen, dem das Objekt abhanden
kommt und das sich in dieser Objektlosigkeit umso heftiger gegen seinen Rivalen
richtet. 362
M. de Rênal möchte Julien als Hauslehrer verpflichten, weil sein Rivale ihn auch
verpflichten möchte. Aber M. de Rênal geht nicht so weit, dass er den Wunsch hätte,
sich mit Valenod zu identifizieren. Am Beispiel der Schauspielerin Berma wird
erkennbar, dass eine neue Stufe des Verlangens erreicht ist. Das Wunschobjekt hat
seinen Ort nicht mehr in der Äquidistanz von Subjekt und Vermittler. Marcel verlangt
nicht mehr nur danach, das Begehren des Andern, also des Schriftstellers
Bergamotte und des Diplomaten de Norpois, zu imitieren. Er verlangt danach, in der
Imitation des Andern zu eben diesem zu werden. Das Verlangen geht über das
Wunschobjekt hinaus; es wird metaphysisch, weil Marcels Verlangen sich nicht mehr
primär auf das physische Objekt richtet, sondern sich von etwas motivieren und
reizen lässt, was von diesem physischen Objekt abstrahiert und mit ihm nur noch
lose verbunden ist. Lockert sich diese Bindung weiter, tritt das Verlangen, der Andere
zu sein, an die Stelle des Verlangens, sich anzueignen, was der Andere besitzt.
Schließlich, wenn die Bindung abgerissen ist, nimmt das trianguläre Begehren
duellhafte Formen an, verwandelt sich das dreistellige Schema in einen
Antagonismus, in dem das Subjekt und der Andere einander gegenüberstehen, sich
voneinander weg- oder aufeinander zu bewegen, ohne dass in dieser Ökonomie des
Begehrens dem Wunschobjekt noch eine entscheidende Funktion zukommt. Das
Verlangen speist sich nicht mehr aus der Nachahmung; es manifestiert sich als ein
Seinsdefizit und als Ausdruck der Leere, die durch den ‚Tod Gottes’, das Aussbleiben
eines transzendenten Dritten, entstanden ist; es ist die Leere, die man, da keine
Verbindung zu einer externen Instanz besteht, auszufüllen versucht durch die Fülle
des Anderen.
Wenn sich das Verlangen vom Besitz des Anderen wegbewegt und dessen Status
zuwendet, und wenn dann der Andere zugleich das ist, was ich sein will und was
mich daran hindert, es zu sein, verwandelt sich das Verlangen in grundlose Rivalität,
in Hass, Angst und Verzweiflung. Das Verlangen wird pathologisch, es wird ein
Leiden am Anderen, der all das hat, was mir fehlt, der all das ist, was ich zu sein
verlange. Der Andere erscheint im Glanz einer gottgleichen Vollkomenheit, welche
mich noch schwächer und minderwertiger macht. Es kommt zu einem feindseligen
Dialog zwischen dem Ich und dem Anderen, und nicht nur, wie Hegel meint, zu
einem Kampf um gegenseitige Anerkennung. Das zugleich manisch und depressiv
cause de qui j´avais d´abord aimé Gilberte, avant même de l´avoir vue, maintenant c´était surtout à
cause de Gilberte que je l´aimais ».
361
René Girard, Des choses cachées, S. 319 : « Pour débrouiller l´échevau du désir, il faut et il suffit
d´admettre que tout commence par la rivalité pour l´objet. L´objet passe au rang d´objet disputé et de
ce fait les convoitises qu´il éveille, de part et d´autre, s´avivent ».
362
René Girard, Des choses cachées, S. 321 : « On peut décider de n´employer le mot désir qu´à
partir du moment où le mécanisme incompris de le rivalité mimétique a conféré cette dimension
ontologique ou métaphysique à ce qui n´était auparavant qu´un appétit ou un besoin ».
107
aufgeladene Verlangen, 363
wie Girard es deutet, ist die Reduzierung der
zwischenmenschlichen Verhältnisse auf die Herrn-Sklaven-Dialektik und daher vom
Format eines ontologischen Übels.
Der Andere wird für das begehrende Ich so notwendig, dass er von diesem, wie es
Cervantes in der Episode von der unbesonnenen Neugier gezeigt hat, erfunden und
engagiert werden muss, wenn das Begehren wach gehalten werden soll. Und wenn
das Begehren in metaphysischer Ausprägung ein Seinwollen ist, wird der rivalitäre
Andere geradezu seinsnotwendig. Ohne einen jederzeit aktiven Anderen, von
dessen Vermittlung und Konkurrenz das Begehren des Ich abhängt, ist auch eine
Liebesbeziehung nicht am Leben zu erhalten. Dies ist Girards Interpretation des
Ewigen Gatten von Dostojewskij, wo ein Mann, der Witwer geworden ist, sich auf die
Suche nach den früheren Liebhabern seiner verstorbenen Frau macht. Er sucht die
Nähe derer, die über ihn triumphierten, und empfindet dabei Trost und Stärkung wie
ein Kind bei seinem Vater. Als er sich wieder verheiraten möchte, bittet er einen
dieser Liebhaber, ihn zu seiner Verlobten zu begleiten, damit seine Leidenschaft für
die junge Frau durch die Gegenwart dieses potenziellen Rivalen sich voll entfalten
kann. Wie Don Juan begehrt er schon nicht mehr die geliebte Frau, sondern die
mimetische Rivalität mit seinem Vorbild, welches zum blockierenden Vor-Bild wird,
das sich zwischen ihm und seiner Geliebten in den Weg stellt. Was folgt, entspricht
der Logik des Begehrens: Die Verlobte verliebt sich in diesen Dritten, der in ihren
Augen dank seiner erotischen Erfahrungen attraktiver ist als der armselige Witwer.
Das Verlangen sucht also, wenn es erwachen, anhalten und sich seines Motivs
vergewissern soll, den Anderen, den Dritten. Es geht über das Wunschobjekt hinaus
auf diesen Anderen zu, an den es sich in der doppelten Faszination von Verehrung
und Abscheu, von Bejahung und Verneinung heftet. Je mehr sich das Ich dem
Anderen als Unterworfener nähert, desto größer, verehrungswürdiger und
unnahbarer erscheint dessen Herrlichkeit. Sucht aber das Ich den Anderen zu
beherrschen, verliert dieser seine rivalitäre Energie und bringt das Verlangen des Ich
zum Erlöschen. 364 Wie immer man sich als Begehrender verhält, das Begehren
enthüllt seine masochistische Dimension und endet in der Niederlage. Im äußersten
Fall begegnet das begehrende Ich nicht nur der doppelten Faszination des Vorbilds,
sondern es erfährt dessen Gewalt. Indem nun auch die Gewalt zum
unwiderstehlichen Faszinosum wird, entsteht ein monströses Verhältnis zwischen
dem Begehren und der Gewalt. Immer wenn das Ich sich auf ein Wunschobjekt zu
bewegt, erfährt es Scheitern, Zurückweisung und Konfrontation mit fremder Gewalt.
Also ist es letzten Endes die Gewalt, auf die es sich zu bewegt, welche sein
Begehren rechtfertigt und das durch das Begehren substituierte Seinwollen zu
erfüllen in Aussicht stellt. Wenn das begehrende Ich nicht durch sein Vorbild
zufrieden gestellt wird, sucht es sich seinen Rivalen. Verliert das Wunschobjekt seine
Attraktivität, verwandelt sich der Rivale in den mit Macht und Gewalt ausgestatteten
Herrn mit der Folge, dass das Begehren des ohnmächtigen Ich autodestruktive
363
René Girard, Des choses cachées, S. 331: « Le maniaco-dépressif est possédé, visiblement, d´une
ambition métaphysique prodigieuse.[...] Le maniaco-dépressif a une conscience particulièrement
aiguë de la dépendance radicale où sont les hommes à l´égard les uns des autres et de l´incertitude
qui en résulte ».
364
René Girard, Des choses cachées, S. 330 : « Le rapport à l´autre ressemble à une balançoire où
l´un des joueurs est au plus haut quand l´autre est au plus bas, et réciproquement ».
108
Formen annimmt, sich in eine Art Todestrieb verwandelt und in letzter Konsequenz
aus seinem Widerstand seinen Richter und Henker macht. 365
Denis de Rougemeont formuliert in seiner Analyse des Tristan-Mythos das grausame
Spiel der Leidenschaft mit dem von ihr benötigten Hindernis:
Tristan et Iseut ne s´aiment pas, ils l´ont dit et tout le confirme. Ce qu´ils aiment, c´est
l´amour, c´est le fait même d´aimer. Et ils agissent comme s´ils avaient compris que
tout ce qui s´oppose à l´amour le garantit et le consacre dans leur cœur, pour
l´exalter à l´infini dans l´instant de l´obstacle absolu, qui est la mort. 366
Da das Verlangen seinen transzendenten ‚Ausgang’ verloren hat, kommt Girard zu
dem Schluss, dass die horizontalen Lösungen des Verlangens auf der Suche nach
dem obstcale absolu ins Verderben führen und tödlich verlaufen. Mehr als die
Philosophen, die Theologen und die Soziologen begreifen die Erzähler den Ernst und
die Tragik der condition humaine. Und indem sie als Stimme einer pressante
interrogation de l´homme […] et celle de l´Occident 367 die apokalyptische Situation
der Moderne in ihrer ganzen Ausweglosigkeit darstellen, deuten sie die Richtung an,
aus der eine Rettung kommen kann.
Bei seinen Recherchen im Archiv der westlichen Erzählliteratur kommt Girard zu dem
Resultat: Es gibt zwei verschiedene Arten von Autoren, die einen, die eine
seherische und prophetische Begabung haben und die Wahrheit sagen, und die
anderen, die auf antiken Pfaden daherkommen, die lügen und täuschen. Die
Wahrheit sagen diejenigen, die die mimetische, also dreistellige Verfasstheit des
Verlangens erkennen und an ihren Protagonisten durchspielen. Lügner sind
diejenigen, die Romantiker und die Modernen, die ihre Protagonisten zu Urhebern
ihres Verlangens erklären und die Illusion der Spontaneität und Linearität
aufrechterhalten. Die romanhafte Mission wird vorbildhaft erfüllt von Proust, dem
Girard bescheinigt, er durchschaue das Verlangen seiner Helden und damit die
Befindlichkeit seiner und der nachfolgenden Epoche 368 oder auch von Dostojewski,
von dem es lapidar heißt: Un Dostoëvski perçoit l´essence maléfique des
fascinations qui gouvernent ses héros. 369 Stellvertretend für diejenigen, die die
Wahrheit nicht kennen oder sie verraten, belegt Girard die zeitgenössischen und in
seinen Augen rückständigen Autoren mit seinem Bann, indem er ihnen den Vorwurf
macht, sie machten sich zu Komplizen der tödlichen Faszinationen, anstatt diese zu
durchschauen und ihr Publikum gegen die mimetische Ansteckungsgefahr zu
immunisieren. Für sie gilt: Nos écrivains contemporains s´y abandonnent, par contre,
avec d´autant plus de complaisance qu´ils sont plus teintés de néo-romantisme. 370
365
René Girard, Mensonge romantique, S. 285 : « L´individu, toujours plus égaré, toujours plus
désaxé par un désir que rien ne peut satisfaire, finit par chercher l´essence divine dans ce qui nie
radicalement sa propre existence, c´est-à-dire dans l´inanimé ».
366
Denis de Rougemont, L´amour en occident, Paris 1938, S. 33
367
André Malraux, L´Homme précaire, S. 10
368
René Girard, Mensonge romantique, S. 284 : « En révélant le désir de son époque, le romancier,
comme toujours, révèle la sensibilité de son époque ou de l´époque qui va suivre. Le monde
contemporain tout entier est pénétré de masochisme. L´érotisme proustien est aujourd´hui l´érotisme
des masses. Il suffit pour s´en convaincre, de jeter un coup d´œil sur le moins sensationnel des nos
journaux illustrés».
369
René Girard, Mensonge romantique, S. 285
370
ebenda
109
Die letzte Station im Parcours des Begehrens, die der Rettung, kann nur dann
angemessen dargestellt werden, wenn sie zugleich verstanden wird als die Schwelle,
an der der zwanghafte und mechanische Charakter des Imitierens und Begehrens
zurücktritt zugunsten von Entscheidungen, die nicht reaktiver Art sind und den Raum
der mimetischen Verstrickungen hinter sich lassen. Lässt sich, wie es Girard
überzeugend nachweist, der Reigen des mimetischen Verlangens an allen
ernsthaften Autoren aller literarischer Gattungen verfolgen, spielt der Roman die
Rolle einer Königsdisziplin, wenn es darauf ankommt, aus der mythisch gestimmten
Verhängnisspirale des Mimetischen auszubrechen und Wege der Befreiung – in
religiöser Diktion: der Erlösung – aufzuzeigen. Spätestens im Schlusskapitel von
Mensonge romantique wird klar, dass die Analyse der großen Romane sich nicht
damit begnügt, eine Romantheorie zu entwerfen, sondern mit der Aufdeckung der
menschlichen Beziehungen als konfliktiver Begehrensverhältnisse den Grundstein
legt für eine allgemeine Kulturtheorie. Wie sich das dreistellige mimetische Verlangen
mit seinen undenkbar vielen objektalen und personalen Anschlüssen zu einem
erzählenden Text ausspannt, entsteht in dieser Mechanik des imitierenden
Begehrens und des begehrenden Imitierens eine erste soziale Zelle, eine
gesellschaftliche Vorform, die bei ihrer Erweiterung zu einer kulturellen Großform
prinzipiell nur noch quantitative Veränderungen erfährt.
Der mimetische Reigen hebt im Roman nach der gleichen mechanischen
Notwendigkeit an wie im Mythos und kennt wie dieser die verschiedenen Figuren des
Begehrens: die extern vermittelten bei Cervantes und Flaubert, die intern vermittelten
bei Stendhal und Proust, darunter die exogamischen Varianten und, bei Dostojewski,
die endogamischen. 371 Mit der gleichen Drift dehnt er sich aus in Zeit und Raum wie
der Mythos. Mit diesem stimmt er darin überein, dass er die Geschichte einer Gruppe
von Menschen erzählt, wie sie – die Gruppe und die Erzählung - entsteht, was sie
zusammenhält und was ihren Zusammenhalt bedroht. Mit der gleichen
Unausweichlichkeit wie der Mythos stellt der Roman die Frage, was unternommen
werden oder geschehen muss, damit das drohende Chaos verhindert wird. 372
Während jedoch der Mythos die bedrohliche Krise durch ein Opfer überwindet und
bis zur jeweils nächsten Krise Zeit gewinnt, kennt der Roman eine Konklusion, die
einem Akt des Exorzismus gleichkommt und als guérison métaphysique 373 eine
Wiederaufrichtung des abgefälschten und eine letzliche Erfüllung des
transzendenten Verlangens eröffnet. Mit der gleichen methodischen Großzügigkeit,
mit der alle Epochen und Autoren der Romanliteratur als zu einem einzigen Corpus
zusammenfasst, lässt Girard alle Romane, sofern sie nicht unter das Verdikt des
Romantischen beziehungsweise Modernen fallen, in einer Bewegung enden, welche
den Protagonisten aus der belasteten Perversion heraus- und der befreienden
371
eine endogame und äußerst konfliktive Vermittlung findet sich in Schillers Räuber. Vgl. Rüdiger
Safranski, Schiller, S. 112 – 113: „Franz indes hat es auf eine einzige Frau abgesehen, Amalia. Er
unternimmt einen Vergewaltigungsversuch, er begehrt sie, ohne sie zu lieben, und was er an ihr
begehrt, ist weniger ihr Körper selbst als die Vorstellung, dass er einen Körper, den sein Bruder
begehrt, diesem entziehen und für sich selbst in Besitz nehmen könnte. Er will Amalia, die an Karl
versprochen ist, den ehelichen Schwur aus der Seele pressen, ihr jungfräuliches Bette mit Sturm
ersteigen und ihre stolze Scham mit noch größerem Stolze besiegen“.
372
René Girard, Mensonge romantique, S. 288 : « Toute la littérature romanesque est emportée par
une même vague, tous les héros obéissent à un même appel vers le néant et vers la mort. La
transcendance déviée est une descente vertigineuse, une plongée aveugle dans les ténèbres. Elle
aboutit à la monstruosité de Stavrouguine, à l´orgueil infernal de tous les Possédés ».
373
René Girard, Mensonge romantique, S. 295
110
Konversion zuführt. 374
Im romantischen oder modernen Roman wird das
mimetische Begehren bloß gespiegelt, im großen Roman wird es durchschaut und
entlarvt. Der große Roman endet mit einer Bekehrung und mit einer Enthüllung.
Insofern ist er apokalyptisch, und darin liegt die romaneske Wahrheit.
Le mensonge fait place à la vérité, l´angoisse au souvenir, l´agitation au repos, la
haine à l´amour, l´humiliation à l´humilité, le désir selon l´Autre au désir selon Soi, la
transcendance déviée à la transcendance verticale. 375
Um das Heer der Griechen von der drohenden Revolte abzuhalten, lässt der König
Agamemnon den Opferalter errichten, und der Mythos will – und will wissen -, dass
die Königstochter ihrer Opferung zustimmt. Im Unterschied zu dieser mythischen
Konklusion und Krisenbewältigung lässt Cervantes den Don Quixote in seiner
Todesstunde erkennen, dass es ein Irrtum war, den Amadis von Gallien und alle die
anderen Helden der Ritterromane nachzuahmen. Don Quixote erkennt, dass er einer
romantischen Illusion nachgejagt ist und sich und andere dabei unglücklich gemacht
hat. Don Quixote stirbt nicht für eine ‚große Sache’. Der Augenblick der Heimkehr
nach der abenteuerlichen Reise ist gleichzeitig der Augenblick der Umkehr und
Versöhnung, die von Sacho Pansa angekündigt wird.
Mit diesen Gedanken und Wünschen erreichten sie einen Hügel, von dem herab man
ein Dorf entdeckte. Bei diesem Anblick warf sich Sancho auf die Knie und rief: „Öffne
die Augen, ersehnte Heimat, und sieh deinen Sohn Sancho Pansa, wenn auch nicht
sehr reich, so doch wohl gestriegelt in deinen Schoß zurückkehren! Öffne die Arme
und nimm auch deinen Sohn Don Quixote wieder auf, der zwar von fremder Hand
besiegt, doch als Sieger über sich selbst heimkommt; und das ist, wie er mir gesagt
hat, der größte Sieg, den man erringen kann. 376
Die religiöse Dimension dieser Umkehr wird von Don Quixote selbst dokumentiert,
wenn er seiner Nichte gegenüber erklärt, dass der Verzicht auf die wenn auch
externe Nachahmung gleichzeitig die gnadenhafte Wiederherstellung des
transzendenten Verlangens bedeutet.
„Was sagt Ihr, gnädiger Herr?“ fragte sie ihn. „Ist Euch etwas Besonderes
widerfahren? Oder was meint Ihr mit dieser Barmherzigkeit und mit diesen
Missetaten der Menschen, von denen Ihr sprecht?“ „Die Barmherzigkeit, liebe Nichte,
von der ich spreche“, antwortete Don Quixote, „hat mir Gott in diesem Augenblick
erzeigt, und meine Missetaten haben sie nicht verhindert. Mein Verstand ist wieder
hell und klar und frei von den dichten Schatten der Unvernunft, mit denen ihn das
unsinnige Lesen der Ritterbücher umflort hatte. Ich erkenne jetzt ihre Ungereimtheit
und ihre trügerische Verführung. […]…jetzt bin ich nicht mehr Don Quixote de la
Mancha, sondern Alonzo Quixano, den man wegen seines schlechten und rechten
Wandels den Guten zu nennen pflegt. Jetzt bin ich ein Feind des Amadis von Gallien
und des ganzen unendlichen Schwarms seiner Sippschaft“. 377
374
René Girard, Mensonge romantique, S. 293 : « Toutes les conclusions sont des conversions.
Personne ne peut en douter ».
375
ebenda
376
Cervantes, Don Quixote. S. 1340
377
Cervantes, Don Quixote, S. 1349
111
Im Romanschluss versöhnt sich der Don Quixote nicht nur mit seinen Mitmenschen,
sondern auch mit dem Gott, dem Ziel seines Seinwollens, von dem ihn die
Ausrichtung seiner Nachahmung auf Amadis entfernt hatte. Indem er nicht mehr der
Don Quixote als Kopie von Amadis und von dessen Gnaden ist, gewinnt Alonso eine
Identität, die sich nicht mehr über die Nachahmung von einem Modell/Hindernis
definiert. Der ästhetische dénouement ist gleichzeitig des Protagonisten
Entspannung, seine neue Freiheitserfahrung, sein desengano und die Freisetzung
seines reflexiven Potenzials. Die literarischen Personen werden von Girard nicht
primär beobachtet unter dem Gesichtspunkt eines sozialen Status oder einer
psychologisch oder sonstwie definierten Charaktereigenschaft, Befindlichkeit oder
Motivationslage. Sein Generalschlüssel für die Entzifferung der Romane, Mythen und
biblischen Erzählungen ist der Dreieck-Test, den die handelnden Personen bestehen
müssen, wo auf dem Prüfstand des Begehrens die Lektion „Wer begehrt was gegen
wen?“ abgehandelt wird. Wie der Vergleich der Protagonisten und deren reaktive
Rolle in der Ökonomie des Begehrens das gesamte Romancorpus zum Gegenstand
hat und mit dem universellen Interpretationsschema des désir mimétique zu
übereinstimmenden Ergebnissen kommt, entdeckt Girard auch in den
Romanschlüssen ein allgemein gültiges Muster, in dem sich dem jeweiligen Autor nur
Akzentverschiebungen bieten. Die Wahrheit des Romans, sagt er, ist in jedem Werk
und überall in ihm anzutreffen, aber sie hat ihren besonderen Ort im Romanschluss;
dort hat sie ihren Thron aufgeschlagen beziehungsweise den Altar, an dem das
Aufscheinen des Heiligen, die Hierophanie sich ereignet, wobei dem Heiligen keine
ontische Qualität zukommt. Das Heilige ist nicht vorhanden, es hat keinen Ort, an
dem es anzutreffen wäre; es existiert im Modus des Ergriffen- und des
Überwältigtwerdens von einer Macht, welche zugleich fasziniert und Angst einjagt
und der gegenüber ein rationales Verhalten ausgeschlossen ist. Das Heilige ist, wie
es Roger Caillois auf den Punkt bringt, offenbar eine Kategorie des
Empfindungsvermögens. 378 Und wie nach Caillois in der Verausgabung des Opfers
und des Festes, in der äußersten Zuspitzung im rauschhaften massenweisen Töten
des Krieges die eigentliche Zeit des Heiligen 379 zu sehen ist, zeigt es sich in der
romanesken Erzählung im Romanschluss: La conclusion est le temple de cette
vérité. 380 Gerät in diesem Bild das Lesen wie auch das Schreiben eines Romans zu
einer Prozession oder einer Pilgerfahrt, bei der jeder Schritt und jede Etappe von der
Ankunft am Ziel beseelt ist, verstärkt sich die Interdependenz von Erzählhandlung
und ihrer Konklusion in Form der romanesken Bekehrung in der Metapher vom sich
drehenden Rad und seiner unbeweglichen Achse. 381 Die Konklusion kommt dann
der Vorstellung von einem mythischen Zentrum sehr nahe, dessen Peripherie
einerseits prinzipiell offen, andererseits durch den Selbstbezug der Kreisförmigkeit in
sich geschlossen und an den mythischen Kern in der Mitte gebunden ist. Und wie es
nach Girard zulässig, ja geboten ist, von einer Phänomenologie des Romans,
genauer: des Romanesken, zu sprechen, das heißt in dieser Erzählgattung ein Skript
für die Ökonomie des Begehrens in seinen verschiedenen Stufen, vom
Aneignungsbegehren bis hin zum metaphysischen Verlangen zu sehen, so ist die
romaneske Konklusion schlechthin der Wendepunkt, an dem der Protagonist
378
Roger Caillois, L´Homme, S. 18 : « Le sacré apparaît ainsi comme une catégorie de la sensibilité ».
Roger Caillois, L´Homme, S. 227 : « Cette ferveur est aussi le temps des sacrifices, le temps
même du sacré, un temps hors du temps, qui recrée la société, la purifie et lui rend la jeunesse. [...]
Elle espère une vigueur neuve de l´explosion et de l´épuisement ».
380
René Girard, Mensonge romantique, S. 306
381
René Girard, Mensonge romantique S. 306 : « La conclusion est l´axe immobile de cette roue
qu´est le roman. C´est d´elle que dépend le kaléidoskope des apparences ».
379
112
umkehrt, sich in Form eines befreienden Verzichts von seiner Besessenheit lossagt
und einen Ausweg aus der Sackgasse der mimetischen Rivalität findet.
Die Entdeckung dieses Wendepunkts der guérison hat insofern einen
bedeutungsvollen biographischen Hintergrund hat, als Girards Formulierung der
romanesken Heilung zeitgleich ist mit der Abwendung einer drohenden
Hautkrebserkrankung 382 und mit der entschlossenen und befreiten Hin- und
Rückwendung zum christlichen Glauben. Diese Entdeckung ist die für sein Leben 383
wie für sein Werk 384 folgenreiche Begegnung mit dem Religiösen und dem Heiligen.
Was für den Romanautor, wenn er an der Konklusion arbeitet, ein literarästhetisches
Problem ist, zeigt sich für Girard, da die Konklusion des dernier moment sich stets
als Konversion ereignet, als eine religiöse Erfahrung, als eine Auferstehung, die die
Form eines vom wiedergefundenen inneren Frieden markierten Todes wie bei Don
Quixote oder Julien Sorel annehmen, aber auch dazu führen kann, dass der
Protagonist in der Person des Erzählers die Ebene des horizontalen mimetischen
Begehrens übersteigt und, wie Proust am Ende beziehungsweise am Ziel der
recherche, sich in die Lage versetzt, die Logik der Faszination literarisch zu
dokumentieren, sie zu demaskieren und so sich von ihr zu lösen.
Was die Bestimmung der romanesken Morphologie, also des im Formenbau
eingelassenen Geistes des Romans betrifft, reklamiert Girard kein Urheberrecht; er
verweist auf Proust, den seiner Meinung nach profundesten Kenner der RomanPoetik, der Auskunft darüber hätte geben können, wie in dieser Gattung das Denken,
Fühlen und Wissen einer Zeit erzählerisch zum Ausdruck gebracht werden kann. 385
Proust ist für Girard nicht primär der Entdecker und Anwender des affektiven
Gedächtnisses oder des Bewusstseinsstroms; er ist für ihn der Vertreter und
Vordenker seiner eigenen romanesken Phänomenologie, der zwar auch in seiner
Recherche die auktoriale Strategie reflektiert, ausdrücklich aber in den
experimentellen und literaturkritischen Etüden 386 die Beobachtungen formuliert, die
seiner Meinung nach das spezifisch romaneske Leistungsvermögen kennzeichnen.
In dem Artikel Dans un roman de Balzac illustriert Proust das mimetische Begehren
einer Marquise d´Espard, die mit der asketischen Hingabe einer Nonne einen
aristokratischen Salon um sich schart, der in einem als himmlischer Konvent und als
gegnerische Front fungiert, wobei das mimetische Begehren in der Horizontalen
eines gesellschaftlichen Paradieses als Verfälschung des transzendenten und
vertikalen Verlangens kenntlich gemacht wird. Es kommt einer romanesken Stilübung
gleich, wenn Proust, indem er knappe Fragen stellt, die Rohform einer
382
s. Anmerkung Nr. 265
René Girard, Quand les choses commencent, S. 194 : « Je suis persuadé que Dieu envoie aux
hommes quantité de signes qui n´ont aucune existence objective pour les sages et les savants.[...]
J´ai tout de suite compris que, si j´en échappais, le souvenir de cette épreuve me soutiendrait ma vie
durant, et c´est bien ce qui s´est produit ».
384
René Girard, Mensonge romantique S. 306 : « L´univers multiple des passions se décompose et
retourne à la simplicité. C´est à l´analusis des Grecs et à la seconde renaissance des Chrétiens que
fait songer la conversion romanesque. Le romancier rejoint dans ce dernier moment tous les sommets
de la littérature occidentale; il rejojnt les grandes morales religieuses et les humanismes supérieurs,
ceux qui élisent la part la moins accessibles de l´homme ».
385
René Girard, Mensonge romantique, S. 301 : « Il (Proust, d. Verf.) aurait pu écrire, sur l´unité du
génie romanesque, le seul livre que mérite ce grand sujet ».
386
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve (1908 – 1919), Paris 1971
383
113
Romansequenz fertigt, deren weitere Materialisierung der Sammlungs- und
Vorstellungskraft des Romanciers übertragen ist.
N´est-ce pas en effet une des grandeurs de la maîtresse de la maison – cette
carmélite de le réussite mondaine – qu´elle doit immoler sa coquetterie, son orgueil,
son amour-même, à la nécessité de se faire un salon dont ses rivales seront parfois
le plus piquant ornement ? N´est-elle pas en cela l´égale de la sainte? Ne mérite-telle pas sa part, si chèrement acquise, du paradis social? 387
Dass der Schriftsteller selbst sich nicht als freistehende Persönlichkeit betrachtet,
sondern sich gleichfalls in einem Handlungsgeflecht der mondänen Nachahmung
bewegt, bestätigt Proust in dem Artikel Journées de Pèlerinage, wo das mimetische
Verlangen im Vergleich zur transzendent gerichteten Pilgerbewegung eine
vordergründige und rein zwischenmenschliche Reaktion ist, deren konfliktiver Aspekt
an dieser Stelle jedoch ausgeblendet bleibt.
Quand on travaille pour plaire aux autres on peut ne pas réussir, mais les choses
qu´on a faites pour se contenter soi-même ont toujours chance d´intéresser
quelqu´un. Il est impossible qu´il n´existe pas de gens qui prennent quelque plaisir à
ce qui m´en a tant donné. Car personne n´est original et fort heureusement pour la
sympathie et la compréhension qui sont de si grands plaisirs dans la vie, c´est dans
une trame universelle que nos individualités sont taillées. 388
Was den Romanschluss betrifft, scheut sich Proust nicht, den aristotelischen Begriff
der Katharsis in seiner vollen Tragweite als Reinigung, Gesundung und
Wiederherstellung zu verwenden. Die ästhetische Dimension, die darin besteht, dass
eine Erzählung zu Ende gebracht werden muss, wird durch die kathartische
Dimension der Erleichterung und Entspannung ergänzt. Vor allem aber, und dies
macht Proust deutlich, erscheint vom kathartischen Punkt aus die Lektüre im
Rückblick in einem neuen Licht, einem Licht, welches im Falle von Proust den
Protagonisten/Erzähler der Recherche insofern verändert, als er sich aus den
horizontalen Verstrickungen löst und die Befreiung zum Erinnern und darüber hinaus
zum Schreiben des Romans erfährt. So formuliert Proust, ohne in der Pose des
romanesken Gesetzgebers das von Girard angedeutete ‚Handbuch’ zu schreiben,
das Gesetz des Romans: Es entsteht eine durch die konfliktive WunschNachahmung angeheizte kritische Situation, die das Zusammenleben der Gruppe
bedroht und die Protagonisten einer selbstzerstörerischen Wirkung aussetzt. Die
Rettung erfolgt durch Umkehr. Girard wird später präzisieren: durch ein Opfer,
verstanden als eine Abstinenz und als Aufgeben einer Illusion. Auch wenn die
Katharsis am Ende des mimetischen Reigens erfolgt, erfolgt sie nicht zu spät; eine
blitzartige Erleuchtung genügt, um den Don Quixote von seinem romantischen Übel
zu erlösen und aus ihm einen neuen Menschen zu machen, wie sie auch genügt, um
den Muttermörder Henri van Blarenberghe, der aus Verzweiflung über das
unaufhaltsame Siechtum seiner altersschwachen Mutter an ihr zum Mörder wird, in
Erkenntnis seiner Schuld und Übernahme der Verantwortung zum Gewehr greifen zu
lassen und es in neu gewonnener Freiheit gegen sich selbst zu richten.
Si nous savions voir dans un corps chéri le lent travail de destruction poursuivi par la
douloureuse tendresse qui l´aime [...] peut-être celui qui saurait voir cela, dans ce
387
388
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 8
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 71
114
moment tardif de lucidité que les vies les plus ensorcelées de chimère peuvent bien
avoir, puisque celle même de don Quichotte eut le sien, peut-être celui-là, comme
Henri van Blarenberghe quand il eut achevé sa mère à coups de poignard, reculerait
devant l´horreur de sa vie et se jetterait sur un fusil, pour mourir tout de suite. 389
Girard, der diese doppelte Tragodie aus der mit den Prousts befreundeten Familie
van Blarenberghe in Verbindung bringt mit der ambivalenten Mutter-Kind-Beziehung
des Erzählers der Recherche und an den Artikel erinnert, den Proust 1907 in Le
Figaro unter dem Titel Sentiments filiaux d´un parricide veröffentlicht hat, parallelisiert
das Erwachen des Mörders mit dem Zu-sich-selbst-Kommen des Don Quixote und
unterstreicht, wie die Katharsis nicht nur das Ende bedeutet, sondern auch das
Purgatorium, das heißt die reinigende und bereinigende Aussöhnung mit der
Vergangenheit ermöglicht. Le parricide recouvre sa lucidité en expiant son crime,
expie son crime en recouvrant sa lucidité. La vision horrible du passé est vision de
véríté ; elle s´oppose radicalement à la vie « ensorcelée de chimères ». 390
Dass die Literatur, wenn sie es unternimmt, die Seele gleichsam bei ihren
geheimsten Operationen zu ertappen 391 und die menschlichen Leidenschaften auf
die Bühne zu bringen, auf den Leser nicht ansteckend, sondern purgierend und
immunisierend wirkt, ist eine Erkennntis, die auf die aristotelische Katharsis-Theorie
zurückreicht, von Proust aber insofern ergänzt wird, als er am Beispiel von Balzac
den therapeutischen Wert der Literatur in eins setzt mit ihrem Unterhaltungswert, ja
mit dem Lustgewinn, den sie verschafft.
Aussi continuerons-nous à ressentir et presque à satisfaire, en lisant Balzac, les
passions dont la haute littérature doit nous guérir. Une soirée dans le grand monde
décrite dans Balzac y est dominée par la pensée de l´écrivain, notre mondanité y est
purgée comme dirait Aristote ; dans Balzac, nous avons presque une satisfaction
mondaine à y assister. 392
Wenn die Beschreibung einer Abendgesellschaft, anstatt einer Kamera-Fahrt zu
folgen, von der Idee des bescheidwissenden Romanciers gesteuert wird, ist sich
Proust sicher, dass es diese Roman-Idee tatsächlich gibt und dass diese Idee, la
pensée de l´écrivain, so zwingend ist, dass kein Romancier sich ihr entziehen kann,
ja dass man so weit gehen kann zu behaupten, dass alle großen Romane aller
Zeiten in gleichsam kanonischer Strenge wie mit einer Stimme sprechen und bei aller
Verschiedenheit der Verfasser sozusagen ein und dieselbe Autorschaft haben. Er
überträgt dem Roman die Mission des Mythos, von der gesagt wurde, dass sie eine
vertreibende Funktion hat, dass sie der Panik die Poetik entgegensetzt, dass sie das
Namenlose zu benennen, das Ungeheure zu entzaubern und das Kontingente zu
valorisieren und zu rationalisieren hat.
Mais tous les grands écrivains se rejoignent par certains points, et sont comme les
différents moments, contradictoires parfois, d´un seul homme de génie qui vivrait
autant que l´humanité. Où Flaubert rejoint Balzac, c´est quand il dit : « Il me faut une
fin splendide pour Félicité ». (La servante d´un Cœur simple, d. Verf.). Cette réalité
selon la vie des romans de Balzac, fait qu´ils donnent pour nous une sorte de valeur
389
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 159
René Girard, Mensonge romantique, S. 300
391
Friedrich Schiller, München-Wien Bd. I, S. 484 , zitiert nach Rüdiger Safranski, Schiller, S. 76
392
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 268 - 269
390
115
littéraire à mille choses de la vie qui jusque-là nous paraisaient trop contingentes.
Mais c´est justement la loi de ces contingences qui est dégagée dans son œuvre. 393
Proust ist überzeugt, hinter aller Kontingenz und Singularität verbirgt sich eine
Wahrheit: Es gibt Gesetze auf beiden Ebenen, der des Handelns, der situations und
der des Erzählens, der production. Wie dem kombinierten Ritual 394 der Soziogenese
und Homineszenz eine im Mythos festgehaltene erzählerische Sequenz entspricht,
entspricht der Anatomie der Leidenschaften eine Grammatik des dargestellten
Handlungsgeflechts, und eine fundiertere Kenntnis davon als der Pschologe oder der
Soziologe hat der Romancier, dessen poetische Arbeit ein bewusstes Machen und
Ausprobieren ist und der im kalkulierten Arrangement seiner Charakterexperimente
die verborgenen Gesetze der Motive und der Empfindungen aufdeckt. Wie die
verschiedenen Autoren sich unter einer universellen Romancier-Instanz subsumieren
lassen, lässt sich auch das universelle Romancorpus als geschlossenes Ensemble
mit austauschbaren Modulen verstehen, was bedeutet, dass ein Don Quixote, ein
Julien Sorel oder eine Emma Bovary zwar unter geänderten Namen, aber doch
identifizierbar,
genauso
überall
anzutreffen
wären
wie
gewisse
Handlungssequenzen. Auch wenn die Träger dieser Sequenzen mit so
unterschiedlichen Namen wie Stefan Trofimowitsch, Dimitri Karamasow,
Raskolnikow, Don Quixote, Julien Sorel, Emma Bovary, Madame de Clèves, Marcel
oder Meursault gerufen werden, so gehören sie doch in ihrer gemeinsamen Not einer
großen Familie an. So gilt, dass nach Proust 395 alle Dostojewski-Romane den Titel
„Schuld und Sühne“ und alle Flaubert-Romane „Madame Bovary“ oder „Schule des
Herzens“ heißen könnten. Selbst wenn der universelle Romancier, um es dem Leser
nicht zu leicht zu machen, zu einer literarischen Strategie greift und die Wende von
crime zu châtiment, 396 von Mangel zu Erfüllung, von Chaos zu Ordnung und von
Not zu Rettung anstatt an einer einzigen Person zu vollziehen, auf zwei Rollenträger
397
verteilt und auf diese Weise die Spur der romanesken Regel leicht verwischt,
steht für Proust außer Frage: Es gibt für den romanesken Text ein Webmuster mit
dem Anspruch auf gattungsweite Gültigkeit.
393
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 276
Vgl. Kenneth Burke, The philosophy of Literary Form (1941), dt. Dichtung als symbolische
Handlung, Eine Theorie der Literatur, 1.- 8. Tausend, Frankfurt/M 1966, S. 101: „Ich sehe nämlich das
Ritualdrama als die Urform oder Nabe und alle anderen Erscheinungen menschlichen Handelns als
von dieser Nabe ausgehenden Speichen an. […] Das Ritualdrama ist bei dieser Betrachtungsweise
die höchste Form; alle anderen Formen stellen nur einseitige Ausformungeneines bestimmten
Elements des Ritualdramas dar, die bestimmte Wirkungen erzielen sollen“.
395
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 644
396
Das binäre Schema findet sich u. a. in der so genannten Rudimenttheorie von William James
(einem Zeitgenossen von Sigmud Freud), Die Vielfalt religiöser Erfahrung, (1901), dt. Frankfurt/M
1997, S. 487: „ …aber es gibt dennoch eine gewisse einheitliche Botschaft, in der sich alle Religionen
zu treffen scheinen. Sie besteht aus zwei Teilen:
1. einem Unbehagen, und
2. in der Befreiung von ihm.
1. Das Unbehagen besteht, auf die einfachste Formel gebracht, aus dem Gefühl, dass mit uns in
unserem natürlichen Zustand irgendetwas nicht stimmt.
2. Die Befreiung besteht aus dem Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn
wir mit den höheren Mächten in die richtige Verbindung treten.
397
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 644 : « Mais il est probable qu´il (Dostoëvski, d. Verf.)
divise en deux personnes ce qui a été en réalité d´une seule. Il y a certainement un crime dans sa vie
et un châtiment (qui n´a peut-être pas de rapport avec ce crime), mais il a préféré distribuer en deux,
mettre les impressions du châtiment sur lui-même au besoin (Maison des morts) et le crime sur
d´autres ».
394
116
La vérité en quelque sorte contingente et individuelle des situations, qui fait qu´on
peut mettre des noms propres sous tant de situations [...] est frappante. [...] Là, sous
l´action apparente et extérieure du drame, circulent de mystérieuses lois de la chair
et du sentiment. [...] Que les conditions extérieures de la production littéraire aient
changé au cours du dernier siècle, que le métier d´homme de lettres soit devenu
chose plus absorbante et exclusive, c´est possible. Mais les lois intérieures,
mentales, de cette production n´on pas pu changer. 398
Die Einheitlichkeit dieser mentalen Strukturen verdichtet sich für Proust - und Girard
macht daraus das romaneske Betriebsgeheimnis schlechthin – immer wieder in dem
finalen luziden Augenblick der Protagonisten, für den durchaus die Deutung als
religiöses Situation zulässig ist und in dem Girard den Einbruch einer Gnade und die
Begegnung mit dem Heiligen sieht. In einer kurzen Skizze zum Tod eines Gladiators
räumt Proust ein, dass die Umkehr und Aussöhnung sogar noch in den allerletzten
Atemzügen möglich ist.
La mort a gagné tous ses membres, la mort va l´avoir glacé complètement, il est au
seuil de l´éternité. Réunissant alors toutes ses forces, il bégaie une prière, il supplie
au juge qu´ il entrevoit vaguement comme dans un rêve de pardonner à ses
ennemis. 399
Was er in einer knappen Notiz zu Tolstois christlicher Einstellung und seinem
Patriotismus bemerkt, kann als Zusammenfassung der romanesken These gelesen
werden, wonach die Erzählung entlang der mimetischen Begierden dans les vies les
plus ensorcelées de chimère verläuft, um am Ende, im Verzicht auf die
selbstsüchtigen Ziele und gemäß der augustinischen Konzeption vom Ruhen in Gott,
den Blick frei zu bekommen für den inneren Gott und für das allein selig machende
und vor allem konfliktfreie vertikale Verlangen.
Toutes les fortunes pourraient être également réparties par la force. [...] Ce jour-là
l´univers sera déchristianisé, puisque christianisme signifie Dieu intérieur, vérité
désirée par le cœur, consentie par la conscience. 400
Schließlich sind es zwei Notizen über Stendhal und Georges Eliot, mit denen Proust
das romaneske Anliegen in einer Begrifflichkeit formuliert, die in ihrer
Abstraktionshöhe insofern als Wegbereiter der Girardsche Romanphilosophie gelten
kann, als sie Regungen der Seele benennen, von Vergegenwärtigung der
Vergangenheit, Verzicht auf Geltungssucht, Relativierung der Handlungsoberfläche,
seelischer Erhöhung und freier Sicht sprechen. Mit dieser Diagnose, die sich ein
halbes Jahrhundert später im Romanschaffen und in den literaturkritischen
Beobachtungen von Albert Camus bestätigt findet, versieht Proust den Roman mit
der extraliterarischen Tragweite, die es Girard ermöglicht, die in ihm verborgenen
anthropologischen Konstanten heraus zu präparieren und sie zum Fundament einer
Kulturtheorie zu machen. Wenn der Geist des Romans zu seiner klarsten
Ausprägung in der kathartischen Konklusion der moments lucides kommt, wo der
Protagonist in einer finalen Metamorphose sich zu sich selbst verwandelt und im
Rückblick sein Leben als ein Sinnganzes erfährt, wird ein Punkt erreicht, wo alles
erzählt ist, was erzählt werden kann. Dieser Punkt ist wiederum und in Umkehrung
398
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 277 - 278
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 312 - 322
400
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 366
399
117
der Abwärtsbewegung am Kirchturm von Combray ein Turmerlebnis, eine Elevation,
die Wiederaufrichtung und Wiederausrichtung der Seele, das Aufgehen einer
Transzendenz, auch wenn der Ort dieser Transzendenz letztlich leer wie eine leere
Kirche bleiben kann und das Heilige im Enthusiasmus erfahren wird, im erfüllten
Augenblick, in der wiedergewonnenen Klarheit über sich selbst und in der
Entschlossenheit zur schöpferischen Gestaltung.
Goût exclusif des sensations de l´âme, reviviscence du passé, détachement des
ambitions et ennui de l´intrigue, soit près de la mort (Julien en prison : plus
d´ambition. Amour pour Mme de Rênal, pour la nature, pour la rêverie), soit par suite
du détachement causé par l´amour (Fabrice en prison, mais ici la prison ne signifie
pas la mort, mais l´amour pour Clélia). Cette élévation de l´âme liée à l´élévation en
hauteur physique (prison de Julien très élevée, d´où belle vue, prison de Fabrice très
élevée, d´où belle vue). 401
Une des conclusions qu´on peut tirer de ces œuvres (mais qui n´est pas indiquée),
c´est que le mal que nous faisons est le mal (nous faisons du mal à nous et aux
autres), et qu´au contraire le mal qui nous arrive est souvent la condition d´un plus
grand bien que Dieu voulait nous faire. 402
Wie für Julien könnte auch für den Meursault des Etranger ein Turmerlebnis 403 der
Ort der Umkehr und Läuterung, des schrittweisen Loslassens in einer zugleich
zärtlichen und kosmisch-distanzierten Gleichgültigkeit sein. Auch hier eine äußere
und innere Elevation, ein weiter Blick über die Stadt aufs offene Meer, ein neues
Körper- und Selbstgefühl nach dem Verzicht auf die Zigaretten, ein unverkrampftes
Einholen der Vergangenheit, die Sympathie mit der Natur und dem erwachenden
Morgen, das Glücksgefühl des ersten Mal, die Erlösung vom Bösen… Eine in
Etappen erfolgende Konklusion, deren Inszenierung den kathartischen
Anforderungen gerecht zu werden scheint, in ihrer letzten Konsequenz aber insofern
scheitert, als Meursault die romaneske Wiedergeburt und Selbstfindung durch den
explosionsartigen Ressentiment-Ausbruch verfehlt und, was für Girard einem
Strukturbruch gleichkommt, in die ultra-romantische Pose des selbstherrlichen und
autonomen Ich gegenüber den Anderen zurückfällt. 404 Im Licht dieser verfehlten
401
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 654
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, S. 657
403
Der Begriff geht bekanntlich auf ein Ereignis im Leben des Martin Luther mit epochalen
Auswirkungen zurück. Er berichtet von einer Nacht der Entscheidung (1513 oder 1514), als er in der
Studierstube seines Wittenberger Klosterturms die blitzartige Erkenntnis hatte über Gottes
Gerechtigkeit, in der der Gerechte nicht durch seine Taten, sondern durch Gottes Gnade lebe. Vgl.
Luther, Vorrede zum 1. Bd. der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke (WA 54, 183 f): „Tag und
Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich auf den
Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie
geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben’. (Rm 1, 17 d. Verf.) […] Da fühlte ich, dass
ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da
erschien mir durchgehend ein anderes Gesicht der ganzen Schrift“.
Eine Phänomenologie der vertikalen Trans- oder Aszendenz zur Bewussteinserneuerung
beziehungsweise –erweiterung würde eine Fülle an Material zusammentragen: von der SinaïErfahrung des Moses (Ex 19) und dem Tabor-Erlebnis von Petrus, Johannes und Jakobus (Lk 9, 28)
über Petrarcas Mont Ventoux-Etappe, Baudelaires Elévation (Va te purifier dans l´air supérieur…),
Saint-Exupérys Höhenflüge, die Babel-, Pyramiden-, Kathedralen- und Towerarchitektur bis hin zu den
touristischen und individualistischen (auch rauschhaften) Gipfel- und Höhenextasen reicht.
404
René Girard, Critique dans un souterrain, Lausanne 1976, S. 130: « Camus ne voit pas ou refuse
d´accepter les conséquences de son solipsisme littéraire. Il a recours au procédé du meurtre innocent
402
118
Konklusion symbolisiert Meursault nicht die Geschichte von Schuld und Sühne, sein
Verbrechen verliert die dramatische Kohärenz und den Verhängnischarakter mit dem
im Namen der Gesellschaft ergangenen Schuldspruch der Richter. Obwohl Meursault
gelernt hat, sich zu erinnern, erhält seine Geschichte, um mit Martin Luther zu
sprechen, im Rückblick kein anderes Gesicht; Girard rückt diese Geschichte – im
Unterschied zu dem späteren Gerichtsroman La Chute – in die Nähe eines Falles
von Jugendkriminalität, eines sozialen Phänomens also, wie es in zahlreichen
Romanen und Filmen als élément de romantisme moderne et démocratisé 405 zur
Aufführung kommt – zum Beispiel in dem Godard-Film « A bout de souffle » (1959),
der einen sympathischen Gangster, dargestellt von Jean-Paul Belmondo, fast
beiläufig einen Polizistenmord begehen lässt und dann fast ebenso unbeteiligt und
degagiert mit den Folgen des Konflikts zu tun bekommt.
La prison était tout en haut de la ville et, par une petite fenêtre, je pouvais voir la mer.
406
Mais à ce moment-là, je m´etais habitué à ne plus fumer et cette punition n´en etait
plus une pour moi. 407
J´ai fini par ne plus m´ennuyer du tout à partir de l´instant où j´ai appris à me
souvenir. 408
Lui parti (l´aumônier de la prison, d. Verf.), j´ai retrouvé le calme. J´étais épuisé et je
me suis jeté sur ma couchette. Je crois que j´ai dormi parce que je me suis réveillé
avec des étoiles sur le visage. Des bruits de campagne montaient jusqu´à moi. Des
odeurs de nuit, de terre et de sel rafraîchissaient mes tempes. La merveilleuse paix
de cet été endormi entrait en moi comme une marée. A ce moment, et à la limite de
la nuit, des sirènes ont hurlé. Elles annonçaient des départs pour un monde qui
maintenant m´était à jamais indifférent. [...] Et moi aussi, je me suis senti prêt à tout
revivre. Comme si cette grande colère m´avait purgé du mal, vide d´espoir, devant
cette nuit chargée de signes et d´étoiles, je m´ouvrais pour la première fois à la
tendre indifférence du monde. De l´ éprouver si pareil à moi, si fraternel enfin, j´ai
senti que j´avais été heureux, et que je l´étais encore. 409
Pour que tout soit consommé, pour que je me sente moins seul, il me restait à
souhaiter qu´il y ait beaucoup de spectateurs le jour de mon exécution et qu´ils
m´accueillent avec des cris de haine. 410
In der Bestimmung der romanesken Apokalypse, das heißt der Leistung des Romans
für die Enthüllung und für die Erkenntnis der Wahrheit über den Menschen geht
Girard entschieden über Proust hinaus, wenn er sagt, dass der Roman allein vom
christlichen Menschenbild her erklärt und erfasst werden kann. 411 Demzufolge ist
der einzelne Roman nicht zu befragen, inwieweit in ihm eine religiöse Problematik
anzutreffen wäre oder welche religiösen, beziehungsweise antireligiösen Absichten
sein Autor verfolge; vielmehr drängt sich die Einsicht auf, dass die romaneske
Problemstellung bereits als solche eine religiöse ist. Wenn das Weizenkorn nicht in
afin de récupérer l´archétype du poète maudit ou, sous une forme plus générale, de l´homme
d´exception persécuté par la société ».
405
René Girard, Critique dans un souterrain, S. 138
406
Albert Camus, L´Etranger, Paris 1962, S. 1177
407
Albert Camus, L´Etranger, S. 1181
408
ebenda
409
Albert Camus, L´Etranger, S. 1211
410
Albert Camus, L´Etranger, S. 1211 - 1212
411
René Girard, Mensonge romantique, S. 309 : « Et nous comprendrions enfin que le symbolisme
chrétien est universel car il est seul capable d´informer l´expérience romanesque ».
119
die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.
412
Diese Zitat aus dem Johannesevangelium, welches in Dostojewskis Brüder
Karamasow mehrmals erscheint und von Proust wörtlich als Begründung zitiert wird
für die Notwendigkeit des Schriftstellers, sich um seines künstlerischen Schaffens
willen in seine Krankheit und aus der Welt zurückzuziehen, könnte der Untertitel für
alle Romane sein. 413 Nach all den leidvollen Irrungen und Wirrungen der
romanesken Peripetie verzichtet am Ende das Ich auf seine Differenz, aller Stolz und
alle Eigenliebe werden überwunden, das Ich ist ein Anderer geworden. Am Ende,
welches auch ein Neuanfang ist, geschieht das Wunder des Romans, 414 das das
Wunder einer Wiedergeburt und einer Auferstehung ist. Die Ausrichtung der
Nachahmung auf den Nächsten, das innerweltlich verkürzte Begehren, hat sich als
teuflische Falle erwiesen. Das mimetische Verlangen hat aus dem Gegenüber des
Ich mit dem Anderen und mit den Anderen ein Zwangsverhältnis gemacht, welches
sich als ebenso gewaltträchtig erweist wie die snobistische und narzisstische
Variante der Selbstherstellung. Wie bei Odysseus das rationale Ziel aller Bewegung
die Heimkehr ist, kommt der Romanheld am Ende der Prüfungen und unter der
Voraussetzung, dass die Wende gelingt, zu einer neuen, mit sich und der Welt
versöhnten Identität. Scheitert der Rettungsversuch aus der Beziehungsfolter der
médiation interne, herrscht schlagartig höchste Gefahr, und es tritt ein, was Girard
mit dem Buchtitel Je vois Satan tomber comme l´éclair, 415 einer Beobachtung des
Evangelisten (Lk 10, 18) zu verstehen gibt. Satan, den der Evangelist Johannes
einen Menschenmörder von Anbeginn (Joh 8, 44) nennt, ist dann nicht mehr in
einem fernen Himmel, sein vertikaler Sturz aus der Transzendenz in die Immanenz
und sein jähes Herabfallen aus der Höhe bedeutet, dass er plötzlich und als höllische
Gegenwart unter uns ist; er ist wie einer, der umhergeht wie ein brüllender Löwe und
sucht, wen er verschlingen kann. 416
Wie also, wenn die Wende nicht gelingt, wenn die Erzählung ohne Konklusion, ohne
Entknotung, ohne dénouement endet? Wenn die Heimkehr wie bei Odysseus-Bloom
die gleichgültigste und belangloseste aller Stationen ist und in den inneren Monolog
der Molly Bloom mündet als Ausdruck der Unberührbarkeit durch diese Heimkehr,
und wenn es gerade die Heimkehr in das verheißungsvolle Ithaka ist, was den
Odysseus fertig macht? 417
Girard ist nicht der Mann des Kompromisses; für ihn ist ein Roman nur dann ein
Roman, wenn er mit der kathartischen Konklusion endet, was heißt, dass die
Handlung an den finalen Punkt geführt wird, wo die Handlungsebene transzendiert
wird und der Protagonist vor dem Überwältigenden steht, an den Punkt, wo das
Heilige erscheint, sei es in Form der Erleuchtung, sei es in Form des Opfers oder des
412
Joh. 12, 24
René Girard, Mensonge romantique, S. 310 : « La phrase de saint Jean sert d´épigraphe aux
Frères Karamazov, elle pourrait servir d´épigraphe à toutes les conclusions romanesques ».
414
René Girard, Mensonge romantique, S. 308 : « La conversion dans la mort ne doit pas nous
apparaître comme un glissement vers la facilité mais comme une descente quasi miraculeuse de la
grâce romanesque ».
415
dt. Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.
416
1 Ps 5, 8: „Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender
Löwe umher und sucht, wen er verschlingen kann“.
417
« Odysseus-Bloom, schreibt Joyce am 10. Dezember 1920, an Frank Budgen, schwärmt von
Ithaka..., und wie er zurückkomt, macht’s ihn fertig ». Zitiert nach Hans Blumenberg, Arbeit am
Mythos, S. 92
413
120
Selbstopfers. In äußerster Abstraktion lautet dies : Dans toutes les conclusions
romanesques authentiques, la mort qui est esprit s´oppose victorieusement à la mort
de l´esprit. 418 In poetischer Diktion erinnert Girard in diesem Zusammenhang an das
orientalische Märchen, 419 in dem der Held sich mit letzter Kraft mit den Händen an
den Felsvorsprung klammert, schließlich aber vor Ermattung den Sturz in die Tiefe
nicht verhindern kann. Als er den Halt verliert, weiß er, dass er jeden Augenblick am
Boden zerschellen wird, aber plötzlich trägt ihn die Luft, die Schwerkraft ist
überwunden.
Wer sich nicht fallen lässt, wird sich nicht finden. Der Autor, der die Handlung nicht
enden lässt, also durchaus im aristotelischen Verständnis sich nicht dafür verbürgt,
dass nichts mehr folgen kann, verhält sich wie ein Moses, der das versprochene
Land nicht betreten kann. Für Girard steht Kafka exemplarisch für eine Literatur ohne
Konklusion. L´impossibilité de conclure […] est une impossibilité de mourir dans
l´œuvre et de se délivrer de soi-même dans la mort .420 Und aus diesem Grund
spricht Girard bei den Erzählungen von Kafka bewusst nicht von Romanen; er nennt
sie récits und markiert damit den Unterschied zwischen der romanesken Vollendung,
l´achèvement de l´œuvre romanesque und der erzählerischen Unvollendetheit,
l´inachèvement du récit contemporain. 421
Mit den Erzählungen ohne Konklusion – in soziodramatischer Perspektive sind dies
die Krisen ohne sakrifizielle beziehungsweise opferfreie Lösung - scheint für Girard
die romaneske Ära am Ende zu sein. Er registriert diese Unmöglichkeit des
erzählerischen Todes und der damit verbundenen Befreiung nicht als modische
Erscheinung, sondern als Entsprechung zu einer ihn zutiefst beunruhigenden
historischen Situation. Diese Situation ist jedoch nicht überraschend eingetreten; sie
hat sich romanhaft angekündigt, zum Beispiel dort, wo Dostojewski in den
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) einen Schriftsteller präsentiert, der kein
Ende finden kann, dessen Spannungen sich nicht auflösen lassen, dessen
Beklemmung kein Turmerlebnis und dessen Höllenfahrt, in der Diktion von Dante,
keine Auferstehung kennt.
Le journal de cet amateur de paradoxes ne se termine pas encore. L´auteur n´a pu
résister à la tentation et a repris la plume. Mais il nous semble à nous, qu´on peut
mettre ici le point final. 422
Während Dostojewski und mit ihm die von Girard immer wieder so angesprochenen
‚großen’ Romanciers die Schwelle vom Romantischen zum Roman überschreiten
und zu kathartischen Konklusionen kommen, wird Kafka der Beginn einer
Erzähltradition mit offenen oder fehlenden Konklusionen zugeschrieben, welche für
Girard bedeuten, dass das mimetische Verlangen sich nicht in einer authentischen
Versöhnung beruhigt, in der die Grenze zwischen der ästhetischen Erfahrung eines
literarischen Kunstwerks und der religiösen Erfahrung einer Bekehrung in der
blitzartigen Erleuchtung des letzten luziden Augenblicks aufgehoben ist.
418
René Girard, Mensonge romantique, S. 303
René Girard, Mensonge romantique, S. 293
420
René Girard, Mensonge romantique, S. 307
421
ebenda
422
ebenda: Fjodor Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, frz. Le Sous-sol, zitiert nach
René Girard
419
121
Les œuvres romanesques vraiment grandes naissent toutes de cet instant suprême
et elles retournent à lui à la façon dont l´église jaillit du chœur et s´avance vers lui.
Toutes les grandes œuvres sont composées comme des cathédrales .423
Dass den Erzählungen von und nach Kafka die Konklusion abhanden gekommen ist,
entspricht einer Zeit der Angst, einer Epoche, die den rettenden Ausweg aus dem
Labyrinth der mimetischen Verflechtungen nicht findet, die Kettenreaktion der
ansteckenden Rivalitäten nicht beherrscht und nicht unterbricht.
Le devenir réciproque du rapport mimétique engendre un dynamisme redoutable. Le
jeu de l´obstacle-modèle détermine un système de feedbacks, un cercle vicieux qui
va se rétrécissant toujours. Au-delà d´un certain seuil, l´individu ne peut plus du tout
maîtriser ou même dissimuler ce mécanisme, c´est le mécanisme qui a raison de lui.
424
Die ‚kathedralförmige’ Erzählung mit ihrer transzendentalen Bezogenheit im
Fluchtpunkt des Chor- oder Altarraums beziehungsweise ihrer vertikalen Ausrichtung
und ihrer Lichtsprache wäre ein Gegenmodell zum Teufelskreis der personnages
voués à l´interminable, deren Heraufkommen von Dostojewskij im Kellerloch
beschworen wird. Sie wäre der Ort der Versöhnung und des Neubeginns, der Ort, an
dem eine Handlung an ihr Ende gelangt und damit Raum schafft für eine
nachfolgende Handlung. Die Unfähigkeit, eine Geschichte zum Abschluss zu
bringen, zeigt sich als Verstoß gegen die Morphologie und den Geist des Romans;
und dieser erzählerische Notstand wird von Kafka explizit gemacht, indem er die
Sage der nicht enden wollenden Hinrichtung des Prometheus aufgreift und sie um
drei Fassungen ergänzt, in denen das Leiden des von den Göttern Verurteilten kein
Ende nimmt und einer Zeitfolter gleicht. Während Goethe seinen Prometheus 425 als
heilig glühend Herz einen romantischen Protest gegen den Göttervater ausstoßen
lässt und ihm das Programm seiner Eigenmacht entgegenschleudert: Hier sitz
ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
kennt Kafkas Prometheus kein Erweckungserlebnis; seine Verklärung kommt einer
Verglasung und Mineralisierung gleich. Er kehrt in einer ultimativen Metamorphose
ins Namenlose und Unerklärliche zurück. Das Anorganische allein überdauert die
Geschichte, zu deren Datierung und Deutung ihres Anfangs und ihres Endes
niemand mehr da ist. 426
Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter
an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter
schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.
423
René Girard, Mensonge romantique, S. 309
René Girard, Critique dans un souterrain, S. 22
425
Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1756 – 1799, Hg. Karl Eibl, Franfurt/M 1987, S. 203 - 204
426
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 688, deutet das Ende der Datierbarkeit als eine
Gegenposition gegen das Fortschrittsdenken und als eine Art Remythisierung unter
wissenschaftlichen Vorzeichen: „Sucht man nach analogen Aussagen (zu Kafkas Prometheus, d.
Verf.) abseits dieser großartigen und rücksichtslosen Imagination, so stößt man auf die
Auseinandersetzung des Fortschrittsoptimismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem
physikalischen Gegenprinzip des Wärmetods, auf den zweiten Satz der Thermodynamik, als das
große Modell, dem noch Sigmund Freud das Organische und Psychische eingeordnet und
unterworfen hat, als er in sein dem Mythischen sich immer mehr näherndes System 1920 den
Todestrieb einfügte“.
424
122
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden
Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter
vergaßen, die Adler, er selbst.
Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden
müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloss sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge.- Die Sage versucht das Unerklärliche zu
erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im
Unerklärlichen enden. 427
Auf Lévi-Strauss geht die Beobachtung zurück, die Musik habe im Europa des 16.
Jahrhundert von der Religion die Funktion des Mythos übernommen, und mit dem
Ende der großen musikalischen Formen im ausgehenden 19. Jahrhundert sei diese
Funktion auf den Roman übergegangen. Nun aber sei festzustellen, dass der Roman
die bevorzugte Funktion, die er in der westlichen Welt eingenommen hat, tendenziell
verliert, und es sei höchst ungewiss, ob die serielle Musik die mythischen
Funktionen, die der Roman allmählich verliert, nicht mehr übernehmen wollte oder
könnte. 428
Eine ähnliche Bewertung der musikgeschichtlichen Zäsur beim Aufkommen der
neuen Formen findet sich in Thomas Manns Dr. Faustus, in dem der Tonsetzer
Adrian Leverkühn, hinter dem sich der Komponist Arnold Schönberg verbirgt, neue
Kompositionsregeln formuliert. Während die alten Formen Musik als Spiel von
aufgestauter Erwartung und eingelöster Erfüllung praktizieren und eine Organisation,
Vertaktung und Modulation des zeitblinden Erlebens anstreben – für Leibniz kann
Musik zu einem unbewussten Rechnen werden - und damit das Hören mit der
Fähigkeit eines wenn auch illusionären Risikomanagements ausstatten – bezeugt
von Adorno: Musik hilft gegen Psychose, und von Nietzsche: Ohne Musik könnte ich
nicht leben -, fordert Leverkühn/Schönberg sowohl den Verzicht auf den
resümierenden Schlussakkord als auch den stimulierenden Wechsel von
Dissonanzen und Harmonien, mit denen das Spiel der Erwartungen und der Reigen
von Lust und Unlust in Gang gesetzt und gehalten wird. Er fordert die Emanzipation
der Dissonanz von ihrer Auflösung, das Absolutwerden der Dissonanz 429 und
bescheingt den heute zerstörten Formen, dass sie nicht allezeit so objektiv, so
äußerlich auferlegt, sondern Verfestigungen lebendiger Erfahrung waren und als
solche lange eine Aufgabe von vitaler Wichtigkeit: der Organisation, 430 erfüllten.
Und nun, so seine Verlustmeldung, die an den Exodus des Mythos aus der
Erzählung erinnert, war es die ästhetische Subjektivität, die sich der Aufgabe
annahm; sie machte sich anheischig, das Werk aus sich heraus, in Freiheit, zu
organisieren. 431 Die nach Art der mythischen Sequenzen in den musikalischen
Formen eingelassene Verfestigung lebendiger Erfahrung wird durch eine neue
Komposition ersetzt, die den luziden Moment im Werk nicht thematisiert und nicht
sucht, ihn möglicherweise entsprechend dem optimistischen Rezeptionsvorschlag
427
Franz Kafka, Prometheus, in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, 1.- 6. Tsd., New-York City
1953, S. 100. Auch in der Skizze Poseidon (S.128) wird dieses endlose Ende dargestellt: “Poseidon
wurde überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger Küste und eine von
seiner Gegenwart betäubte Taube zog schwankende Kreise um sein Haupt“.
428
Claude Lévi-Strauss, Mythos, S. 269
429
Thomas Mann, Dr. Faustus, Das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn (1947), 8. – 15.Tsd.
Frankfurt/M 1948, S, 307
430
Thomas Mann, Dr. Faustus, S. 302
431
Thomas Mann, Dr. Faustus, S. 312
123
von Camus dem Hörer als Aufgabe und Chance überlässt. Ob Thomas Mann den
Entdecker der Zwölftonmusik der rationalen Kälte und darüber hinaus der
Verstrickung in die nationalsozialistische Diabolik bezichtigen wollte, sei in diesem
Zusammenhanhg dahingestellt. Ebenso kann vorläufig offen bleiben, ob der Auszug
des Mythos aus der Musik als Verlust oder als Gewinn verbucht werden soll. Indem
jedoch die Dodekaphonie die Forderung erhebt, dass ein Ton erst wiederholt werden
kann, wenn alle anderen Töne der Tonleiter einmal durchgespielt sind, wird dem
Hörer und Spieler die Befriedigung versagt, die in der Ausbildung eines tonalen und
wiedererkannten Zentrums liegt. Fraglich ist, ob die Musik unter diesen Bedingungen
in der Lage ist, als Simulationsmodell für das Erleben einer Zeitspanne zwischen
Anfang und Ende zu dienen und damit Kohärenz abzubilden und ob unter diesen
Bedingungen sinnvolle Erwartungswahrscheinlichkeiten aufgebaut werden können
oder ob nicht der Hörer sich als dem Risiko des Ungeheuren ausgesetzt fühlen muss
und ihm die lustvolle Rückkehr in tonale Zentren oder Attraktoren, mit denen die so
genannte U-Musik eine gläubige Fan-Gemeinde an sich bindet, für immer versagt
bleibt. Wenn das Ereignis des Gefallens, also des ästhetischen Vergnügens von der
Übereinstimmung mit und dem Wiedererkennen von festen Formen abhängt, ist
damit zu rechnen, dass eine serielle Komposition, die lediglich ein Segment des
fließenden Hörganzen abbildet, anstatt es in fassbare musikalische Stücke
umzuarbeiten, den Hörer eher mit intellektuellen Reizen in Form von aufblitzenden
und verlöschenden Möglichkeiten bedient, als ihm die von Adorno und Nietzsche
angedeutete orientierende, reparierende, heilende und rettende Wirkung angedeihen
zu lassen.
Jean Baudrillard macht für das Verschwinden der Taktgebung und der
‚Rechenleistung’ in der Musik nicht die Komposition verantwortlich. Für ihn
verschwindet in völliger Unabhängigkeit von der Komposition die Musik jenseits der
Schwelle der high fidelity, das heißt in der Perfektionierung ihrer Materialität, in ihrem
eigenen Spezialeffekt. Jenseits dieses Punktes gibt es keine Urteilskraft und kein
ästhetisches Vergnügen mehr, sondern nur noch reinen Klangrausch - und das ist
das Ende der Musik. 432 Das radikale Ignorieren der in der Musik eingelassenen
verfestigten Lebenserfahrungen, das eine Folge der durch technikbesessene
Klanggenauigkeit perfektionierten Aufnahme- und Übertragungstechnik ist und durch
die Proliferation der mit Nebeneffekten aufbereiteten Tonträger verstärkt wird, setzt
Baudrillard in Beziehung zur Geschichtsblindheit der den Globus umkreisenden
Informationen, welche das Ereignis als solches unkenntlich machen. Wie das
globalisierte Informationswesen keinen Sendeschluss, das Verkehrswesen kein Ziel
und das Rauschen der Klänge keine Zentren und Attraktoren aufweist, verschwindet
auch die Geschichte durch die Überfülle an Aktualität. Vor diesem Hintergrund an die
Möglichkeit von Konklusionen in der Virtualität des Kunstwerks zu glauben, ist
utopisch. Dies verdeutlicht Baudrillard mit einer originellen Version des um sein Ende
gebrachten Prometheus:
Wir sind von unserem eigenen Ende eingekreist, und wir können es nicht landen,
nicht wieder auf die Erde zurückkehren lassen. Das ist die Parabel vom russischen
Kosmonauten, der im All vergessen wurde, den niemand empfangen und
zurückholen wollte – das einzige Stück des sowjetischen Territoriums, das
ironischerweise ein deterritorialisiertes Russland überfliegt. Während sich auf der
Erde alles geändert hat, wird er praktisch unsterblich und kreist weiter herum wie
432
Jean Baudrillard, L´illusion de la fin ou la grève des événements (1992) dt. Die Illusion des Endes
oder der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 16
124
Götter, Sterne und atomare Abfälle. Wie so viele Ereignisse, für die er eine
vollkommene Illustration ist und die weiterhin im leeren Raum der Information
kreisen, ohne dass irgend jemand sie in den geschichtlchen Raum zurückholen
könnte oder wollte. Nach dem Muster all dessen, was weiterhin seine volle Leistung
im Orbit bringt und dessen Identität während der Fahrt verloren gegangen ist, ist
auch unsere Geschichte auf ihrem Weg verloren gegangen, sie umkreist uns wie ein
künstlicher Satellit. 433
Baudrillards russischer Kosmonaut ist so weit von einer Um- und Rückkehr entfernt,
dass er nicht einmal mehr wie der heimkehrende Ulysses von einer nörgelnden
Molly-Bloom fertig gemacht werden kann, und hätte er einen sein Leben in neuem
Licht erscheinen lassenden, finalen luziden Moment, niemand wäre da, dem er sein
Turmerlebnis mitteilen könnte. Es ist auch keine Kurskorrektur der orbitalen Drift
möglich, denn die bordeigenen Energiereserven, falls sie nicht aufgebraucht sind,
könnten nur von einem terrestrischen Kommandostand aus aktiviert werden. Aber
dort hat man ihn ja vergessen, sein Identifikationscode ist gelöscht oder
überschrieben. Niemand ist an einer Rückholung und einem Wiedereintritt in die
Geschichte interessiert. Der Kosmonaut kann kein ferner Nachkomme des Don
Quixote, des Julien Sorel, der Emma Bovary, der Karamasofs sein. Er kann eine
mythische Spur nachvollziehen oder eine neue Variante einer derartigen Spur
ausbilden, doch er kann kein Romanheld sein.
Ohne ausdrücklich auf den Zusammenhang von Mythos und Romankonklusion
einzugehen, sieht Albert Camus im Werk von Kafka auch bei ausbleibender
Konklusion den Mythos an der Arbeit. Für Camus enden die Erzählungen von und
nach Kafka, auch wenn sie die den romanesken Erwartung im Sinne Girards nicht
gerecht werden, keineswegs im geschlossenen Raum der Immanenz. Die
Ausweglosigkeit in ihrer bittersten Konsequenz kann das Aufgehen eines
metaphysischen Raums sein. Erniedrigung kann sich in Demut wandeln, Resignation
in Hoffnung.
Les romanciers existentialistes: tournés vers l´absurde et ses conséquences,
aboutissent en fin de compte à cet immense cri d´espoir.
Ils embrassent le Dieu qui les dévore. C´est par l´humilité que l´espoir s´introduit. 434
Wenn er auch Kafkas Schloss für einen seltsamen Roman hält, où rien n´aboutit et
tout se recommence, bescheinigt er ihm doch, dass es darin um das Abenteuer einer
Seele geht, die ihr Heil sucht, d´une âme en quête de sa grâce. 435 Dass diese Seele
trotz aller Bemühungen und trotz eines gewissen kathartischen Therapieangebots ihr
Heil nicht findet, änderts nichts daran, dass sich der luzide Moment einstellt und in
einem mutigen Erkenntnisakt das absurde Schicksal angenommen wird.
Le monde de Kafka n´est pas aussi clos qu´il ne paraît...
Le Procès diagnostique et le Château imagine un traitement. Mais le remède
proposé ne guérit pas. Il fait seulement rentrer la maladie dans la vie normale. Il aide
à l´accepter. 436
433
Jean Baudrillard, Die Illusion, S. 185 - 186
Albert Camus, L´Espoir et l´absurde dans l´œuvre de Franz Kafka (1943) in : ders, Essais, Paris
1965, S 208
435
Albert Camus, Essais, S. 204
436
Albert Camus, Essais, S. 205
434
125
Schließlich sieht Camus im kafkaesken Ausbleiben der Konklusion nicht nur die von
Lukács konstatierte transzendentale Obdachlosigkeit, 437 sondern auch die dem
Leser angebotene Chance einer relecture in eigener Regie und einer von eigenen
Lebens- und Leseerfahrungen gestützte und verantwortete Interpretation.
Tout l´art de Kafka est d´obliger le lecteur à relire. Tous les dénouements, ou ses
absences de dénouement, suggèrent des explications, mais qui ne sont pas révélées
en clair et qui exigent, pour apparaître fondées, que l´histoire soit relue. Quelquefois,
il y a une double possibilité d´interprétation, d´où apparaît la nécessité de deux
lectures. 438
In der Girardschen Konzeption, in der die Konklusion als Tempel der
Romanarchitektur fungiert, von dem aus im Rückblick die Geschichte erst ihre
Kohärenz und ihre erzählerische Intentionalität erhält, muss die dem Leser
übertragene deuterische Haftung einem Scheitern des Romanprojekts
gleichkommen. Die Möglichkeit einer Sinn-Wahl durch den Leser wäre
gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den romanesken Sinn-Anspruch. Wie nach
dem Hölderlin-Diktum die Rettung ihren Sinn allein aus der historisch
vorausgegangenen Gefahr erhält, wird auch die Gefahr als solche nur aus der Sicht
der Rettung erfahr- und kommunizierbar. Wenn der Roman seinen Gattungsauftrag
als Abenteuer, als quête oder recherche, als die Abfolge von crime et châtiment, als
éducation sentimentale oder Ulysses-Parcours erfüllen soll und sich vom lyrischen
Bekenntnis, der gebetshaften Beschwörung oder der historiografischen Notierung
der laufenden Ereignisse unterscheiden soll, ist er ohne finale Offenbarung nicht
denkbar. Wenn das Weizenkorn, so Girards Metatheorie, nicht in die Erde fällt und
stirbt, bleibt es allein. Das allein bleibende Weizenkorn, das ist der romantische
Solitär, der alsbald von der mimetischen Pest angesteckt wird und als Genie oder
Snob, Sadist oder Masochist mit den Anderen und dem Anderen rivalisiert und
niemals zur Ruhe kommen oder in Ruhe lassen kann. Das allein bleibende
Weizenkorn gerät in Konflikt mit einem Vorbild, welches als Idol gleichzeitig verehrt
und als Hindernis empfunden wird. Auf einer gesteigerten Stufe der Degradierung
verwandelt sich jedes Vorbild in ein Hindernis und jedes Hindernis in ein Vorbild.
Masochismus und Sadismus sind dann die degradierten Formen des vermittelten
Begehrens. Verschiebt sich der erotische Wert vom Wunschobjekt hin zum
Vermittler-Rivalen, erhält man den Typ des Homosexuellen, wie ihn Proust darstellt.
Die durch die Begehrensvermittlung provozierten Konflikte und Spannungen
erreichen ihren Höhepunkt in der Halluzination des Doppelgängers, ein Bild, das
nicht so sehr den unüberbrückbaren Gegensatz von zwei Rivalen, sondern jene eine
Person meint, in deren Brust sich zwei Seelen bekämpfen. Das Weizenkorn, das
stirbt, das heißt aus dem Teufelskreis des obsessiven Begehrens herausfindet,
erfährt sich als neu geboren, als identisch mit sich selbst und versöhnt mit der Welt
und den Anderen. Es erfährt die Anderen nicht mehr als tatsächliche oder potenzielle
Rivalen, sondern als Nahestehende und in Solidarität Verbundene.
Obwohl er an diesem Punkt bekennt, dass die romaneske Erzählung deckungsgleich
ist mit der religiösen heilsgeschichtlichen Vision, 439 geht es Girard nicht um religiöse
437
Georg Lukács, Theorie des Romans, S. 22
Albert Camus, Essais, S. 202
439
René Girard, Mensonge romantique, S. 312 : « Les dernières distinctions entre l´expérience
romanesque et l´expérience religieuse s´abolissent ».
438
126
Propaganda. Es ist für ihn ein literaturwissenschaftliches Faktum, und deshalb sind
ihm die Zeugnisse des agnostischen Marcel Proust und des religionskritischen
Stendhal auch so wichtig, dass der Roman dieselben archetypischen Strukturen
aufweist, die auch für das juden-christliche Menschenbild der Bibel maßgebend sind.
Wenn dies im religiösen Raum – in der augustinischen Fassung - die Geschichte von
Erbsünde und Erlösung ist, ist es im literarischen Raum die über die Jahrhunderte
sich erstreckende Geschichte von crime et châtiment, deren lesbarste Fassung nach
Girard Dostojewskis letzter, 1000-seitiger Roman Die Brüder Karamasow aus dem
Jahr 1880 ist, in dem der Tod des Kindes Iljoucha als exemplarisch für alle seine
Roman-Tode als Moment der Erlösung, der Kommunion und der unübersteigbaren
Erleuchtung dargestellt wird.
…le petit Ilioucha meurt pour tous les héros dostoïevskiens et la communion qui jaillit
de cette mort est une ’lucidité sublime’ à l´échelle du groupe. La structure du crime
et du châtiment rédempteur transcende la conscience solitaire. Jamais romancier
n´avait brisé aussi radicalement avec l´individualisme romantique et prométhéen. 440
Wenn das romaneske Projekt und das in der johanneischen Weizenkornmetapher
formulierte biblische Projekt sich parallel setzen lassen, und sich die quête des einen
mit dem Heilsweg - von Tod zu Auferstehung - des anderen vergleichen lässt, kann
diese Gleichsetzung auch als Beleg dafür gewonnen werden, dass in beiden ein und
derselbe Mythos an der Arbeit ist. Girard skizziert mit dem Postulat, dass die
expérience romanesque in der Tat die expérience religieuse ist, diesen einen Mythos
als Hintergrund für beide Manifestationen. Wie die erzählbare Version dieser
Erfahrung, die sich durchaus als Experiment mit unsicherem Ausgang versteht, der
Roman ist – Girards Interpretionsschema erstreckt sich auf weitere Gattungen,
soweit sie zwischenmenschliche Beziehungen reflektieren - , zeigt sich eine
begehbare großformatige Fassung in dem in den zyklischen Sonnenkalender
eingepassten Kirchenjahr vom ersten Advent bis zum Sonntag des Jüngsten
Gerichts sowie eine komprimierte Fassung im Ritual der Eucharistiefeier, in dem das
durch die mimetischen Differenzen mit Gott und der Welt zustandegekommene
menschliche Sündenregister durch Tod und Auferstehung des göttlichen
Weizenkorns getilgt wird und die Versöhnung und der Neubeginn im gemeinsamen
Mahl besiegelt werden. Während die Konklusion des Kirchenjahres das Risiko des
Scheiterns nicht zu fürchten braucht, weil sie ein sowohl sakral, als auch profan
legalisiertes Datum ist, kann der Erzähler sie als existenzeill zu leistendes Faktum
wohl verfehlen. Dass auch der gottesdienstliche Ritus sich der gelingenden
Konklusion, der Annahme der konsekrierten Opfergaben aus der Hand des Priesters,
nicht a priori sicher ist, ist daran erkennbar, dass die Gemeinde zusammen mit dem
Priester das suscipiat 441 spricht, in dem Gott angefleht wird, das Opfer anzunehmen
- und nicht zu verweigern.
In dem 1976 veröffentlichten Essay-Band, der in Resonanz zu Dostojewskis
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) den Titel Critique dans un souterrain trägt
und mehrere Zeitschriftenartikel enthält, die in der Zeit zwischen der Roman-Studie
Mensonge romantique et vérité romanesque und dem darauf aufbauenden religions440
René Girard, Mensonge romantique, S. 312
Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Freiburg 1975, S. 381: „Priester: Betet, Brüder
und Schwestern, dass mein und euer Opfer Gott, dem allmächtigen Vater, gefalle. Alle: Der Herr
nehme das Opfer an aus deinen Händen / zum Lob und Ruhm seines Namens, / zum Segen für uns
und seine ganze heilige Kirche“.
441
127
beziehungsweise kulturtheoretischen Werk La violence et le sacré erschienen sind,
greift Girard weit über Proust hinaus und formuliert die mimetische Theorie als
literarisches Kompositions- und Interpretationsschema, dessen Schlüssigkeit sich
sowohl an Augustinus und Dante wie auch an Dostojewski und Camus bestätigt und
das in der ausdrücklichen Distanzierung von Freuds Triebtheorie die
wissenschaftliche Basis für eine anschlussreiche Beschreibung der interindividuellen
und kollektiven Prozesse liefert.
Bei Freud, der sich nach Girard große Verdienste um die Aufdeckung der
relationalen Dimension der menschlichen Motive erworben und die Einsicht in die
trianguläre Konstellation des Verlangens nur knapp verfeht hat, wird der Vatermord
durch das inzestuöse Verlangen der Söhne erklärt, letzteres durch die triebhafte
Flucht in den Mutterschoß, welcher der Vater im Wege steht, also durch die Wirkung
eines linear zum Objekt agierenden Triebapparats, der in den kleinkindlichen
Erfahrungen grundgelegt worden ist.
Wir nannten die Energiebesetzungen, die das Ich den Objekten seiner
Sexualstrebungen
zuwendet,’Libido’,
alle
anderen,
die
von
den
Selbsterhaltungstrieben ausgeschickt werden,’Interesse’ und konnten uns durch die
Verfolgung der Libidobesetzungen, ihrer Umwandlungen und ihrer unendlichen
Schicksale eine erste Einsicht in das Getriebe der seelischen Kräfte verschaffen. 442
[…] Libido soll, durchaus dem Hunger analog, die Kraft benennen, mit welcher der
Trieb, hier der Sexualtrieb wie beim Hunger der Ernährungstrieb, sich äußert. 443
Während die Freudsche Ökonomie des Begehrens sich aus den frühkindlichen
sexuellen Erfahrungen speist und also zu ihrer Erhellung der Anamnese bedarf, hat
die mimetische Begehrenstheorie nicht nur den Vorteil, dass sie sich von der
Zentrierung auf das Sexualobjekt löst und den Blick für andere Wunschobjekte frei
macht, sie erlaubt auch eine Konfliktanalyse in der jeweils gegebenen triangulären
Situation und bedarf keiner rückwärts gewandten hypothetischen Rekonstruktion
eines Ausgangszustandes. Daher der dynamische Charakter des Prozesses, der
jedes Mal ausgelöst wird, wenn ein Ich in die Kampfzone zwischen ein Objekt und
einen Dritten gerät, in der dieser Dritte, nachdem er das Begehren des Ich entzündet
hat, sich alsbald als dessen eifersüchtiger Gegenspieler aufspielt. Ohne auf den
Begriffsapparat der Psychoanalyse zurückgreifen zu müssen und ohne das
Unbewusste als jederzeit einsatzbereiten deus ex machina zu bemühen, stellt das
mimetische Verlangen, das sich von einem Objekt weg- und auf den Rivalen hin
umleitet, für den Romancier wie für den Leser ein zugleich einfaches und
leistungsfähiges Prinzip dar, mit dem eine Vielfalt von Konflikten beobachtet werden
kann.
Il est clair, par exemple, que la structure du désir proustien, tel qu´il se dégage de ‘La
Recherche du temps perdu’ est toujours structure de rivalité et d´exclusion
mimétique, qu´il s´agisse de l´érotisme ou du snobisme, en dernière analyse
identiques l´un à l´autre. On peut montrer que les analyses de Proust tendent toutes
à révéler cette identité, qu´elles tendent non vers Freud mais vers la définition
mimétique. 444
442
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Libidotheorie und der
Narzissmus (1915 – 1917), 30. – 32. Tsd. Frankfurt/M 1976, S. 395
443
Sigmund Freud, Vorlesungen, S. 299
444
René Girard, Critique dans un souterrain, S. 29
128
So wie er die Analysen von Proust nicht als Dokumente einer Freudschen
Sublimierung oder Verdrängung, sondern als psychologischen und soziologischen
Befund versteht, beansprucht Girard auch für das von ihm formulierte Leseverfaren
den Charakter der Wissenschaftlichkeit, das heißt der Generalisierbarkeit und
Überprüfbarkeit. Unter dem Begriff der Soziologie des Romans 445 skizziert er eine
Romantheorie, die die biographischen Wendemarken des Romanciers in den Kontext
des erzählerischen Schaffens und die erzählte Wirklichkeit wiederum in den Kontext
einer religiösen Erfahrung stellt.
Der wahre Romancier ist der, der die Strukturen des Verlangens nicht nur abbildet,
sondern sie erkennt und die Wirkungszusammenhänge durchschaut. Dabei muss er
sowohl den Blick für das Ganze haben, also das Erzählte als Vorgeschichte einer
Konklusion und die Konklusion als Ergebnis einer Vorgeschichte gedanklich
erfassen, als auch sich auf das Risiko eines unsicheren Ausgangs beim Ausarbeiten
der einzelnen Situationen einlassen. Er ist weder der olympische und selbstgefällige
Alleswisser, den Sartre in der Schrift Qu´est-ce que la littérature kritisiert, noch der
engagierte Schriftsteller, den derselbe Sartre an die Stelle dieses falschen Gottes
setzen möchte. Er kann seine Protagonisten nur dann in die Strukturen des
Verlangens verhaken und sie, bei günstigem Ausgang, zur Umkehr führen, wenn er
selber ihren Weg gegangen ist, wenn er selber in den Sog des mimetischen
Begehrens hineingerissen wurde und sich daraus befreit hat. Da alle großen
Romane ein einheitliches Romancorpus bilden, das als un seul ensemble signifiant
446
vorliegt und analysiert werden kann, sind auch ihre Verfasser über alle räumlichen
und zeitlichen Distanzen sowie die Unterschiede des Temperaments hinweg
eingebunden in ein und dieselbe Mission. Und in derselben Bewegung wie ihre
Protagonisten, so suggeriert es Girard, durchleben, durchleiden und durchlaufen die
Romanciers die Geschichte ihrer Bildung, religiös gesagt: ihrer spirituellen
Menschwerdung oder zweiten Geburt, deren Anfang die romantische und heldische
Illusion bildet und an deren Ende diese Illusion als solche enthüllt und überwunden
wird. Sowohl den Flaubert von La première éducation sentimentale, als auch den
Proust von Jean Santeuil und den Dostojewski in den Werken vor dem Kellerloch
stuft Girard als Autoren der romantischen Lüge ein, bevor sie wahrhafte Romane
schrieben. In ihrer romantischen Phase waren sie selbst innerlich zerrissen zwischen
einer prometheischen Ichbehauptung und dem Druck, den ihre Vorbilder-VermittlerRivalen auf sie ausübten. Und wie der Protagonist sich erst am Ende des Romans in
Analogie zum sterbenden Weizenkorn aus den Fängen des rivalitätsträchtigen
Objektbegehrens befreit, gelangt auch der Romancier in der Konklusion seines
Gesamtwerks ans Ende und ans Ziel seines romanesken Projekts. Auch seine
Konversion besteht in der Absage an seine Idole. Auch für ihn besteht diese
Konversion darin, dass er auf das aussichtslose mentale Wettrüsten mit seinen
Rivalen, den gegebenen und den mit jedem Übertreffenswunsch auf den Plan
gerufenen, verzichtet, dass er der Doppelung mit seinem jeweiligen Amadis von
Gallien aus dem Weg geht und dass er in der Abwendung von existenziellen und
literarischen Vormachtsstrategien in einer spirituellen Metamorphose zu seiner
dichterischen Schaffenskraft findet. Girard wendet sich einmal mehr Proust zu, den
445
Sein Aufsatz De la Divine Comédie à la sociologie du Roman erschien 1963 in der Revue de
l´Institut de Sociologie, Bruxelles, also 2 Jahre nach Lucien Goldmanns Schrift Soziologie des
modernen Romans .
446
René Girard, Critique dans un souterrain, S. 146
129
er für die romanciers antérieurs sprechen lässt und von dem er berichtet, dass seine
große Recherche erst möglich wurde nach einer totalen Lebens- und Schaffenskrise.
La conclusion qui est mort au monde est une naissance à la création romanesque.
On peut vérifier trés concrètement ce fait dans le chapitre intitulé ‘Conclusion’ du
‘Contre Sainte-Beuve’ et dans d´autres textes tirés des archives proustiennes. Les
premières ébauches du Temps retrouvé sont là et elles se ramènent à un constat
d´ échec généralisé, à un désespoir existentiel et littéraire qui précède de peu la mise
en chantier de ‘La recherche du temps perdu’. 447
Die Umkehr des Protagonisten wird in Funktion gesetzt zu der Umkehr des
Romanciers. Die eine Wende ist der Ermöglichungsgrund für die andere. Und wie die
ernthaften Romane - in Girards Lesart: nicht die abbildenden, sondern die
reflektierenden und demaskierenden – im Sinne der Saussureschen Zeichentheorie
einen einzigen Signifikanten darstellen, und wie deren Autoren mit einer einzigen
Stimme sprechen, lassen sich auch die diversen Konklusionen auf einen einzigen
Nenner bringen. Il faut les envisager comme une seule totalité signifiante.448
Wenn nun Girard die Soziologie und die Phänomenologie des Romans so weit
schematisiert, dass sowohl der Romancier als auch sein Werk und darin
insbesondere die sinnbildende Konklusion von archetypischem Format sind, liegt es
nahe, die letzte noch ausstehende Frage in diesem archetypischen Sinn zu
beantworten und die Vermutung zu riskieren, dass das vom Signifikanten Gemeinte,
dass also der Roman, beziehungsweise die erzählerische Inszenierung von
intersubjektiven Beziehungen, ein einziges Signifkat darstellen.
Indem Girard die romaneske Form in ihrer äußersten Reduzierung auf die
Confessiones des Hl. Augustinus am Ausklang der Antike zurückgehen lässt,
formuliert er gleichzeitig die romaneske Agenda als den Weg einer in die ruhelose
Selbstzerrissenheit führenden Abwendung des Menschen von Gott, auf dem sich
jedoch eine Bekehrung ereignet, in der dem Menschen im Licht der Hinwendung zu
Gott zugleich die Selbsterkenntnis zuteil wird. Dieser Abstieg in der Perversion der
Selbstsucht und der daraus abgeleiteten zwischenmenschlichen Konflikte, der sich
im Fall einer gnadenhaften göttlichen Intervention in den Aufstieg der Konversion 449
und der allseitigen Versöhnung verwandelt, bildet den romanesken Prototyp, der
auch Dantes Commedia als Bauform dient. Ist bei Augustinus die im mimetischen
Begehren angestrebte und gescheiterte Selbstverwirklichung die notwendige
Voraussetzung und Vorstufe der Selbsterkenntnis in Gott, so lässt Dante seine
Francesca, 450 bevor sie in der Hölle 451 schmachtend zur Einsicht kommt, in den Sog
447
René Girard, Critique dans un souterrain, S. 147
ebenda
449
Vgl. Peter Sloterdijk, Spären I, S. 518 – 519: „Augustinus hatte mit großer psychologischer und
logischer Folgerichtigkeit die Chancen der gefallenen Seelen, beim letzten Urteilsspruch zu Gott
zurückgerufen zu werden, als sehr prekär beurteilt; seine Eschatologie schildert eine göttliche
Ökonomie, in der nur die Wenigen aufgespart werden und heimkehren, während die meisten verloren
gehen – eingebunden in den umfassenden Klumpen des Verderbens (massa perditionis). In dem
bleiben die dunklen Mehrheiten befangen, die von ihrer zweiten Chance, dem Evangelium der wahren
Religion, keinen guten Gebrauch zu machen wussten. Ihnen wird die Fixierung in ihrer gottfernen
Eigenhölle als letzter Dauerzustand in Aussicht gestellt“.
450
Im zweiten Kreis der Hölle trifft Dante auf ein unglückliches Paar: Paolo und Francesca. Francesca
war 1275 aus politischen Gründen mit Gianciotto, dem ältesten Sohn des Herrschers von Rimini,
verheiratet worden, verliebte sich aber beim gemeinsamen Lesen des Ritterromans „Lanzelot vom
448
130
des mimetischen Begehren geraten, welches hier, wie so oft, sich an einer
Leseerfahrung entzündet und die Girardsche Auffassung der fonction séminale 452
der Literatur, also des durch sie vermittelten und insofern degradierten Verlangens
bestätigt, welches, da es weder auf direktem Weg vom Wunschobjekt ausgeht noch
einen libidinalen Ursprung im Wünschenden hat, sich am vermeintlich überlegenen
So-Sein des Vorbilds/Rivalen festmacht und daher als metaphysisches Verlangen
bezeichnet wird. Die Überlegenheit des Vorbilds beruht darauf, dass dieses ein
‚Erstwünscher’ ist, was wiederum dieser nur in den Augen eines nachahmenden
‚Zweitwünschers’ sein kann. Da der ‚Zweitwünscher’ nicht erkennen kann, dass auch
der ‚Erstwünscher’ sich in der Position eines Nachahmers befindet und er auch nicht
absehen kann, dass sein nachgeahmter Wunsch seinerseits wieder einen
Nachahmer auf den Plan ruft, bewegen sich die aus der Ersten Liebe
Herausgefallenen in einem mimetischen Kreis und folgen den Zirkelstrukturen von
Inferno, Purgatorio und Paradiso, wobei im Unterschied zum Paradies die höllischen
Räume keine göttliche Mitte aufweisen und ihre Rundheit die Funktion einer
Beengungsfolter hat und eine in sich zurücklaufende Aussichtslosigkeit signalisiert.
Obwohl Girard darauf besteht, dass der Verweis auf Augustinus und auf Dante keine
Theologisierung des romanesken Projekts bedeute, besitzt seine Phänomenologie
beziehungsweise Soziologie, in der so nachdrücklich die Signifikanz der romanesken
Konklusion und die Verknüpfung der Protagonisten-Umkehr mit der existenziellen
Wende in der Autorenbiographie herausgestellt wird, die Konturen einer religiösen
Erfahrung. Wenn er es auch nicht unternimmt, die ‚Körperschaft’ der Romanciers zu
christlichen Katecheten und das Corpus der Romane zu einem fünften Evangelium
zu machen, steht für ihn fest: die romaneske Erfahrung wie auch das romaneske
Experiment sind nicht zu trennen von der religiösen Erfahrung und vom religiösen
Lebensentwurf. Am Beispiel der Brüder Karamasof von Dostojewski formuliert er
bereits in seinem ersten Werk, unter dessen literaturkritischer Oberfläche eine
anthropologisch basierte Kulturtheorie am Entstehen ist, die Überzeugung, dass
Roman und Religion, soweit sie in ihrer zeitlichen Dimension zu beobachten sind,
nach ein und derselben Sequenz verfahren. Les dernières distinctions entre
l´expérience romanesque et l´éxpérience religieuse s´abolissent. 453
Im Hinblick auf eine solche programmatische Festlegung unterläuft der Titel der
deutschen Übersetzung, Figuren des Begehrens, Girards Frontstellung gegen Die
Lüge der Romantik. Wir müssen, so lässt sich dieses Programm fassen, den
Dichtern nicht ihre eigenen Theorien über den Menschen glauben, etwa die vom
Helden oder vom großen Individuum in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.
Nicht in dem, was sie denken, wohl aber in dem, was sie erzählen, sind sie
Erkenntnisorgane, die den argumentierenden und beweisführenden Denkern
überlegen sind. Wir müssen entdecken, was sie beschreiben, nicht was sie zu
beschreiben meinen. Wir müssen das erzählende und dramatisierende Verfahren zur
Erkenntnisgewinnung dem deduzierenden zumindest gleichstellen. Im intuitiven
Hinterfragen der Textoberfläche bei Cervantes, Flaubert, Balzac, Stendhal, vor allem
See“ in dessen jüngeren Bruder Paolo. Gianciotto überraschte seine Frau in flagranti und erstach sie
und ihren Liebhaber.
451
Francescas romantischer ‚amour fou’ der Selbsterlösung als gottferne Eigenhölle, zugespitzt
formuliert von Peter Sloterdijk, Spären II, S. 597:„… werden wir beobachten, wie die Exkommunikation
aus dem Liebesgott zu einer Auslöschung durch Internierung führen wird. Das also ist die
Christenhölle: das Vernichtungslager für Dissidenten der Ersten Liebe“.
452
René Girard, Mensonge romantique, S. 13
453
René Girard, Mensonge romantique, S. 312
131
aber immer wieder bei Dostojewski und Proust richtet Girard sich seinen eigenen
anthropologischen Schlüssel zu, mit dem er die romaneske Infrastruktur ohne
Rücksicht auf die romantischen, phänomenologischen Details entziffert: Die zunächst
auf nichts festgelegte Begierde heftet sich erst im Prozess der Nachahmung des
andern an ihr Objekt und gerät ins Taumelspiel der Rivalität. Der daraus entstehende
Kampf aller gegen alle wird nicht durch den Gesellschaftsvertrag im Sinne von
Hobbes oder Rousseau beendet. 454 Es ist der Sündenbockmechanismus, durch den
aus dem Kampf aller gegen alle die Einigung der Überlebenden und damit eine
Gesellschaftsordnung entsteht, die in gesellschaftserhaltender Repetition des realen
gesellschaftsstiftenden Urgeschehens immer wieder erneuert wird. Dies ist das
Girardsche Urmuster einer großen anthropologischen und gesellschaftlichen
Gesamttheorie, die er ausgehend von seiner Romananalyse entwickelt.
Während die Voraushandlung vom mimetischen Begehren und der romantischen
Ichbehauptung beherrscht wird, steht die Konklusion im Zeichen der Umkehr und der
Abkehr von der individualistischen Befangenheit. Vom Anfang zum Ende verläuft
nicht etwa eine kontinuierliche historische Entwicklung, sondern ein dynamischer
Prozess mit eigenem Antrieb, dessen Regelmäßigkeit intertextueller Natur ist und
dessen Abweichungsspielraum dem Temperament der Autoren überlassen ist.
Immer ist es jedoch so, dass die finale Erleuchtung in der Retrospektive den
zurückgelegten Weg erklärt und ihm Sinn verleiht. Die Handlung gewinnt dann aus
der Sicht der Konklusion einen gewissermaßen nachträglichen Charakter. So wie die
synoptischen Evangelien der Bibel ausgehend vom Tod und der Auferstehung Jesu
Christi zu lesen und zu verstehen sind, fungiert die Romanhandlung zugleich als
Erzählung und als Rechtfertigung der erzielten spirituellen Metamorphose.
Die enge Berührung von Roman und Religion erschöpft sich für Girard nicht in den
von den Romanciers verwendeten religiösen Metaphern und Allegorien. Wenn
Lucien Goldmann von den Bekehrungen von Don Quixote oder Julien Sorel als
conversions finales 455 spricht und Georg Lukács das degradierte Verlangen der
Helden als dämonisch bezeichnet, handelt es sich für Girard um mehr als um
literarische Strategie, er erkennt darin, und sei es im Umkehrsinn, die Struktur der
christlichen Erlösung, mehr noch: die starke Vermutung einer den Roman wie die
Religion transzendierenden Einheit des abendländischen Denkens.
454
Dazu Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 261 f., wo in dem Kapitel Nicht Vertrag, nicht Gewächs das
Unangemessene des Gesellschaftsbegriffs darin gesehen wird, dass dieser entweder als kontraktuell
nach dem Muster eines Vertrags zur Sicherung der Individualinteressen oder als organizistisch im
Sinne der Integration der Teile in ein lebendiges Ganzes (Körper, Bau- oder Kunstwerk)
vorverstanden und damit eine holistische Hypnose erzeugt wird. Eine derartige Überintegration, so
seine Reaktion vor dem Rätsel der sozialen Synthesis, verzerrt die humanräumlichen,
psychosphärischen, konspirativen und polemogenen Qualitäten des Zusammenseins…
455
Lucien Goldmann, Marx, Lukács, Girard et la sociologie du roman, Paris 1964, S. 145
132
5. Das mimetische Begehren und die kulturelle Genese
Mit dem in der Literaturkritik geschmiedeten begrifflichen Werkzeug der mimetischen
Analyse 456 gelangt Girard zu der doppelten Gewissheit, dass seine Interpretation
trotz ihres simplen Apparats sich auf ein unvorstellbar reiches, durch verstehendes
Lesen erreichbares Wissen vom Menschen stützt und dass seine mimetische
Theorie sowohl der Freudschen Psychoanalyse als auch der marxistischen Sozialund Geschichtstheorie überlegen ist. Er postuliert, dass eine wahrhafte Wissenschaft
vom Menschen nicht nur es sich nicht leisten kann, die großen literarischen Werke zu
ignorieren, sondern dass diese Wissenschaft deren Überlegenheit gegenüber den
theoretischen Abhandlungen bestätigen sollte. Es müsste dazu kommen, dass eine
erneuerte Literaturkritik und eine für literarische Verfahren offene Psychotherapie
Verbündete werden, anstatt dass, wie üblich, die psychoanalytischen Diagnosen den
darunter liegenden mimetischen Prozess verdecken und unbehandelbar machen. Er
ist überzeugt: Die mimetische Theorie ist nicht nur ein Leseraster zur Entzifferung
von erzählerischen Texten; sie ist der Schlüssel für das Verständnis des
menschlichen In-der-Welt-Seins, also für sein Denken und Handeln wie auch für die
kollektiven Prozesse als die Vorgänge seiner zweiten Natur. Elle (l´explication
mimétique, d. Verf.) se porte jusqu´au cœur de la motivation individuelle dans le
champ culturel, quand les autres types d´analyse se gardent bien au contraire de
s´aventurer dans ce domaine. 457
Von Augustinus über Dante, Cervantes und Shakespeare bis zu Dostojewski und
Proust verkünden die großen Werke der Literatur – für Girard ist die hier gemeinte
Größe genau definierbar - das Wissen um das Getriebe der seelischen Kräfte, wie
sich Freud ausdrückt oder, in Schillers Diktion, das Wissen um die geheimsten
Operationen der Seele, was Girard recht unbescheiden in der letztinstanzhaften
Formel der romanesken Wahrheit zusammenfasst. Demnach, und das ist das Fazit
der Literaturanalyse, ist das menschliche Begehren nicht authentisch, sondern
mimetisch, es verläuft nicht linear, sondern triangulär, weil zwischen dem
begehrenden Ich und dem begehrten Objekt immer ein Vermittler in Aktion ist. Wir
begehren die Objekte nicht, weil sie von sich aus begehrenswert wären, wir
begehren sie, weil der Andere, allein deshalb, weil er sie begehrt, diese Objekte
begehrenswert macht oder erscheinen lässt. Nicht in jedem Fall muss der Vermittler
sich in Augenhöhe mit seinem begehrenden Adepten treffen; er kann sowohl nur als
Resultat seiner Einbildungskraft auf den Plan treten, als auch aus dem Untergrund
des Bewusstseins heraus seine Wirkung entfalten. Dostojewskis auch in Nietzsches
Augen programmatische Schrift Aufzeichnungen aus dem Kellerloch signalisiert
bereits im Titel, dass die kontaminierende Wünsche-Vermittlung das Bewusstsein
des Adressaten unterlaufen kann, womit der gleiche Effekt der Sichtverblendung und
Täuschung erreicht wird wie bei dem in der Sprechweise Girards bevorzugten
metaphysischen Verlangen. Das Kellerloch-Verlangen aus dem seelischen
Untergrund entzieht sich der rationalen Erkenntnis in demselben Maß, wie das
metaphysische Verlangen sie verfehlt. Weder die Nachahmung auf einen Impuls von
unten, noch die auf einen Impuls von oben kann als Nachahmung begriffen werden.
In beiden Fällen muss der ausgelöste Wunsch als spontan und unbedingt erlebt
456
Dieses Werkzeug wird in der Analyse von Dostojewskis Notizen aus dem Kellerloch zum Gesetz, la
loi du souterrain, weiterentwickelt. Vgl. René Girard, La voix méconnue du réel, S. 210
457
René Girard, Superman in the Underground (1976), frz. Le surhomme dans le souterrain, in: ders.
La Voix méconnue du réel, S. 140
133
werden und dem Wünschenden als Garant seiner Identität dienen. Das romantische
und sich im Begehren allein wähnende Ich weiß nicht und darf nicht wissen, dass
sein Wollen auf einer Täuschung beruht.
Zur Lösung der mimetischen Rivalität mit dem Vermittler, die aus einem solchen
Begehren entsteht und unvermeidlich sowohl zu intersubjektiven Konflikten als auch
zu innerer Zerrissenheit führt, welche angesichts der Unüberwindlichkeit der Grenze
zum Anderen zu pathologischen, das heißt schizophrenen, depressiven und
manischen Reaktionen führt, bietet sich die romaneske Konklusion des letzten
luziden Moments, und im Licht dieser Konklusion und ihrer Voraushandlung weist die
romaneske Trajektorie von descente und ascension eine unverkennbare Nähe auf
zur religiösen Erfahrung eines Heilswegs, der aus der kreatürlichen Verfallenheit zur
erlösenden Umkehr führt und bei dem der Vermittler aufgrund seiner transzendenten
Position über jeden Neid- und Eifersuchtsverdacht erhaben ist.
Wenn Girards mimetische Theorie mehr sein soll als eine grille de lecture, muss sie
ihre Gültigkeit außerhalb der literarischen Erzähltexte beweisen, das heißt, ihre
Aussagen müssen den Vergleich aufnehmen mit denen der Ethnologie, der
Verhaltensforschung, der Anthroprologie; sie müssen sich ihrer empirischen,
natürlichen und animalischen Basis versichern.
Die größte Gefahr, die die menschlichen Gesellschaften bedroht und die nicht von
außen kommt, sondern von innen her das geordnete Zusammensein periodisch in
Frage stellt, besteht darin, dass die mimetischen Konflikte gewaltsame Formen
annehmen und dass das Austragen dieser Konflikte eine unbeherrschbare
Kettenreaktion auslöst. Ähnlich wie in der Literaturanalyse erweist sich auch hier der
Erklärungsansatz des mimetischen Verlangens, wenn die begehrten Güter sich als
unteilbar oder unaufteilbar erweisen, als überlegen gegenüber der Annahme, dass
die in einer Gesellschaft auftretenden zerstörerischen Kräfte einem von der Natur
mitgegebenen Todes- oder Aggressionstrieb beziehungsweise dem Befreiungsdrang
von unterdrückten Individuen oder Klassen verpflichtet wären. Girard ist überzeugt:
Jenseits der elementaren, vom puren Stoffwechsel diktierten Bedürfnisse gibt es im
Motivrepertoire des Begehrens nur eine einzige, unabdingbare und unableitbare
Verhaltenskonstante. Und diese auf animalischer Basis gründende anthropologische
Verhaltenskonstante ist das Bedürfnis oder genauer: die Unwiderstehlichkeit der
Nachahmung, welche für den Einzelnen wie für die Gruppe ebenso
überlebenswichtig wie konfliktträchtig ist. Überlebenswichtig ist die Nachahmung als
Motor des individuellen Lernens und der kulturellen Tradierung; konfliktträchtig ist sie
dort, wo, wie in der Literaturbetrachtung belegt, ein Verlangen nachgeahmt wird und
im unvermeidlichen Zusammenstoß konkurrierender Desideranten gewaltsame
Einsätze zu katastrophischen Lösungen führen.
Die Gesellschaften sind den zerstörerischen Auswirkungen der gewaltsamen
Einsätze und der grassierenden mimetischen Kontamination jedoch nicht hilflos.
ausgeliefert. Es gibt zwei Möglichkeiten, mehr – vorerst - nicht, um die vom
mimetischen Begehren in Bewegung gesetzte Spirale der Gewalt zu stoppen. Die
erste, seit Beginn der Welt – depuis la fondation du monde - von allen Kulturen
praktizierte, homöopathische Strategie besteht in der Verabreichung einer
kalkulierten und streng lokalisierten Gewaltdosis, mit der die böse Gewalt symbolisch
abgesättigt und das Übergreifen der unkontrollierten Gewalt auf den
Gesellschaftskörper verhindert werden soll. Es ist dies die unter politisch-kultischer
134
Aufsicht getätigte Wiederholung eines Lynchmords, ersatzweise die Tötung eines
prestigehaltigen Opfertiers, weil man sich daran erinnert, dass es einmal ein
gemeinschaftlich begangener Mord gewesen war, der wie ein Schock gewirkt hatte
und mit einem Schlag den gruppeninternen Streit beendet und den bedrohten
Frieden wiederhergestellt hatte. Also weiß man seitdem, dass es eine Art Gewalt
abführendes Mittel gibt, mit der man die Gewalt gewissermaßen hinters Licht führen
und unschädlich machen kann. Eine ähnliche kathartische Purgierung kann
möglicherweise auch erzielt werden, wenn statt des Blutvergießens jemand durch
einstimmigen Beschluss aus der Gruppe ausgeschlossen oder seine Marginalität
oder Asozialität auf andere Weise markiert wird. Wenn dieser reinigende Ausschluss
an einem Tier vollstreckt wird, ist dies ein Sündenbock, ein Tier, das ökonomisch
betrachtet weniger wertvoll ist als ein Schaf und das überdies niemand ‚riechen’
kann.
Die zweite Möglichkeit, die in der langen Geschichte der Menschheit immer wieder
reflektiert, manchmal erprobt aber bis heute nicht realisiert wurde, besteht schlicht
und einfach im Verzicht auf die Anwendung von Gewalt einschließlich der
Opfergewalt mit ihren sämtlichen Metamorphosen. Dies bedeutet a fortiori den
Verzicht auf das mimetische Begehren, den Verzicht darauf, im Nächsten den
Rivalen zu sehen und sich als Rivalen des Nächsten zu gebärden. Und dieser
Verzicht wäre gleichzeitig die Einladung, beispielsweise in einer imitatio Christi als
eines transzendenten und nicht konkurrierenden Vermittlers den Nahestehenden als
Nächsten anzunehmen wie sich selbst und ihn aus dem mimetischen Bann zu
entlassen.
Das Wissen um die gewalteindämmende Wirkung des ersten Mordes wird
konserviert in den religiösen Riten, die daher in ihrem Wesen Tötungs- und
Opferriten sind. Da die Religionen die anfänglichen Institutionen sind, aus denen die
Kulturen hervorgehen, ist eine Theorie der Religion zugleich eine Theorie der
kulturellen Genese und die Vorstellung vom Entstehen einer Religion und der
Funktion ihrer Riten zugleich die Überlegung zu einer allgemeinen und
fundamentalen Anthropologie.
Obwohl die Kultur diesen einen Ursprung hat, ist es angezeigt, von verschiedenen
Kulturen und nicht von einer einzigen zu sprechen, weil es zwangsläufig so viele
Kulturen gibt, wie es Interpretationen sowie Verarbeitungs- und Verfestigungsformen
des ersten Mordes und seiner rituellen, das heißt sakrifiziellen Wiederholung gibt.
Der Ritus, in dem in einer peinlich genauen Nachahmung das erste Mal des
friedenstiftenden Mords wiederholt wird, ist gültig und wirksam, wenn und nur dann
wenn die Menschen, die ihn begehen, sich hinsichtlich des Aufkommmens der
mimetischen Krise und ihrer gewaltsamen Auflösung täuschen. Der Ritus erfüllt
nämlich nur dann seinen Zweck, wenn die Beteiligten daran glauben, dass das
geopferte Wesen, ein Mensch oder ein Substitut, für beides haftbar zu machen ist:
für das Ausbrechen der Krise im Innern der Gruppe und für das Beilegen dieser
Krise. Dieses Wesen ist also alleinschuldig an der Störung der Ordnung, und ihm
allein verdankt die Gruppe die Wiederherstellung der Ordnung. Nur dann, wenn es
von der Gruppe für alleinursächlich gehalten wird sowohl für das ihr zugefügte
Trauma als auch für die Heilung von eben diesem Trauma, kann es die
Doppelfunktion ausüben, wie sie in dem Begriff des sacré zum Ausdruck kommt, der
für beide Deutungen offen ist, für die des Unheilvollen und für die des Heilsamen und
Heiligen. Sollten die Menschen in der Gruppe bezweifeln, dass das zu opfernde
135
Wesen für das Aufkommen der mimetischen Krise zu belangen ist, würde dieser
Gruppe die für die Exekution des Opfers erforderliche Einmütigkeit fehlen; folglich
könnte diesem Wesen nach seiner Opferung auch nicht die Verehrung und der Dank
für den durch seine Tötung zurückgebrachten inneren Frieden entgegengebracht
werden. Die Menschen müssen sich also täuschen über die wahre Natur des
Opferwesens. Dieses muss immer, das heißt auch in jeder rituellen Wiederholung,
als schuldig gelten; es muss immer in der Rolle des Sündenbocks erscheinen,
dessen einmütige Vertreibung beziehungsweise Opferung die Kohäsion der Gruppe
erneuert und dessen Verehrung als göttliches Wesen sich gleichzeitig als Dank für
den erwiesenen Gottes- und Friedensdienst und als Bitte um Friedenserhaltung
äußert.
Die verschiedenen Opfersysteme, deren rituelle Wirksamkeit Aufgabe der Religionen
und der kulturellen Institutionen ist, verhalten sich nicht anders als die romanesken
Texte. Sie unterscheiden sich nicht darin, dass die mimetische Krise und ihre Lösung
einen je anderen Verlauf nehmen. Sie unterscheiden sich darin und sehen darin ihre
Originalität, dass es verschiedene Interpretationen für das krisenauslösende
Moment, also der Sündenbockrolle, und verschiedenene Interpretationen für die das
krisenbewältigende Element, also der Verhimmelung des geopferten Retters gibt. Die
Unterschiede lassen sich reduzieren sich auf die Frage, wer oder was von wem aus
welchem Anlass und auf welche Weise zur Opferung bestimmt sowie auf die Frage,
in welchen kultischen Formen das Gedenken an die wundertätige Wiederherstellung
der Ordnung begangen und wachgehalten wird.
Der erste Mord, den die Theorie von der Erhaltung der Gesellschaft durch Einsatz
religiös dosierter Gewalt voraussetzt, ist empirisch nicht nachweisbar. Er lässt sich
hypothetisch rekonstruieren aus der Analyse eines umfangreichen ethnologischen
Materials und von mythischen sowie biblischen Texten, in deren Verlauf Girard die in
dem literaturkritischen Essay gewonnene Entdeckung des désir mimétique und der
romanesken conclusion auf die soziodramatische Ebene überträgt. Dabei macht er
wahr, was in Mensonge romantique unübersehbar war, dass für ihn die
Literaturanalyse umweglos Kulturanalyse ist und dass sich in den Bauformen und
Entstehungsbedingungen eines erzählenden Textes die Bauformen und
Kohärenzbedingungen einer Gesellschaft abzeichnen und darstellen lassen. Wie das
nachahmende Begehren die Sequenz des romanesken Textes regiert, ist es im
kulturellen Prozess die Liminalität oder das Trauma des ursprünglichen Chaos, in
dem sich jeder gegen jeden wendet, das durch das viktimäre Umschlagen, in dem
sich alle gegen einen zusammenrotten, unterbunden wird und wo schließlich eine
durch die auf die konkludierende Opferung folgende Heiligung dieses Einen ein
Zustand gefunden wird, in dem alle im Glauben an den geopferten Einen eine
versöhnte Gemeinschaft bilden, die es mit kulturellen, kultischen und den daraus
abgeleiteten institutionellen Mitteln auf Dauer zu stellen gilt.
Hängt somit die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der gesellschaftlichen
Ordnung von der Zuverlässigkeit des Opferkults ab, gilt für den Zustand, in dem sich
die Gruppe vor dem Aufkommen des Opferwesens befindet, dass er unbefriedet,
chaotisch und von der Art ist, dass das Überleben der Gruppe zur Disposition steht.
Wie die Theorie des Gesellschaftsvertrags von der logischen Annahme ausgeht,
dass der Naturzustand ein Kriegszustand als Folge der Gleichheit der Menschen ist
und dass zur Zähmung der Leidenschaften der Menschen dieser Naturzustand durch
eine allgemeine und absolute Gewalt überwunden werden muss, welcher die
136
Menschen im wohlverstandenen Eigeninteresse ihre Eigengewalt übertragen, steht
auch am Anfang der Girardschen Sequenz der kulturellen Genese eine von Gewalt
und Rivalität beherrschte Welt ohne Hierarchie und ohne soziale Differenzierung. In
Analogie zu dem romanesken Projekt, in dem die Nachahmung des Begehrens mit
quasi mechanischer Folgerichtigkeit zu inter- und intrasubjektiven Konflikten führt
und die mimetische Krise erzeugt, die bei günstigem Ausgang auf die lösende
Konklusion zusteuert, provoziert in den primitiven Gesellschaften die Nachahmung,
wenn sie nicht der bloßen Repräsentation dient, sondern sich mit dem Begehren des
Nächsten kreuzt, eine kritische Situation, in der innerhalb der Gleichen jeder von
jedem bedroht ist und in der die rettende Konklusion in dem Opfer besteht, das die
Differenz wieder einführt, auf das und über dem sich die Gruppe verständigt nach
dem Verfahren: il y a le jeu d´une violence réelle, d´une violence réciproque conclue
par le meurtre unanime de la victime émissaire. 458
Auffindbar ist die Spur der durch Verlangensnachahmung ausgelösten violence
réciproque sowohl in der Verhaltensforschung als auch in der Ethnologie. Im
Unterschied zu dem von Konrad Lorenz attestierten und von Sigmund Freud bereits
formulierten, spontanen Aggressionstrieb,459 ist es die Aneignungsmimesis, die
sowohl in den tierischen wie in den primitiven menschlichen Gruppen zu
Rivalitätskonflikten führt. Bei den höher entwickelten Säugetieren, insbesonders bei
Menschenaffen, den Meistern im ‚Nachäffen’, sind die Elemente des mimetischen
Konflikts inklusive seiner Lösung unschwer beobachtbar. Befinden sich mehrere
Tiere in einem gegebenen Revier, bildet sich beim ersten Konflikt, wenn ein
gemeinsames Wunschobjekt in Form einer Beute oder eines Sexualpartners zur
Disposition steht, eine Rangordnung in Form von dominance patterns heraus mit der
Folge, dass nach und nach der schwächere Kontrahent gegenüber dem stärkeren
zurücktritt. Diese Rangordnung bleibt auch dann in Geltung und wird von allen
beachtet wird, wenn kein Wunschobjekt im Spiel ist, das alle interessieren könnte. Es
trifft also nicht zu, wie Lorenz vermutet, dass die Rangordnung das Resultat einer
spontanen Aggression, eines so genannten Bösen mit positiven Auswirkungen ist.
Diese Ordnung entspringt einem Konflikt, und dieser wiederum entsteht aus dem
Verlangen, das auf das Objekt der Aneignung gerichtete Begehren nachzuahmen.
Die Stabilität der Gruppe beruht auf der Summe der Demutsbezeugungen, mit denen
die jeweils Schwächeren auf die Imponier- und Drohgebärden der Stärkeren
antworten, also einerseits auf Unterwerfung und endgültigen Verzicht der Vielen:
L´individu qui cède le premier cédera toujours désormais 460, und andererseits auf
der Kür eines Einzelnen an der Spitze der Rangordnung, den die Vielen in allem
nachahmen, ausgenommen im Begehren von Aneignungsdingen. Und diese
kampflos erreichte Stabilität genügt auch größeren Herausforderungen: Les animaux
dominés se laissent mourir de faim plutôt que de disputer leur nourriture aux animaux
dominants. 461 Obwohl der Aneignungskonflikt der Artgenossen mit den zur
Verfügung stehenden gewaltsamen Mitteln ausgetragen werden könnte und die
physischen Voraussetzungen für ein Massaker gegeben sind, das im denkbar
äußersten Fall die Selbstauslöschung der Gruppe zur Folge hat, fungiert der Konflikt,
458
René Girard, La Violence et le Sacré, S. 156
Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 77-78: „Gerade die Einsicht, dass der Aggressionstrieb
ein echter, primär arterhaltender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen: die
Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht.[…] Freud darf den Ruhm für sich
beanspruchen, die Aggression erstmalig in ihrer Eigenständigkeit erkannt zu haben…“.
460
René Girard, Des choses cachées, S. 99
461
René Girard, Des choses cachées, S. 98-99
459
137
der als Analogie zur mimetischen Krise des Romans vorgestellt werden kann, anstatt
den Kampf aller gegen alle auszulösen, geradezu als Katalysator für dessen
friedliche Beilegung. Die Mimesis ist ausgetrieben aus dem Aneignungskampf und
wendet sich dem stärksten Gruppenmitglied zu, welches die Kohäsion der Sozietät
garantiert. Diese Garantie besteht einerseits in der ‚Berufung’ des Chefs auf die
dominance patterns, andererseits und vor allem darin, dass alle ihn nachahmen,
wenn er bei einem Konflikt mit Artfremden, bei der Verteidigung des Reviers oder
beim Versuch, Beute zu machen, als erster angreift oder flieht. Fazit: Die primäre
gegenseitige Imitation, in der jeder das Begehren eines jeden nachahmt und die
daher alle Voraussetzungen für einen internen kollektiven Gewaltausbruch erfüllt,
verwandelt sich auf dem Höhepunkt der Krise in eine sekundäre Imitation, in der
einer von allen anderen nachgeahmt wird, dem die Gruppe ihren Frieden und ihre
Stabilität verdankt. Auf Dauer gestellt ist dieser geordnete Zustand allerdings nicht,
denn die Rangordnung hält sowohl Aufstiegs- als auch Abstiegsmöglichkeiten parat,
und das Kräfteverhältnis innerhalb der Gruppe wird im Lauf der Generationen und
der periodisch ausgetragenen Konflikte immer wieder neu justiert.
Der primäre Mimetismus 462 im Rahmen des tierischen, vom Bedürfnis diktierten
Aneignungsverlangens schaltet a priori jede Art von Bewusstsein und Reflexion aus.
Ebenso lässt sich im Experiment mit spielenden Kindern, denen man jeweils das
gleiche Spielzeug gibt, beobachten, dass sie ohne einen sächlichen Grund in einen
Verteilungsstreit geraten – bei Erwachsenen verhindern kulturelle Institutionen wie
Erziehung, Höflichkeit oder das Strafgesetz den Ausbruch von offenem Streit - und
dass dieser Konflikt seine Erklärung nicht in einem strittigen Objekt finden kann, auch
nicht, im Gegensatz zu der marxistichen oder Freudschen Grundannahme, in einer
Situation der Unterdrückung beziehungsweise der Auflehnung gegen ein
libidofeindliches Gesetz oder gegen einen repressiven Vater.
Mettez un certain nombre de jouets, tous identiques, dans une pièce vide, en
compagnie du même nombre d´enfants: il y a de fortes chances que la distribution ne
se fasse pas sans querelles. 463
Die ethnographische und auch mythologische Analogie der mimetischen Krise, vor
allem die Sequenz des Umschlagens der primären und konfliktträchtigen
Aneignungsmimesis in eine hierarchiestützende Nachahmung und in die
Herausbildung einer sozialen Ordnung ist das Hauptanliegen von Das Heilige und
die Gewalt, 464 dessen französischer Titel, indem er den sequenziellen Charakter der
Soziogenese zum Ausdruck bringen will, mit innerer Folgerichtigkeit als La Violence
et le sacré den Weg der vorstaatlichen Gesellschaften aus der herrschenden oder
drohenden Gefahr zu der religiös gefassten Ordnung wiedergibt. Die in der Analyse
der fiktionalen Realität am Beispiel des Romancorpus gemachten Entdeckungen
werden übertragen auf das Corpus der ethnographischen Befunde und das Corpus
der in den griechischen Tragödien konservierten Mythen. Die von der primären
Nachahmung ausgehende und sich über das metaphysische Begehren des
rivalisierenden Seinwollens verschärfende mimetische Krise und ihre Konklusion
werden dabei nicht nur soziologisch abgebildet oder verifiziert. Die in der
Literaturanalyse ausgearbeiteten Schlüsselbegriffe werden umgearbeitet zu
462
René Girard, Des choses cachées, S. 314 : « Comme toujours, il faut remonter à ce qu´on pourrait
appeler le mimétisme primaire ».
463
René Girard, Des choses cachées, S. 17
464
René Girard. Das Heilige und die Gewalt (Übers.), Zürich 1987
138
Vielzweckinstrumenten, die Girard in die Lage versetzen, eine allgemeine
Anthropologie und damit eine Kulturtheorie zu begründen. Beim Studium der
herangezogenen Quellen findet Girard nicht nur seine thematischen und
methodischen Prämissen bestätigt; er scheint geradezu überrascht zu sein vom
Reichtum und der vielseitigen Verwendbarkeit seiner Funde und damit vom
Integrationsvermögen seiner Hypothese, mit anderen Worten, davon, dass alle
möglichen Konflikte sich auf sein Schema des mimetischen Begehrens reduzieren
und sich mit ihm frei legen lassen: Le schéma proposé ici dégage une source
inépuisable de conflits. 465 Und er ist von der Richtigkeit seiner Hypothese in einem
Maße ergriffen, dass er den vollen Umfang ihrer Anwendungsmöglichkeiten noch gar
nicht fassen kann und überwältigt davon sich eingestehen muss: Les analogies
donnent le vertige par leur nombre et leur exactitude.466
Dass die Vorstellung von den mimetisch gesteuerten Aktionen und Reaktionen
mitsamt ihren Konsequenzen sich zu einer Kulturtheorie entfalten lässt und dass
diese Theorie über den Anschauungsmodus hinaus sich als anschlussfähig auch für
außerliterarische Funktionsanalysen erweist, zeigt sich an Spezialuntersuchungen,
die den mimetischen Mechanismus in autopoietischen und endogenetischen
Prozessen neben der Soziologie auch in der Biologie und der Ökonomie am Werk
sehen. Gesellschaft, im Lichte dieser Theorie betrachtet, hat demnach weder einen –
platonischen - ontologischen Ort, der ihrem Heraufkommen präexistiert, noch kommt
sie zustande aus der Einsicht der Zusammenlebenden, dass es vorteilhaft wäre, ihrer
Kohabitation eine vertragliche Grundlage zu geben. Sie entsteht vielmehr als
Resultat einer Krise in dem Moment ihrer Überwindung, und der Moment der
Überwindung tritt ein, wenn die mimetisch aufgeladene reziproke Gewalt aller gegen
alle sich plötzlich auf ein willkürlich ausgewähltes Opfer stürzt und zur Ruhe kommt.
So willkürlich die Wahl des einigenden Opfers ist, dessen Tötung die
gesellschaftliche Ordnung hervorbringt, so willkürlich sind die Objekte, von denen
aus die Kollektive ihre systemerhaltenden Asymmetrien aufbauen, ihre Differenzen
errichten und auch ihre Ökonomien sich organisieren. Es ist dieser Mechanismus,
den der Girard-Schüler treffend mit physique des cultures 467 bezeichnet, der dem
sozialen Wesen seine Autonomie und seine Selbststeuerung verleiht, zugleich aber
auch signalisiert, dass dieser Prozess unkontrollierbar ist, gleichgültig gegen
Partikularinteressen und keiner Zielsetzung verpflichtet.
In Resonanz zu dem von der Biologie 468 erklärten Übergang vom Einfachen zum
Komplexen sowie von der Undifferenziertheit zur Differenz deutet Girard den Weg
von der sakrifiziellen Krise zur Neubegründung der gesellschaftlichen Ordnung. Auch
in der ökonomischen Anwendung 469 bedeutet dies, dass eine Marktordnung auf
ebenso natürliche, das heißt unbeabsichtigte und sich selbst steuernde Weise
zustande kommt, ohne dass weder ein Ausgangs- noch ein Zielzustand definiert
sind. Wie ein Mangel entsteht, ein Preis sich bildet oder ein Aktienkurs sich
herausstellt, wie eine Mode sich durchsetzt oder Kaufinteresse sich äußert, hat mit
festen Vorstellungen von einem Wert oder einem Bedarf nichts zu tun. Die am Markt
Beteiligten sind keine Interessensatome; sie sind Beziehungswesen, welche ihre
465
René Girard, La Violence et le sacré, S. 235
René Girard, La Violence et le sacré, S. 402
467
François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, S. 176
468
Vgl. Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée. Essai sur l´organisation du vivant, Paris 1979,
469
Vgl. Paul Dumouchel et Jean-Pierre Dupuy, L´enfer des choses : René Girard et la logique de
l´économie, Paris 1979, sowie M. Aglietta et A. Orléan, La violence de la monnaie, Paris 1982
466
139
Wunschobjekte begehren, weil diese von anderen besessen oder begehrt werden
und weil die anderen sich dadurch an etwas erfreuen können, was man selbst am
liebsten auf dieser Welt haben möchte. Welche ökonomische Konfiguration als Markt
sich auf der Folie dieses trangulären Dauerkonflikts in der nicht fixierbaren Gestalt
einer Dauerbewegung einspielt, hängt trotz wirtschaftspolitischer Interventionen allein
von der mimetischen Logik ab, und die Tatsache, dass die ökonomischen Rivalitäten
punktuell lösbar sind, ist dem Einsatz eines Mittlers in der Gestalt des Geldes zu
verdanken, welches die sakrale Rolle dessen übernimmt, der als die Instanz qui
contient la violence die reziproke Gewalt eindämmt, auf sich zieht und speichert.
Wie der geldvermittelte Friedensschluss zwischen den Rivalen, da er diesen Zustand
bewirbt und so das Begehren der Umstehenden provoziert, für die Prekarität eines
ökonomischen Gleichgewichts steht, lassen sich mittels der mimetischen Theorie,
versucht man sie im Sinne Girard zu generalisieren, im Prinzip alle kulturellen
Gleichgewichtsillusionen als solche beschreiben beziehungsweise auf die
momentane und relative Größe zurückrechnen, die ihnen im Prozess des
mimetischen Konflikts zukommt. Wenn es zutrifft, dass im Begehrenskonflikt die
Verlierer beziehungsweise die sich als Verlierer Fühlenden oder vom Verlust
Bedrohten für die Gesellschaft die perverse Funktion erfüllen, die Angst zu
produzieren, zu den Verlierern zu gehören, ist die Jagd auf positionelle
Geltungsgüter eröffnet und hat immer schon begonnen. Solche Geltungsgüter sind
dann nicht nur die zum persönlichen Konsum bestimmten Produkte, auch im
Kunstschaffen, in der Forschung, in der technischen Realisierung und in der
philosophischen Theoriebildung sind die Neiddreiecke in der Form von Neidreaktoren
aktiv. Aus diesen Reaktoren speist sich die Bewegungsenergie, die die
nachständischen Gesellschaften ständig in Unruhe versetzt und die sowohl den
innerstaatlichen Streit um die sozialen Forderungen mitsamt den gegenläufigen
Tendenzen lesbar macht als auch den globalen Phänomenen des Terrorismus sowie
des auch kriegerischen Kampfs um Hegemonien und Ressourcen ihre trianguläre
Dimension verleiht. Ohne zwischen dem Künstler, dem Forscher und dem Terroristen
in unzulässiger Vereinfachung eine Gesinnungsgemeinschaft zu suggerieren, lässt
sich doch die mimetische Diagnose stellen: Das endliche Subjekt begehrt das
endliche Objekt, weil es der tendenziell unendlich Andere auch begehrt und der
Andere ist Rivale, weil er Modell ist, und Modell, weil er Rivale ist. Je mehr Respekt
das Subjekt dem Anderen entgegenbringt, desto mehr hasst es ihn, und je mehr das
Subjekt ihn hasst, desto mehr respektiert es ihn. Und ferner: Die Güter haben keinen
gesellschaftlichen Wert in Form von Nützlichkeit an sich, auch keinen reinen
Zeichenwert, wertvoll ist das endliche Objekt, das von tendenziell unendlich vielen
Rivalen begehrt wird. Bleibt noch die Feststellung, dass das Geldopfer seinen
Opfercharakter nicht erkennt, dass ein mythischer Schleier seinen gewaltsamen Kern
verhüllt und dass die friedenstiftende Wirkung dieses Vorgangs mit seiner
‚unsichtbaren Hand’ gerade auf seinem Verkennen und auf der Annahme der
Unverantwortlichkeit der Akteure beruht. Nicht nur der reale kulturelle Prozess,
sondern auch seine erzählerische Verarbeitung macht die Akteure glauben, ihre
Motive seien authentisch und originell. Der vom mimetischen Begehren ausgelöste
und in Gang gehaltene Mechanismus wird nicht durchschaut: Im Mythos erscheint
die Krise wie ein Schauspiel, das der Gott mit den Menschen veranstaltet hat. 470
470
Paul Dumouchel et Jean-Pierre Dupuy, Die Hölle der Dinge (Übers.), Wien u. a. 1999, S. 221
140
6. Die Girardsche Sequenz und der Hominisationsprozess
Girard nimmt sich vor, die Hominisation, verstanden als die Herausbildung eines
Horden-Ego und Eroberung einer technisch-magischen Zone inmitten eines
Naturmeers, von der Aneignungsmimesis und den von ihr erzeugten Konflikten her
zu denken und in dieser Denkbewegung nichts weniger als die Wahrheit der
zwischenmenschlichen Beziehungen zu enthülllen sowie das Geheimnis der sozialen
Kohäsion zu lüften, also den starken Grund des Zusammenseins 471 auf den Begriff
zu bringen. Das von ihm zusammengetragene, umfangreiche ethnologische und
mythologische Material wird in ähnlicher Weise wie beim Studium der fiktiven
Erzählungen einer scheinbar induzierenden lecture mimétique unterzogen. Es drängt
sich jedoch der Eindruck auf, dass Girard sich seit seiner frühen Formulierung der
romanesken Sequenz im Besitz einer Wahrheit weiß, die von nun an nicht mehr von
neuem zu begründen, deren Gültigkeit vielmehr nur noch durch weitere
Anwendungen zu erhärten und zum Leuchten zu bringen wäre. Er verhält sich als
multidisziplinärer Forscher wie der von Roberto Calasso aus dem Spruch des
Archilochos, einem Dichter des 7. Jahrhunderts v. Chr., zitierte Igel, von dem es
heißt: Der Fuchs weiß viele Dinge, der Igel dagegen weiß nur eine einzige große
Sache. Und Girard, so Calasso, ist einer der letzten überlebenden ‚Igel’, 472 der
seiner Sache so sicher ist wie das – in einem bekannten Ostermärchen - stets
obsiegende und die Täuschung einer mimetischen Doppelung nutzende Stacheltier
im Wettlauf mit dem sich an den Dingen abarbeitenden Hasen.
Die knappste Formulierung dieser einzigen großen Sache – in Wirklichkeit sind es
zwei: le désir mimétique und le bouc émissaire - entlehnt Girard einem Essay von
Roger Caillois, 473 wo dieser in Weiterführung der These von der kulturstiftenden
Funktion des Spiels nach Johan Huizinga 474 die Spiele von Kindern und
Erwachsenen untersucht und klassifiziert. Indem er die Reihenfolge der von Caillois
analysierten Spieltypen manipuliert, erhält Girard eine aus vier Hauptmomenten
zusammengesetzte Sequenz, die auf verblüffende Weise dem Verfahren der
Girardschen Hominisation entspricht, wie es nach allem, was die Mythen und
ethnologischen Befunde erschließen lassen, ein erstes Mal sich ereignet haben muss
und seitdem rituell nachvollzogen und in mythischer und religiöser Abblendung
tradiert wird. Die von Caillois erstellte Abfolge von Agôn, Alea, Mimicry und Ilynx
wird, um der Serialisierung des Gründungsprozesses zu entsprechen, umgestellt und
lautet nun: Mimicry, Agôn, Ilynx und Alea. Und so ist sich Girard sicher: C´est
exactement la même genèse, en somme, que dans tous les exemples analysés par
nous. 475
Der vorkulturelle Urzustand ist gekennzeichnet durch das Fehlen von
Kennzeichnung. Es ist der Zustand der Entdifferenzierung, des Chaos, der
471
Vgl. Peter Sloterdijk, Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des
Volkes, Frankfurt/M 1998
472
Roberto Calasso, La rovina di Kasch (1983), dt. Der Untergang von Kasch, Frankfurt/M 2002, S.
190
473
Roger Caillois, Les jeux et les hommes, Paris 1958
474
Johan Huizinga, Homo Ludens (1938), frz. Paris 1951, S. 57 – 58 : « Le jeu est une action ou une
activité volontaire, accomplie dans certaines limites fixées de temps et de lieu, suivant un règle
librement consentie, mais complètement impérieuse, pourvue d´une fin en soi, accompagnée d´un
sentiment de tension et de joie, et d´une conscience d´être autrement que dans la vie courante ».
475
René Girard, Des choses cachées, S. 110
141
Doppelgänger, der Gespenster, der ansteckenden und halluzinierenden, quasi
animalischen Nachahmung von Gebärden und Verkleidungen, und es gibt kein
Entrinnen aus der Weg- und Orientierungslosigkeit. Nach einer panikerregenden
Formel gilt: In-der-Welt-Sein heißt In-der-Gewalt-Sein:
Mimicry: Tout jeu suppose l´acceptation temporaire, sinon d´une illusion (encore que
ce dernier mot ne signifie pas autre chose qu´entrée en jeu: in-lusio), du moins d´un
univers clos, conventionnel et, à certains égards, fictif). [...] On se trouve alors en
face d´une série variée de manifestations qui ont pour caractère commun de reposer
sur le fait que le sujet joue à croire, à se faire croire ou à faire croire aux autres qu´il
est un autre que lui-même. Il oublie, déguise, dépouille passagèrement sa
personnalité pour en feindre une autre. Je choisis de désigner ces manifestations par
le terme de mimicry, qui nomme en anglais le mimétisme, notamment des insectes,
afin de souligner la nature fondamentale et élémentaire, quasi organique, de
l´impulsion qui les suscite. 476
Das kompetitive Gegeneinander verschärft sich, aus den Nachahmungsspielen
werden Wett- oder Kampfspiele wie Laufen, Springen, Werfen, Ringen, Boxen. Sie
entsprechen dem Kampf zwischen den doubles:
Agôn: Tout un groupe de jeux apparaît comme compétition, c´est-à-dire comme un
combat où l´égalité des chances est artificiellement créée pour que les antagonistes
s´affrontent dans des conditions idéales, susceptibles de donner une valeur précise
et incontestable. Il s´agit donc chaque fois d´une rivalité qui porte sur une seule
qualité (rapidité, endurance, vigueur, mémoire, adresse, ingéniosité, etc.), s´exerçant
dans des limites définies et sans aucun recours extérieur, de telle façon que le
gagnant apparaisse comme le meilleur dans une certaine catégorie d´exploits. 477
Auf dem Höhepunkt der Krise wird, da eine Intervention durch eine äußere Instanz
nicht erfolgt, aus der nicht aufhaltbaren und weiter um sich greifenden Rivalität aller
mit allen ein Zustand der Panik, verbunden mit einer allgemeinen
Besinnungslosigkeit und Bewusstseinstrübung. Caillois bezeichnet das Taumelspiel
mit dem griechischen Wort ilinx. Dieses Spiel entspricht dem halluzinatorischen
Paroxysmus der mimetischen Krise:
Ilynx: Une dernière (nach Caillois, d. Verf.) espèce de jeux rassemble ceux qui
reposent sur la poursuite du vertige et qui consistent en une tentative de détruire
pour un instant la stabilité de la perception et d´infliger à la conscience lucide une
sorte de panique voluptueuse. Dans tous les cas, il s´agit d´accéder à une sorte de
spasme, de transe ou d´étourdissement qui anéantit la réalité avec une souveraine
brusquerie. 478
Die Krise wird schließlich beendet entweder dadurch, dass die Spiel-Gemeinschaft
kollabiert und zerbricht oder dadurch, dass ein Heilmittel gefunden wird. Das
Therapeutikum, Pharmakon oder Apotropaion ist verfügbar, wenn aus dem Kampf
aller gegen alle ein Sieger hervorgeht. Im Zufallsspiel, welches der Lösung im Opfer
entspricht und wo der Unterlegene sich einfach nur dadurch ausweist, dass er das
kürzere Ende des verdeckt dargebotenen Strohhalms zieht, wird der Sieger
476
Roger Caillois, Les jeux, S. 39
Roger Caillois, Les jeux, S. 30
478
Roger Caillois, Les jeux, S. 45
477
142
wahrgenommen wie ein vom Schicksal Erwählter, er ist in den Augen der
Gemeinschaft eine sakrale Erscheinung und wird als Friedensstifter gefeiert und als
die heimsuchende Erscheinung des Sakralen verehrt. Auch im Losentscheid
polarisieren sich die positiven wie negativen Bedeutungen des Sakralen auf den
Erwählten. Wer beim Verteilen des Dreikönigsskuchens die eingebackene Bohne, la
fève du roi, erhält, hat einerseits Spaß und Hohn über sich ergehen zu lassen,
andererseits thront er über der Gruppe, transzendiert sie in einer scherzhaften MiniSakralisierung als ihr König.
Alea: C´est en latin le nom du jeu de dés. Je l´emprunte ici pour désigner tous jeux
fondés, à l´exact opposé de l´agôn, sur une décision qui ne dépend pas du joueur,
sur laquelle il ne saurait avoir la moindre prise, et où il s´agit par conséquent de
gagner bien moins sur un adversaire que sur le destin. Pour mieux dire, le destin est
le seul artisan de victoire et celle-ci, quand il y a rivalité, signifie exclusivement que le
vainqueuer a été plus favorisé par le sort que le vaincu. 479
Obwohl Caillois jedes der Spiele 480, für die er Belege in allen Kulturen sammelt, für
sich betrachtet und ihr Fortleben in unendlich vielen Variationen gerade auch in der
rational organisierten modernen Gesellschaft nachweist, um sie unter der Ordnung
stiftendenden Klasse der agôn/alea-Spiele oder der die Ordnung bedrohende Klasse
der mimicry/ilynx-Spiele zu rubrizieren, sie also nicht wie Girard zu einer
soziodramatischen Verkettung bringt, sind seine Beobachtungen insofern hilfreich für
die Rekonstruktion einer Soziogenese, als die Spiele ein eigenständiges und
Grenzen überschreitendes Kulturphänomen darstellen, das weder Text noch Ritual
ist und weder mit rein anthropologischen noch rein ethnologischen Kategorien erfasst
werden kann.
Auch bei Caillois, der zahlreiche Beispiele aus dem tierischen Verhalten 481
heranzieht, wird das In-das-Spiel-Kommen, vergleichbar dem in-lusionären Auftakt
vermittels des angehimmelten Rhetoriker-Stars beim jungen Augustinus oder
vermittels der Lichtgestalt des Amadis bei Don Quixote durch die Mimesis,
beziehungsweise mimicry erklärt. Einmal in Gang gekommen – in der
Fußballsprache: nach dem Anpfiff durch einen Dritten oder, wenn sich kein solcher
findet, nach dem 1:0 -, wird das Spiel durch einen eigenen Mechanismus
vorangetrieben, und es werden immer mehr Mitspieler, aktive und passive,
einbezogen: Les jeux ne trouvent généralement leur plénitude qu´au moment où ils
suscitend une résonance complice. Même quand, en principe, les joueurs pourraient
sans inconvénient s´y adonner à l´écart chacun de son côté, les jeux deviennent vite
prétexte à concours ou à spectacle.[...] On dirait qu´il manque quelque chose à
l´activité du jeu, quand elle est réduite à un simple exercice solitaire. 482.
Obwohl Caillois die Spiele der Welt und das Spielhafte in den Kulturäußerungen zu
einem beeindruckenden Spielecorpus vereinigt und darin seine Klassifizierung
vornimmt, geht es ihm nicht nur um das Aufzeigen von Strukturen. Indem er die
ordnungsstiftenden Typen von agôn und alea den ordnungsauflösenden Typen von
479
Roger Caillois, Les jeux, S. 35
Mit Hilfe der Unterscheidungen von Caillois ließe sich auch eine Typologie des Vergnügunsparks
erstellen: Geisterbahn-mimicry, Riesenrad-ilynx, Schießbude-agôn, Tombola-alea.
481
Roger Caillois, Les jeux, S. 29 : « Et chaque fois que j´ai pu, j´ai recherché dans le monde animal
des conduites homologues ».
482
Roger Caillois, Les jeux, S. 70
480
143
mimicry und ilynx gegenüberstellt, erzielt Caillois eine dialektische Bewegung von
Wirkung und Gegenwirkung, die sich kulturtheoretisch und geschichtsphilosophisch
nutzen lässt. Wo Menschen zusammen leben, soviel erlaubt der Umkehrschluss,
muss ein Zustand herrschen, der nach Entspannung, Befreiung, Ablenkung und
Aufheiterung verlangt. Mais il reste qu´à la source du jeu réside une liberté première,
besoin de détente et tout ensemble distraction et fantaisie. 483 Wenn dann im Spiel
die gruppeninternen Energien beobachtbar werden, erfolgt ein Schritt, der nicht
begründbar, bestenfalls im Tier- oder Humanexperiment nachweisbar ist. Caillois
dazu in lapidarer Bescheidenheit: Bientôt naît le goût d´inventer des règles et de s´y
plier obstinément, quoiqu´il en coûte. 484 Ist somit der Ausgangspunkt fixiert für eine
Soziologie aus dem Geist des Spiels nach dem von Caillois zitierten römischen
Rechtsgrundsatz, wonach sich aus dem Zusammenleben der Menschen die Gesetze
ergeben, 485 sind die für das Spiel konstitutiven Elemente der Nachahmung, der
Rivalität ebenso dokumentiert wie das quasi automatische Ablaufen der
gruppeninternen Prozesse und das – wenn auch argumentativ nicht erfassbare und
nur nachträglich beobachtbare –
Umschlagen der Normlosigkeit zur Norm, der
Gesetzlosigkeit zum Gesetz. Auch dass die gefundene Ordnung jederzeit wieder
verloren gehen kann, ist in Caillois’ Dialektik vorgezeichnet, weil die zerstörerischen
Spielformen der gleichen Nachahmungslogik unterworfen sind wie die aufbauenden,
einer Logik, der sie nicht nur ihre Entstehung verdanken, sondern auch ihre bis zur
Raserei 486 sich steigernde Ausbreitung, gegen die im Unterschied zu Girard bei
Caillois keine Therapie vorgesehen ist. Wie bei Girard wird auch bei Caillois dieses
Umschlagen im Positiven wie im Negativen, da es für die Betroffenen, die es
überwältigt und überkommt, einen für sie unerklärlichen Ursprung hat, mit dem
Begriff des Sakralen bezeichnet.
Mit der typologischen Aufbereitung der Spiele durch Caillois wird zugleich deren
performativer Charakter betont. Dies bedeutet, dass die Spiele, indem sie als
stattfindend inszeniert werden, gleichzeitig erzählt werden. Die Spielanleitung ist
deckungsgleich mit der Erzählung. Die im Spiel maßgebliche Handlungsform ist die
für die Erzählung gültige Erzählform. Sind es bei Caillois vier verschiedene
Spielaufführungen, deren jeweilige Spielanleitungen sich wie Geschichten mit dem
Thema De la turbulence à la règle 487 lesen, in denen erzählt wird, wie dem Spiel
über den wundersamen Umschlag der Regelgewinnung ein institutioneller Charakter
zukommt, verwendet Girard die vier Kategorien – die Anzahl ist situativen
Änderungen unterworfen – als aufeinander folgende Akte in einem dramatischen
483
Roger Caillois, Les jeux, S. 52
Roger Caillois, Les jeux, S. 55 ,Dazu auch S. 68 : « La tendance à la compétition ne reste pas
longtemps implicite et spontanée. Elle aboutit à préciser un règlement, adopté d´un commun accord ».
485
Roger Caillois, Les jeux, S. 201 : « Les jeux créent le droit, c´est-à-dire un code fixe, abstrait,
cohérent, et par là, modifient si profondement les normes de la vie en commun que l´adage romain ubi
societas, ibi jus, en présupposant une corrélation absolue entre la société et les lois, semble admettre
que la société même commence avec cette révolution ».
486
Roger Caillois, Les jeux, S. 201 – 202 : « En temps normal, elles (mimicry et ilynx, d. Verf.) ne sont
pas inconnues dans un pareil univers, mais elles s´y trouvent pour ainsi dire déclassées. En temps
normal, elles n´y apparaissent même que destituées, désaffectées, sinon domestiquées, comme le
montrent divers phénomènes foisonnants, mais malgré tout subalternes et inoffensifs. Pourtant leur
vertu d´entraînement demeure assez puissante pour précipiter à tout moment une foule dans quelque
monstrueuse frénésie. L´histoire en fournit assez d´exemples singuliers et terribles, depuis les
Croisades d´enfants du Moyen Age jusqu´au vertige orchestré des Congrès de Nuremberg lors du
Trosième Reich, en passant par nombre d´épidémies de sauteurs et de danseurs, de
convulsionnaires, de flagellants, par les Anabaptistes de Münster au XVIe siècle... ».
487
Roger Caillois, Les jeux, S. 52
484
144
Stück. Und dieses eine Stück konstruiert sich nach ein und demselben Bauplan; und
dieser Bauplan, den Girard aus dem Romancorpus herauspräpariert hat, beherrscht
nicht nur die Erzählungen und die Spiele für Kinder oder Erwachsene, er ist auch der
Masterplan für das große Spiel einer sozialen Physik, bei dem es um das
Zusammenleben der Menschen im kleinen wie im großen und letztlich planetarischen
Maßstab geht und das mit keinem treffenderen Ausdruck als dem eines
Gewaltspiels, eines jeu de la violence, 488 bezeichnet wird. Durch die semantische
Offenheit dieses Begriffs ist eingeräumt, dass die Gewalt sowohl als Objekt wie auch
als Subjekt dieses Spiels auftreten kann. Im ersten Fall ginge es bei diesem Spiel
darum, dass es Akteure gibt, die mit der Gewalt in irgendeiner Weise fertig zu
werden suchen, mit ihr ein Arrangement zu treffen, um eine Art Gewaltmanagement
beziehungsweise Gewaltadministration. 489 Im Falle der Gewalt als Akteur des Spiels
wäre zu zeigen, welches Spiel mit welchem Ausgang sie treibt und was dabei für die
Betroffenen auf dem Spiel steht. Da es aber Girard um nichts Geringeres geht als
darum, dieses Spiel in dem doppelten Sinn als jeu de la violence zu durchschauen,
es zu desillusioneren, das Geheimnis seiner Mechanik zu lüften und eine Alternative
zu allen Formen von gewaltsamen Verläufen und Lösungen aufzuzeigen, ergänzt
sich seine wissenschaftliche Spielanalyse mehr und mehr um intuitive und
prophetische Akzente.
Der Beleg, dass sich die roman- und spieltheoretischen Erkenntnisse sowohl an dem
tragödienvermittelten Corpus der Mythen als auch an einem umfangreichen
ethnographischen Material verifizieren lassen, dass damit Formen des Erzählens,
also kommunikativen Sprechens, zugleich Formen des kommunikativen Handelns
sind, ist das Anliegen des Essays La Violence et le sacré, der eine methodisch
schlüssige lecture girardienne zur Entfaltung bringt, mit der sich auch Texte der
jüdisch-christlichen Bibel wie mythische Dokumente der Hominisation und
Kulturgründung entziffern lassen. Dabei geht es Girard, wie noch zu zeigen sein wird,
um den Nachweis, dass bei aller Gemeinsamkeit der Strukturen die biblische
Tradition beziehungsweise die biblische Arbeit 490 in der von Blumenberg so
genannten Arbeit 491 am Mythos bis heute in einer mehrfachen Rolle wirksam ist: in
der Rolle des ‚verworfenen Ecksteins’ und in der Rolle der ‚verwerfenden Bauleute’,
schließlich in der sich mehr und mehr aufdrängenden Erkenntnis der Unersetzlichkeit
eines solchen Ecksteins für die soziale Synthese.
Stellvertretend für die zahlreichen ethnologischen Befunde, in denen die Analogie zur
Girardschen Roman- und Spielsequenz greifbar ist, sei auf einen Bericht verwiesen,
den Girard einem Werk des Völkerkundlers Jules Henry 492 entnimmt, der einige Zeit
in dem Stamm der indianischen Kaingang in Brasilien lebte. Dieser Stamm war kurze
Zeit davor in ein Reservat eingewiesen worden, so dass die neue Umgebung noch
488
René Girard, La Violence et le sacré, S. 139 : « Le jeu de la violence, tantôt réciproque et
maléfique, tantôt unanime et bénéfique, devient le jeu de l´univers entier ».
489
Vgl. Roger Caillois, L´Homme, S. 18 : « La religion est administration du sacré ».
490
René Girard, Des choses cachées, S. 198 : « C´est dire que l´inspiration biblique et prophétique
est déjà à l´œuvre sur les mythes qu´elle défait, littéralement, pour en révéler la vérité ».
491
Auch Girard verwendet gern den Begriff der Arbeit als geschichtskräftige Wirkungsmacht, auch in
der Gleichsetzung von Arbeit und Offenbarung im biblischen Sinn. In: ders. Des choses cachées, S.
200 : « Tout ce qui peut apparaître dans l´ethnologie, apparaît à la lumière d´ une révélation en cours,
d´un immense travail historique qui nous permet peu à peu de rattraper des textes déjà explicites, en
vérité, mais pas pour les hommes que nous sommes, qui ont des yeux pour ne pas voir et des oreilles
pour ne pas entendre ».
492
Jules Henry, Jungle People (1941), New York 1964
145
keine tiefgreifende Änderung ihrer Lebensweise und ihrer sozialen Physik, also –
nach dem Sprachspiel von Michel Serres – ihres sozialen Leims einer colle collective
493
bewirken konnte.
Jules Henry registriert in dieser Menschengruppe eine extreme Armut an religiösen
und kulturellen Bräuchen wie auch an technischen Hilfsmitteln und sieht in dieser
Defizienz eine direkte Folge der blood feuds, das heißt der Rachemorde, die
unaufhaltsam wie eine Kettenreaktion selbst durch die verwandten Familien hindurch
ihre Spur ziehen. Er gebraucht zur Beschreibung dieses permanenten und allseitigen
Gewaltexzesses geradezu mythische Metaphern, insbesondere die der Pest, womit
im Gegensatz zur Überschaubarkeit eines mechanischen Räderwerks eine
pandemische Bedrohung signalisiert wird, die sich über nichtwahrnehmbare
Mikroben ausbreitet, welche als ungeheure Botenstoffe die Immunschranken des
Organismus unterlaufen und nach dem unbemerkten Einnisten zu einer Erkrankung
führen, die beim Auftreten der ersten Symptome von keinem Therapieversuch mehr
eingeholt werden kann. Was Henry mit spürbarer Betroffenheit als das
Hereinbrechen einer unaufhaltsamen Katastrophe registriert: La vendetta se
répandait, sectionnant la société comme une hache terrible, la décimant comme le
ferait une épidémie de peste, 494 wird von Girard gedeutet als der Verlust eines
Opfersystems, welches in den vorstaatlichen Gesellschaften dafür zu sorgen hat,
dass zum Schutz der Gemeinschaft und zur Vermeidung eines sozialen Suizids die
Gewalt aller gegen alle umgewandelt wird in die Gewalt aller gegen einen, dass die
vernichtende Gewalt also durch Sakralisierung, das heißt Anwendung einer rituell
dosierten Gewalt aus der Gesellschaft evakuiert wird. Wenn die Blutrache in der
primitiven Menschengruppe wie eine Axt wütet und in letzter Konsequenz bewirkt,
dass jeder tötet, weil er befürchten muss, getötet zu werden, dass also das Heil im
Präventivschlag eines jeden gegen jeden zu suchen ist, sind die Voraussetzungen
für die Selbstauslöschung einer Gruppe vorhanden, vor allem, wenn es wie im
vorliegenden Fall einer Reservat-Situation nicht gelingen kann, die Kohäsion der
Gruppe nach dem Modus von l´union fait la force durch eine kriegerische
Unternehmung gegen einen externen, real existierenden oder vorgestellten Feind zu
festigen und so die Vendetta zu exportieren. Ein einziger Mord genügt, und die
Spirale der Gewalt ist nicht mehr aufzuhalten. Der Mörder steckt in der Falle: Er
muss töten und immer wieder töten, denn er muss diejenigen aus dem Weg räumen,
die jetzt oder irgandwann den Tod ihrer Angehörigen rächen könnten.
Das Opfersystem – für den Ethnologen Henry ist es ein förmliches Verfahren zur
Bändigung der internen Kräfte 495 - ist den Kaingang abhanden gekommen. Diese
haben es, wie es scheint, vergessen oder durch das zur Routine erstarrte Ritual den
Glauben an seine Wirksamkeit bei der Domestizierung der internen Gewalt verloren.
Möglicherweise ist der Verlust auch auf den Druck der brasilianischen Regierung
zurückzuführen oder auf die Einwirkung der christlichen Mission, deren Prinzipien
493
Vgl. Michel Serres, Hominescence, Paris 2001, S. 288 : « Les religions retournent à l´état
archaïque de ciment sociétaire, ou, plutôt et à l´inverse, la nouvelle et puissante colle collective
s´expanse en intégrismes, d´où les guerres qui les opposent comme aux temps les plus anciens ».
494
Jules Henry, Jungle people, S. 50, in der Übers. von René Girard, in: ders., La violence et le sacré,
S. 81
495
Jules Henry, Jungle people, S. 7, in der Übers. von René Girard, in: ders., La violence et le sacré
S. 83 : « Ce groupe que ses qualités physiques et psychologiques rendaient parfaitement capable de
triompher des rigueurs du milieu naturel était néanmoins incapable de résister aux forces internes qui
disloquaient sa culture et, ne disposant d´aucun procédé régulier pour maîtriser ces forces, il
commettait un véritable suicide social ».
146
des Verzichts auf die eigene Faust beziehungsweise des Verzichts auf das
heidnische Opfer das überkommene Gewaltmanagement außer Kraft setzten. Für
Girard jedenfalls erfüllt dieser Zustand der Liminalität die Bedingungen einer
sakrifiziellen Krise, weil kein Opfer mehr als victime zur Verfügung steht, welches
durch eine einmütig durchgeführte Opferhandlung als sacrifice eine doppelte
Konkordanz stiften würde: Gemeinsam und mit mimetisch erzeugter und
aufgeladener Wucht würde eine personifizierte Ursache der durch gewaltsam
ausgetragene Rivalitätskonflikte gestörten Ordnung identifiziert und als Sündenbock
geschlachtet beziehungsweise aus der Gemeinschaft verstoßen, und weil nach
dieser Opferung der interne Friede wie durch ein Wunder wieder eingekehrt wäre,
würde – wiederum im psychischen Sog der Mimesis – das geopferte Wesen einmütig
als wundertätiges Wesen anerkannt, sakralisiert und divinisiert. Diesem divinisierten
Wesen gebührte daher Dank für die ihm zugeschriebene Errettung. Gleichzeitig gelte
dieses Wesen auch als Garant dafür, dass in Zukunft eine solche sakrifizielle Krise
sich nicht erneut ereigne, was dadurch zu erreichen wäre, dass zur Prävention ihm
Verehrung, Gehorsam und Dienst entgegengebracht würde, die in Form von
geistigen Gaben, den Gebeten, oder anderen kultischen Gaben zu realisieren seien.
Wird am Beispiel der Kaingang ein ethnologisch belegtes Modell für den rettenden
Einsatz von religiöser Gewalt aus dem Umkehrschluss ihres Fehlens rekonstruierbar,
sind die von Henry notierten Beobachtungen von Interesse sowohl für eine Theorie
des Zeichens als auch für das Verständnis der griechischen Tragödie. Das zum Idol
verwandelte Opfer, dem das Chaos und seine Überwindung zugeschrieben werden,
spielt in Wirklichkeit und aus der Sicht des externen Beobachters bei diesem
Vorgang keine aktive Rolle. Doch in der Wahrnehmung der Mitglieder der
Gemeinschaft, die alle um ihr Leben fürchten müssen und für die es kein Außen zum
Rückzug, zur Beobachtung und Theoriebildung gibt, steht dieses Idol für die von ihm
hervorgebrachte Wirkung. Und da ihm nach dem mit ihm veranstalteten Prozess zu
seinem heilbringenden und tendenziell ewigen Andenken ein Grabmal errichtet wird,
das seine weitere Präsenz in der Mitte der Gemeinschaft sichert, ist das Grabmal das
erste Symbol, ein Mal, welches nicht auf seine Materalität reduziert werden kann,
sondern diese transzendiert und im Verweisen auf eine zeichenhafte Wirklichkeit
diese auch begründet. Entscheidend für das Gelingen der Friedensstiftung und –
erhaltung auf dem Weg der Sakralisierung ist, dass die Betroffenen daran glauben,
dass dem Idol die doppelte Leistung der Störung und Wiederherstellung der Ordnung
zuzurechnen ist, dass alle ausnahmslos und rückhaltlos von dessen Schuld
überzeugt sind und seiner Opferung zustimmen – eine Stimmenthaltung wäre
äußerst risikoreich - und dass alle ausnahmslos und vorbehaltlos sich zu der
Gemeinde der Gläubigen versammeln, die das göttliche Wesen verehrt. Die
griechische Tragödie lässt, wie Henry in einem Vergleich der Kaingang-Mörder mit
den Tragödienfiguren suggeriert, darauf schliessen, dass das archaische
Opfersystem in eine Phase der nachlassenden Wirksamkeit eingetreten ist und also
die Polis-Gesellschaften sich in einer sakrifiziellen Krise befinden. Les meurtriers
Kaingang ressemblent aux personnages de la tragédie grecque, prisonniers d´une
véritable loi naturelle dont on ne peut pas interrompre les effets une fois qu´elle s´est
déclenchée. 496 Girard, der abweichend von der idealisierenden, humanistischen
Tradition die sakrale Herkunft der Tragödien betont, 497 vergleicht die reziproke
496
Jules Henry, Djungle people, S. 84, in der Übers. von René Girard in: ders., La Violence et le
sacré, S. 84
497
René Girard, La violence et le sacré, S. 99 : « Comme tout savoir de la violence, la tragédie est liée
à la violence ; elle est fille de la crise sacrificielle ».
147
Gewaltanwendung der Kaingang mit der Auflösung der kulturellen Ordnung, die in
den antiken Tragödien ihren Ausdruck findet in dem Status des von Hölderlin
formulierten Gleichgewichts der tragischen Kontrahenten. Dieses Gleichgewicht ist
nicht etwa ein Gleichstand der Waagschalen, für den eine höhere Macht oder ein
Rechtsystem bürgt; dieser Gleichstand verdankt sich der Gewalt und ist, in moderner
Diktion, ein Gleichgewicht des Schreckens. Il y a toujours de part et d´autre les
mêmes désirs, les mêmes arguments, le même poids : Gleichgewicht, comme dit
Hölderlin. La tragédie est l´équilibre d´une balance qui n´est pas celle de la justice
mais de la violence. [...] Si le conflit s´éternise c´est parce qu´il n´y a aucune
différence entre les adversaires. 498
Bezeichnet die sakrifizielle Krise einen Zustand, in dem die in der Gemeinschaft
wütende Gewalt nicht auf ein Opfer abgeleitet werden kann, kann die differenzielle
Krise, da ja dem Opfer bis hin zu seinem Grabmal und den anderen Reliquien die
primäre Zeichenfunktion zukommt ist, als eine abstrakte Variante der ersteren
betrachtet werden. Äschylus, Sophokles und Euripides bringen zwar verschiedene
Menschentypen auf die Bühne und verteilen auf sie ihre Präferenzen, aber deren
tragischer Charakter besteht gerade darin, dass sie als symmetrische Antagonisten
auftreten und es dem Zuschauer schier unmöglich machen, einen Unterschied zu
machen und Partei zu ergreifen. Wie ein Opfersystem seine stabilisierende Funktion
verliert, wenn nicht mehr entschieden werden kann, wer oder was als Opfer in Frage
kommt, um die Einmütigkeit der Opfernden (wieder)herzustellen, ist das
Gemeinwesen vom Zerfall bedroht, wenn in der tragischen Konfrontation des débat
tragique 499 keine Auseinandersetzung, keine Lösung und Konklusion erfolgt,
sondern wie am Beispiel der feindlichen Brüder Eteokles und Polyneikes die
Ununterscheidbarkeit nach der reziproken Tötung sich bis hin zu deren Leichen
erstreckt, so dass die Redifferenzierung durch das von Kreon angeordnete
Staatsbegräbnis und das von ihm errichtete Grab des nicht mehr identifizierbaren,
also mutmaßlichen Helden auf einer kultischen Täuschung beruht und, von einem
risikofreien Außen her betrachtet, ein höchst fragwürdiges, weil auf gläubiges
Dafürhalten gestütztes Zeichen darstellt. Wenn auch der Stoff der Tragödie auf den
Mythos zurückgeht und demzufolge als Konklusion ein Alea-Ereignis, in aller Regel
eine Opferung, benötigt, endet die tragische Debatte unentschieden. Wer in diesem
losähnlichen Verfahren das bessere Ende für sich hat, bleibt offen; ob es die alte
rituelle und religiöse Ordnung ist, für die Antigone steht, oder ob es angesichts der
Auflösungserscheinungen des archaischen Opfersystems Kreons Staatsraison ist, für
die der Zuschauers Partei ergreifen soll, wird vom Autor nicht entschieden. Antigone
verletzt das Recht des Staates, Kreon das der Familie. Die Antinomie zweier
gleichberechtigter Prinzipien macht, wie Hegel bemerkt, das Wesen 500 der Tragödie
498
Roger Caillois, Les jeux, S. 39
René Girard, La violence et le sacré, S. 70 – 71 : « La parfaite symétrie du débat tragique
s´incarne, sur le plan de la forme, dans la stychomythie où les protagonistes se répondent vers pour
vers. Le débat tragique est une substitution de la parole au fer dans le combat singulier. Que la
violence soit physique ou verbale, le suspense tragique est le même. [...] La mort des deux frères ne
résout rien. Elle perpétue la symétrie de leur combat. [...] On voit naître ici la tragédie proprement dite
comme prolongement verbal du combat physique, querelle interminable suscitée par le caractère
interminablement indécis d´une violence préalable ».
500
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik Bd. III, Frankfurt/M, S. 544: „Der Hauptgegensatz,
den besonders Sophokles nach Aischylos’ Vorgang aufs schönste behandelt hat, ist der des Staats,
des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit.
Dies sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung. […] Antigone ehrt die Bande des Bluts, die
unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und
Gemeinwohls“.
499
148
aus. Während in der Komödie das Pathos der Individuen dadurch sich als sich an
ihnen selbst auflösend 501 gezeigt wird, dass sie sich gegenseitig lächerlich machen,
hat die Tragödie nicht etwa die eine oder die andere der feindselig
gegenüberstehenden Seiten zu prämieren beziehungsweise schuldig oder
unschuldig zu sprechen; sie hat die Kollision der höchsten sittliche Zwecke
darzustellen und auf die Spitze zu treiben, so dass mit innerer Notwendigkeit der
Ausgang darin gefunden wird, dass die Einseitigkeit der Mächte, welche in den
Individuen sich verselbständigen, 502 aufgelöst und überwunden werden muss
zugunsten einer ewigen Gerechtigkeit, die die sittliche Substanz und Einheit mit dem
Untergang der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. 503
Ob man mehr auf die Krise des Opferwesens oder die Krise der Differenzen abhebt,
beides trifft nach Girard sowohl auf den ethnologischen Befund der Kaingang wie auf
dem mythologischen Befund des griechischen Tragödiencorpus zu. In beiden Fällen
liest er die Texte als Dokumente, die einen Verlust und eine Dekadenz 504 anzeigen,
und er umreißt von da aus die Hypothese eines funktionierenden Opfer- und
Zeichensystems, welches den Ausbruch der reziproken Gewalt ebenso verhindert
hätte wie den Antagonismus der Gestalten der Tragödie. Dass durch das
Opfersystem gleichzeitig ein Zeichensystem konstituiert wird, wird dort und dann, wo
es ausbleibt, deutlicher wahrnehmbar als durch sein reibungsloses Funktionieren.
Wenn im Falle der Kaingang beobachtet wird, dass dem Mangel an kultischen
Bräuchen ein Mangel an technischen Ausstattungen entspricht, lässt sich im
Umkehrschluss folgern, dass das Opfer- beziehungsweise Zeichensystem eine erste
Stufe der Abstraktion darstellt, ohne die die Emergenz des dafürhaltenden,
vorstellenden, denkenden, erinnernden und vorausschauenden Individuums nicht
denkbar wäre. Eine menschliche Gruppierung, in der nicht bestimmt werden kann, ob
und gegebenenfalls was geopfert werden kann, verfügt, wenn man der
Analogisierung der Opfer- mit der Zeichentheorie folgt, auch nicht über weitere
lebensweltliche Differenzierungen. Demzufolge ist die Demarkation zwischen
Opferbarem und Nichtopferbarem in enger Verbundenheit zu sehen mit der
räumlichen und zeitlichen Differenzierung und insofern mit den Grundlagen des
Denkens, der Logik und den elementaren Voraussetzungen von Technik und
Wissenschaft. Wie auf der Handlungsebene das Opfern im Sinn einer sakrifiziellen
Ausscheidung die primäre Differenzierung darstellt, ist es auf der Zeichenebene das
dem Geopferten errichtete, ihn zugleich verhüllende und erhöhende, die Opferspuren
zugleich tilgende und verklärende Grabmal, von dem die kulturellen
Unterscheidungen und Übertragungen ihren Ausgang nehmen. Kulturell konstitutiv
ist nicht, was sich von einer Idee oder einer Metapher ableitet, vielmehr was sich
über seine Herkunft und seine Distanz zum Grab als der ersten Institution, dem
Nullpunkt aller kulturellen Genealogie und Topologie bestimmen lässt.
Qui dit métaphore dit déplacement, et il n´y a pas ici de déplacement métaphorique.
C´est au contraire à partir du tombeau que s´effectuent tous les déplacements
constitutifs de la culture. [...] Les rites funéraires, nous l´avons dit, pourraient bien
501
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik Bd. III, S. 481
ebenda
503
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. III, S. 524
504
René Girard, La violence et le sacré, S. 68 : « Les historiens sont d´accord pour situer la tragédie
grecque dans une période de transition entre un ordre religieux archaïque et l´ordre plus moderne,
étatique et judiciaire qui va lui succéder. Avant d´entrer en décadence, l´ordre archaïque a dû
connaître une certaine stabilité. Cette stabilité ne pouvait reposer que sur le religieux, c´est-à-dire sur
le rite sacrificiel ».
502
149
constituer les premiers gestes proprement culturels. C´est autour des premières
victimes réconciliatrices, il y a lieu de le croire, c´est à partir des transferts créateurs
des premières communautés que ces rites ont dû s´élaborer. On songe aussi à ces
pierres sacrificielles qui constituent le lieu fondateur de la cité antique, toujours
associées à quelque histoire de lynchage assez mal camouflé. 505
Im Unterschied zu dem homo necans von Walter Burkert ist es bei Girard nicht der
gemeinschaftlich jagende, sondern der gemeinschaftlich opfernde Mensch, der die
physische Gewalt als Tötungsgewalt entdeckt und sich, beziehungsweise der
Gemeinschaft nutzbar macht, wobei jedoch beide Auffassungen sich darin treffen,
dass der Tötungszweck nicht primär in der Nahrungsbeschaffung zu sehen ist.
Während für Burkert das Motiv der Futtersuche und deren Ritualisierung im
Jagdopfer den Handlungsrahmen für den transkulturellen Erzählzusammenhang der
Mythen darstellt, betrachtet Girard das Opfer als den Vorgang schlechthin, von dem
alle Kultur ausgeht, als den entscheidenden Schritt, an dem der Übergang von der
Animalität zur Humanität festgemacht werden kann. Indem die mimetische Krise
allein dadurch aufzulösen ist, dass die durch die allseitige Nachahmung eskalierende
reziproke Gewalt durch Ableitung auf ein Opfer aus der Gruppe evakuiert wird und so
eine Art Druckausgleich geschaffen wird, wiederholen die Menschen die Erfahrung,
die am Anfang ihres Zusammenlebens ihre Gruppe von dem real drohenden
kollektiven Selbstmord bewahrt haben muss, eine Erfahrung, die sie gelehrt hat, dass
es eine Art des risikofreienTötens 506 gibt, die nicht nur sozialverträglich, sondern im
wahrsten Sinn des Wortes sozial notwendig ist: das Umlenken der Gewalt auf ein
Opfer, das zum einen so beschaffen ist, dass von seiner Seite keine Gegenreaktion
in Form von Rache zu befürchten ist und zum anderen so, dass seine Auswahl, seine
Isolierung vom Gemeinschaftskörper und seine finale Behandlung einmütig erfolgen
kann.
Wenn in den allein durch religiöse Bindung zusammengehaltenen frühen
Gesellschaften der Opferakt die Riten abschließt, also deren Konklusion ist, müssen
alle an der Opferung teilnehmen, die auch dann einem Lynchmord zum Verwechseln
ähnlich ist, wenn die Immolation einem einzigen Opfervollzieher vorbehalten ist. Im
Opferakt vollzieht sich die Einheit einer Gemeinschaft, und diese Einheit offenbart
sich blitzartig gerade auf dem Höhepunkt der Krise, gerade in dem Moment, wo in
der Gemeinschaft ein heilloses Gegeneinander herrscht und der Teufelskreis der
nicht zu stoppenden Privatrache den allgemeinen Untergang heraufbeschwört. Mit
der Heftigkeit eines Stromstoßes 507 schlägt das Jeder-gegen-jeden um in die
Opposition aller gegen einen. Auf die chaotische Vielzahl der Einzelkonflikte folgt die
Reduzierung auf die Einfachheit eines Antagonismus. Die ganze Gemeinschaft steht
505
René Girard, Des choses cachées, S. 187
Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (1995), dt. Homo sacer. Die
souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M 2002. Für Agamben bedeutet die sacratio keine
Opferweihe, vielmehr die Begründung der originären politischen Struktur der Unterwerfung des
Lebens unter eine Macht des Todes, modellhaft ausgeführt in den bio- und ideologiepolitischen
Großexperimenten der totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts mit ihrer alle Lebensbereiche
erfassenden Gesetzgebung und in der Form einer Ausschließung durch Einschließung die
Umwandlung von Bürgern in Lagerinsaßen. Dazu S. 93: „Heilig, das heißt tötbar und nicht opferbar, ist
ursprünglich das Leben im souveränen Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem
Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität“.
507
Vgl. Johannes Munck, The Acts of the Apostles, New York 1967, wo das zur Steinigung des
Stephanus führende Umschlagen der aufgebrachten Zuhörerschaft in die Hetzmeute mit „a spark that
starts an explosion“ (S. 70) beschrieben wird.
506
150
auf der einen Seite und auf der anderen das Opfer, welches insofern die Lösung
bringt, als diese Gemeinschaft solidarisch wird auf Kosten eines Opfers, das nicht
nur nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, sondern auch nicht über die
‚Hausmacht’ zur Organisation einer Rache verfügt. Daher eint seine Vernichtung alle
in einer die Kette der Gewalt abschließenden, letzten Gewalttat, in einem letzten
Wort der Gewalttätigkeit. Die schrecklich heimgesuchte Gemeinschaft ist mit einem
Schlag von jedem Antagonismus erlöst und befreit. Da der Frieden diesem zugleich
furchtbaren und wohltätigen Wesen zu verdanken ist, welches durch sein
gewaltsames Verschwinden die Kohäsion der Gruppe beim ersten Mal gestiftet und
in der Folge rituell wiederhergestellt hat, wird die Gemeinschaft ihr Verhalten und alle
ihre künftigen Entscheidungen unter das Zeichen dieses Wesens stellen und die zur
Verhinderung der mimetischen Krise und zur Aufrechterhaltung der Ordnung
erforderlichen Verbote und Regeln auf dieses Wesen beziehen. Zum einen wird sie
bestrebt sein, die zur Krise führenden Verhaltensweisen zu ächten, und das heißt vor
allem, jede Geste einer Aneignung von Objekten, die tendenziell den Nachbarn zum
Gegenspieler macht, zu verbieten, das heißt mit einer negativen sozialen Indikation
zu belegen, zu diskreditieren und ihren Autor zu kulpabilisieren, wobei die Verbote
durch geeignete Institutionen, Sinninstanzen und sanktionenbewehrte Regelwerke
durchsetzbar zu machen sind. Zum andern muss sie sich ein rituelles Repertoire
sichern, damit das wunderbare Ereignis der opfergestützten Wiedervereinigung, das
die Krise beendet hat, in einem abrufbaren und kultisch geregelten Mechanismus
wiederholbar ist, dass also anstelle des realen ursprünglichen Opfers unter möglichst
gleichen Bedingungen ein neues, äquivalentes Opfer dargebracht werden kann,
welches den gleichen Ertrag, die gleiche Friedensrendite verspricht.
Wie dieser Eine, der die Blicke aller auf sich zieht und damit die feux de l´envie der
Nachahmungsrivalitäten
herunterkühlt,
in
naturgeschichtlicher
Perspektive
identifiziert werden kann, konnte am Tierversuch aufgezeigt werden. Lässt sich der
Kinder- und Erwachsenenversuch anhand der Spielekategorien von Caillois als
Verknüpfung des natur- und kulturgeschichtlichen Ansatzes verstehen, ist die Figur
des Sündenbocks beziehungsweise des Opferkönigs, die ethnographisch
eindrucksvoll belegt sind, in dem Maß deutlicher den kulturellen Institutionen
zuzuordnen, als sie planvoll, das heißt im Rahmen eines religiös gestützten und
verwalteten Ritus ihre Rolle in der Dramaturgie der sozialen Befriedung zu erfüllen
haben.
Der Ausdruck Sündenbock - frz. bouc émissaire, engl. scapegoat - geht auf den
caper emissarius der Vulgata zurück, der in griechischen Bibelübersetzung der
Septuaginta als apopompáios, das heißt einer, der die Plagen entfernt, bezeichnet
wird und dessen hebräischer Ursprung mit für Asasel bestimmt übersetzt werden
kann, wobei Asasel für einen alten Dämonen stehen kann, der in der Wüste wohnt.
In Lev 16, 21-22 wird berichtet:
Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und über ihm
alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem
er sie so auf den Kopf des Bocks geladen hat, soll er ihn durch einen
bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen, und der Bock soll alle ihre
Sünden mit sich in die Einöde tragen.
Unter den zahlreichen ethnologischen Dokumenten, in denen Girard den
Mechanismus des stellvertretenden Opfers aufdeckt und die für ihn geradezu ein
151
Archiv darstellen, in dem die Gründungsurkunden des animal sociale aufbewahrt
werden, findet sich ein Bericht 508 über den rituellen Kannibalismus der Tupinamba,
einem Indianerstamm an der Nordwestküste Brasiliens. Die Tupinamba scheinen für
ihn auch deswegen von besonderem Interesse zu sein, weil aus diesem Volk die
beiden Indianer stammen, die Montaigne (1533-1592) in Rouen kennengelernt hat
und die in seinen Essais lange vor der im 18. Jahrhundert aufkommenden
Idealisierung des Natürlichen und Exotischen als Prototypen des guten Wilden
Eingang in die europäische Literatur gefunden haben.
Neben dem üblichen Kannibalismus der Tupinamba, 509 die in dem fortwährenden
Kriegszustand mit den Nachbarstämmen jeden Feind, dessen sie im Kampf habhaft
werden, an Ort und Stelle töten und seinen Leichnam verzehren, wird dort ein
ritueller Kannibalismus praktiziert, der nur an einem solchen Gefangenen begangen
wird, der lebend in das Dorf gebracht wird. Dieser Kriegsgefangenen lebt monate-,
mitunter jahrelang mitten unter denen, die ihn schließlich umbringen und verzehren
werden. Er nimmt am alltäglichen Leben des Stammes teil und heiratet eine seiner
Frauen, knüpft also mit diesem Stamm Beziehungen, die sich kaum von denen der
Stammesmitglieder unterscheiden. Was den Gefangenen jedoch von den Menschen
seiner Umgebung unterscheidet und ausgrenzt, ist die wechselhafte und
widersprüchliche Behandlung, der er ausgesetzt ist. Es gibt Phasen, wo man ihm
Achtung, ja Verehrung entgegenbringt und wo sexuelle Kontakte mit ihm nachgefragt
sind. Dann gibt es wieder Perioden, wo man ihn beschimpft, verachtet und körperlich
demütigt. Kurz vor dem für seine Tötung festgelegten Termin wird der Gefangene zur
Flucht aufgefordert, jedoch rasch wieder eingefangen, und zum ersten Mal bindet
man ihm ein starkes Seil um die Knöchel. Er erhält keine Nahrung mehr, so dass er
zum Stehlen gezwungen ist. Anstatt daran gehindert zu werden, wird er zu solchen
und auch anderen Regelverstößen geradezu ermutigt. Nach und nach wird so der
Gefangene in den Sündenbock verwandelt. Je mehr und größere Untaten er begeht,
desto größer die Rechtfertigung, wenn man ihn tötet und wenn der ganze Stamm
geschlossen hinter dieser Tötung steht. Dieser operative Sündenbock ist auf
zweifache Weise heilbringend: Indem er sich so verhält beziehungsweise zu
verhalten gezwungen ist, dass der Stamm ihm gegenüber geschlossen auftreten
muss, reinigt er den Stamm von seinen internen Rivalitäten und Aggressionen,
bündelt diese und lenkt sie auf sich. Und indem er schließlich, mit der kollektiven
Schuld beladen, aus ihrer Mitte ein für alle Male verschwindet, macht er die
Stammesmitglieder glauben, dass sie im Grunde genommen nicht gewalttätig sind,
sondern von einer bösen Gewalt heimgesucht worden sind, die etwas ihnen
Äußerliches ist und die, wenn das Ritual sorgfältig befolgt wird, immer wieder auf
Distanz und in Schach gehalten werden kann.
Was bei den Tupinamba der geopferte Gefangene ist, ist bei anderen primitiven
Gesellschaften der Sakralkönig oder auch der mythische Held. Der wie auch immer
auserwählte Eine muss alle inneren Spannungen und die aufgestauten Hassgefühle,
die unkontrolliert und eskalierend in der Gemeinschaft zirkulieren, auf sich ziehen.
Man beauftragt ihn, durch seine Verbrechen und den darauf folgenden Tod diese
bedrohliche Gewalt in ein rettendes sacrum zu verwandeln und so eine latent prekäre
Ordnung immer wieder aufzurichten. Wenn die Tupinamba ihren rituellen
Kannibalismus praktizieren, folgen sie einem Muster, das in allen vorgesetzlichen
508
Girard verweist auf die von Alfred Métraux gesammelten Berichte, in : Alfred Métraux, La religion
des Tupinamba et ses rapports avec celles des autres tribus Tupi-Guarini, Paris 1928
509
René Girard, La violence et le sacré, S. 380 f.
152
Kulturen anzutreffen ist. Sie bemühen sich in ihrem Ritual, genau das zu
reproduzieren, was sich irgendwann in ihrer Vergangenheit tatsächlich ereignet hat,
dass nämlich zu einem ersten Mal ihr Stamm an und in einem Opfer seine
Einmütigkeit erfahren hat. Und diese Erfahrung haftet als etwas sie Übersteigendes
und Wunderbares so fest in ihrer Erinnerung, dass sie dieses ‚Wunder’ bei drohender
Gefahr oder auch zur Vorbeugung immer wieder geschehen lassen. Der jeweilige
Gefangene hat dabei das erstmalige Opfer zu vertreten, und was jenes vollbracht
hat, wird auch ihm abverlangt; er muss er den kollektiven Hass und die diffudierende
Gewalt auf sich lenken und Verfolgung und Tod auf sich nehmen, und als
Gegenleistung für diesen Dienst kann er damit rechnen, als eine Erlösergottheit
verehrt zu werden.
Soll diese Rechnung aufgehen, müssen allerdings mehrere Bedingungen erfüllt sein.
Das Vorhandensein eines zu opfernden Menschen oder ersatzweise eines Tieres
allein genügt nicht, um den Opfermechanismus – nach der von Girard manipulierten
Typisierung von Caillois – von der Mimikry-Phase bis zur Alea-Konklusion in Gang zu
setzen. Der Exorzismus der Gewalt aus der Gemeinschaft gelingt nur, wenn bei der
Wahl des Opfers Einmütigkeit herrscht, wenn kein Zweifel an der Schuld des
Sündenbocks aufkommt und wenn die wundersame Wiederherstellung des inneren
Friedens tatsächlich dem Geopferten und wegen seines heilbringenden Todes zu
Verehrenden zugerechnet wird. Das Opfersystem ist also darauf angewiesen, dass
alle Beteiligten einschließlich des Geopferten sich über die wahre Natur der
gemeinschaftsinternen Gewalt täuschen und dass diese Täuschung aufrechterhalten
wird. Sie alle müssen glauben, dass die Gewalt nicht ihren menschlichen Rivalitäten
entspringt, sondern wie die Heimsuchung einer höheren Macht über sie kommt und
dass das Böse, das den sozialen Organismus befallen hat, von diesem auch wieder
ausgeschieden werden kann. Für die Menschen muss das Hereinbrechen der Gewalt
wie auch deren Überwindung einer himmlischen Intervention angerechnet werden.
Sie müssen sicher sein, dass sie in der Frage nach dem Woher und Wohin der
Gewalt ihre Hände stets in Unschuld waschen können. Das Opfersystem lebt also
davon, dass der Ursprung der Gewalt verkannt wird und dass dieses Verkennen
institutionalisiert und durch Mythen und primitive Religionen auf Dauer gestelt wird.
Die Ethnologie, die ihre Gegenstände zu statischen Modellen umarbeitet und deren
Strukturen komparativ bestimmt, ist nach Girard nicht in der Lage, zum operativen
Aspekt der Riten vorzudringen. Würde sie, Girards Intuition folgend, nicht nur die
phänomenale, sondern die erzählende und somit die Verlaufsdimension der Riten in
den Blick nehmen, würden ihre Analysen auch den finalen und intentionalen
Charakter der Riten erfassen und deren energetische Potenz aufzeigen. Als Vertreter
einer Ethnologie, die darauf ausgelegt ist, Riten wie die der Tupinamba-Kannibalen
exakt zu beschreiben und sie in aller Regel als Vorstufe einer kulturellen Entwicklung
zu klassifizieren, sie aber nicht als Dokument der Hominisierung zu lesen, vor allem
nicht ihren mécanisme victimaire zu erkennen, bemerkt Lévi-Strauss über einen
solchen Mythos, 510 dass er sich wie ein horrible petit roman lese. Girard zeigt sich
von diese narratologischen Äußerung des Strukturalisten überrascht und erweitert sie
um den Vorschlag: Disons plutôt extraordinaire roman sur l´horreur des rapports
entre les hommes dans la violence réciproque. 511 Damit unterstreicht er einmal
mehr die Analogie des Opfermechanismus mit dem romanesken Projekt. Die
510
Es handelt sich um « La geste d´Asdiwal » in : Claude-Lévi Strauss, Annuaire de l´Ecole pratique
des Hautes Etudes, VIe section, 1958 - 1959
511
René Girard, La violence et le sacré, S. 341
153
gegenseitige Gewalt, die sich im Antagonismus der Tragödien ebenso manifestiert
wie im Missverständnis der Komödien und die auch im mimetischen Verlangen des
Romans spürbar ist – und das ist das Generalthema von Girard, egal, ob er als
Literaturkritiker, Ethnologe, Kultur- oder Religionstheoretiker spricht -, entsteht aus
der Nachahmung. Diese Nachahmung zerstört die Differenzen und Hierarchien. Die
differenzielle Krise ist auch eine sakrifizielle Krise, weil das Ausscheiden der
reziproken Gewalt durch eine einmütig vollzogene Opferung nicht mehr gelingt. Auf
dem Höhepunkt der Krise droht eine Vendetta ‚bis zum letzten Mann’, es sei denn, es
geschieht auf einmal, das heißt zum ersten Mal oder auch zum rituell wiederholten
Mal das Wunder einer unanimité violente, und der Frieden und die Ordnung kehren,
wenn das Opfer seinen Dienst getan hat, in die Gemeinschaft zurück, was im Fall
des Roman bedeuten würde, dass der Protagonist durch einen Akt der Läuterung
und Askese beziehungsweise Erleuchtung von seinem mimetischen Wahn loskommt
und eine sozusagen gewaltfreie Identität gewinnt, die nicht dem Sog eines Vorbilds
unterliegt und auch nicht der Verstoßung durch einen Rivalen.
Die Universalität der Sequenz, die von der Gewalt zum Heiligen verläuft und sich im
romanesken Projekt von Schuld und Sühne oder von Illusion und Desillusion
spiegelt, zeigt sich darin, dass sich nicht nur die Erzählungen, die mythischen wie die
nicht mythischen – zumindest die von Girard ausgewählten – als ihre Anwendung
verstehen lassen. Da die Opfertheorie, wie angedeutet, sich zugleich zu einer
Zeichentheorie abstrahieren lässt, liegt es nahe, dass Girard auch Institutionen und
kulturelle Konstellationen nicht unter dem Gesichtspunkt der Struktur, sondern dem
der zivilisierenden und humanisierenden Intention betrachtet, wobei sich beide
Intentionen auf den gemeinsamen Nenner des Gewaltmanagements bringen lassen.
Übersetzt man das Begriffspaar la violence et le sacré mit die Gewalt und das
Heilige, geht die Ambivalenz des sacré insofern verloren, als das heimsuchende und
ängstigende Übernatürliche an ihm ausgeblendet und das Erlösende und
demzufolge Verehrungswürdige isoliert wird. Und es wird nicht deutlich erkennbar,
dass am Beginn der soziogenetischen Sequenz eine und dieselbe Gewalt am Werk
ist und dass diese Gewalt als double vertu maléfique et bénefique 512 zwei
Anschlüsse beziehungsweise Ausgänge hat. Girard jedoch erschließt mit der
Doppelfunktion der Gewalt einen geradezu abenteuerlich weiten Archipel am
kulturellen Phänomenen, der überraschende Entdeckungen bereithält.
Er berichtet, dass in vielen primitiven Kulturen dem Schmied und der Schmiede eine
ganz besondere Rolle zukommt und weist darauf hin, dass zum Beispiel in Afrika die
Metallherstellung von strengen Tabus belegt und der Schmied von einer sakralen
Aura umgeben ist. Und er ist der Trefflichkeit seiner Analyse sicher: Il y a là, au sein
de la vaste énigme du sacré, une énigme particulière dont notre hypothèse générale
suggère immédiatement la solution. 513 Das Metall - technikgeschichtlich und auch
semantisch ist es das Eisen, nach weiteren Entwicklungsstufen der Stahl, im
fortgeschrittensten Sinn: die Kernkraft - verkörpert wie kein anderes Element die
Gewalt in der Hand des Menschen und des Kollektivs, und wie kein anderes Element
offenbart es die beiden Gesichter dieser Gewalt. Als unersetzliches Werkzeug
erleichtert und ermöglicht es unendlich viele Handgriffe und Arbeiten; es ist die
wichtigste Voraussetzung für die Verteidigung gegen äußere Feinde. Aber diese
segensreichen Vorteile sind nicht zu haben ohne ein zugleich beträchtliches Risiko.
512
513
René Girard, La violence et le sacré, S. 360
ebenda
154
Alle diese Werkzeuge haben gewissermaßen eine doppelte Schneide. Sie
verschärfen die Konflikte, wenn innerhalb der Gemeinschaft Rivalitäten auftreten,
und werden zur Bedrohung für den Fortbestand der Gemeinschaft. Was man in
sicheren und prosperierenden Zeiten erreicht hat, kann mit einem Mal wieder
verloren gehen. Die Neigung der Menschen zur Kooperation und zur Kohäsion wie
auch die Neigung, sich in den mimetisch provozierten Rivalitätskonflikt hineinziehen
zu lassen, erhält durch die Verfügung über das Metall eine gewaltträchtige
Dimension.
Für beide Anwendungen, die der werkzeuggestützten Kooperation wie die der
bewaffneten Konfrontation, zeigt sich der Schmied als der Herr über eine höhere
Gewalt. Er ist im doppelten Wortsinn sacré, das heißt, dass er als eine Instanz
betrachtet werden kann, die für ihre Verdienste um die Kohäsion der Gruppe zu
ehren und zu verehren ist, aber auch als eine Instanz, die wegen des von ihr zu
verantwortenden drohenden Auseinanderbrechens der Gruppe in respektvollem
Abstand zu halten und zu verfluchen ist. Zwar genießt der Schmied in den primitiven
Kulturen einige Privilegien, aber er gilt doch auch als ein finsterer Geselle, mit dem
man nicht gern in Kontakt tritt. Daher befindet sich auch die Schmiede nicht im Dorf.
Sie hat ihren Platz außerhalb der Gemeinschaft. Auf der Schmiede lastet ein Tabu,
weil ihre Nähe zu den Menschen sich als riskant herausstellen kann. Auch die
mythologischen Erzählungen unterstreichen die Sonderstellung des Schmieds. Den
das Glutfeuer meisternden Schmiedegöttern Hephaistos, Vulcanus und Wieland wird
nicht nur eine rätselhafte Geburt und zweifelhafte Abstammung nachgesagt, sie
werden sowohl durch ihren hinkenden Gang 514 als auch durch ihren Listenreichtum
und ihre Verschlagenheit sowie durch den Standort ihrer Tempel außerhalb der Stadt
– im Gegensatz zum römischen Vesta-Tempel, in dem auf kleiner Flamme das
Herdfeuer behütet wird – als Sonderlinge und Außenseiter markiert. Und bei
Außenseitern und Sonderlingen, insbesondere wenn sie durch eine Behinderung,
eine tatsächliche oder auch ihm zugeschriebene auffallen, sind die Voraussetzungen
besonders günstig, dass sich gegen sie in der Gemeinschaft Einmütigkeit herstellen
lässt, dass also alle sich zusammenschließen, um diesen Einen – der moderne
Starkult inklusive seiner Kehrseite des ‚stalking’ findet darin seine Entsprechung - zu
verehren beziehungsweise, dass alle, wenn aus irgendeinem Grund der normale
Gang der Dinge gestört wird, sich zusammenrotten, um diesen Einen für diese
Störung haftbar zu machen und ihn zu eliminieren. Für das Auffallen in der
Gemeinschaft genügt immer schon eine unscheinbare Difformität, eine fremdartiges
Aussehen, eine Gehbehinderung wie im Falle des Ödipus, eine ungewöhnliche
Haarfarbe bei den Hexen oder ein schielender Blick als Ausdruck eines scheinbar
feindlichen malocchio, und schon ist der oder die Betreffende als potenzielles Opfer
prädestiniert. Wenn dann der erste Stein geworfen ist, ist es aufgrund des
mimetischen Sogs nicht mehr weit bis zur volkszornigen kollektiven Lapidation. Hat
dieser Eine seine sozialhygienische Funktion als einigendes Feindbild erfüllt und
seinen Beitrag zur Lösung der internen Spannungen geleistet, kann er rehabilitiert
und sein Andenken von den Überlebenden zum Zweck der Erbauung
umprogrammiert werden.
514
Wie der Schmied, ist auch der Opferpriester ein Verwalter des Feuers. Von hinkenden
Opferpriestern berichtet 1, Könige 18, 26b: „Sie nahmen den Stier, den er (der Prophet Elija, d. Verf.)
ihnen überließ, und bereiteten ihn zu. […] Sie tanzten hüpfend um den Alter, den sie gebaut hatten“.
Dazu der Kommentar in: Die Bibel, Einheitsübersetzung, Freiburg u. a. 1980, S. 357 „Sie tanzten
hüpfend: Das hebräische Wort deutet an, dass bei dem Tanz Bewegungen um den Altar ausgeführt
werden, die Not und Behinderung ausdrücken“.
155
Solange alles gut geht und die Menschen von den metallenen Werkzeugen
profitieren, lässt man den Schmied seine Zauberkunst ausüben und hält ihn in Ehren.
Sobald aber irgendein Unheil über die Gemeinschaft kommt, welches mit dem Metall
nicht das Geringste zu tun haben braucht, gehört der Schmied wie auch andere,
deren Hantieren mit gefährlichen Dingen aus der Sicht der Unwissenden einen Pakt
mit den höheren Mächten vermuten lassen, zu den Hauptverdächtigen für diese
Heimsuchung. Er wird verdächtigt, die Gemeinschaft verraten zu haben, der er ja
auch nicht voll und ganz angehört hat, und man unterstellt ihm, er habe gegen sie
jenes magische Feuer verwendet, dass ihnen noch nie geheuer war.
Sobald also das sacré, im Fall des Schmieds das von ihm verkörperte und zum
Guten wie zum Bösen zu gebrauchende Schmiedefeuer, in die Gemeinschaft
eindringt, zeichnet sich unwillkürlich des Schema des Sündenbocks, der victime
émissaire ab. Der Schmied als Kulturbringer und Meister der Explosionen und
Implosionen 515 gilt als der Emissär der höheren Macht, die zu friedlicher
Zusammenarbeit befähigt und aufruft. Er wird aber auch bei einer aufkommenden
Krise als Stellvertreter jener Macht angesehen, die das Böse will und die
Gemeinschaft in den Abgrund stürzt. Und wenn dieser Emissär in einer sozialen
Notsituation von der geschlossen auftretenden Gemeinschaft umgebracht wird, und
wenn nach diesem blutigen Akt die kollektive Hysterie abklingt, ist die Annahme der
Umstehenden bestätigt, er stehe mit der höheren Macht, also dem Heiligen, im
Bunde. Für Girard lässt sich am Beispiel des Schmieds in den vorstaatlichen
Gesellschaften das Doppelspiel der Gewalt explizit machen, einer Gewalt, welche die
Kultur zugleich begründet und gefährdet. Im Falle des Schmiedes und seiner prekärsakralen Stellung kann der Wechsel von Idolisierung beziehungsweise Divinisierung
und Opferung im Prinzip beliebig oft und an allen möglichen Schauplätzen
durchgeführt werden. Es ist zwar kein religiöses System bekannt, welches im
Unterschied zu dem Sakralkönig, der durch die Krönung gleichzeitig zur Opferung
bestimmt ist, ein Ritual für die Eliminierung des Schmieds bereithält. Indem aber der
Schmied zu denen gehört, die mit dem Heiligen, wie es Girard definiert, in Berührung
kommen, ist sein mit dem Risiko eines gewaltsamen Todes verbundener Status
chakteristisch für jedwede kulturelle Schöpfung aus dem Geist einer
Gründungsgewalt; was mit ihm geschieht oder geschehen kann und sich im Prinzip
auf jede kulturelle Differenz und jedes Zeichen ausdehnen lässt, ist para-sakrifiziell
und damit para-rituell. Nach dem Girardschen Zyklus von la violence et le sacré ist
die Reihe der Schmiedegötter unabschließbar; sie sind es schließlich, die den
sozialen Guss besorgen und die Klammern schmieden, die die religiösen und
kulturellen Systeme zusammenhalten. La mort violente du forgeron, du sorcier, du
magicien et en général de tout personnage qui passe pour jouir d´une affinité
particulière avec le sacré, peut se situer à mi-chemin entre la violence collective
spontanée et le sacrifice rituel. 516
515
Vgl. Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M 2001, S.
329: „Wenn der Teufel durch das ganze Mittelalter hindurch zaubert, hinkt und stinkt, so aufgrund
seiner Ähnlichkeit mit den Schmieden, die in heißen Höllen arbeiten und sich mit verruchten
Prozeduren befassen. Der Teufel ist der Erbe der Metallurgen, bei denen das menschliche Können
unheimlich wurde. In der zeitgenössischen öffentlichen Meinung sind die Chemiker die typologischen
Nachfahren des Teufels, weswegen die Ausdrücke chemisch und widernatürlich in der
Umgangssprache konvergieren. Man wundert sich nur, wieso die Chemiker nicht alle einen Fuß
hinterherziehen“.
516
René Girard, La violence et le sacré, S. 362 - 363
156
Für die Gemeinschaften, die ihre Schmiedewerkstätten 517 außerhalb ihres
Wohnbereichs platzieren, sind nur vordergündig feuerpolizeiliche Überlegungen
maßgebend. Eher geht es ihnen wie den Herrschern, die wissen, warum sie das
stehende Heer nicht in unmittelbarer Nähe ihrer Residenz dulden. Dem Heiligen
gegenüber ist nicht nur eine gewisse Scheu, sondern auch ein sicherer räumlicher
Abstand angezeigt. Und sollte eine dosierte Gewaltanwendung in Form einer
Opferung notwendig werden, beziehungsweise rituell, das heißt repetitiv und mit dem
Einsatz von Schein- oder Ersatzopfern durchgespielt werden, ist es von existenzieller
Bedeutung, dass ein abgesperrter Bezirk zur Verfügung steht, der einigermaßen
zuverlässig gewährleistet, dass die Grenze des Spiel- oder Ritualraums nicht
übertreten und aus dem Opferritual nicht wieder blutiger Ernst wird. 518 Während die
Einfriedung der Gewalt in den vorstaatlichen Gesellschaften durch die Religion, in
den gesetzlich verfassten Gesellschaften durch die Instrumente des Rechtsstaats
erfolgen kann – und im zwischenstaatlichen Bereich durch das Militär erfolgt -, bringt
die moderne Technik Schmiedegötter hervor, die sich weder exterritorialisieren noch
durch mobilisierten Volkszorn eliminieren lassen. Auch gibt es für sie keine sakralen
Sonderzonen, die sich von einer profanen Umwelt abgrenzen lassen, für die
Unterscheidung von innen und außen gibt es weder eine interne Marke noch einen
äußeren Beobachterstandpunkt. Girard macht darauf aufmerksam, dass die
hochkomplizierten politischen Weltsysteme hilflos sind gegenüber den vielen
Gewaltausbrüchen unterhalb der nuklearen Schwelle und dass weder die über den
Planeten verteilten Nuklearwaffen durch einen sakrifiziell dosierten nuklearen Eingriff
entschärft und zu einer beherrschbaren Entladung gebracht werden können, noch
die durch die industrielle Produktion imittierten Umweltgifte durch eine sakral
kalkulierte und verabreichte Charge von Gegengiften sich unschädlich machen
lassen. Während er jedoch den primitiven Gesellschaften ein Wissen um die akute
Bedrohung durch die ambivalente Gewalt und einen umsichtigen Umgang mit ihr
zurechnet, stellt Girard fast resignierend fest, dass die Moderne, obwohl alle
Informationen zugänglich sind, einen sorg- und ahnungslosen Umgang mit den
Riesengewalten pflegt und die Drohung einer globalen Katastrophe, einer
kriegerischen wie eine ökologischen, im öffentlichen Bewusstsein eher in das Reich
des Phantastischen und der Kino-Unterhaltung verdrängt. 519
517
In Das Lied von der Glocke (1799), in dem das Glockengießen zum Symbol der Kulturarbeit wird,
platziert Friedrich Schiller die Glockenschmiede mitten in die Stadt. Folglich entfaltet das Feuer als
himmlische Kraft eine verheerende Wirkung, wenn beim Anstich des Gusses die Dämme brechen und
die Himmelskraft als feuerspeiender Rachen dämonisiert wird: „… Wohltätig ist des Feuers Macht, /
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht / Und was er bildet, was er schafft, / Das dankt er dieser
Himmelskraft, / Doch furchtbar wird die Himmelskraft, / Wenn sie der Fessel sich entrafft, / Einhertritt
auf der eignen Spur / Die freie Tochter der Natur…[…] Flackernd steigt die Feuersäule, / Durch der
Straße lange Zeile / Wächst es fort mit Windeseile, / Kochend wie aus Ofens Rachen…“. in: Friedrich
Schiller, Gedichte, Bd. 1, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt 1992, S. 56
518
Als Anspielung auf eine hygienische Grenzziehung zwischen zwischen dem Profanen und dem
Sakralen kann in der katholischen Liturgie das Ritual der Händewaschung vor der Gabenkonsekration
gedeutet werden. Während jedoch der tridentinische Kanon den Zelebranten noch deutlich als
hantierenden Opferpriester markiert (Lavabo inter innocentes manus meas), werden in der
nachkonziliären Ordnung der Eucharistiefeier die (blutbefleckten) Hände ausgeblendet, und die
abzuwaschende Unreinheit wird psychologisiert (Lava me, domine, ab iniquitate mea), was von den
Anhängern der alten Liturgie als Verharmlosung des dramatischen Geschehens kritisiert wird. Vgl.
Missel quotidien des fidèles, Tours, S. 809, sowie Der Große Sonntags-Schott, Freiburg u. a. 1957, S.
620
519
René Girard, La violence et le sacré, S. 362 : « La menace que font peser sur nous nos bombes
nucléaires et nos pollutions industrielles ne constitue qu´une application assez spectaculaire, certes,
mais une application parmi d´autres d´une loi que les primitifs n´appréhendent qu`à demi, sans doute,
157
7. Das Opfern und das Erzählen
In dem Spruch des Tempelpriesters Kajaphas am Beginn des Prozesses gegen
Jesus: Quia expedit, unum hominem mori pro populo 520 zeigt sich das sakrifizielle
und differenzielle System, auf das sich Kultur und Politik sowie die Verfahren der
Zeichenbildung, Symbolisierung und Abstraktion stützen, in ungeschönter Nacktheit.
Dieser Eine, der bei Ausbruch der Krise oder zur Verhinderung der Krise im Interesse
der Vielen geopfert und sakralisiert wird, ist der Tupinamba-Gefangene als
homöopathische Impfdosis gegen den drohenden kollektiven Suizid, es ist dies auch
der Schmied, den man eliminiert in dem Bemühen, die Glut des Feuers und die Härte
des Eisens zu bändigen und heimisch zu machen, sowie der Sakralkönig, den man
bei der Krönung gleichzeitig in die Opferrolle initiiert. Aus der Sicht des Kajaphas, der
befürchten muss, dass eine von der Jesus-Bewegung religiös aufgeladene
Volkserhebung mit verheerenden Folgen für seine jüdischen Mitbürger verbunden
wäre, ist die Überantwortung des den Tempelkult kritisierenden Wanderpredigers an
die Besatzungsmacht eine Geste der Loyalität und der Staatsraison.
Dass nach Girard zwischen der Gewaltbändigung durch das stellvertretende,
emissäre Opfer und der Zeichen- und Bedeutungsbildung eine unauflösliche
Beziehung 521 besteht, hängt damit zusammen, dass der Opfervorgang, angefangen
von der Auswahl des Opfers und seiner Präparierung bis hin zur finalen Ausführung
und vor allem deren Folgen, eine Aufmerksamkeit erregt, die insofern neuartig ist, als
sie die Ebene des Gegenständlichen übersteigt. Was immer wieder geschieht und zu
geschehen hat, ist mit sächlichen Kriterien nicht fassbar: Ab einem bestimmten Grad
der krisenhaften Verdichtung und des sozialen Deliriums polarisiert sich aufgrund der
mimetischen Logik die kollektive Gewalt gegen das eine Opfer, und nachdem sich
die kollektive Gewalt an diesem gesättigt hat und es in seinem Blut liegt, hält sie
plötzlich inne, und es folgt auf das chaotische Treiben eine seltsame Ruhe, 522 und
das ganze Geschehen findet einen Abschluss, dem nichts mehr hinzuzufügen ist und
der die aristotelische Erzählanforderung von Anfang, Mitte und Ende trefflicher als
jede Argumentation illustriert. Dieser ungeheure Kontrast zwischen dem entfesselten
Wüten und der auf unerklärliche Weise eingetretenen Ruhe, zwischen der
aufgewühlten und aufgereizten Stimmung und der friedlichen Stille, dieses
Umschlagen von einem Extrem ins andere erzeugt bei den Umstehenden eine
Aufmerksamkeit, die nicht dem Gegenständlichen, sondern ihrem eigenen
betroffenem Schweigen 523 und der neuen Befindlichkeit gilt, in der sie sich
mais qu´ils devinent réelle, alors que nous la croyons imaginaire. Quiconque manipule la violence sera
finalement manipulé par elle ».
520
Joh. 18, 14: „Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt“. Eine wörtlichere
Übersetzung von expedit wäre: Man räumt das Problem aus dem Weg, wenn…
521
René Girard, Des choses cachées, S. 109 : « Il faut montrer qu´on ne peut pas résoudre le
problème de la violence par la victime émissaire sans élaborer du même coup une théorie du signe et
de la signification ».
522
Von Jean Anouilh ist diese Stille – sie wird bei Sophokles nicht thematisiert - im abschließenden
Chorgesang einfühlsam interpretiert in: ders. , Antigone, Paris 1946, S. 127: « C´est fini. Antigone est
calmée maintenant, nous ne saurons jamais de quelle fièvre. Son devoir lui est remis. Un grand
apaisement tombe sur Thèbes et sur le palais vide où Créon va commencer à attendre la mort ».
523
Vgl. Georges Bataille, L´érotisme (1957) dt. Die Erotik, München 1994, S. 24: „In der
Opferhandlung findet nicht nur eine Entblößung, sondern eine Tötung des Opfers statt. […] Das Opfer
stirbt, und die Anwesenden partizipieren an einem Element, das sein Tod offenbart. Dieses Element
ist das, was man, mit den Religionshistorikern, das Heilige nennen kann. Das Heilige ist eben die
Kontinuität des Seins, die denen offenbart wird, die ihre Aufmerksamkeit in einem feierlichen Ritus auf
158
wahrnehmen. Was sich da, in diesem commercium ereignet hat und was dies
bedeutet, davon gibt es zunächst kein Wissen. Was sich ihrem Anblick und ihrem
Erleben darbietet, ist ganz und gar verschieden von den Dingen, nach denen sie sich
üblicherweise und instinkthaft umsehen, wie nach etwas Essbarem, einem möglichen
Sexualpartner, einem überlegenen oder schwächeren Stammesangehörigen. Das
Neue, was sie mit neuen Augen sehen, ist die Leiche des kollektiven Opfers, und
diese Leiche hat etwas Anderes zu bedeuten als die anderen Dinge in ihrem
Blickfeld; sie steht für etwas, das eine neue Aufmerksamkeit und eine neues
Gedächtnis erforderlich machen. So gerät das Opfer als mécanisme fondateur 524 für
Girard nicht nur zur erstmalig erlebten und in der Folge rituell wiederholten
Gründungssequenz der menschlichen Gemeinschaft; es ist der Handlungskontext,
aus dem das Zeichen hervorgeht. Wie im Opfer die Versöhung der Antagonisten
erfolgt und aus den bis dahin unverbunden Umstehenden sich auf unerklärliche
Weise die erste soziale Zelle bildet, so erfahren die an der gemeinsamen Opferung
Beteiligten das vor ihnen liegende Opfer als ein Medium ihrer Verständigung und als
einen ersten Zeichenbaustein einer Sprache:
Le signifiant, c´est la victime. Le signifié, c´est tout le sens actuel et potentiel que la
communauté confère à cette victime et, par son intermédiaire, à toutes choses. 525
Da die Menschen, wenn sie die Krise heil überstanden haben, am Fortbestehen des
Friedens und der Versöhnung interessiert sind, versuchen sie auch dieses
versöhnende Opfer als sacrifice réconciliateur zu wiederholen und damit das Zeichen
ihrer Verständigung zu reproduzieren. Indem sie in Funktion der gruppenintern nicht
zu widerlegenden Tötungslogik das ursprüngliche und erstmalige Opfer als victime
originaire in ihren Riten durch neue Opfer ersetzen und dennoch den gleichen
versöhnenden Effekt erzielen, reproduzieren sie das Eingreifen der höheren Macht
und bringen das Sakrale hervor, dem sie die Einmütigkeit sowohl bei der
Bestimmung des Opfers, als auch bei dessen Liquidierung verdanken. Wenn die
Menschen das Sakrale hervorbringen, müssen sie es, um sich seines Schutzes und
Segens zu versichern, auch darstellen und dingfest machen. Und dies bedeutet,
dass sie nach Opfern Ausschau halten müssen, die sich dafür eignen, die erstmalige
Hierophanie wieder und wieder geschehen zu machen. In einem langen Lernprozess
geschieht es dann, dass das erstmalige Opfer, nachdem es von Ersatzopfern 526
abgelöst wurde, schließlich durch andere Dinge als die Opfer repräsentiert wird,
durch verschiedenartige Dinge, die, wenn sie auch den Blick auf das ursprüngliche
Opfer verstellen und andere Formen und Namen annehmen, dennoch dieses erste
Opfer bezeichnen und bedeuten. Die Abstraktion der Ersatzopfer vom erstmaligen
Opfergeschehen wird jedes Mal von neuem als ein ‚wunderbarer Tausch’ im Sinne
des Irenäischen admirabile commercium erlebt, der für beide Parteien einer win-winden Tod eines diskontinuierlichen Wesens richten. Durch den gewaltsamen Tod wird die Diskontinuität
eines Wesens gebrochen: das, was bleibt und was in der eintretenden Stille die angstvollen Seelen
spüren, ist die Kontinuität des Seins, der das Opfer zurückgegeben wurde“.
524
René Girard, Des choses cachées, S. 112
525
René Girard, Des choses cachées, S. 112
526
Vgl. Michel Serres, Georges Rémi ou René Girard, in : Maria Stelle Barberi (Hg.), La spirale
mimétique, S. 148 : « Mesurez alors, et le plus sérieusement du monde, le plus authentique des
progrès humains. Religion d´abord : ne vaut-il pas mieux sacrifier une bête qu´un homme ? Droit, en
second lieu : ne vaut-il pas mieux condamner un coupable qu´un innocent ? Jeux, enfin : ne vaut-il
pas mieux une boule de bois qu´un chien, un misérable ou un homme intègre sans cœur ni tête ? Il
n´y a d´avancée dans l´histoire que les remèdes à notre violence. Tout le reste, comme en retour, se
déduit de la Violence et le Sacré ».
159
Situation gleichkommt, mehr noch, in der die Opfernden insofern im Vorteil sind, als
sie nicht nur die höhere Macht auf ihre Seite bringen, sondern durch die stete
Neuwahl von Opferobjekten einen Zeichen- und Differenzierungsgewinn erzielen, der
den Vorrat an Kommunikationschancen, Medien und Techniken kontinuierlich
erweitert.
Auch die Entstehung der Lautsprache als gleichsam digitalisierbares Zeichensystem
führt Girard auf die Opfersequenz zurück. In seiner Rekonstruktion der sprachlichen
Urszene lässt er das Hin und Her der Laute und Worte in der mimetischen Krise
erfolgen, die in der rituellen Vertonung nachgespielt und aufgeführt wird und in der im
Umsetzen des gesamten akustischen Materials das Getöse und die Schreie
reproduziert werden, die die Opfersuche und schließlich die feierliche und
heilbringende Opferung begleiten. Während die Rufe und Schreie anfangs ebenso
unartikuliert sind, wie das krisenhafte Treiben chaotisch ist und keine angemessene
Raumaufteilung sich abzeichnet, wird nach und nach – im mimetischen Sog - ein
Punkt erreicht, wo die Laute sich in dem Maß zu rhythmisieren und zu strukturieren
beginnen, wie die Körperbewegungen, beziehungsweise im Ritus die
Tanzbewegungen, im Hinblick auf den Opferakt, welcher ohne Kooperation und
Abstimmung nicht gelingen kann, zielführende choreographische Formen annehmen
und an Schlüssigkeit und Eindeutigkeit 527 gewinnen. Wie die Konfusion der Gesten,
wird auch die Konfusion der Laute auf die Opfersequenz eingestimmt; dem
schrittweisen Vorgehen, vom rituellen Tanz nachgespielt, entspricht eine Prosodie
der Stimmen und deren Aneinanderreihen zu einem Text. So ist also der Zyklus von
violence et sacré, bei dem die Kopula eine höchst dynamische Rolle spielt, nicht nur
das Programm für die von der animalischen Basis ausgehenden Entstehung der
menschlichen Gemeinschaft aus dem Geist der durch die Opferung erzielten
Übereinstimmung, das Programm für das Aufkommen der religiösen und kulturellen
Riten und Institutionen; auch die Sprache hat ihren Ursprung in der Emergenz des
Sakralen aus der frühmenschlichen Weltlosigkeit: Il n´y pas de culture au monde qui
n´affirme comme premiers et fondamentaux dans l´ordre du langage, les vocables du
sacré. 528
In dem Essayband Der Untergang von Kasch vertritt der Schriftsteller und italienische
Girard-Verleger Roberto Calasso eine gegenüber dem Autor von La violence et le
sacré Girard mehrfach erweiterte Opfertheorie. Er verlegt die hypothetische Genese
des Opfers in eine vorsoziale, animalische Sphäre, in der jedes Lebewesen, bevor
das Bedürfnis nach Sozialisation wach wird und der Prozess der Hominisation
einsetzt, ein stoffwechselbedingtes Sättigungsbedürfnis verspürt und, um zu
überleben, seinen Hunger stillt. Dabei erfordert das Stillen des Hungers, da ein
527
Zu der Illustration des Begriffs des Konzerts und der konzertierten Aktion Vgl. Hermann Hesse,
Musik, Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe, hg. von Volker Michels (1976), erw. Aufl.
Frankfurt/M 1986, S. 79: „Gleich dem Tanz und gleich jeder Kunstübung nämlich ist die Musik in
vorgeschichtlichen Zeiten ein Zaubermittel gewesen, eines der alten und legitimen Mittel der Magie.
Beginnend mit dem Rhythmus (Händeklatschen, Aufstampfen, Hölzerschlagen, früheste
Trommelkunst ) war sie ein kräftiges und erprobtes Mittel, eine Mehrzahl und Vielzahl von Menschen
gleich zu stimmen, ihren Atem, Herzschlag und Gemütszustand in gleichen Takt zu bringen, die
Menschen zur Anrufung und Beschwörung der ewigen Mächte, zum Tanz, zum Wettkampf, zum
Kriegszug, zur heiligen Handlung zu ermutigen“. Aus der Sicht Girards wäre diese Passage als
ethnologisch einzustufen; Hesse beschreibt den Übergang der Vielstimmigkeit zur Übereinstimmung,
übersieht jedoch das opfertheoretische Programm, von dem dieses konzertierende Verfahren
gesteuert wird.
528
René Girard, Des choses cachées, S. 11
160
Lebewesen dies immer auf Kosten eines anderen tun muss und lange bevor es zu
dem Girardschen Ausgangspunkt des Konflikts der Begierden kommt, einen Eingriff
in das kosmische gedachte Ganze, welches im Kern eine Gewaltanwendung ist.
Paradigmatisch für dieses Eingreifen sind die beiden nicht zurücknehmbaren Akte
des Essens und Tötens, denen die umkehrbaren und wiederholbaren Akte des
Atmens, des Eros 529 und der Musik nachgebildet sind und die ihre Entsprechung
sowohl in den – allerdings beschönigenden - Mythen als auch in den symbolisch
konkludierenden, das heißt: mit Ersatzopfern agierenden Riten finden. Durch dieses
Eingreifen wird das kosmische Ganze beschädigt, es entsteht in ihm ein Riss und
eine durch den Pfeil der Zeit geschlagene offene Wunde, 530 und nur dadurch, dass
in einem opferökonomischen Sinn das gewaltsam vom Ganzen Getrennte dem Gott
geweiht, also wieder mit dem Ganzen vereinigt wird, kommt es zu einer
Entschädigung. Indem der Akt der Vernichtung und Verstoßung als ein Akt der
Wiedereingliederung und Wiedervereinigung begangen wird, erhält auch hier das
Opfer einen Doppelcharakter. Während es jedoch für Girard ohne den Zyklus von
violence und sacré, also ohne Opfer keine Religion, keine Gesellschaft und keine
Kultur gibt, verknüpft Calasso, der die soziogenetische Engführung der Girardschen
Opfertheorie kritisiert, 531 bereits die Entstehung und Erhaltung des nackten Lebens
mit dem Opfer und schafft durch das Opfer die Voraussetzung, dass der profane
Bereich der Kulturen von einer sakralen Zone ausgespart wird, der nun wachsen
kann, ohne in jedem Augenblick vom Heiligen bedroht zu werden. Jede Ordnung –
und nach Calasso ist es nicht nur die soziale Ordnung, sondern das Leben, welches
über sich das kosmische Zelt [hat], dieses unermessliche Gewebe, das alles mit
allem verbindet und alles in allem wiederholt - beruht auf einer Aussonderung, denn
die Ordnung muss kleiner sein als das Ungeordnete und bedarf zu ihrer Erhaltung
mehr als nur des Gesetzes. In dem Kapiteln Elemente des Opfers und law and order
formuliert er lapidar: ‚Order’ ist das, was ’law’ allein nicht zu leisten vermag. ‚Order’
ist ‚law’ plus Opfer, die ewige Ergänzung, der ewige Überschuss, der vernichtet
werden muss, damit ‚order’ existieren kann. Verweist Girard auf das verschwiegene
Fundament der Gesellschaft, so ist für Calasso das Opfer der archetypische
Übergang von der Naturgeschichte zur Humangeschichte und der Auftakt zur
Eroberung eines kulturellen Spiel- und Freiraums.
Im Akt der Vernichtung wird – auch wenn es sich nur um Kräuter handelt – die
Schuld bestätigt, auf der die Kultur beruht: ihre Ablösung, ihre Isolierung von allem
übrigen, insofern dabei eine Sache, ein Opfer, isoliert und ausgestoßen wird.
Dadurch, dass die Gesellschaft das Opfer einer von ihr selbst verschiedenen Instanz
weiht, anerkennt sie die eigene Abhängigkeit von dem, wovon sie sich gelöst hat. Zur
gleichen Zeit hält sie das Äußere auf Distanz und bietet ihm das Opfer anstatt ihrer
selbst. Das ist die Verehrung. Das ist die Schlauheit der Aufklärung.
Damit werden die Opfer zu einer Größe, die nicht nur in der modernen, angeblich
opferlosen Zeit – nach Girard steht diese Zeit, quasi mit dem Rücken zur Wand, vor
529
Zur Analogie des Liebesakts mit dem Opfer und der Entblößung als gefahrlosem Äquivalent der
Tötung vgl. Georges Bataille, L´érotisme (1957), dt. Die Erotik, München 1994.
530
Roberto Calasso, Elemente des Opfers und Law and order in: ders., Der Untergang, S. 162 - 205
531
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194: „Darin, dass Opfer und und kosmische Physiologie derart
vollkommen zur Deckung gebracht werden, sieht Girard ein bloßes Täuschungsmanöver, denn sein
Blick lässt sich nicht einmal für einen kurzen Moment von der Physiologie der Gesellschaft ablenken.
Daher entgeht ihm, dass die soziale Physiologie vor allem deshalb so unwiderstehlich wirkt, weil sie
sich zunehmend der kosmischen Physiologie bemächtigt, bis sie sich diese schließlich restlos
einverleibt hat“.
161
der Alternative des finalen, nuklearen Opferschlags beziehungsweise der religiös
motivierten, globalen Absage an jede Gewaltanwendung -, sondern auch im ganzen
Kosmos allgegenwärtig ist. An vielfältigen Phänomenen ist dies abzulesen. Wo
immer das Göttliche ins menschliche Bewusstsein eindringt, dort herrscht Extase,
Sexualität und Gewalt, wie dies beispielsweise durch die griechischen Mythen belegt
ist, in denen menschliche Frauen durch Götter vergewaltigt werden. Während nach
Calasso die frühzeitliche Gesellschaft als fortwährendes Opfer begriffen werden
kann, sieht die Neuzeit geradezu den normativen Kern der Kultur darin, die Moral
des öffentlich zugemuteten sacrificium abzuschaffen. 532 Dennoch lebt das Opfer
unerkannt in zahlreichen Metamorphosen weiter. Nicht nur die ganze Geschichte der
neuzeitlichen Philosophie ist zutiefst gequält vom Opfer und dessen schrecklicher
Wahrheit. In Hegels Dialektik, sie ist in seinen Augen eine Abschrift, eine verfälschte
Übersetzung des Opfers, sieht Calasso ebenso eine unausgesprochene
Opferbewegung am Werk, wie sie in der Abraham-Deutung das Denken
Kiergegaards beherrscht und in der Gegenüberstellung des Dionysosopfers mit dem
des Gekreuzigten die Humanismuskritik von Nietzsche motiviert, welcher das
Zurückdrängen des Opfers in der christlichen Religion als für die Menschengattung
bedrohlich und geradezu als Kulturverlust und als Geste der Entartung brandmarkt.
533
Besteht die Opferkrise bei Girard darin, dass im Hinblick auf die technischen
Möglichkeiten die zum sozialen und nationalen Druckausgleich eingesetzte Gewalt
unkontrollierbar zu werden droht und sich verbietet, weil taktische sakrifizielle
Präzisionsschläge sogleich apokalyptische Ausmaße annehmen würden, sieht
Calasso den Grund für das Fehlschlagen der für die Heilung des kreatürlichen
Risses, der Zeitwunde und der kosmischen Wiedervereinigung zuständigen Opfer
nicht in der Brisanz ihres Gegenstands, sondern im Ausbleiben oder Verlust ihrer
Adressaten.
Da nun einmal das Opfer über unser Atmen und Essen und alle, auch geistigen und
kulturellen, Stoffwechsel- und Kommunikationsvorgänge hinaus in unsere
Physiologie eingeschrieben ist, reicht das Gesetz - es neigt zur Monotonie, seine
Variationen sind kläglich - zur Erhaltung des individuellen und sozialen Organismus
nicht aus. Am Ende seiner Emanzipationsgeschichte, konstatiert Calasso, vermag
das Abendland nichts außer sich selbst anzuerkennen und weiß nicht, wem es sich
hingeben soll. Da die Götter zwar gestürzt sind, aber mit den Hypostasen der
Vernunft, der Freiheit, der Menschlichkeit und vor allem der Wissenschaft und
Technik beziehungsweise der jeweils ‚guten Sache’ es noch lange nicht vorbei ist,
gleicht die Moderne in ihrer hinter der Unrast der Praxis verborgenen Lähmung zum
einen einer Ordnung ohne sichtbare Aussonderung, also einer Ordnung wie der des
pflanzlichen Stoffwechsels, die vom Rascheln eines Baumes nicht zu unterscheiden
wäre. Da aber andererseits Vernichtung – bei zynischer Betrachtung: als ob der
532
Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Politische Essays, Frankfurt/M 1998, S. 152
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 13, München 1980, S. 470: „Der Einzelne wurde durch
das Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, dass man ihn nicht mehr opfern konnte:
aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer. Vor Gott werden alle Seelen gleich: aber das ist
gerade die gefährlichste aller möglichen Werthschätzungen! […] Die ächte Menschenliebe verlangt
das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das
Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade
durchsetzen, dass Niemand geopfert wird“.
533
162
Glaube an das Opfer ungebrochen wäre wie zu besten Sakralzeiten 534 - in großem
Maßstab geschieht, drängt sich die Deutung auf, diese Vernichtungen seien nichts
anderes als Opferhandlungen auf der verzweifelten Suche nach den verloren
gegangenen göttlichen Weihe-Adressaten. Für Calasso ist mit der Abschaffung des
Opfers als Institution keinesweg die opferlose Zeit angebrochen. Vielmehr zieht sich
das Opfer als Strategie der Machterhaltung und –steigerung unter dem kosmischen
Zelt auf alternative Schauplätze zurück, wie zum Beispiel den Krieg, wo allerdings im
Europa des August 1914 die ganze liturgische Apparatur des Opfervorgangs noch
einmal in Gang gesetzt wurde und wo nach dem nächsten Weltkrieg mit dem
Holocaust wiederum mit einer sakrale Vokabel die massenhafte Tötung von
Menschen mit einem Schleier von kosmischer Wiedervereinigung abgedeckt wurde.
Während der Opfervorgang das Schuldbewusstsein nicht etwa unterdrückt, sondern
eine sich verarbeitende Schuld ist, entzieht die säkularisierte Welt die Vernichtung
dem Blick, wie etwa der Pilot nach dem Ausklinken der Bombe im Augenblick des
Einschlags schon jenseits aller Sichtweite ist.
Den im großen Stil vorgenommenen gewaltsamen Eingriff, aus dem jede Schuld
vertrieben ist, sieht Calasso im wissenschaftlichen Experiment, das er ebenso mit
einem riesigen Schlachthof vergleicht wie die getarnten militärischen
Versuchsanlagen in den Wüstengebieten. Die ganze industrielle Produktion und der
damit verbundene Massenkonsum beruhen auf der in diesem Kult der Präzision und
der Dezision – die Wortgeschichte von lt. caedere erinnert wie auch frz. trancher an
den kultischen Ursprung - praktizierten Kraftverteilung, bei der wie im Opfer gerade
der unwiderruflich vernichtete Teil, la part maudite und la part du feu, 535 das
Überleben gewährleistet. Nur von der im Finstern durchgeführten Forschung und von
der ungeheuren Vergeudung durch das Experiment kann das Gesamt der
gesellschaftlichen Produktion zehren. Daher muss auch der Versuch scheitern, die
Grenzen der experimentellen Forschung zu bestimmen. Auch wenn die säkularisierte
Welt den Blick von der Vernichtung 536 abwendet, gilt: Um etwas Neues zu
produzieren, muss zuvor eine unbekannte Materialmenge verbrannt werden. Und da
das Verbrannte in der immanenten Perspektive der Neuzeit den Status des
Geopferten ablegt – weil die Opferadresse abhanden gekommnen ist -, muss, seit
Durkheims Entdeckung, dass das Religiöse das Soziale ist, die produzierende
Gesellschaft zugleich die Adresse ihrer Opferhandlungen sein. Mit dem Aufkommen
des Gesetzes verlagert sich die dem Opfervorgang und in erster Linie dem Opfer
zugehörende Schuld von Anfang an auf das Geopferte, das jetzt allerdings nicht
mehr ‚Opfer’, sondern ‚der Schuldige’ heißt. […] In der Zeit zwischen dem König
Ödipus und den Evangelien hat der Opfervorgang seine Verwandlung zum Prozess
534
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 164: „Die Azteken führten ständig Krieg, aber nicht weil sie auf
Eroberung aus waren. Bei ihnen diente der Krieg vor allem dem Zweck, Gefangene zu machen, die
dann geopfert werden konnten. Nach den Berechnungen einiger Gelehrter waren es zwanzigtausend
im Jahr. Im Vergleich mit dem Opfer war der Krieg Nebensache“.
535
Vgl. Maurice Blanchot, La part du feu, Paris 1980 sowie Georges Bataille (1949), La part maudite,
Paris 1967. Bataille versucht den Kult der Menschenopfer im vorkolumbianischen Mexiko im Rahmen
einer allgemeinen Ökonomie zu erklären. In dieser Ökonomie gilt es, nach dem Mythos der göttlichen
Erschaffung der kosmischen Energiequelle, die Sonne zu ernähren. Das Opfer, welches den höchsten
Nutzen für das Leben darstellt, nennt er la part maudite. Es ist die Energie, die als Gegenleistung für
die solare Präsenz verbraucht werden muss. Ein Nichtverbrauch würde den energetischen Tausch
zwischen Himmel und Erde unterbrechen.
536
Der Gebrauch der Pathos-Formel in den unterschiedlichsten Vernichtungskontexten liest sich unter
dem Aspekt des atmenden Nehmens und Gebens wie eine unerhörte suscipiat-Bitte und eine Suche
nach dem verlorenen göttlichen Gegenüber: Terroropfer, Kriegsopfer, Aidsopfer, Verkehrsopfer,
Kündigungsopfer, Flutwellenopfer, Erdbebenopfer…
163
vollzogen. Nun obliegt die Wahl des Opfers dem Gesetz. Doch der sich vollends
bewährende, da vom Heiligen befreiende Prozess ist ausschließlich dasjenige
Verfahren, bei dem der Unschuldige verurteilt wird. Und obwohl das Heilige als
solches nicht mehr wahrgenommen wird und das spezifisch moderne Opfer ein
gewaltiges Industrieunternehmen ist, das die Bezeichnung Opfer ebenso zurückweist
wie die Erinnerung ans Opfer, wirken nach Calasso die abgeschafften Mächte
namenlos in der Finsternis und hinterlassen ihre Spuren. Mit anderen Worten: Da zur
Stabilisierung der Ordnung die Aussonderung eines verfemten Teils nicht vollzogen
wird, kann alles zum verfemten Teil werden und sich die Situation der ursprünglichen
Schreckens wieder einstellen, in der etwas Diffuses, Allgegenwärtiges dazu
anspornt, beinahe grundlos zu töten, sich selbst oder beliebigen anderen grausame
Qualen zu bereiten. Denn das Gesetz allein ist nach Calasso nicht in der Lage, der
vom Geben und Nehmen bestimmten Physiologie der Gesellschaft wie auch des
Individuums zu entsprechen. Es kann nicht die Rolle des Opfers übernehmen, eine
auf langfristige Wirkung berechnete List, um, wie es auch der Theorie von Girard
entspricht, die Ausscheidung und Bändigung des Heiligen zu erreichen. Die
Erwartung der Neuzeit, ein Leben ohne das Heilige und ohne die gegenseitige
Rückbindung von violence und sacré sei ein vollkommener, unbeschwerter und
wünschenswerter Zustand, erfüllt sich nicht. Auf das Gesetz zu setzen, erweist sich,
wie der Blick in die Tageszeitung zeigt, zumindest als riskant.
Dass das Gesetz von jeher und für immer von etwas Älterem und Stärkeren
mitgerissen wird, illustriert der in den Evangelien erzählte Prozess gegen Jesus.
Obwohl in den Ermittlungen kein ungesetzliches Verhalten nachweisbar ist, resigniert
Pilatus und wäscht sich die Hände, weil ihm klar ist, dass das Gesetz trotz der
Nichtigkeit der Anschuldigungen nicht zu einem Freispruch führen kann. Jesus wird
nicht vom Gesetz verurteilt, sondern weil das Gesetz von etwas Stärkerem dominiert
wird. Schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt wird er nicht kraft Gesetzes,
sondern von der Volksmenge und ihren Priestern.
Die Kraftlosigkeit des Gesetzes statuiert Calasso mit Vehemenz und erzählerischer
Eleganz am Beispiel des Charles Maurice Talleyrand, der als Sproß eines
biologischen Adels, der es nicht zulässt, Gründe oder Rechtfertigungen anzuführen,
537
nach seinem Verzicht auf das Bischofsamt eine erstaunliche Karriere als
Staatsmann unter Napoleon, Ludwig XVIII., Karl X. und Louis Philippe zurücklegt und
allein durch seine formvollendete Anpassung an diese heterogenen Stationen der
Macht das Prinzip der Prinzipienlosigkeit verkörpert. Als Angehöriger eines großen
Geschlechts aus dem Périgord steht er in einer Tradition, in der das Individuum
hinter dem Namen und dem Wappen zurückzustehen hat, zumal es sich bei
Talleyrand um den hinkenden Erstgeborenen handelt, der aus der Familie
‚ausgeschieden’ und der Kirche überlassen werden muss, weil er dem einzigen
ebenbürtigen Dienst, dem der Waffen, nicht gewachsen ist. In die Rolle des
Geopferten gezwängt, wird er hineingeboren in eine Welt, die nach der Zerschlagung
des Ancien Régime durch den vom Willensprinzip beseelten Napoleon den
vergeblichen Versuch macht, in einer Heiligen Allianz sich wieder auf den sakralen
Ursprung der Macht zu berufen, aber die Erfahrung machen muss, dass letztlich nur
von einer fiktiven Legitimität getragene Konventionen erzielt werden und somit nach
Tocquevilles Diagnose die Revolution ein Dauerzustand wird, in dem von Fall zu Fall
eine Verbindung von Doktrin und Gewalt zustande kommt. Talleyrand war der erste,
537
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 26
164
der begriff, dass die neue Welt, die auf der Suche nach einem Gleichgewicht, aus der
napoleonischen Ära hervorgegangen war, kein Gesetz mehr erwartete oder
verlangte, sondern den Anschein eines Gesetzes. […] So begann das Gesetz ein
bloßes Ornament der Tatsachen zu werden, ein emphatischer Schnörkel, ein
nützlicher Topos, um Denkmäler einzuweihen. 538 Da in historischer wie aktueller
Perspektive Gesetze und Gesellschaftsverträge im Zeitalter der Massen- und
Machtpolitik sich als höchst unzuverlässige Mittel der Gewalteindämmung
herausstellen und man sich in Calassos zugespitzter Formulierung ohne Liturgie 539
schon ein einem riesigen Schlachthof bewegt, 540 übernimmt Talleyrand, stets in
höflicher Distanz zum Gesetz, auf der diplomatischen Bühne Europas die Rolle eines
Zeremonienmeisters: Seine Politik, ungreifbar, ständig im Fluss, dient dazu, diesen
Schrecken zu mildern, ihn für eine Weile noch mit dem Hauch seiner edlen und
blutigen Vergangenheit zu überziehen. 541
Der Aufschub um diese Weile noch ist sowohl Talleyrands diplomatische Praxis als
auch seine Botschaft an die Zeit, in der die bürgerlichen Konventionen zur absoluten
Macht gelangen. Diese Botschaft besteht in der Lebensweise, die nach der
Niederlage des Opfers zum Vorschein kommt, vom Opfer jedoch den Gestus
bewahrt, der jetzt aber über alle Gebärden verstreut ist. 542 Wie die nach dem Wegfall
der sakralen Bindung entgrenzte Macht als diffuse Gewalt fortbesteht, so ist jetzt das
vormals rituell gebundene Zeichensystem emanzipiert, entgrenzt und quasi
digitalisiert, so dass es keinem bestimmten, liturgischen Signifikat gilt, sondern alles
und jenes, und gerade auch das Alltägliche, bezeichnen kann. Und dennoch, und da
geht Calasso mit großer Entschlossenheit über die von Girard suggerierte Analogie
von Opfer- und Erzählsequenz hinaus, konserviert dieses neue Sprechen die
Opferbewegung. Dieses neue Sprechen hat in seiner konservierenden Funktion
jedoch nicht den Status einer Entsprechung der Opferhandlung; es übernimmt die
Opferleistung als solche und mutet sich zu, den Opferzweck, der darin besteht, dass
man sich vor dem drohenden Ungeheuren in – jedenfalls vorläufige - Sicherheit
bringt und das Heilige auf Abstand hält, tatsächlich zu erfüllen.
Am Ende der Erzählung, die im Zentrum der Essaysammulng steht und die als
Fortsetzung der Talleyrand-Diplomatie mit Mitteln des Märchens gedacht werden
kann, umreißt Calasso mit seiner Deutung der von Leo Frobenius 543 im Jahr 1912
538
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 22-23
Vgl. Peter Sloterdijk, Requiem für eine verworfenes Organ in: ders., Sphären I. Hier wird auf der
Basis einer phänomenologischen Ontologie die Homineszenz ab utero entfaltet, wonach die
ursprüngliche Dyade von Foetus und Plazenta bei der Entbindung aufgebrochen wird und wo die
Plazenta zugunsten des neuen Lebens als eine Art part maudite entsorgt wird. S. 386: „Die vier
Hauptmethoden der Plazenta-Versorgung – Beerdigung, Aufhängung, Verbrennung und Versenkung
im Wasser – entsprechen den Elementen, denen als Mächen der Schöpfung das Ihre zurückgegeben
werden soll. Plazenta-Asche galt bei bei den Völkern des Nordens als mächtiges Zaubermittel. […]
Erst seit dem späteren 18. Jahrhundert setzt, von der höfisch-bürgerlichen Sphäre und ihren Ärzten
ausgehend, eine durchgreifende Plazenta-Entwertung ein. […] Tatsächlich breitet sich erst seit dieser
Zeit bei Klinik- wie bei Hausgeburten in den Städten die Gewohnheit aus, die Plazenta als Abfall zu
behandeln. […] Im 20. Jahrhundert beginnt die kosmetische und pharmazeutische Industrie sich für
plazentales Gewebe zu interessieren, weil es als Rohstoff für Kurmittel und regenerative Hautmasken
in Betracht gezogen wird“.
540
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 16
541
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 27
542
Roberto Calasso, In den Ruinen von Kasch, in: ders., Der Untergang von Kasch, S. 152 - 162
543
Leo Frobenius (1873 – 1938), seit 1934 Direktor des Museums für Völkerkunde Frankfurt/M. Sein
Hauptgebiet: die Eingeborenenkulturen Afrikas, wohin er mehrere Forschungsreisen unternahm.
539
165
von einer Afrika-Expedition mitgebrachten Geschichte vom Untergang eines früheren
ostafrikanischen Königreichs eine Literaturtheorie, die sich dezidiert in den Bezug zu
seiner und anderen Opfertheorien 544 stellt und ohne diesen Hintergrund völlig
unverständlich wäre.
Wird in den vorausgehenden Beobachtungen im Wechsel von literaturkritischen,
mythologischen und ethnologischen Ansätzen der Zusammenhang von
Handlungsprogramm und Erzählstruktur mehr suggeriert als behauptet, lässt Calasso
keinen Zweifel an einer analogischen Phasierung von Opfer und Erzählung, die er
als Systeme mit identischer Aufgabenstellung versteht und deren Unterschied nur in
der Wahl der Mittel besteht, mit denen sie das Ziel der Gewaltprävention und –
protektion und damit der kollektiven Immunisierung anstreben.
Auf das Reich des Blutes folgt das Reich des Wortes. In diesem Reich wird nicht
nach Maßgabe des Ritus getötet, sondern der Tod wird durch eine rasch und
unbezähmbar aufkommende Unordnung beschworen. Die Worte […] ersetzen das
Opfer. Wie diese haben sie die Macht, sich Gehorsam zu verschaffen. […] Das
Erzählen hat etwas an sich, was sich der Aburteilung zutiefst widersetzt, den von ihr
ausgehenden Zwang überwindet und der herabsausenden Klinge entgeht. Das
Erzählen ist ein Voranschreiten und ein Zurückwenden, ein Wogen der Stimme, ein
ständiges Tilgen der Grenzen, ein Umgehen der stechenden Spitzen. Der Untergang
von Kasch ist der Ursprung der Literatur. 545
In wenigen Worten ist hier der Unterschied zwischen der erzählerischen Prosodie
und der sakralen Prozession markiert. Die Unerbittlichkeit des Opfergangs und seiner
rituellen Begehung unter priesterlicher Führung wird dem voranschreitenden,
zurückwendenden, umweghaften und Grenzen überschreitenden Erzählen mit seiner
freien Zeit- und Raumeinteilung gegenübergestellt. In beiden Fällen ist das
Fortschreiten ein Vorangehen zum Untergang und zur Zerstörung, wobei aber etwas
sich dieser Zerstörung entzieht: die Worte des Erzählers und eine Stimme, die weiter
vom Untergang von Kasch erzählt.
In der von Frobenius notierten Geschichte, die ihm von einem sehr alten
Kamelversorger aus El Obeid erzählt wurde und die Calasso seit seiner Jugend
beschäftigt hat, heißt es, der König von Naphta in Kordofan, dem heutigen Sudan,
der sich vor dem Volk stets verhüllt hat, sei der reichste Mann der Welt gewesen,
aber auch der traurigste, denn jeder König sei nach einer Reihe von Jahren
zusammen mit einem Gefährten, der er sich auswählen durfte, geopfert worden. Den
Priestern, die ständig die Sterne beobachteten, wurde der Zeitpunkt des Opfers
enthüllt. Einmal habe ein König als seinen kommenden Begleiter im Tod den
Geschichtenerzähler Far-li-mas ausgewählt. Dieser konnte so spannend erzählen,
dass alle, die ihm zuhörten, die Zeit vergaßen.
Far-li-mas begann zu erzählen. – Der König Akaf hörte. Die Gäste hörten. Der König
und die Gäste vergaßen zu trinken. Sie vergaßen zu atmen. Die Sklaven vergaßen
544
Vgl. Georges Bataille, La littérature et le mal (1957), dt. Die Literatur und das Böse, München 1987,
S. 61: „…ich muss jedoch daran erinnern, dass jene Künste, die in uns Angst und die Überschreitung
der Angst lebendig erhalten, Erben der Religionen sind. Unsere Tragödien, unsere Komödien sind die
Fortsetzung der ehemaligen Opferhandlungen…“.
545
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 160 - 161
166
die Bedienung. Sie vergaßen zu atmen. Far-li-mas’ Erzählung war wie Haschisch.
Als er geendet hatte, waren alle wie von einer wohltuenden Ohnmacht umfangen. 546
Sali, die Schwester des Königs, verliebte sich in Far-li-mas, und dabei wurde in ihr
der Wille wach, ihren Geliebten zu retten und nicht mit ihm in den Tod zu gehen. Sie
lud daher viele Menschen zu den Erzählungen von Far-li-mas ein – schließlich auch
die Priester, die beim Zuhören die Betrachtung der Sterne vergaßen.
Die Priester begingen die sämtlichen Opfer und Gebete. Vielen Ochsen wurden die
Fesseln durchschlagen. Den ganzen Tag über wurden die Gebete im Tempel nicht
unterbrochen. Am Abend kamen wieder alle Priester in den Palast des Königs Akaf.
Am Abend saß Sali wieder bei ihrem Bruder, dem König Akaf. Am Abend begann
Far-li-mas wieder seine Erzählung. Und ehe noch der Morgen graute, waren alle: der
König Akaf, seine Gäste, seine Gesandten und die Priester in Verzückung und
Zuhören eingeschlafen. 547
Die Priester wollten daher den gefährlichen Geschichtenerzähler wegen seiner
revolutionären Theologie: Gottes Werke sind groß. Das größte ist aber nicht seine
Schrift am Himmel, sondern das Leben auf der Erde 548 töten. Durch ihren Bruder,
den König, erreichte Sali aber, dass ihr Geliebter vor dem ganzen Volk auftreten
durfte. Far-li-mas hat die Ordnung in Naphta zerrissen. Diese Nacht wird es zeigen,
ob dies Gottes Wille war. 549 In der entscheidenden Nacht der Erzählung rührt Far-limas die Herzen der Menschen so sehr, dass am Morgen die Priester tot am Boden
liegen.
Glück erfüllte die Gemüter der einen, Entsetzen die Herzen der anderen. Je näher
der Morgen kam, desto gewaltiger stieg die Stimme, desto lauter war der Widerhall in
den Menschen. Die Herzen der Menschen bäumten sich gegeneinander auf wie im
Kampf. Sie stürmten gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer
Gewitternacht. Blitze und Schläge der Wut trafen einander. Als die Sonne aufging,
endete die Erzählung des Far-li-mas. Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten
Verstand der Menschen. Denn als die Lebenden um sich sahen, fiel ihr Blick auf die
Priester. Die Priester lagen tot am Boden. 550
Nun enthüllte sich der König zum ersten Mal vor dem ganzen Volk, das ihm zujubelte
und die heilige Tradition, den König zu opfern, preisgab. Die bisherigen heiligen
Haine wurden zu fruchtbarem Ackerland umgepflügt, und für den König von Kordofan
begann – zusammen mit seinem Volk – ein neues, langes und glückliches Leben.
Seitdem wurden in Naphta keine Menschen mehr getötet. 551 Nach seinem
natürlichen Tod wurde Far-li-mas selber König, und unter ihm erreichte Naphta den
Höhepunkt des Glücks, aber auch sein Ende. Der Ruhm von Far-li-mas erfüllte
nämlich alle Länder vom Osten bis zum Westen, was den Neid der Menschen
weckte. Die Nachbarvölker verbündeten sich gegen Naphta, besiegten das Reich
des Far-li-mas und vernichteten es.
546
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 144
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 147 - 148
548
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 148
549
ebenda
550
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 150
551
Roberto Calasso, Der Untergang, S, 151
547
167
Naphta wurde zerstört und damit das stärkste Schloss in dem großen Reiche. Das
große Reich zerfiel in Stücke. Es wurde von wilden Völkern überschwemmt. Die
Menschen vergaßen die Kupfer- und Goldminen. Die Städte verschwanden. Von der
Zeit Naphtas blieb nichts übrig als die Erzählung Far-li-mas’, die dieser vom Lande
jenseits des Meeres im Osten mitgebracht hatte. 552
Für Frobenius selber besteht zunächst das Sensationelle dieser Geschichte darin,
dass ein König aus dem fernen Indien einen Sendboten an den Hof von Naphta
sendet, der herrliche Märchen erzählt und dann die Staatsform umbildet […] und auf
einem Präsentierbrett in nicht mehr als einer halben Stunde die ganze Weisheit,
Jahrtausende umfassende Weisheit serviert. 553 Einige Jahre später bemerkt er
jedoch, dass dieses Untergangsmärchen über die politische Deutung hinaus an
einen kulturellen Umbruch erinnert, in dem die Menschen in der Ergriffenheit matt
geworden waren und dem Bedürfnis nach Begriffsbildung zu weichen begannen, ihre
Vitalität einbüßend. 554 Calasso knüpft an diese Deutung an und sieht in dieser
Geschichte nicht nur den Übergang von einer Welt zur anderen und von einer
Ordnung zur anderen, sondern die Diagnose der Anfälligkeit einer jeden Ordnung,
gleichgültig, ob sie das Opfer praktiziert oder es verstößt. Der Untergang von Kasch
erscheint bei Calasso als eine Parabel für das Geschick des Abendlands. Danach
haben zunächst die griechischen Philosophen, dann die christlichen und später die
naturwissenschaftlichen und aufklärerischen Erzähler die Menschen durch ihre
neuen Geschichten so gefesselt, dass sie darüber die Opfer vernachlässigten
Zunächst brachte diese Abkehr vom Opfer Glück und einen im globalen Vergleich
unerreichten Wohlstand, aber auch den Neid, der den Untergang vorbereitet. Die
abendländische Zivilisation zeigt sich als ein einmaliges und äußerst zerbrechliches
Gebilde, das nach dem Verlust der Opfer und der Götter vorläufig nur durch
Ersatzkonstruktionen, durch Erzählungen, Diskurse und durch einen quasi-religiösen
Schein, den der Legitimität 555 zusammengehalten wird. Die esoterische Seite des
Opfers ging nach ihm ins Geschichtenerzählen über, weshalb sich Calasso selber als
Geschichtenerzähler versteht. 556 Aus der exoterischen Seite wurde das Gesetz und
im politischen Bereich die Legitimität und die Konvention, deren Prekarität in der
Gestalt des Talleyrand, des Bischofs und Zeremonienmeisters, also eines
Nachfahren der alten Opferpriester allein schon darin enthüllt wurde, dass dieser
Diplomat es verstand, unter Ludwig XVI., dem Terror und der napoleonischen
Diktatur wie auch unter der Restauration und unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe
zu dienen.
Der Untergang von Kasch ist der Ursprung der Literatur. Far-li-mas beendet das
Opfersystem und ersetzt es durch den Diskurs und durch Visionen. Er kann jedoch
den Untergang von Kasch nicht verhindern; es gelingt ihm nur, den Tod
aufzuschieben, der nicht mehr als Blutopfer kommt, sondern als finsterer und
verstrickender Untergang des Reichs, welches seinen verbündeten Nachbarn zum
552
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 152
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 152 - 153
554
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 155
555
Roberto Calasso, Die geheimnisvolle Kraft der Legitimität in: ders., Der Untergang, S. 67 - 71
556
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 156: „Das Gesetz kann vom Einzelsubjekt respektiert werden.
Das Opfer verlangt ein Doppelsubjekt. Im Gesetz erkenn wir daher die exoterische Seite des Opfers.
Auf seinem esoterischen Boden kann das Opfer eigentlich nur der Erzählung unterliegen, von der es
beim Gottesgericht besiegt wird. Geschichtenerzählen ist das Esoterische des Esoterischen, das
Geheimnis des Geheimnisses; es lehrt, wie man außerhalb des Zyklus lebt, in der HaschischSchwebe des Wortes“.
553
168
Opfer fällt. Was sich dem Untergang entzieht, sind die Worte des Erzählers. Der
Untergang von Kasch lehrt indes, dass das Opfer – ebenso wie das Fehlen des
Opfers – Ursache des Untergangs ist. In beiden Formen beziehungsweise
Zeichensystemen zeigt sich – und hier kehrt Calasso an den gemeinsamen
physiologischen Ort von Opfern und Erzählen zurück -, dass diese beiden
Funktionen auf eine dunkle Wahrheit verweisen, nämlich dass die Gesellschaft den
Untergang bedeutet, weil in ihr der Klang – das unaufhörliche verzehrende Brummen
– der Welt widerhallt. 557
Wenn der verzehrende Klang der Welt in seiner physiologisch dem gebenden und
nehmenden Atmen nachgebildeten Gestalt im Opfer ebenso ertönt wie in der
Erzählung und wenn die Erzählung den jetzt aber über alle Gebärden verstreuten
Opfergestus bewahrt, erhält die Frage nach dem Inhalt des Erzählten ein erste,
summarische Antwort. Was im Einzelnen von Far-li-mas erzählt wird, wird weder von
Frobenius berichtet noch von Calasso interpretatorisch rekonstruiert. Wenn aber
Calasso feststellt, dass die Worte von Far-li-mas das nach dem Beobachten der
Sterne fällige und für die Sicherung der kollektiven Existenz notwendige Töten
ersetzen, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass in der Erzählung der gleiche
Mechanismus am Werk ist wie im Opfer, dass in beiden Fällen der gleiche soziale
Aggregatszustand erreicht wird, dass der opfernden wie der erzählenden Sequenz
eine und dieselbe Ereignisabfolge zugrunde liegt.
Girard, der die ethnologischen Arbeiten von Frobenius möglicherweise kennt, sie
jedoch nicht erwähnt, beschreibt diesen Mechanismus als den selbstgesteuerten
Prozess des Alle-gegen-einen und identifiziert diesen Einen sowohl mit dem realen
oder rituellen Opfer als auch mit dem Lebenslauf des Helden der Erzählung. Auch im
Ablauf dieses Prozesses parallelisiert er die sakrifizielle, auf der Zeichenebene rituell
begangene Krise, mit dem mimetischen und zur Konklusion drängenden Konflikt der
Erzählung. Verlängert man diese Parallelisierung, lässt sich, auch wenn man das
Gehörte nicht kennt, an den Reaktionen der Zuhörer mit einiger Sicherheit
erschließen, was Far-li-mas ihnen erzählt und womit er sie zu einer zustimmenden
und gehorsamen Gemeinschaft formt. Zwar wird mehrmals erwähnt, auch in der
entscheidenden Nacht, als seine Erzählung zum Gottesgericht über den Vorrang des
Opfersystems gegenüber dem Repräsentationssystem beziehungsweise der Priester
gegenüber dem Dichter wird, dass Far-li-mas seine Erzählung am Abend beginnt und
am Morgen beendet; vom Inhalt ist keine Rede. Er ist aber an den Gesichtern und an
Stimmungen der Zuhörerschaft abzulesen und offenbart eine Dramaturgie des
sakrifiziellen Alle-gegen-einen, die mit derjenigen der im ethnologischen Corpus
aufbewahrten zur Passung zu bringen ist, welche wiederum in den Mythen sowie den
großen musikalischen Formen, in veränderter Form dann in den Romanen
durchscheint.
Wie das Opfer ist auch die Erzählung die Begegnung mit dem Heiligen, ausgehend
von der Liminalität einer dürstenden Erde, sich steigernd in einem Antagonismus von
Glück und Entsetzen, sich schließlich auflösend in einem unsagbaren Erstaunen
über den wiedergefundenen Frieden und die Bändigung der gruppeninternen Gewalt.
Far-li-mas begann seine Erzählung. Die Worte aus dem Munde des Far-li-mas waren
erst süß wie Honig. Seine Stimme durchdrang die Menschen wie der erste
557
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 161
169
Sommerregen die dürstende Erde. […] Far-li-mas’ Erzählung war erst wie Haschisch,
der den Wachenden beglückt. Dann ward sie wie Haschisch, der den Träumer
umnächtigt. Gegen Morgen aber erhob Far-li-mas die Stimme. Sein Wort schwoll wie
der steigende Nil in die Herzen der Menschen. Sein Wort ward für die einen
beruhigend wie der Eintritt in das Paradies, für die andern aber erschreckend wie die
Erscheinung Azrails (des Todesengels, d. Verf). Glück erfüllte die Gemüter der einen,
Entsetzen die Herzen der andern. Je näher der Morgen kam, desto gewaltiger stieg
die Stimme, desto lauter ward der Widerhall in den Menschen. Die Herzen der
Menschen bäumten sich gegeneinander auf wie im Kampf. Sie stürmten
gegeneinander wie die Wolken am Himmel in einer Gewitternacht. Blitze des Zornes
und Schläge der Wut trafen einander. […] Als die Sonne aufging, endete die
Erzählung des Far-li-mas. Unsagbares Erstaunen erfüllte den verwirrten Verstand
der Menschen. Denn als die Lebenden sich umsahen, fiel ihr Blick auf die Priester.
Die Priester lagen tot am Boden. 558
Obwohl die Sequenz alle Phasen des Opfergangs enthält und sich auch die SpielStufen von Caillois in ihr wieder finden, stellt sich das unsagbare Erstaunen nicht
wegen der versöhnenden göttlichen Macht ein, die von dem in seinem Blut liegenden
Opfer ausgeht und seine Idolisierung begründet. Nicht die Menschen stürmen
gegeneinander, und nicht das Aufblitzen des Opfermessers beendet den Tumult; es
sind die Emotionen, von denen die Zuhörer hin und her gerissen werden, und es ist
der kathartische Schluss, der die Verwirrung auflöst und zu dem von Anouilh
einfühlsam geschilderten grand apaisement qui tombe sur Thèbes führt. Niemand
vermag das Phänomen objektiv zu beschreiben. Was sich im funktionierenden
Opfersystem vor aller Augen unter der Leitung der Priester abspielte, wird jetzt, auf
der Ebene der Zeichen, aber mit dem gleichen Effekt, in die Wirkung der Drogen, in
das Anschwellen des Nils, in das Bild vom Paradies, das Spiel der Wolken, in das
Phänomen von Blitz und Donner, das Aufgehen der Sonne projiziert und bringt die
Priester um ihre Macht und ihre Daseinsberechtigung. Wie in einem romantischen
Gemälde – eine musikalische Fassung ist ebenso denkbar wird das
antagonistische Wogen und Ringen in die Wolkenbilder und Himmelserscheinungen
verlegt. So ist es nicht das von den Mitgliedern der Kultgemeinde begangene Opfer,
sondern die von den Mitgliedern der Hörgemeinschaft erlebte Geschichte, die alle
Züge eines übernatürlichen Eingreifens trägt. Auch an dieser Geschichte suggeriert
alles eine die hilflose Menschheit transzendierende Macht. Auch sie ist der Prototyp
der Epiphanie des jäh wie der Blitz, also ohne menschliches Zutun intervenierenden
Heiligen. Die das real begangene Opfer ersetzende Erzählung gerät im Verlauf der
Untergangsgeschichte zur szenischen Aufführung, die Passion zu einem nicht
weniger ergreifenden Passionsspiel, der Erzähler zum Schauspieler. Die szenische
Aufführung stellt Handlungen dar, die sich an das vorstellende Bewusstsein der
Umstehenden und an deren Bereitschaft zu emotionalen Aktionen und Reaktionen
wenden.
Um das Blutopfer zu verdrängen, muss die Erzählung etwas enthalten, was nicht
weniger Kraft hat als die geheimnisvolle Substanz des Opfers. Es ist das Wort des
Far-li-mas, das auf die Zuhörer wie Honig und Haschisch wirkt, aber auch das
hierogamische Liebesspiel mit der Königsschwester Sali, das den Zuschauern den
Ausweg aus dem Blutopfer anzeigt. Far-li-mas endete. Er erhob sich. Far-li-mas
schritt auf Sali zu. Sali sagte: „Lass mich diese Lippen küssen, von denen so süße
558
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 150
170
Worte kommen“. Sie sogen sich fest an den Lippen. Far-li-mas sprach: „Lass mich
diese Gestalt umschlingen, deren Anblick mir die Kraft gibt“. Und sie umschlangen
sich mit Armen und Beinen und lagen wachend zwischen all den friedlich
Schlummernden und waren glücklich bis zum Zerbrechen des Herzens. Sali aber
jubelte und sprach: „Siehst du den Weg?“. Far-li-mas sagte „Ich sehe ihn.“ 559
Der Erzähler weiß den Weg. Doch dieser Weg ist nicht nur der Übergang vom
Opfersystem, mit dessen Hilfe die Schrift am Himmel entziffert werden kann, in das
System des restlosen, das heißt keinen Opferrest fordernden Verbrauchens,
Kapitalisierens und Genießens des Gegebenen; dieser Weg führt weiter, er führt in
den sicheren Untergang. Und der Untergang von Kasch, das lässt sich erahnen, ist
zugleich der Aufgang einer neuen Zivilisation, derjenigen der siegreichen und
verbündeten Nachbarvölker, die wiederum ein am Himmel verankertes Reich bilden
werden, welches sich auf ein Opfersystem stützt, das sich, je weiter es sich von
seinem Gründungsereignis entfernt, durch die rituelle Routine abnützt, sich
transzendental entsichert und im Erzählmodus an sein Ende kommt.
Die Parabel des Untergangs von Kasch lässt Calasso nicht los, weil sie eine
unendliche Geschichte ist und sich die durch die Erzählung in das Opfersystem
gerissene Wunde, ähnlich der des Prometheus, nicht schließen lässt; sie kommt
nicht zu dem aristotelisch geforderten Ende, das so beschaffen wäre, dass darauf
nichts mehr folgen könnte. Es mangelt dieser Geschichte sowohl die mythische
Bewegung, die sich in einem Gründungsakt aufhebt, als auch die romaneske
Bewegung, die in der Auflösung des Spiels, der Desillusionierung des Protagonisten
zur Ruhe kommt. Als durch den Tod der Priester dem alten Kult ein Ende gesetzt
wird, entsteht keine stabile Ordnung, wie es in den Zeiten der Königsopfer immer
wieder geschah, wenn aufgrund der von den Priestern interpretierten kosmischen
Konstellation eine Herrscherzeit zu beenden und eine neue zu begründen war. Das
mythische Muster der periodisch aufbrechenden und durch dosierten Gewalteinsatz
überwundenen Krise wird ebenso durchbrochen wie die romaneske Bewegung, wie
sie sich exemplarisch in der Sequenz von Crime et châtiment verdichtet
beziehungsweise dem Programm von Si le grain ne meurt folgt. Steht am Ende der
mythischen Bewegung der neue und neu erstarkte Held und mit ihm, in der
Girardschen Perspektive, das wiedergefundene Gruppengleichgewicht, bildet sich im
romanesken Experiment auf der individuellen Ebene das ab, was dem Taufvorgang
der Christen oder dem Initiationsritus anderer Erlöserreligionen entspricht: der Fall
und das Eintauchen in das lebensbedrohende Element und das mit der Läuterung
verbundene Umkehren, Aufstehen und erneute Menschwerden.
Die Wahrheit des Romans steht bei Girard in allernächster Nähe zur Wahrheit der
Erlösung, wie sie in der Reichgottesbotschaft des neuen Testaments und am Beispiel
von Tod und Auferstehung des Gekreuzigten verkündet wird. Die Frage nach der
Wahrheit des Untergangs von Kasch wird weder mit dem Hinweis auf eine mythische
noch auf eine romaneske Konklusion beantwortet. Diese Frage wird mit dem Namen
des Talleyrand beantwortet, dessen persönliches und politisches Wirken nach
Calassos Darstellung die personifizierte Absage an Wahrheitsanspruch,
Jenseitsvergewisserung und Prinzipientreue ist und einer rein ästhetischen
Existenzweise sehr nahe kommt. Mit dem Adorno-Zitat Kunst ist Magie, befreit von
der Lüge, Wahrheit zu sein 560 deutet Calasso an, dass der Erzähler der
559
560
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 147
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 189
171
Untergangsgeschichte nicht den Weg der kollektiven Ordnung und nicht den Weg
der persönlichen Erlösung weist, vielmehr dass es einen dritten Weg, den der Kunst
gibt, der zwar nicht am Untergang vorbeiführt, diesen jedoch im Ersatz der
Immolation durch ein literarisches oder musikalisches Opfer um eine unendlich
kostbare Frist hinausschiebt. Wenn Calasso postuliert: Der Untergang von Kasch ist
der Ursprung der Literatur, löst er die Erzählung ab von der Bindung an reale
Ereignisse oder von rituell geforderten Rücksichten auf historische Vorgaben.
Obwohl bisweilen eine derartige Übertragung als nahe liegend vermutet werden
kann, findet sich kein direkter Beleg für die Annahme, Calasso betrachte die
Erzählung als Fortsetzung der Opferung mit anderen Mitteln. Der Zusammenhang
von Opfer und Literatur wird differenziert gedeutet: Die Literatur bricht auf in Richtung
auf eine absolute Literatur, macht sich zu einer Kunstform nach Art der Musik und
der abstrakten bildenden Kunst und wird entbunden von politischen und religiösen
Anforderungen, und wenn auch in allen ihren Gebärden die Opferspuren noch
sichtbar sind und sich nicht auslöschen lassen, kann sie sich den Luxus leisten, mit
den Opfergegenständen, Reliquien und Ritualen zu spielen und damit neue,
poetische Dimensionen aufzuschließen und neue Handlungsräume zu erobern.
Calasso würde keiner Auffassung von vérité romanesque zustimmen, die das
literarische Schaffen und Rezipieren, wie es Girard praktiziert, anthropologisch
vereinnahmt, handlungsprogrammatisch definiert und soziologisch überwölbt. Es ist
zwar nicht zu übersehen und zu überlesen, dass das Opfer immer und überall
präsent ist. Aber: Aus der Kunst spricht die Stimme des Opfers, das in höchster Not
für immer der Tötung entronnen ist, als der Ritus schon alles Heilige in es hatte
zurückströmen lassen. Die Kunst ist leichtfüßig, weil sie im Wald umherirrt. Der Altar
ist jetzt leer. 561
Die Opferspuren, die der Schiffbruch der magischen Welt an den Gestaden der
Psyche zurückgelassen hat, 562 sind über unser ganzes Imaginarium verstreut und
reklamieren von dort aus ihren Wahrheitsanspruch. Nach Calassos radikaler
Diagnose erinnert die Mehrdeutigkeit der Kunst, ihre von Aristoteles beschriebene
kathartische Funktion und die von Kant formulierte ästhetische Interesselosigkeit an
die abgeschaffte und sozusagen in den Untergrund abgedrängte Macht des Opfers.
Aber das Schöne, da es die Schlinge um den Hals des Opfers gelockert hat ,563 ist in
der Lage, vor der Lüge, die Wahrheit zu sein, zu fliehen, ja sogar vor der Wahrheit
die Flucht zu ergreifen.
8. Die Vorder- und die Rückseite des Mythos
In Der Untergang von Kasch spiegelt sich nach Calasso der Untergang einer
Zivilisation, der abendländischen, die in ihrer Opfervergessenheit nicht nur ihre
Kohäsion aufs Spiel setzt, sondern auch und vor allem die Kriterien für die
Unterscheidung von Verausgabung und Vernichtung, für Hingabe und Zerstörung
verloren hat. Da das Heilige sich im Geopferten konzentriert, wird es auch im
Geopferten beseitigt, wo es zugleich unschädlich gemacht und divinisiert wird.
Wichtig ist, dass die ständig drohende Ansteckung durch das Heilige, die das Leben
unmöglich machen würde, unterbunden wird. In der profanisierenden Neuzeit wird
561
ebenda
ebenda
563
ebenda
562
172
das Heilige nicht mehr gesehen, und da es seine Funktion der Gewaltamortisation
eingebüßt hat, wird diese Gewalt von neuem freigesetzt und entgrenzt und wird
wahllos bei der Bestimmung ihrer Opfer. Weil er den eingeschlagenen Weg der
Profanierung für unumkehrbar hält, ist Calassos stark gnostisch getönte Prognose
überaus pessimistisch. Am Beispiel von Kasch zeigt er, dass das 0pfer, ebenso wie
das Fehlen des Opfers, Ursache des Untergangs ist. Weil die beiden
entgegengesetzten Wahrheiten, die des Opfers und die der Abkehr vom Opfer durch
opferfreie Diskurse, gleichzeitig gelten und sich somit wie in einer tragischen Kollision
zueinander verhalten, deutet für ihn alles auf eine einzelne, dunklere und in der Stille
der tragischen Spannung ruhende Wahrheit hin, wonach die Welt zusammen mit
ihrer Entstehung den Prozess ihres Metabolismus und Verzehrs eingeleitet hat und
alle Diskurse, die literarischen, die religiös-philosophischen, die wissenschaftlichen,
politischen und ökonomischen nur das Ziel verfolgen, den Blick von dem
physiologisch bedingten Programm des Lebens abzuhalten. 564
Da Calasso seine Opfertheorie auf eine physiologische Basis stellt, ist es nicht
überraschend, wenn er Girard, dessen soziologischer Ansatz durch die Beobachtung
tierischer Sozietäten bis ins Animalische reicht, heftig kritisiert. Ihm und mit ihm der
Durkheim-Denkschule, die mit dem Axiom Das Religiöse ist das Soziale für die
erneute restlose Einverleibung der göttlichen Wolke in das von Platon und Simone
Weil gekennzeichnete Große Tier 565 verantwortlich zu machen ist, wirft er vor, über
den Rand des soziologischen Laboratoriums nicht hinauszusehen und die
gesellschaftsbezogene Funktion des Opfers in unzulässiger Weise zu
verabsolutieren. Nach Calasso begeht Girard den Fehler, in unzulässiger
Vereinfachung den sozialen Horizont mit dem kosmischen zur Deckung zu bringen
und in der Autonomie und der Selbstbezüglichkeit der Gesellschaft eine Art
kosmischer Ordnung zu sehen, deren Störungen durch die gewaltsamen Folgen der
mimetischen Konflikte ausgelöst und jeweils durch ein Opfer beziehungsweise durch
Opferrituale zu beheben seien. Es ist für ihn eine wahnhafte, anmaßende und
spezifisch abendländische Vorstellung, die den Gestirnen dargebrachten Opfer als
Beschwichtigungsmittel im Dienst des Gruppengleichgewichts anzusehen 566 und alle
Spannungen, Krisenzustände und Bedrohungen sowohl auf ihren gesellschaftlichen
Ursprung als auch auf ihre gesellschaftlichen Folgen hin zu erklären. Wenn für Girard
der Urvorgang des Opfers darin besteht, dass zur Zähmung der gesellschaftlichen
Gewalt ein Mord, genau gesagt: ein Lynchmord, begangen wird und immer wieder –
und in unendlichen Metamorphosen - begangen werden muss, beginnt für Calasso
der unendliche Opfergang mit dem Hunger, welcher zum Töten führt und mit der
Einwilligung zum Töten auch die Einwilligung zum Getötetwerden ausspricht. Aber
vorm Lynchmord kommt der Hunger. Der Hunger ist der Tod. Im Hunger sind Tod
und Mord vereint. Ohne Nahrung, also ohne Tötung – denn auch das Abschneiden
einer Pflanze bedeutet Tötung – kann man nicht überleben… 567 Diese kosmische
Physiologie, von Calasso als Grundmuster allen Nehmens und Gebens expliziert,
wird von Girard nicht ernsthaft in Betracht gezogen, dessen Blick durchgängig auf die
564
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 163: „Die Schöpfung ist der Leib des ersten Opfers. Bei der
Schöpfung schneidet Gott ein Stück von sich selbst ab und gibt es preis. Von nun an bleibt Gott nichts
anderes übrig, als den abgeschnittenen Teil in den Händen der Notwendigkeit zu beobachten. […] Die
Wahrnehmung am Ursprung des Opfers läuft darauf hinaus, dass jedes Pflücken zugleich ein Morden,
jede Entwurzelung […] ein Töten ist. Doch wenn das Leben von Dauer sein soll, muss etwas gepflückt
werden“.
565
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 190
566
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 193
567
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194
173
soziale Physiologie geheftet bleibt. Girard kann den Konflikt der mimetischen
Begierden erklären, aber nicht die Existenz der Begierde, den Mord aber nicht den
Tod, das Zyklische der Zeit aber nicht die Unumkehrbarkeit der Zeit. Es muss ihm
entgehen, dass es das vorsoziale Gebärdenpaar von Geben und Nehmen ist, dem
im Opfer eine kanonische Form verliehen wird; er übersieht in seiner Fixierung auf
das Soziale, dass der erste Vertrag kein Gesellschaftsvertrag ist, sondern ein
Vertrag, der mit Tier und Pflanze geschlosssen wird sowie im Hintergrund mit den
Mächten, die in ihnen zur Erscheinung kommen. Was sich uns darbietet, um
genommen zu werden, fordert, demjenigen gegeben zu werden, der es uns
dargeboten hat. 568 Die List des Opfers besteht darin, dass wir uns nicht selbst darund in den Kreislauf der Tauschvorgänge einbringen und uns substituieren lassen.
Mit der Opferung eines Stellvertreters wird, wie es auch in Girards Zeichentheorie
formuliert wird, die eigentliche Maschinerie der Sprache und der Algebra – die auf
Eroberung bedachte Digitalität – in Gang gebracht. Und am Ende wird die
Notwendigkeit des opfernden Gebens vergessen, und die kultische Substitution wird
ersetzt und systematisiert durch den reinen Tausch mit der Folge, dass sogar die
Erinnerung an das Uropfer verblasst, was wiederum zur Folge hat, dass der
Opferbegriff sich in den Formen der enthemmten Zerstörung und Vernichtung auflöst.
Die Literatur hat es nicht einmal nötig, vom Opfer zu reden. Denn in einer ihrer
Formen – der absoluten Literatur (mit dem Stammbaum der Décadence: Baudelaire,
569
Mallarmé, Benn; oder: Flaubert, Proust) – nimmt sie selbst die Züge des
dargebrachten Opfers an, das irgendeine Form der Vernichtung des Autors nach sich
zieht. 570
Trotz der scharfen Kritik an der paradigmatischen Einengung des violence-et-sacréVerfahrens würdigt Calasso die leidenschaftliche Einseitigkeit 571 von Girard, die es
diesem ermöglicht, den Weg der Homineszenz aus der Natur- und Vorgeschichte bis
zur Gegenwart zu beschreiben und eine insofern schlüssige Antwort auf die Frage
nach den seit Anbeginn der Welt verborgenen Dingen zu geben. Und er anerkennt,
auch wenn er seine soziologische Engführung nicht teilt, dass es ihm gelungen ist,
das verschwiegene Fundament, das wir dann in jeder Gesellschaft wieder finden, 572
freizulegen, die offene Wunde des Opferrituals 573 zu streifen und auch der
gravierendsten und stets vermiedenen Frage nicht auszuweichen, wer denn unter
welchen Umständen und mit welchem Recht wen beziehungsweise was opfern kann.
Voll und ganz einig sind sich Calasso und Girard darin, dass es zum
Charakteristikum der auf gewaltsamem Fundament aufgebauten Kulturen gehört,
dass diese die Gründungsgewalt verschweigen und kaschieren. Dass dem Opfer,
etwa in der Person der aztekischen Gefangenen, Unrecht und Gewalt angetan wird,
ist offensichtlich. Und wenn Calasso die auf einer tyrrhenischen Amphore
dargestellte Opferungsszene beschreibt, wird das blanke Entsetzen deutlich, das die
568
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 200
Baudelaires intuitives Erfassen einer im bürgerlichen Zeitalter untergegangenen Existenzweise
ohne Große Sache, mithin ohne Opfer und sinngebende Opferadresse ist unter dem bezeichnenden
Tagebuchtitel Mon cœur mis à nu belegt, in: Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, Paris
1961, S. 1287 : « Il n´y de grand parmi les hommes que le poète, le prêtre et le soldat, l´homme qui
chante, l´homme qui bénit, l´homme qui sacrifie et se sacrifie. Le reste est fait pour le fouet. Défionsnous du peuple, du bon sens, du cœur, de l´inspiration, et de l´évidence ».
570
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 201
571
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 194
572
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 191
573
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 192
569
174
im kosmischen Austausch intendierte freudige Zustimmung 574 des Geopferten
unterläuft. 575 Andererseits hängt die durch die sakrale Gewaltanwendung
angestrebte Heiligung des Opfers und der in der Opferung manifestierten Gewalt
davon ab, dass es zu keiner rächenden Gegengewalt kommt. Mit anderen Worten:
Es muss entweder gelingen, einstimmig das Opfer zum Schuldigen zu erklären oder
seine Zustimmung zur Opferung zu erhalten. Wenn Calasso bemerkt: Die
vorchristliche Vergangenheit ist insgesamt ein langer Prozess der Beschönigung und
Versüßung der Opferhandlung, 576 trifft er sich mit Girard in einer eingehenden Kritik
der Mythen, die naturgemäß gleichzeitig eine Kritik der vorchristlichen Religionen ist.
Unter allen möglichen Gründungsereignissen, die für das Auslösen eines
gemeinschaftlichen Empfindens, Wollens und Tuns in Frage kommen, besteht Girard
auf dem kollektiv begangenen Gründungsmord als der einzig vertretbaren
Hypothese. Selbst da, wo er Kenntnis nehmen muss von Riten, in denen eine
Gemeinschaft Opfer darbringt, um den für das Gedeihen der Feldfrüchte
notwendigen Regen zu erbitten, deutet er die prekäre Versorgungslage nicht als
Folge einer klimatischen Ursache, sondern als Ausdruck von sozialen Spannungen.
Daher entfaltet das Opfer, auch wenn es in ritueller Entfremdung einem Himmelsoder Regengott gilt, seine heilbringende, Gewalt entsorgende und insofern
versöhnende Wirksamkeit innnerhalb der Gemeinschaft und nicht etwa in der
Aktivität der am Himmel vorüberziehenden Wolken. Die nächste Ernte wird gesichert,
nicht weil man durch Opfer für ausreichend Sonnenschein und Regen gesorgt hat,
sondern weil die durch ein Opfer befriedeten Menschen ihre mimetischen Rivalitäten
überwinden und wieder in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und zu
kooperieren. 577
Nach Girards Theorie ist es ausgeschlossen, dass das Opfer eine andere als
gruppenintene Funktion hat. Wo ihm eine andere Funktion zugeschrieben wird,
handelt es sich um ein Verkennen. C´est le dieu qui est censé réclamer les victimes.
578
Dieses Verkennen ist aber notwendig, denn wenn die Gläubigen wüssten, dass
es im Opfermechanismus um die Überwindung ihres mimetischen Rivalisierens geht,
wären sie nicht bereit, von sich selbst abzusehen und das Nachahmungsbegehren
des Alle-gegen-einen in Richtung auf das Opfer zu entwickeln. Folgerichtig müssen
574
Die Notiz Baudelaires zur Todesstrafe enthält erstaunliche Parallelen zur Opferhandlung und
unterstreicht die salvierende und divinisierende Funktion des Hingerichteten/Geopferten. Vgl. Charles
Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1961, S. 1278 : « La peine de Mort est le résultat d´une
idée mystique, totalement incomprise aujourd´hui. La peine de Mort n´a pas pour but de sauver la
société, matériellement du moins. Elle a pour but de sauver (spirituellement) la société et le coupable.
Pour que le sacrifice soit parfait, il faut qu´il y ait assentiment et joie de la part de la victime. Donner du
chloroforme à un condamné à mort serait une impiété, car ce serait lui enlever la conscience de sa
grandeur comme victime et lui supprimer les chances de gagner le Paradis ».
575
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 192 - 193: „Wir vermögen aber nicht den Blick von der
tyrrhenischen Amphore zu lösen, auf der die Opferung der Polyxena dargestellt ist. Unter den Armen
dreier Krieger wird das Mädchen wie ein zusammengerollter Teppich an den Fesseln, an den Knien
und an der Brust festgehalten. Alle drei Krieger sind mit Helmen und Beinschienen angetan und
zeigen ihr scharfgeschnittenes Profil. Helm und Beinschienen trägt auch Neoptolemos, der mit der
Rechten ein großes Messer in die Kehle von Polyxena sticht, während er mit der Linken an ihren
Haaren zerrt, um den Kopf wieder zu heben und den Hals besser zu entblößen. Das Blut ergießt sich
spritzend auf den Altar. Hinter Neoptolemos steht Diomedes und schaut zu. Daneben ist eine weitere
Figur zu erkennen, die den Blick abwendet“.
576
Roberto Calasso, Der Untergang, S. 205
577
René Girard, La violence et le sacré, S. 22 : « Le sacrifice polarise sur la victime des germes de
dissension partout répandus et il les dissipe en leur proposant un assouvissement partiel ».
578
René Girard, La violence et le sacré, S. 21
175
von Girard auch jene Opfertheorien auf das Soziale heruntergerechnet werden, die
im Hereinbrechen kosmischer Katastrophen und den auf sie folgenden kultischen
Reaktionen das religiöse und kulturelle Gründungsereignis sehen. 579 Diese dem
Darwinistischen Gradualismus mit seinen langen Zeiträumen und kleinen Schritten
widersprechenden Theorien rechnen mit Impakten von riesigen Kometen oder
Meteoriten, die in der Vergangenheit nicht nur das Entstehen von Flutsagen in allen
Regionen der Erde, sondern auch das Aussterben der Saurier und der Ammoniten
erklären. In der Reaktion auf diese himmlischen Einschläge, die nicht nur
geologische und evolutionäre, sondern auch kulturelle Veränderungen bewirken,
werden die Opferkulte als kollektive Heilungsrituale für Gemeinwesen interpretiert,
die durch globale Katastrophen halb wahnsinnig beziehungsweise vor Unglück völlig
orientierungslos werden. Da auf die siegreiche Natur nicht konstruktiv durch Angriff,
Flucht oder Verhandlung geantwortet werden kann, fügt das der Heilung bedürftige
Kollektiv menschlichen oder tierischen Darstellern der Naturgewalt das Übel zu, das
ihm selbst widerfahren war und rächt sich so im Hinschlachten der Stellvertreter der
aus dem Himmel herabstürzenden Mächte und Gestalten, so dass angesichts der
sterbenden Erlösergötter die krank machende Wut verdampft.
Wie die den Menschen übersteigende und überwältigende Macht sich als eine Macht
nicht von dieser Welt in herabstürzenden Himmelskörpern zeigt – die MagellanMission der NASA 1994 fotografierte Einschlagkrater auf der Venus und beschäftigte
sich mit irdischen Impaktrisiken - , kann sie dem Frühmenschen auch im Raubtier 580
begegnen, das er imitiert, und seine Reaktion im apotropäischen Opfer des do ut
abeas provozieren, im Fluchtopfer – einer aus der Gruppe wird als pars pro toto dem
Verfolger als Beute überlassen, damit die anderen sich in Sicherheit bringen können
- und, für den Jäger, im Erstatten des geschuldeten Dankopfers, damit der Bestand
der gejagten und erlegten Tiere symbolisch ausgeglichen wird. Wie vielfältig und
unübersehbar die Opferphänomene 581 auch sein mögen, Girard reduziert sie in
seiner Deutung auf das Sündenbock-Konzept, in dem die Gewalt auf das sakrale
Opfer einer victime émissaire projiziert und damit aus der Gemeinschaft, wenn auch
nur vorübergehend und bis zum Ausbruch der nächsten mimetischen Krise, verbannt
wird.
In gleicher Weise, wie er dem Opferkomplex ein reduziertes aber äußerst griffiges
Erklärungsmodell abgewinnt, entziffert Girard die Mythen auf direktem Weg als die
diesem Sündenbock-Konzept entsprechende Erzählform. Und mit der gleichen
Kompromisslosigkeit, mit der er darauf besteht, dass die Opferteilnehmer im
Ungewissen gelassen werden über das im Opfervorgang verborgene und nur als
solches wirksame Umschlagen des Gewaltigen ins Heilige, denunziert er die
579
Vgl. Gunnar Heinsohn, Die Erschaffung der Götter, Hamburg 1997 sowie Fred Hoyle, The origin of
the universe and the origin of religion, dt. Kosmische Katastrophen und der Ursprung der Religion ,
Frankfurt/Leipzig 1997
580
Vgl. Georg Baudler, Erlösung vom Stiergott, S. 101: „Der Stier und das Wildpferd, Tiger und
Panther – die Vitalität und Stärke des großen und starken Tiers hat sicher schon vor dem Übergang
zum Großwildjäger den Menschen fasziniert – und tut es heute noch, wie z. B. an vielen
Werbesymbolen […] abzulesen ist“.
581
Vgl. Josef Drexler, Die Illusion des Opfers (Diss.), Ein wissenschaftlicher Überblick über die
wichtigsten Opferthorien ausgehend vom deleuzianischen Polyperspektivismusmodell, München
1993. Drexler sieht die Opferdiskussion in einem Theorien-Labyrinth verhaftet, wirft Girard
unreflektierte Übertragung von Beobachtungen aus mehreren Disziplinen vor und hält dessen
Konstrukt für einen – nicht sehr aussichtsreichen – Beitrag zur Krisenbewältigung in der von Herbert
Marcuse so genannten aggressionsbegünstigenden Industriegesellschaft.
176
Lügenhaftigkeit der Mythen, die aber auch nur dann in der Lage sind, den
Gründungslynchmord zu erzählen und zu tradieren, wenn sie sich dem
Gewaltmanagement der Opferhandlung anschließen und deren mörderischen Aspekt
mit dem Schleier des Sakralen verhüllen, was für die einzelne Erzählung bedeutet,
dass, jeweils angetrieben durch die mimetische Polarisierung, ein spezifisch
mythischer Rollenumschlag erfolgt, in welchem der Verfolgte und Geopferte die
Verwandlung zum Helden erfährt.
Wie die von den Ethnologen aufgezeichneten Riten auf in der Vergangenheit
tatsächlich geschehene Opferhandlungen verweisen, an deren Beginn ein erstes
wundersames und heilbringendes derartiges Ereignis vermutet werden muss,
berichten auch die Mythen von einem Lynchmord, der sich tatsächlich ereignet hat
und demzufolge als der konstituierende Akt einer menschlichen Gemeinschaft zu
gelten hat. Aus den erzählten Hinrichtungen und vor allem aus den gegen das Opfer
vorgebrachten seltsamen und wenig stichhaltigen Anschuldigungen, wie zum
Beispiel dem häufig anzutreffenden bösen Auge, dem Inzestvorwurf oder dem
Einschleppen der Pest wie im Fall des Ödipus, folgert Girard, dass der Lynchmord
tatsächlich stattgefunden hat, und, was für die Mythenkonstruktion bedeutsam ist,
dass er in der vorliegenden Form nicht vom Standpunkt des unbeteilgten
Beobachters, sondern von dem der Lynchmörder aus erzählt wird.
Als Beispiel für eine mythische Erzählung, die er als eine Stammesgründung nach
dem Muster des mörderischen Alle-gegen-Einen, gefolgt von dem divinisierenden
und den Mord kaschierenden Alle-für-Einen deutet, zitiert 582 Girard einen Mythos der
Tikopia im Pazifischen Ozean, den er bei Lévi-Strauss 583 findet.
Il y a très longtemps, les dieux ne se distinguaient pas des hommes, et les dieux
étaient, sur la terre, les représentants directs des clans. Or il advint qu´un dieu
étranger, Tikarau, rendit visite á Tikopia et les dieux du pays lui préparèrent un
splendide festin ; mais, auparavant, ils organisèrent des épreuves de force et de
vitesse pour se mesurer avec leur hôte. En pleine course, celui-ci feignit de
trébucher, et déclara qu´il s´était blessé. Mais, alors qu´il affectait de boiter, il bondit
vers la nourriture entassée, et l´emporta vers les collines. La famille des dieux se
lança à sa poursuite ; cette fois, Tikarau tomba pour de bon, de sorte que les dieux
claniques purent lui reprendre, l´un une noix de coco, l´autre un taro, le troisième, un
fruit d´arbre à pain et les derniers, une igname... Tikarau réussit à gagner le ciel avec
la masse du festin, mais les quatre aliments végétaux avaient été sauvés pour les
hommes.
Das Schema der Entdifferenzierung von Göttern und Menschen in der
Schwellenphase und der dadurch ausgelösen mimetischen Krise ist ebenso deutlich
ausgeprägt wie das der kollektiven Gewaltanwendung gegen das Opfer Tikarau, das
für die unheilvollen Folgen der Krise, den Raub des ganzen Kultursystems,
verantwortlich gemacht wird. Auch die Kraft- und Schnelligkeitsübungen, die von den
göttlich-menschlichen Akteuren veranstaltet werden, können – durchaus auch in
Anlehnung an die Spiele-Theorie von Caillois - als Beleg für die Konfliktsituation
gedeutet werden, die das mythische Drama aufzulösen hat. Wären diese Übungen
als organisierte Prüfungen vorgesehen, die veranstaltet werden, damit der Prüfling
gestärkt und erneuert aus ihnen hervorgeht, würde es sich um eine ritualisierte, also
582
583
René Girard, Des choses cachées, S. 115
Claude Lévi-Strauss, Le Totémisme aujourd´hui, Paris 1961, S. 36
177
nachgespielte Krise handeln. Im vorliegenden Fall aber laufen die Wettspiele auf die
spontane kollektive Gewalttätigkeit hinaus; es wird Jagd gemacht auf einen Gott, und
diese Jagd endet ganz offensichtlich mit einem Lynchmord. Wenn der künftige Gott
am Anfang zu stolpern und zu hinken vorgibt, stürzt er am Ende tatsächlich. In dem
Versuch, seinen Verfolgern in die Berge zu entkommen, schimmert Tikaraus
Hinrichtung durch, denn in den Gesellschaften, die kein Gerichtssystem kennen, ist
der Sturz über die Klippen eines Berges die bevorzugte Hinrichtungsart. 584 Der
Verurteilte wird auf dem Hang, der zur Klippe führt, losgelassen, und die
Gemeinschaft rückt halbkreisförmig langsam vor und blockiert jede
Ausweichmöglichkeit außer dem Sprung in den Abgrund. In den meisten Fällen wird
wohl die Panik den Unglückseligen dazu treiben, sich in den Abgrund zu stürzen,
ohne dass man Hand an ihn legt. Wenn er dann über die Klippen in die Tiefe stürzt,
ist dieser Sturz zugleich wie ein Abheben zu einer Fahrt in die Lüfte beziehungsweise
in den Himmel. In rituell-religiöser Hinsicht besteht der Vorteil darin, dass im Sinne
des Alle-gegen-einen die gesamte Gemeinschaft an der Hinrichtung beteiligt ist und,
wie bei der Lapidation, niemand das Risiko eines verunreinigenden Kontakts mit dem
Opfer eingeht und, was für die Geschlossenheit der Opfernden von größter
Bedeutung ist, keiner als Einzeltäter in Erscheinung tritt und in Erinnerung behalten
wird.
Wird der rituelle Vorbehalt außer Acht gelassen, schildert der Tikarau-Mythos die
Ermordung eines ersten Opfers, die versöhnend wirkt, weil sie spontaner
Einmütigkeit entspringt. Bezeichnend für das mythische Vorgehen ist, dass der Mord
an einer anthropomorphen Gottheit, obwohl er das Gründungsgeschehen der
Gemeinschaft ist und den Eintritt in ihre kulturelle Existenz bedeutet, recht flüchtig
und uneindeutig erzählt, ja beinahe verschwiegen wird. Weiterhin ist typisch, dass
der Mythos das Opfer von draußen kommen lässt und es nach Erfüllung der
heilbringenden und konstituierenden Funktion wieder nach draußen gehen lässt.
Verständlich wird dies indes, wenn man bedenkt, dass die Erzählung, wenn sie die
Sicht der Mörder übernehmen soll, das individuelle Verhalten, nämlich des Opfers,
als negativ und das kollektive Verhalten, nämlich der Mörder, als positiv bewerten
muss. Folgerichtig wird Tikarau als Dieb gezeichnet, der die Totem-Pflanzen raubt,
die zum festlichen Anlass herbeigeschafft und für das Mahl zubereitet wurden,
während die positive kollektive Reaktion darin besteht, dass Tikarau von der ganzen
Gemeinschaft gejagt und zur Strecke gebracht wird. Entscheidend ist, dass die als
positiv bezeichnete kollektive Handlung immer in der kollektiven Gewaltanwendung
besteht, dass ein Opfer gelyncht wird. Ob der Diebstahl der Totem-Pflanzen wirklich
begangen wurde, ist vielleicht nicht einmal sicher. Jedenfalls ist nicht erkenntlich,
worin der von ihm angerichtete Schaden hätte bestehen können. Seine Verfehlung,
selbst wenn sie mehr als eine bloße Unterstellung wäre, würde niemals eine aktuelle
oder potenzielle Bedrohung für die Gemeinschaft als ganze darstellen. Möglich ist,
dass Tikarau nur des Diebstahls verdächtigt beziehungsweise angeklagt wurde und
dass man nur eine plausible Rechtfertigung für die gewaltsame Vertreibung
brauchte.
584
Vgl. Lk 4, 28 - 29: „Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen
auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre
Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen…“. Auch in Rom war diese Hinrichtungsart bei
bestimmten Verbrechen üblich, die durch Herabstürzen vom Tarpejischen Felsen, dem Westabhang
des Kapitols, gesühnt wurden.
178
Im Unterschied zu Lévi-Strauss, der in den Mythen das individuelle negative und
kollektive positive Verhalten herausarbeitet, um eine topologische und in der Folge
strukturelle Differenzierung zu generieren zwischen dem beseitigten Rest und der
ursprünglichen Totalität, und der insofern der Mythologie die Funktion einer poetischphilosophischen, Zeichen und Bedeutung schaffenden Verstandesoperation zumisst,
besteht Girard darauf, dass der Mythos eine historische Realität bezeugt und zwar
den Gründungslynchmord. Er gesteht Lévi-Strauss zu, dass die von den Mythen
erzählte opfermäßige Beseitigung eines Restes aus dem Ganzen eine valable
Erklärung für das primäre Differenzieren und damit für das Entstehen des
menschlichen Denkens bietet, sieht jedoch die Überlegenheit seiner eigenen
Mythenanalyse darin, dass diese erklären kann, wie und warum es zu dem Prozess
kommt, in dem nicht nur die Differenzierung und das Denken, sondern die
menschliche Kultur mit allen ihren Institutionen und normgebenden Instanzen – in
den frühen Gesellschaften sind die Riten als das soziale Regelwerk zu betrachten entstehen.
S´il y a quelque chose de juste et de profond dans l´ idée lévi-straussienne, c´est
l´ idée que la naissance de la pensée est en jeu dans le mythe. Elle est même plus
directement en jeu que n´ose penser le structuralisme parce qu´il n y a pas de
pensée humaine qui ne naisse du lynchage fondateur. Là où Lévi-Strauss a tort,
cependant, [...] c´est de prendre cette naissance pour une immaculée conception. Il
voit dans le lynchage partout répété une simple métaphore ‘fictive’ d´une opération
intellectuelle seule réelle. En réalité tout est ici concret ; à partir du moment où on
s´en aperçoit, l´imbrication de tous les éléments mythiques devient trop parfaite pour
laisser le moindre doute. 585
Girard tritt der strukturalistischen Mythendeutung entschieden entgegen und ist von
der Erschließungskraft seiner eigenen Lesart als einer – vorläufig - endgültigen
Erklärung überzeugt: C´est ici, je n´hésite pas à l´affirmer, l´explication dernière de la
mythologie… 586 Der Mythos sagt stets etwas anderes als das, wovon er im
Wortsinn spricht. Wenn er erzählt, dass Tikarau von der Klippe aus in den Himmel
aufsteigt und dafür bürgt, dass den Menschen das Wesentliche ihrer Kultur zur
friedlichen Nutzung zurückbleibt, vertritt er den Standpunkt der Gemeinschaft, die
durch ihn zustande kam und die ihn als Heilbringer verehrt. Wenn das Abheben von
der Klippe als Lynchmord gedeutet wird, erscheint in vollem Licht der gewaltsame
Ursprung einer jeden Kultur. Girard gründet seine Sequenz auf der Lesart, dass der
Mythos – jenseits der Annahme von Sigmund Freud, dass er die Komplexe des
Unbewussten sichtbar mache, und jenseits der Annahme von Claude Lévi-Strauss,
dass er die Geburt des Denkens symbolisiere – den Mimetismus des menschlichen
Beziehungen spiegele, welcher zuerst die Strukturen der Gemeinschaft gewalttätig
auflöse und dann den Sündenbock-Mechanismus in Gang setze, der zu ihrer
Wiederzusammensetzung führe. Der Mythos ruft, wie Girard nicht müde wird zu
wiederholen, die Krisen und den Gründungsmord in Erinnerung sowie die
Ereignisfolge, die für die Konstitution und gegebenenfalls erforderliche Rekonstitution
einer jeden Kulturordnung maßgebend ist.
Wie der Mythos an die séquences événementielles 587 der Soziogenese erinnert,
demonstriert er mit der gleichen Direktheit, aus welchem Anlass es überhaupt zu
585
René Girard, Des choses cachées, S. 129
ebenda
587
ebenda
586
179
dem dramatischen Start kommt. Stets bemüht, seine kulturtheoretischen
Überlegungen mit naturgesetzlichen Analogien abzusichern, vergleicht Girard den
sakrifiziellen Gewaltausgleich innerhalb der menschlichen Gemeinschaften mit dem
übergeordneten ökologischen Gleichgewicht, das in der Natur angestrebt wird, wenn
ein Raubtier aus der verfolgten Herde dasjenige Tier als Beute erlegt, welches sich
von der Gleichförmigkeit der Herde abhebt 588 und macht die typisch mythischen
Gebrechlichkeiten aus, die ein Individuum als Opfer prädestinieren. Wie in einer
menschlichen Gruppe sich nicht jeder zum Prügelknaben eignet und zum souffredouleur wird – in den Gruppen von Kindern wird üblicherweise das
zuletztgekommene, das fremde oder das durch ein körperliches Merkmal auffällige
zur Zielscheibe von Verfolgung -, werden auch den mythischen Helden gewisse,
wiederkehrende physische Merkmale zugeschrieben. Häufig ist es der hinkende
Gang wie bei Tikarau, Ödipus, 589 Jakob 590 in der Genesis, Hephaistos, hin und
wieder der Buckel, das Stottern wie bei Moses, 591 was die Aufmerksamkeit aller
anderen auf sich zieht, die, indem sie einander nach dem Werfen des ersten Steins
nachahmen, zur geschlossenen und schließlich gewaltbereiten Gruppe werden, die,
wenn das Opfer seine Wirkung getan hat, sich in eine Anbetungsgemeinschaft
verwandelt.
Wie
diese
Anbetungsgemeinschaft
den
gewaltsamen
Grund
ihres
Zusammenschlusses und die mit etlichen Risiken begleitete Sequenz ihres
Zusammenkommens ignoriert, unterschlägt und kaschiert und ihren Status als auf
natürliche oder vertraglich-legale Weise gegeben und nicht als geworden begreift,
unterdrückt auch jede kulturelle Institution ihren gewaltsamen Ursprung. Da jede
kultuelle Institution sich als Absage an den Naturzustand versteht, folglich als ein
Mittel der Gewalteindämmung, vor allem der reziproken Gewalt und der Privatrache
fungiert, ist es einleuchtend, dass sie sich nicht zu ihrem gewalttätigen Ursprung
bekennt. So wird Tikaraus Hinrichtung zur Himmelfahrt umgeschrieben, er wird
verehrt als Stifter der Gemeinschaft, als Kulturbringer, als Garant für die Existenz des
Stammes. Ein weiteres Mal kann und braucht er nicht umgebracht werden; es
genügt, wenn bei einer drohenden oder einer abzuwendenden Krise in Erinnerung an
sein heilsames Wirken ein Stellvertreter über die Klippen gestoßen wird. Dann ist es
auch nicht mehr erforderlich, dass sich alle Mitglieder des Stammes an der tödlichen
Hetze beteiligen. So wie das erste Opfer durch ein Ersatzopfer vertreten werden
kann, kann sich auch die Gemeinschaft durch opferkundige und ritenfeste Priester
vertreten lassen, welche in der Folge das Verfahren kanonisieren und nach und nach
die Gewaltspuren zeremoniell bis zur Unkenntlichkeit überarbeiten.
Das Projekt der Entmythifizierung besteht für Girard weder in der archetypischen
Reduktion auf das menschliche Motiv- oder Komplexrepertoire, noch im Nachvollzug
der durch diese Erzählungen gesteuerten strukturalistischen Differenzierung; ihm
geht es um das Aufdecken der kaschierten Gewaltspuren, um den Beleg der
588
René Girard, Des choses cachées, S. 133 : « C´est toujours la bête qui tranche sur l´uniformité
générale qui est choisie, et cette différence visuelle, c´est toujours l´extrême jeunesse qui la cause, ou
au contraire la vieillesse, ou une infirmité quelconque, qui empêche l´individu choisi de se mouvoir
exactement comme les autres, de se comporter en toutes choses exactement comme les autres ».
589
Der Name bedeutet Schwellfuß
590
Gen 32, 26: „Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er ihn aufs
Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang“.
591
Ex 4, 10: „Doch Mose sagte zum Herrn: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder
gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge
sind nämlich schwerfällig“.
180
Parteinahme der Mythen gegen die Opfer und für die Gewalttäter und damit um den
Nachweis, dass die Mythen nicht nur die gewaltsame Entstehung der Kultur
erzählen, vielmehr an der Fortschreibung der Gewalt interessiert sind.
Als ersten Schritt zur Begründung einer alternativen Erzählweise und zur Markierung
einer mythenkritischen Erzähltradition führt er den Begriff des Verfolgungstextes 592
ein, dessen Sequenz weitgehend parallel zum Mythos verläuft, sich aber in der
Konklusion radikal von ihm absetzt. Mit der Kategorie des Verfolgungstextes besorgt
sich Girard gewissermaßen einen Kronzeugen, der alle Informationen über das
mythologische Verfahren besitzt, gleichzeitig aber in der Lage ist, die Mauer des
Schweigens, die den Mythos umgibt, zu durchbrechen. Zum Denunzianten
gegenüber dem Mythos wird der Verfolgungstext dadurch, dass er bei aller
Komplizenschaft im Auf- und Erzählen der Ereignisabfolge die historische Realität
des unschuldigen Opfers nicht divinisierend überformt, sondern offen ausspricht und
dadurch die exklusive Perspektive der Verfolger aufgibt. Dass auch der Mythos von
einem historischen Ereignis, nämlich dem gewaltsam-heiligen Gründungsereignis
des jeweiligen erzählenden Kollektivs spricht, ist für Girard unzweifelhaft. Während
aber der Mythos im vermeintlich wohlverstandenen, weil auf das Funktionieren der
Sündenbockmechanik angewiesenen kulturellen Interesse das Bloßstellen der
Gewalt scheut, deckt der Verfolgungstext die Rolle des annähernd zufällig und durch
virtuelle Schuldzuweisungen designierten Opfers auf und erlaubt einen gegenüber
der mythischen Schließung immunen, quasi berichterstattenden und von jedem
Rechtfertigungsdruck weitgehend entlasteten Blick auf das Geschehen. Der
Verfolgungstext eröffnet den historisch-kritischen Zugang zum Mythos; er verrät,
indem er sie scheinbar übernimmt, am Ende aber hinter sich lässt, die Arbeitsweise
des Mythos. Dies ist seine entmythologisierende Leistung. Zu dieser Kategeorie von
Texten zählt Girard Berichte über antisemitische Ausschreitungen vom Mittelalter bis
zur Gegenwart sowie über Pogrome aller Art und allerorten, Gerichtsprotokolle der
spanischen Inquisition und der Hexenprozesse und literarische Dokumente zur
Verfolgung von Minderheiten aus rassischen beziehungsweise ethnischen Gründen
etwa in den Romanen von William Faulkner.
In der 1982 veröffentlichten Studie Le bouc émissaire 593 expliziert Girard die
Typologie des Verfolgungstextes anhand einer Erzählung in Versform aus dem 14.
Jahrhundert, Le Jugement du Roy de Navarre, 594 in welcher der Verfasser
Guillaume de Machaut seinem im höfischen Stil verfassten Gedicht einen Bericht
vorausschickt, der sich mit der katastrophalen schwarzen Pest befasst, die um 1350
den Norden Frankreichs verwüstete. Wie die mittelalterlichen Gemeinschaften auf die
existenzielle Bedrohung durch die Pest reagieren, ist hinlänglich aus der Geschichte
des europäischen Antisemitismus bekannt. So auch bei Guillaume de Machaut:
Après ce, vint une merdaille
Fausse, traître et renoïe:
Ce fu Judée la honnie,
La mauvaise, la desloyal,
Qui bien het et aimme tout mal,
Qui tand donna d´or et d´argent
592
René Girard, Des choses cachées, S. 143 : « Il se peut qu´il y ait mille lectures possibles d´un texte
de persécution. [...] La lecture qui affirme la réalité de la persécution est seule valable à nos yeux ».
593
René Girard, Le bouc émissaire, Paris 1982
594
Œuvres de Guillaume de Machaut, ed. Ernest Hopffner, Paris 1904, S. 144 - 145
181
Et promist a crestienne gent,
Que puis, rivieres et fonteinnes
Qui estoient cleres et sereinnes
En plusieurs lieus empoisonnerent,
Dont plusieurs leurs vies finirent ;
Car trestuit cil qui en usoient
Assez soudeinnement moroient,
Dont, certes, par dis fois cent mille
En moururent, qu´a champ, qu´a ville.
Ensois que fust aperceuë
Ceste mortel deconvenue
Mais cils qui haut siet et louing voit,
Qui tout gouverne et tout pourvoit,
Ceste traïson plus celer
Ne volt, enis la fist reveler
Et si generalement savoir
Qu´ils perdirent corps et avoir.
Car tuit Juif furent destruit,
Li uns pendus, li autres cuit,
L´autre noié, l´autre copée
La teste de hache ou d´espee.
Et maint crestien ensement
En moururent honteusement.
[...]
Ne fusicien n´estoit, ne mire
Qui bien sceüst la cause dire
Dont ce venoit, ne que c´estoit
(Ne nuls remede n´y metoit),
Fors tant que c´estoit maladie
Qu´on appelloit epydemie.
Der Verfolgungstext verfährt durchaus in einer Art, die sich von der mythischen
Sequenz nicht unterscheidet. Die Gemeinschaft ist in einer Krise. Die Pest, 595 im
wörtlichen, klinischen wie im übertragenen, sozial entdifferenzierenden Sinn ist
verheerend. Die Institutionen und Hierarchien brechen zusammen, jeder infiziert
potenziell jeden. Die Pest pflanzt sich fort wie die Gewalt: Wer ihr unterliegt, infiziert
sich ebenso wie derjenige, der mit Gegengewalt antwortet. Die Lage ist aussichtslos.
Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Verzweiflung und in der höchsten Gefahr naht
die Rettung. In dem Moment, wo das soziale Delirium seinen Höhepunkt erreicht,
schlägt plötzlich die bösartige Reziprozität in die gutartige Reziprozität um. Im
Unterschied zu der mythischen Situation, wo die Auswahl des Opfers oft auf den
minimalen Unterschied gegenüber den Gruppenmitgliedern oder auf das entweder
vorhandene, oder auch nur zugeschriebene Gebrechen zurückgeführt wird, wird hier,
dem mittelalterlichen religiösen Kontext entsprechend, die Opferwahl direkt durch die
himmlische Gerechtigkeit vorgenommen. Diese schafft Ordnung, indem sie die
vermeintlich schädlichen Elemente an die erregte Volksmenge verrät, von der sie
umgebracht werden. So findet sich ein Sündenbock, durch dessen Intervention die
Gewalt aus der Gemeinschaft evakuiert wird. Die Juden, man erinnert sich an den
595
Vgl. René Girard, La peste dans la littérature et le mythe, in : ders. To Double Busines Bound
(1978), London 1988, S. 136 - 153
182
Prozess Jesu und den tödlichen Ausgang, haben sich am wahren Gott schuldig
gemacht. Da sie außerdem für so widernatürliche Verbrechen wie Kindesmord,
Inzest, rituelle Profanation, Brunnenvergiftung durch eigene Hand oder mittels
gedungener Helfershelfer in Frage kommen, steht für Guillaume de Machaut als
Vertreter der öffentlichen Meinung fest, dass sie für die Pest verantwortlich sind.
Folglich muss in aller Härte gegen die Juden vorgegangen und die Gemeinschaft von
dieser Verunreinigung gereinigt werden. Guillaume de Machaut ist bei der Zurüstung
des Sündenbocks wahrlich nicht besonders zurückhaltend. Er wiederholt alle
denkbaren Vorurteile, die für die Erklärung des Pestausbruchs dienlich sein können
und die doch offensichtlich, wie sich später herausstellen sollte, damit, nämlich mit
dem pathologischen Phänomen der epydemie, in keiner Weise in Verbindung
gebracht werden können.
Als aber trotz der an den Juden verübten Massaker die Pest nicht abflaut und die
Menschen weiterhin massenweise sterben, bekennt sich Guillaume de Machaut,
ohne es auszusprechen, zu der Haltlosigkeit der in der mimetischen Krise
vorgebrachten Vorwürfe. Dadurch werden aus den zuvor nach der mythischen
Opferlogik Umgebrachten unschuldig Verfolgte. Die quasi wissenschaftliche
Erklärung der epydemie ist unter dem erzähltechnischen Aspekt ein Aufgeben des
Standpunkts der sich um die Rettung des Gemeinwesens verdient machenden
Verfolger und Mörder. Zwar ergreift der Verfasser nicht offen Partei für die
unschuldigen Opfer, sein Text wird aber lesbar als ein Verfolgungstext, der die
Unwirksamkeit, ja den Placebo-Charakter der kollektiven Gewaltanwendung
bloßstellt.
Ein weitergehender, gravierender Unterschied zur mythischen Erzählung besteht
jedoch darin, dass das versöhnende Opfer nicht sakralisiert wird. Ereignet sich im
Mythos das sacrificium in der zweifachen Wortbedeutung als Opferung und als
Heilgmachung, als eine opferlogische Verknüpfung von kollektivem Mord und
Inthronisierung des Idols, einhergehend mit der Hierophanie, die darin erfahrbar wird,
dass aus dem Chaos der Krise die Einmütigkeit der Lynchmörder hervorgeht und aus
dieser wiederum die Einmütigkeit der Adoranten, so endet der Verfolgungstext mit
der enttäuschenden Feststellung, dass das eingeleitete Verfahren zur
Krisenbewältigung versagt hat. Obwohl Guillaume de Machaut möglicherweise daran
glaubt, dass die Juden die Brunnen vergiftet haben, und obwohl er ihnen die
Wiederherstellung der sozialen Kohäsion zuschreibt, präsentiert er sie am Ende nicht
als das heilbringende Opfer, dem Dank und Verehrung schuldig wäre. Er versucht
es, aber es gelingt ihm nicht wirklich, seine Leser von der Schuld der Juden am
Ausbruch der Pest zu überzeugen. Und so bleibt es dabei, dass die Juden
umgebracht werden, weil sie theologisch nicht integrierbar sind und sie sich wegen
dieses mythischen Gebrechens in besonderer Weise eignen für die Übernahme der
Außenseiter- und Opferrolle. Im Unterschied aber zur mythischen Sequenz endet die
Verfolgungssequenz – die mittelalterliche Hexenverfolgung kann dies anschaulich
belegen - im Hass und in der Vernichtung; sie ist nicht der Ort der Hierophanie und
der Hervorbringung des Sakralen. 596 Der Verfolgungstext erzählt nicht die
wunderbare Metamorphose vom fast zufällig bestimmten Opfer zum göttlichen
Wesen und seiner Heilswirkung für die Menschen; er produziert jedoch stumme
596
René Girard, Le bouc émissaire, S. 58 : « Les mythes exsudent le sacré et ils paraissent
incomparables aux textes qui ne l´exsudent pas ».
183
Zeugen, 597 welche an den seit Anbeginn der Zeit praktizierten Opfermechanismus
erinnern, auf dem die Hominisation und die Soziogenese beruht und der doch
zugleich unter den Bedingungen der Moderne einen für die Menschheit tödlichen
Ausgang nehmen kann.
Indem der Verfolgungstext sich wohl des Instrumentariums der mythischen Sequenz
bedient, jedoch die mythische Konklusion verfehlt, dekonstruiert er auf die
wirksamste Art die Gültigkeit dieser Erzählweise und stellt die Frage nach einer
alternativen Ereignisfolge und ihrer narrativen Entsprechung. Dass der
Verfolgungstext in der Abkehr vom violence-et-sacré-Verfahren die Sakralisierung
des Opfers vermeidet, ist indes nicht allein dadurch erklärbar, dass er von wahren
Begebenheiten, der Judenverfolgung, den Hexen- und Inquisitionsprozessen, spricht.
Den Mythen gehen nach Girard Überzeugung ebenso reale, wenn auch weit
zurückliegende, Ereignisse, die im kollektiven Mord gipfeln, voraus, und dennoch
beharren sie auf der Schuld des Opfers und auf der positiven Wirkung der
gemeinschaftlichen Aktion. Dass es solche zunächst paramythische und zunehmend
antimythischeTexte gibt, die in der mythischen Literatur selbst nicht zu finden sind,
hängt aus der Sicht von Girard mit einem Prozess der Entmythologisierung
zusammen, der sich auf die griechische und jüdische Welt lokalisieren lässt, vor
allem aber das biblische Textcorpus beherrscht. 598
Dass Guillaume de Machaut in der Lage ist, die Jagd auf die Juden entgegen der
Suggestion einer himmlichen Gerechtigkeit zu entsakralisieren und sie als sinnloses
Verfolgungsphänomen zu behandeln, macht deutlich, dass er sich einer Leserschaft
gegenübersieht, die in der Lage ist, die Kette von Geschehnissen, die in frühen
Gesellschaften nur in mythischer Form verarbeitet werden konnten, als willkürliche
Gewalttätigkleit zu durchschauen. Für Girards Literaturbetrachtung sind die
Verfolgungstexte von ganz besonderer Bedeutung, weil in ihnen die beiden
Erzähltypen aufeinandertreffen, die in der Folge und in literarhistorischer Hinsicht
getrennte Wege gehen werden. In diesen Texten verbinden sich und beginnen
gleichzeitig sich von einander zu lösen die Aspekte der himmlischen Gewaltheiligung
und die der desillusionierten Bloßstellung der kollektiven Gewalt. Damit trifft Girard
eine Unterscheidung, die jene dupliziert, die er am Beginn seines literaturkritischen
Vorgehens mit der Gegenüberstellung der romantischen Lüge und der romanesken
Wahrheit vorgenommen hat und die es ihm ermöglichte, alle Erzählungen in solche
einzuteilen, die entweder das mimetische Verlangen abbilden und die Individuen der
mimetischen Faszination unterwerfen oder aber dieses Verlangen durchschauen und
die Protagonisten aus dieser Faszination befreien. In Verfolgungstexten können die
beiden konkurrierenden Erzähltypen koexistieren, kann etwa ein Lynchmord, aus der
Sicht der Verfolger, als reinigendes Ritual oder, aus der Sicht des Opfers
beziehungsweise eines externen Beobachters, als Massaker erzählt werden.
In den Mythen, daran lässt Girard keine Zweifel, gibt es keine Alternative zur
Sehweise des durch das Hindurchgehen durch die Krise stabilisierten Kollektivs, wie
es auch in den Riten keine Alternative gibt zur Handlungsweise des Priesters.
597
René Girard, Le bouc émissaire, S. 292 : « Ce que disent les martyrs n´a pas beaucoup
d´importance parce qu´ils sont les témoins, non d´une croyance déterminée, comme on se l´imagine,
mais de la terrible propension des hommes en groupe à verser le sang innocent, pour refaire l´unité
de leur communauté ».
598
René Girard, Des choses cachées, S. 147 : « Nous ne pouvons pas donner un seul exemple de
texte de persécution qui n´appartienne à notre univers ou aux univers dont nous sommes directement
issus, le grec et le judaïque. [...] Nous verrons bientôt qu´il y a des textes plus anciens encore et plus
décisifs qui ne sont pas grecs ».
184
Villém Flusser kommentiert den Girardschen Bouc émissaire mit dem Essay Vom
Fremden, den er mit dem Motto ODI ET AMO versieht, einem Wort aus dem
Catullschen Carmen 85 599 , welches prägnant auf die Ambiguität des Heiligen
hinweist, das im Sündenbock hervorscheint. Der Sündenbock, insofern er als
Schuldiger für die Krise und das Chaos gilt, ist teuflisch, und als Gründer der neuen
Ordnung, des Kosmos, ist er göttlich. Wie bereits der Akt der personalen
Selbstbestimmung 600 auf der Verstoßung des Fremden gegründet ist, ist auch die
soziale Re-Differenzierung der Chaosbewältigung ein ‚kriminaler’ Vorgang, der vom
mythischen Denken gelenkt wird. Die ursprüngliche Situation ist nicht die
paradiesische, sondern die chaotische. In solchen Situationen kommt – wie beim
ersten Mal - Rettung vom Fremden, vom Unheimlichen, vom Ungeheuer. Bei der
Suche danach kommt jede Anomalie gelegen: Behinderung, Haarfarbe, fremdes
Aussehen, fremde Sprache, fremde Religion. Ist der Unterschied einmal gesetzt, ist
der erste Schritt zur Identifikation getan. Der Sündenbock, der von außen kommt, ist
das Ab- und Enorme, das im Inneren Herrschende ist das Normale.
Obwohl Guillaume de Machaut mit der epydemie über eine rationale Ursache für den
Ausbruch der Pest verfügt, distanziert seine Erzählung sich nicht von der Zuweisung
einer Schuld und von der Nominierung von Schuldigen, auf die sich die Masse
stürzen kann, um durch den gemeinschaftsstiftenden Massenmord die Krise zu
überwinden. Obwohl er es hätte besser wissen und von der Unschuld der Juden
hätte sprechen können, lässt der Erzähler dem Mythischen seinen Lauf, denkt er
letzten Endes nicht kausal, sondern mythisch. Wenn auch Flussers Urteil an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Machaut, die Thebaner, die Mexikaner
sind Kriminelle, die das Bewusstsein von ihrem Verbrechen vor sich selbst und den
anderen vertuschen. Das mythische Bewusstsein ist ein kriminelles Bewusstsein 601 .
, so ist doch die Verantwortung eines Machaut – und aller späteren historischen
Fremdenmörder
für
die
verbrecherischen,
viktimären
sozialen
Stabilisierungsversuche ungleich größer als die der Thebaner und Azteken, welche
noch nicht das Bewusstsein von dem unschuldig hingemordeten Sündenbock haben
konnten. Dieses Bewusstsein, darin übernimmt Flusser Girards kultur- und
erzählgeschichtliche Diagnose, konnte sich erst durch das Christentum formieren,
welches in den Evangelien das seit der früheren biblischen Literatur sich entfaltende
antimythische Modell zur vollen Lesbarkeit gebracht hat. Würden die Mythen von der
Unschuld des Opfers wirklich nichts wissen, würden sie diese nicht verdrängen. Da
sie die Stimme des unschuldigen Opfers unterdrücken, geben sie die Kenntnis von
dieser Unschuld indirekt zu. Wie die Riten, in denen die Mythen inszeniert werden,
sich einer ästhetischen Zensur unterwerfen, durchlaufen die Mythen eine poetische
Zensur, in der die Sakralisierung des Fremden im Interesse der jeweils neu
stabilisierten sozialen Ordnung begangen wird. Die Evangelien hingegen sind die
Offenbarung der verborgenen Dinge, das heißt dessen, was die Mythen verdecken
und wider besseres Wissen verschweigen. Und doch dringt die christliche Botschaft
nur zögerlich ins Bewusstsein. Die Menschen handeln alle immer noch mythisch: sie
599
Das geflügelte Wort von der Hass-Liebe lautet: Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris.
Nescio, sed fieri sentio et excrucior.
600
Villém Flusser, Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, hg. von Stefan Bollmann, Mannheim 1995, S.
101: „Denn sich identifizieren ist, sich von einem anderen unterscheiden, den anderen diskriminieren.
Die Worte ‚Krise’, ‚Kritik’. ‚Kriterium’ und ‚crimen’ stammen alle von einer Wurzel, welche ‚Unterschied
machen’ bedeutet. Daher ist Identität Folge einer Krise, einer Kritik, eines ‚Verbrechens’ im genauen
Sinn dieses Wortes. ‚Wer bin ich?’ ist eine kriminale Frage“.
601
Villém Flusser, Jude sein, S. 103
185
schieben die Schuld auf den anderen, um sich selbst behaupten zu können. Aber
das Verhalten der Menschen und der Gesellschaften ist durch die in den
Verfolgungstexten
aufgekommene
Unschuldsvermutung
gegenüber
dem
Sündenbock kritisierbar geworden: Machaut (und Hitler) sind dank des Christentums
fähig, unmythisch zu denken, und doch handeln sie mythisch 602 .
Die Frage, wie es zu Verfolgungstexten und zur persekutiven Lesart der Mythen
kommen konnte, wird von Girard nur andeutungsweise beantwortet, beispielsweise
dadurch, dass anders als in frühen Gemeinschaften, die aufgrund ihres geringen
Umfangs mit dem singulären Opfer kurzen Prozess machen konnten und mussten,
die größeren Verbände – mit dem Anwachsen des Kollektivs nimmt auch der Vorrat
an potenziellen Opfern zu - sich mit immerhin respektablen Minoritäten
auseinandersetzen mussten und konnten, um ihre Stabilität zu sichern und daher die
Stimmen der Verfolgten nicht mehr spur- und geräuschlos zum Verstummen zu
bringen waren. 603 Der historische Befund wird jedoch nicht weiter geprüft. Wie er bei
der Entfaltung seiner Erzähltheorie die Grenzen der Textgattungen unbefangen
überschreitet und etwa Augustinus und Dostojewski unter ein und derselben
Tradition verbucht, holt Girard in seinem Unternehmen der Entmythifizierung weit aus
und postuliert in einer allumfassenden Geste die Identität der spezifischen Botschaft
der westlichen Kultur mit dem Projekt der Entmythologisierung, 604 deren beider Kern
darin besteht, dass der Opfermechanismus zunehmend durchschaut und auch in
seinen historischen, gesellschaftlichen und politischen Äußerungen nach und nach
der Glaubwürdigkeit, die er in früheren Gesellschaften hatte, beraubt wird. In einer
geschichtsphilosophischen, ja geradezu geschichtstheologischen Vision, deren
Erkenntnisgewinn für ihn so evident ist, dass ihre Position weder ableitbar noch
hintergehbar erscheint, sieht er seit Anbeginn der Welt eine Dynamik der
Entsakralisierung am Werk, die sich in den bisherigen Kulturen nicht gegen die
sakralisierenden Tendenzen durchsetzen konnte, deren Verwirklichung aber gerade
unter den Bedingungen der Moderne unausweichlich und auch unaufhaltsam ist.
Gerade weil die Moderne zur Kenntnis nehmen muss, dass mit den vorhandenen
Vernichtungskapazitäten die Fortsetzung der sakrifiziellen Konfliktlösungen in den
planetarischen Suizid münden kann, wird sich, mit wissenschaftlicher Notwendigkeit,
wie Girard meint, die Erkenntnis aufdrängen, dass kollektive Kohäsion und kulturelle
Identität nicht mehr auf Kosten eines ausgeschlossenen, vertriebenen oder
umgebrachten Dritten zustande kommen.
L´humanité entière se trouve déjà confrontée à un dilemme inéluctable. Il faut que les
hommes se réconcilient à jamais sans intermédiaires sacrificiels ou qu´ils se
résignent à l´extinction prochaine de l´humanité. 605.
602
Villém Flusser, Jude sein, S. 104
René Girard, Des choses cachées, S. 146 : « La plupart des communautés productrices de
mythologie sont trop petites et trop homogènes pour abriter les minorités qui fournissent aux sociétés
plus vastes leurs réservoirs de victimes collectives ». Dazu auch ders., La voix méconnue du réel, S.
59 : « La plupart des sociétés productrices de mythes sont trop petites et trop homogènes pour
posséder les minorités religieuses ou ethniques qui servent d´ordinaire de viviers aux grandes
civilisations hétérogènes en quêtes de boucs émissaires ».
604
ebenda : « La persécution démystifiée, monopole du monde occidental et moderne ».
605
René Girard, Des choses cachées, S. 160
603
186
9. Die biblische Dynamik der Entsakralisierung
Wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen das Aufkommen und die Auflösung
des kritischen Zustands einer sequenziellen Regelung unterworfen sind, in der die
Positionen von Anfang, Umschlag und Ende definierbar und insofern erzählerisch auf
die Reihe zu bringen sind, verläuft nach Girards Geschichtsverständnis auch das
Weltgeschehen nicht etwa katastrophisch oder gar in Reaktion auf einen
ungeordneten Rhythmus von Meteoriteneinschlägen. Es wird vielmehr gesteuert von
einem evolutiven Prinzip, einer séquence événementielle, 606 deren erste Phase in
einer Desakralisation der Natur und beginnenden Aufklärung durch die Mythen, die
Kulturen und die Naturwissenschaften besteht und in deren zweiter Phase, der
jetzigen, es darum geht, den Menschen in einer Art science de l´homme über sich
selber aufzuklären. 607 Wenn also Geschichte einem Prozess gleicht und das
Fortschreiten in Etappen, Stadien und zu überschreitenden Schwellen nicht primär
die politischen Veränderungen und die technischen Realisierungen bezeichnet,
sondern den Gang der Hominisation meint, wird gewissermaßen ein dramatischer
Bogen aufgespannt, der ein Wissen um den Anfang und das Ende behauptet und
teleologische Kompetenz beansprucht. 608 Daher muss auch die Diagnose der
Gegenwart dem Verlaufs- und Übergangscharakter entsprechen und, wie es eine
lineare und somit eschatologisch orientierte Zeit- und Geschichtsauffassung
erfordert, den dramatischen Moment eines einmaligen Hier und Jetzt betonen:
Je crois que nous vivons une mutation proprement inouïe, la plus radicale qu´ait
jamais subie l´humanité. 609
Geschichte ist für Girard eine Annäherung an die Bestimmung des Menschen, une
avance toujours plus accélérée […] vers la vérité de toute culture, 610 und dieses
Fortschreiten ist identisch mit dem Prozess der Entsakralisierung und der
Entmythologisierung. Die größte Überraschung besteht jedoch darin, dass die immer
schon vorhandene und in der Geschichte der Menschheit nie ernst genommene, ja in
der Regel ausgestoßene und verfolgte Instanz der Entsakralisierung und
Entmythologisierung dort zu finden ist, wo niemand sie vermutet, nämlich in der
Religion, genauer: in der von den Autoren der jüdischen und christlichen Bibel
tradierten Gottes- und Menschenlehre. Während der Mythos in allen seinen
Metamorphosen und Wirkungsweisen daran festhät, dass auftretende Krisen
sakrifiziell, also durch Einsatz der victime émissaire, gemeistert werden, sind allein
die Verfolgungstexte in der Lage, die Unschuld der Opfer zu beteuern. Und das
Corpus dieser Texte, mit deren Hilfe der Mythos entziffert und entzaubert und der in
der jetzigen geschichtlichen Situation erfoderliche nächste Schritt der
Entsakralisierung reflektiert werden kann, ist die Bibel, für Girard l´Ecriture judéochrétienne.
606
René Girard, Des choses cachées, S. 148
René Girard, Des choses cachées, S. 160 : « Mais la désacralisation de la nature n´est qu´une
première étape ; le franchissement du seuil scientifique par toutes les disciplines qui vont réllement
mériter, désormais, l´appellation de science de l´homme, constitue quelque chose de beaucoup plus
difficile et conduit à un stade plus avancé du même processus de désacralisation ».
608
Michel Serres tituliert Girard mit Darwin des sciences humaines und Jean-Marie Domenach mit
Hegel du christianisme, in: Le Nouvel Observateur vom 17. April 1978 und L´Expansion vom selben
Tag.
609
René Girard, Des choses cachées, S. 158
610
René Girard, Des choses cachées, S. 159
607
187
In der Frage, woher denn die Sequenz sowohl im zwischenmenschlichen Bereich als
auch auf der planetarischen Ebene ihre Antriebskraft bezieht, bleibt Girard seinem in
der conversion romanesque formulierten Muster treu. In dem romanhaft verdichteten
Mikrokosmos
wie
in
der Weltgesellschaft
brechen
die
durch
die
Nachahmungsbegierde angefachten und durch die Überwältigungsbegierde und
Unterlegenheitsängste teleskopierten mimetischen Rivalitäten aus, die, wenn der
kritische Punkt des Alles-oder-nichts erreicht ist, mit quasi physikalischer
Notwendigkeit in eine neue Einmütigkeit übergehen, aus welcher, wie Girard immer
wieder betont, sich eine neue Ordnung organisiert.
Je situe le principe organisateur, scandaleusement, dans les rivalités mimétiques et
leur résolution paroxystique que j´attribue à l´unanimité d´un mécanisme victimaire
dont l´étude de la foule montre le caractère automatique et, par définition, jamais
conscient de lui-même, mais réellement efficace. 611
Da nun aber in der gegebenen weltgeschichtlichen Situation sich die Fortsetzung der
sakrifiziellen Lösungen auf dem Rücken von victimes émissaires verbietet und
gerade die historischen Großexperimente mit der Verfolgung von ganzen Klassen
und Rassen die Ausweglosigkeit solcher Lösungen mitsamt der Unkalkulierbarkeit
der damit verbundenen Risiken auch für die Täter demonstriert haben, muss die
résolution paroxystique, ohne dass der Mechanismus außer Kraft gesetzt würde, in
eine andere Richtung als die holocaustförmige oder die mit dem Klippensturz
verknüpfte weisen. Es genügt demnach nicht, die Bemühung um die Identifizierung
eines stellvertretenden Opfers, das zum Nutzen und Segen der Gemeinschaft die
Gewalt absorbiert, vorübergehend einzustellen. Entscheidend ist, dass der
Opfermechanismus aufgedeckt wird, vor allem dass die Unschuld des Opfers
proklamiert und dadurch die Opfergewalt als solche entheiligt und entzaubert wird.
Der Prozess der Enthüllung des Opfermechanismus steuert notwendigerweise
zunächst auf den Paroxysmus zu, in dem immer wieder, in kürzeren Abständen und
auch bei nichtigeren Anlässen zu sakrifiziellen Lösungen gegriffen wird, und, da
diese sich immer weniger als hilfreich erweisen und die Dosis an Opfergewalt erhöht
wird, sich schließlich die Illusion einer solchen Ordnungsstiftung erschöpft und die
Menschen einander nur noch als feindliche Brüder und ohne viktimäre Protektion
gegenüberstehen.
Mit der gleichen Unbefangenheit, mit der er die Gattungsgrenzen von Mythen, Riten
und ethnologischen Dokumenten ignoriert, 612 vergleicht Girard die aus den
mythischen Erzählungen herausgearbeiteten Sequenzen mit denen der Bibel, isoliert
er die jeweiligen Konklusionen und transferiert die von ihm als Beweisstücke der
antimythischen Auflösung angerufenen romanesken Erzählungen in die Tradition der
Evangelien. Indem er seinen mimetischen Konflikt als Leseraster für die Bibel
anwendet, formuliert er die Erkenntnis, dass die ganze jüdisch-christliche Tradition in
der Tat als eine durchgehende Offenbarung zu verstehen ist, und dass darin das
Rätsel über den Menschen als Gewaltwesen enthüllt wird und dass es diese
unaufhaltsame, unabgeschlossene, jedoch sich gegenwärtig abzeichnende
611
François Lagarde, René Girard ou la christianisation des sciences humaines, New York 1994, S.
194
612
Das Ignorieren der Gattungsgrenzen kann ebenso als unvermeidlich betrachtet werden, da dort
jenseits der Deskription und der Spekulation keine einheitlichen Kriterien und Leitunterscheidungen zu
Verfügung stehen. Für die zahlreichen Landkarten hat sich keine einheitliche Legende herausgebildet.
188
Enthüllung ist, une révélation en cours, die in einem immense travail historique 613
den Gang der westlichen Kultur und damit der Moderne beherrscht. Er plädiert für
einen kühnen lecture-Wechsel und schlägt vor, die biblischen Erzählungen nicht als
ethnologische, mythologische oder historische Befunde zu lesen, sondern umgekehrt
die ethnologischen, mythologischen und geschichtlichen, in aller Regel
geschichtsoptimistisch gedeuteten Dokumente und Fakten nach biblischen Kriterien
zu interpretieren, das heißt sie nach dem biblischen Offenbarungsgehalt und ihrer
Nähe zur jüdisch-christlichen Reich-Gottes-Lehre und deren Heilsökonomie zu
befragen. Biblische Aufklärung wäre demnach und in Umkehrung des
philosophiegeschichtlichen Aufklärungsbegriffs nicht mehr darin zu sehen, dass
durch denkerische Anstrengung das Vernunftwidrige der biblischen Texte belegt
würde, vielmehr dass sich die Literaturen einer biblischen relecture unterziehen
müssten, um Licht in ihre verborgenen und unterdrückten Motive zu bringen.
Während die ethnologisch-mythologische Betrachtung davon ausgeht, dass der
weltgeschichtliche Elan der biblischen Offenbarung, la lancée judéo-chrétienne, 614
lediglich eine Variante des Mechanismus darstellt, welcher in dem kollektiven
Gewalttransfer gegen ein zuerst geächtetes, dann sakralisiertes Opfer das Religiöse
hervorbringt und die aufklärerische Perspektive die jüdisch-christliche Religion über
ihren mythischen Ursprung aufzuklären und ihren singulären Charakter zu
widerlegen vermeint, entdeckt Girard den Ursprung und den Fortgang dieses
nunmehr zweieinhalbtausend Jahre währenden Prozesses der Entmythologisierung
in eben dieser biblischen Tradition, einer Entmythologisierung, die, obwohl sie in den
Passionsberichten der Evangelien am klarsten zum Ausdruck gebracht wird, ständig
von Rückfall und Verfinsterung bedroht ist und dennoch – nach Girards
paroxystischer Deutung der Weltverhältnisse am Beginn des 21. Jahrhunderts – sich
wider allen Anschein und wider jedes Erwarten durchsetzen wird.
Ce n´est pas seulement une analogie supplémentaire que nous apporte cette
découverte (du mécanisme producteur du religieux, d. Verf.), c´est la source de
toutes les analogies, située derrière les mythes, cachée dans leur infrastructure et
finalement révélée, parfaitement explicite, dans le récit de la Passion. 615
Nicht erst in den Perikopen der Evangelien, sondern bereits seit den frühen
Erzählungen des so gegannten Ersten Testaments sieht Girard einen vom
mythischen Verfahren abweichenden Sozialisations- und Hominisationsprozess am
Werk.
An der Textoberfläche jedoch unterscheidet sich das biblische Krisenmanagement
nicht von der dreischrittigen mythischen Sequenz: hier wie dort beginnt die liminale
Phase mit der konfliktiven Desagregation, mit dem Verwischen der gesellschaftlichen
Differenzen und Hierarchien, hier wie dort erfolgt durch das Alle-gegen-einen eine
wie durch die Intervention einer höheren Macht erlangte Befriedung, und hier wie
dort entstehen mit präventiver oder kurativer Zielsetzung die zur Kontaktpflege mit
der wundertätigen Macht geeigneten Verbote und Riten.
Wie die Welt vor der Siebentageschöpfung als ununterschiedene Wirklichkeit
präsentiert wird, sind auch die Erzählungen vom Turmbau zu Babel, von den
613
René Girard, Des choses cachées, S. 200
ebenda
615
ebenda
614
189
korrupten Zuständen in Sodom und Gomorrha, von den zehn ägyptischen Plagen
sowie von der Sintflut Belege der Entdifferenzierung, deren dramatische Funktion
derjenigen der thebanischen Pest in der sophokleischen Tragödie entspricht. Auch
die häufig wiederkehrenden Szenen der rivalisierenden doubles, von Kain und Abel,
Jakob und Esau, Joseph und seinen elf Brüdern oder der Mütter im Salomonischen
Urteil variieren das Thema der Auflösung der sozialen Ordnung infolge der
mimetischen Krise. Ebenso eindringlich wie der Vorgang der Desagregation wird in
den frühen biblischen Texten die Redifferenzierung und Wiederaufrichtung der
Asymmetrie dargestellt, welche sich stets als eine die Krise bewältigende Gewalttat
in Form einer Ermordung oder einer Vertreibung ereignet. In der Erzählung von
Adam und Eva ist es Gott selber, der Gewalt anwendet und die Menschheit gründet,
indem er die beiden Geschlechter aus dem Paradies vertreibt. Schließlich lässt sich
die ritualisierende und sakralisierende Substitution der Gründungsgewalt belegen,
etwa wenn Isaak in extremis nicht seinen einzigen Sohn Abraham, sondern den von
Gott gesandten Widder als Opfer darbringt oder wenn Jakob dank des Fells der von
ihm geschlachteten Ziegen sich als Esau zu erkennen gibt, um so der Verfluchung
durch seinen Vater Abraham zu entgehen.
Bei aller formalen Ähnlichkeit der biblischen und der mythischen Ereignisabfolge
gelingt es Girard, das spezifisch biblische Verfahren zu bestimmen und in
umfangreichen Einzeluntersuchungen 616 die Besonderheit der biblischen
Erzählsequenz nachzuweisen. Wie bei vielen Gründungsereignisse lässt sich
beispielsweise bei den Bruderkonflikten von Kain und Abel und dem von Romulus
und Remus auf den ersten Blick kein Unterschied in der Ereignisabfolge feststellen:
Einer der beiden Brüder ermordet den anderen, und das Kollektiv des Überlebenden
ist gegründet. In beiden – und vielen anderen Fällen, die den gewaltsamen Ursprung
einer jeden Kultur verraten - hat die Tötung des Rivalen als der archetypische Akt
einer jeden Differenzierung die gleiche stabilisierende und alle weitere intrakollektive
Hierarchisierung legitimierende Wirkung. 617 Während jedoch, was leicht zu
übersehen ist, in der römischen Gründungserzählung die Ermordung des Remus
damit gerechtfertigt wird, dass dieser die Grenze des – noch nicht einmal
existierenden Stadtbezirks – übertreten und sich dadurch schuldig gemacht habe,
erfährt der biblische Brudermord insofern eine moralische Bewertung, als der Herr
sich bei Kain mit der Frage Wo ist dein Bruder Abel? nach dem Verbleib des Opfers
erkundigt. Und im Unterschied zu Romulus, dessen Status als Gesetzgeber, Richter,
Opferpriester und Befehlshaber, das heißt als Inkarnation der sakralen und profanen
römischen Macht durch diese Gründungstat etabliert wird, wird Kain als gewöhnlicher
Mörder beschrieben, der, obwohl er durch seine Tat zum Kulturstifter geworden ist,
von seiner Schuld nicht freigesprochen wird. Schließlich beinhaltet die biblische
Bearbeitung der kulturellen Sequenz eine entschiedene Kritik des violence-et-sacréVerfahrens. Sie bildet dieses bei der Bewältigung der mimetischen Krise allseits
erprobte Verfahren nicht nur ab, sondern erhebt einen ersten Einspruch gegen eine
derartige gewalttätige Konklusion; Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen,
damit ihn keiner erschlage, der ihn finde, 618 und mit dieser Markierung wird
616
Eine komparative Untersuchung von Themen des Neuen Testaments und von Mythen findet sich
in: René Girard, Le bouc émissaire, ein Vergleich der Hiob-Erzählung mit dem Ödipus-Mythos in:
ders., La route antique des hommes pervers, Paris 1985
617
René Girard, Des choses cachées, S. 170 : « C´est à un meurtre analogue que mille communautés
rapportent leur propre fondation. Rome, par exemple. Romulus tue Remus et la ville de Rome est
fondée. Dans les deux mythes le meurtre d´un frère par l´autre a la même vertu fondatrice et
différenciatrice. A la discorde des doubles se substitue l´ordre de la communauté nouvelle ».
618
Gen 4, 15
190
signalisiert, dass gemäßt der Intention des Genesis-Verfassers 619 aus der
gewaltsamen Konfliktbewältigung nach der kulturell üblichen, sakrifiziellen Methode
der route antique des hommes pervers keine endlose und den Bestand des
Kollektivs bedrohende Spirale von Gewalt und rächender Gegengewalt werden soll.
Girard macht darauf aufmerksam, dass ebenso wie Nietzsche 620 auch Max Weber
in den biblischen Texten die Tendenz ausmacht, für die Opfer Partei zu ergreifen.
Was jedoch für Girard das Proprium der biblischen Botschaft ist, ist für den
Religionssoziologen eine eher den historischen Umständen geschuldete Neigung der
biblischen Autoren, die darauf zurückzuführen ist, dass in der Geschichte des
Judentums, die selbst dem Muster des Verfolgungstextes folgt, die Brüche und
Katastrophen überwiegen, dass es dort nie zu Reichsgründungen nach Art der
Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen und Römer gekommen ist, was
wiederum zur Folge hatte, dass in dieser kulturellen Atmosphäre keine
Gründungserzählungen aus der Sicht der Täter, Sieger und Verfolger entstehen
konnten. Was Weber lediglich als ein Vorurteil deutet, un préjugé analogue à tant
d´autres, le préjugé en faveur de la victime, 622 gestaltet sich bei Girard zum
Perspektivenwechsel, in dem sich die biblische von der mythischen Erzählweise
absetzt. Dank der durch die Verfolgungstexte möglich gewordenen historischen
Gegenprobe kann die mythische Sequenz, bei aller Übereinstimmung mit dem
persekutiven Text auf der Ebene der Ereignisabfolge, nicht mehr an der Behauptung
festhalten, dass das Opfer schuldig und die Mörder unschuldig sind, dass die
Vergehen des Sündenbocks die Existenz der Gemeinschaft bedroht haben und dass
seine Hinrichtung einen Vorgang der Erlösung darstellt, für den ihm Lobpreis und
göttliche Verehrung gebührt. Der in beiden Texten anzutreffenden Identität der
Ereignisabfolge von Entdifferenzierung, anarchischer Krise und Redifferenzierung
durch
Gewaltanwendung
steht
nun
in
zunehmender
Klarheit
die
Nichtübereinstimmung in der Bewertung der Akteure und ihrer Motive gegenüber.
Girard bescheinigt dem Mythos zwar, dass er insofern die Wahrheit sagt, als er
erzählt, wie sich dem gewaltsamen Alle-gegen-einen der kulturelle Anfang verdankt;
er weist aber nach, dass der mythische Text verfälscht ist durch den Glauben der
Mörder an die Schuldhaftigkeit ihres Opfers wie auch an dessen Göttlichkeit, dass
die Mythen den Standpunkt des Kollektivs wiedergeben, welches durch den
gemeinschaftlich begangenen Mord versöhnt worden ist und an der kultisch
gesicherten Überzeugung festhält, dass dieser Mord eine berechtigte, heilige, von
der Gottheit selbst gewollte Tat ist, die im Interesse des Kollektivs nicht hinterfragt
werden darf.
621
Girard ist sich der subversiven Wirkung dieser Mythendekonstruktion bewusst, die in
der Rehabilitierung der Opfer und der Überführung der Mörder besteht. Er ist sich im
Klaren darüber, dass seine Bibel-Analyse nicht nur das Mythenverständnis betrifft,
sondern in der Freilegung des gewaltsamen Ursprungs der menschlichen Ordnungen
den Anstoß zu einer weit reichenden Kulturdiagnose gibt.
619
Girard macht darauf aufmerksam, dass Abel als Schafhirt in der Lage ist, blutige tierische
Ersatzopfer darzubringen und so die Gewalt aus der Gemeinschaft zu vertreiben, während Kain als
Ackerbauer in Ermangelung eines tauglichen Ersatzopfers die Gewalt nicht überlisten kann und das
Blut seines Bruders vergießt. Vgl. René Girard, La violence et le sacré, S. 17 : « L´un des deux frères
tue l´autre et c´est celui qui ne dispose pas de ce trompe-violence que constitue le sacrifice animal ».
620
s. Anmerkung Nr. 530
621
Vgl. Max Weber, Das antike Judentum, 6. Aufl. Tübingen 1976
622
René Girard, Des choses cachées, S. 171
191
C´est à l´initiative des rédacteurs juifs, c´est à leur remaniement critique,
certainement qu ´ íl faut attribuer l´affirmation que la victime est innocente et que la
culture fondée sur le meurtre garde d´un bout à l´autre un caractère meurtrier qui finit
par se retourner contre elle et la détruire, une fois épuisées les vertus ordonnatrices
et sacrificielles de l´origine violente. 623
Remus wird von seinem Zwillingsbruder erschlagen, weil er sich angeblich an einer
‚großen Sache’ schuldig gemacht hat; folglich besteht kein Grund, seinen Tod zu
beklagen. Keine Stimme erhebt sich, um den Romulus mit der Kains-Frage zu
konfrontieren: Wo ist dein Bruder? Und niemand hält ihm vor: Was hast du getan?
Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. 624 Die Kains-Geschichte
kulpabilisiert die kainitische Kultur, in dem sie zeigt, dass diese Kultur auf der durch
nichts zu rechtfertigenden Ermordung Abels beruht. In der Geschichte von Romulus
und Remus jedoch fällt kein kulpabilisierender Schatten auf die römische Kultur; die
Ermordung des Bruders erscheint dort nicht als verbrecherische Bluttat, sondern als
notwendige Bestrafung im Interesse und im Namen des in der Gründung begriffenen
Kollektivs. Wie diese werden auch viele andere mythischen und biblischen
Erzählungen in gleicher Weise von dem Mechanismus der chaotischen
Entdifferenzierung – Zwillinge eignen sich als monströse doubles in besonderer
Weise zur Evokation der reziproken Gewalt und halluzinatorischen Panik – und der
gewaltsamen Redifferenzierung gesteuert. Girard legt eine eindrucksvolle Liste von
Opfern vor, deren Unschuld in den biblischen Texten beteuert wird, während in den
mythischen Paralleltexten das violence-et-sacré-Verfahren in allen möglichen
Anwendungen durchgespielt wird. Die Arbeit der Bibel besteht in der Umwertung des
designierten und hingerichteten Opfers, seiner Entdämonisierung und
Desakralisierung und damit seiner Rehumanisierung; das ist ihre besondere
Leistung: la singularité radicale de la Bible face aux mythologies de la planète entière
625
. Unter anderen am Beispiel des gegen Ödipus beziehungsweise Joseph von
Ägypten 626 erhobenen Inzestvorwurfs und der unterschiedlichen Bewertung kommt
Girard zu dem Schluss, dass es unabdingbar ist, von einer biblischen Inspiration zu
sprechen, die alle die Verfasser dieser Texte beseelt, wobei die Erklärung dieser
Inspiration aus der historischen Verfolgungserfahrung des fragil organisierten
Judentums in der Auseinandersetzung mit den umgebenden Imperien nahe liegt.
Wie die thematischen Übereinstimmungen belegen, sind die Erzählungen selbst nicht
originell, sondern greifen auf eine bereits vorhandene Mythologie zurück, die von den
biblischen Verfassern jedoch mit einer eigenständigen Intention interpretiert, nach
ihren Bedürfnissen umgearbeitet und für ihr Publikum erzählbar gemacht werden.
Und diese besondere Intention ist, wie es Girards durch keine Einwände beirrbare
lecture non sacrificielle von der kainitischen Gründungsgeschichte bis zur Steinigung
des Stephanus in der Apostelgeschichte aufzuzeigen versucht, die große Alternative
zu dem auf dem Opfer – dem willkürlich designiertem, dem rücksichtslos
dargebrachten und dem anschließend verschwiegenen beziehungsweise
divinisierten - beruhenden Kulturverständnis. Saulus aber war mit dem Mord
einverstanden, 627 so resümiert die Apostelgeschichte den Lynchmord und entzieht
dem Verbrechen gegenüber dem Unschuldigen jede Rechtfertigung und jede
historische und gesellschaftliche Bedeutung. Im Ödipus-Mythos findet sich keine
623
René Girard, Des choses cachées, S. 172
Gen 4, 9 - 10
625
René Girard, Des choses cachées, S. 177
626
Gen 37, 3 – 36; 39, 7 - 20
627
Apg 7, 60
624
192
Stimme, die sich angewidert vom Doppelmord der Brüder distanziert und das
violence-et-sacré-Verfahren bloßstellt. Und Kreon hieß den Etheokles, als Verteidiger
Thebens, mit königlichen Ehren beisetzen, alle Bewohner der Stadt folgten dem
Leichenzuge, während Polyneikes unbegraben und in Unehren dalag, 628 lautet die
sakrifizielle Bilanz der für eine weiteres Mal erfolgreichen Redifferenzierung, welche
die Logik des Tötens bestätigt. Dieser Logik des Opferns zugunsten einer höheren
Sache hält Girard eine die biblischen Texte inspirierende und alle kulturelle Ordnung
subvertierende Idee entgegen: Et cet esprit consiste, de toute évidence, à intervertir
les rapports entre la victime et la communauté persécutrice. 629
Den von den antiken Pfaden abweichenden Weg zur Bewältigung des mimetischen
Konflikts zeigt Girard in einer exegetischen, nichtsakrifiziellen Bibellektüre auf, die
den weitaus umfangreicheren Teil seines Werks ausmacht. Exemplarisch ließe sich
die alternative Art der Homineszenz und Soziogenese zwar an der biblischen
Konklusion, das heißt an der Passionserzählung nachzeichnen; da Girard aber das
biblische Modell mit seiner Menschen- und Gesellschaftslehre seit Anbeginn der Welt
in Konkurrenz zum mythischen Entwurf an der Arbeit sieht, entfaltet die
Leidensgeschichte ihre Offenbarungskraft vor allem dann, wenn sie in ein
Phasenmodell eingepasst wird, in dem die Progression der opferkritischen
Alternative dargestellt wird.
On peut distinguer une série d´étapes trés différentes par leur contenu et par leur
résultat mais toujours identiques par leur orientation générale et par la forme qu´elles
assument, toujours bien entendu celle de la désintégration préalable d´un système
antérieur, d´une crise catastrophique mais heureusement conclue par l´intermédiaire
du mécanisme victimaire aboutissant, chaque fois, à l´établissement d´un système
sacrificiel de plus en plus humanisé. La première étape, c´est le passage du sacrifice
humain au sacrifice animal à l´ époque dite patriarcale; la seconde étape, c´est l´
Exode, marquée par l´institution de la Pâque, qui met l´accent non sur l´immolation
mais le repas en commun et ne constitue plus déjà un sacrifice à proprement parler.
La troisième étape, c´est la volonté prophétique de renoncement à tous les sacrifices
et elle ne s´achève, bien sûr, que dans les Evangiles. 630
Die Geschichte vom Salomonischen Urteil, 631 für Girard un des plus beaux textes de
l´ Ancien Testament, expliziert einmal mehr die soziodramatische Sequenz von
Desintegration, Krise und Konklusion und beleuchtet die kulturgeschichtliche Phase,
in der die Krisenbewältigung vom Menschen- zum stellvertretenden Opfer übergeht.
Sie setzt ein mit einem triangulären Konflikt, der alle Anzeichen einer
enthierarchisierenden mimetischen Krise aufweist. Der double-Status der beiden sich
um das überlebende Kind streitenden Frauen wird markiert durch das Wohnen im
gleichen Haus, durch die fast gleichzeitige Geburt ihrer Kinder, dadurch, dass sie zur
Tatzeit allein im Haus sind und dass beide, was die Ununterscheidbarkeit zusätzlich
betont, Dirnen sind und keine eigenen Namen haben; sie werden mit die eine Frau
und die andere Frau angesprochen. Auch die Argumente, die sie in ihrem Streit vor
628
Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des Altertums, 9. Aufl. Bayreuth 1986, S. 183.
In der Antigone-Fassung von Jean Anouilh wird die Zufälligkeit bei der Auswahl des Opfers dadurch
unterstrichen, dass offen gelassen wird, welcher der beiden zur Unkenntlichkeit entstellten Leichname
ein Staatsbegräbnis erhielt beziehungsweise unbestattet blieb.
629
René Girard, Des choses cachées, S. 175
630
René Girard, Des choses cachées, S. 260 - 268
631
1 Kön 3, 16 – 28 (Entstehungszeit vermutlich zwischen 560 und 538 v. Chr.)
193
dem König bemühen, sind identisch. Beide sagen: Mein Kind lebt und dein Kind ist
tot. Indem auch der König, an den sich die beiden Frauen mit der Bitte um ein Urteil
wenden, die Worte und Argumente der doubles lediglich wiederholt: Diese sagt: Mein
Kind lebt, und dein Kind ist tot! Und jene sagt: Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind
lebt, wird deutlich, dass die Konfliktsituation des nachahmenden Begehrens mit
rationalen Mitteln nicht lösbar ist. Da es aus der Sicht des Königs keinen
nachvollziehbaren Grund für den Besitzanspruch der einen oder der anderen
Bittstellerin gibt und da das Objekt des Begehrens nicht teilbar ist, müsste nach dem
Verfahren der route antique eine Redifferenzierung dadurch erfolgen, dass eines der
doubles ausgeschaltet wird. Der Streit wäre dann auf Kosten eines Opfers beendet.
Es würden wieder Ruhe und Ordnung vor und im Palast herrschen, und man würde
sich noch lange in kurativer oder präventiver Absicht die Geschichte von dem
tatkräftigen König erzählen beziehungsweise rituell aufführen, dem die Integration
seines Volkes am Herzen lag und der als Friedensrichter stets für klare Verhältnisse
sorgte…
Die Weisheit des Königs besteht jedoch darin, dass er den mimetischen Konflikt
dadurch dekonstruiert und durchschaubar macht, dass er ihn gewissermaßen auf die
Spitze treibt. Er bekräftigt durch den Verzicht auf den differenzierenden Eingriff und
durch die unreflektierte Reproduktion ihrer Argumente nicht nur die ausweglose
Rivalität der doubles, sondern überträgt mit seiner Weisung die blockierende
Doppelung auch auf das strittige Objekt: Holt mir ein Schwert! […] Schneidet das
lebende Kind entzwei, und gebt eine Hälfte der einen und eine Hälfte der anderen!
Erst die Verschärfung des Konflikts auf die unmittelbar bevorstehende tödliche
Dezision hin – ‚decidere’ signifie trancher par l´épée - überwindet die lähmende
Äquidistanz des rivalisierenden Begehrens. Indem die zweite Frau in die Tötung des
Kindes einwilligt und so zu erkennen gibt, dass aus ihrer Sicht das Streitobjekt sogar
zum Verschwinden gebracht werden kann, dass es ihr also nicht um das lebende
Kind und das Leben des Kindes, sondern um die Überwältigung der Rivalin geht: Es
soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es…, eröffnet sich, da nun auf die Identität
der wahren Mutter geschlossen werden kann, eine nichtsakrifizielle und annähernd
rational fassbare Konfliktlösung. In dem langen und geduldigen Zuwarten des Königs
kann die Suggestion des Erzählers gesehen werden, das Kindesopfer zur
Versöhnung der streitenden Parteien durchaus in Betracht zu ziehen, was in einer
kulturellen Umgebung, die das Menschenopfer sowie das Erstlingsopfer mitsamt
seinen Ableitungen in Form des Tieropfers und der Beschneidung kennt, nicht allzu
sehr überraschen würde. Für Girard indes ist es ein dynamisme anti-sacrificiel, der
alle biblischen Erzählungen kennzeichnet und antreibt, eine Dynamik, die zwar in
unterschiedlicher Lesbarkeit zutage tritt und auch Rückfälle aufweist, jedoch sich in
den erzählten Sequenzen von den ersten biblischen Szenen bis hin zu den
Evangelien unaufhaltsam und in immer größerer Deutlichkeit offenbart. Das
Salomonische Urteil markiert in diesem Offenbarungsprozess sowohl die Substitution
des Menschenopfers durch ein – nach antiken Vorstellungen - Opfer minderen
Werts, als auch den Verzicht auf das Opfer als einem Mittel der Konfliktlösung.
Gleichzeitig, und dies dürfte als die bedeutendere Offenbarungsleistung dieser
Erzählung gelten, wird hier ein Weg aufgezeigt, wie die mimetische Faszination der
doubles überwunden beziehungsweise vermieden werden kann. Die wahre Mutter,
die ja die überlegene Weisheit des Königs nicht voraussetzen kann, will ihr Kind
retten und am Leben erhalten, indem sie bereit ist, auf es zu verzichten. Da diese
Verzichtserklärung noch lange kein Beweis für ihre Mutterschaft ist, geht sie das
Risiko ein, als Lügnerin zu gelten, die nur ihre Haut retten will. Ein Risiko also, das ihr
194
Leben kosten kann, sicher aber mit ihrer Vertreibung zu enden droht. Die wahre
Mutter setzt also ihr Leben ein. Sie ist bereit, ihr Kind für immer ihrer Rivalin zu
überlassen und, falls es sein muss, sogar zu sterben, um das Kind vor dem Tod zu
retten. Die wahre Mutter drängt es nicht danach, sich zu opfern, im Unterliegen
masochistisch zu triumphieren oder gar einem morbiden Todestrieb zu folgen. Ihr
Verzicht ist kein Opfer im sakrifiziellen Sinn, er ist eine Umkehr, eine Befreiung von
der mimetischen Faszination. In einer Grenzssituation, in der sie, um den Gegensatz
der doubles zu beenden, sich entscheiden muss zwischen der tragischen Alternative
des Tötens und des Getötetwerdens, entscheidet sie sich für letzteres, womit für
Girard die signification christologique des Salomonischen Urteils feststeht. Damit ist
die gutgesinnte Dirne eine figura christi 632 auf dem langen Weg der biblischen
Offenbarung, deren Kern die Aufdeckung und Überwindung der Opferlogik, die
Analyse des Menschheitsverhängnisses 633 und das Aufzeigen eines Auswegs aus
der Spirale der Gewalt ist.
In dem opfergeschichtlichen Modell von Girard verschärft sich in der zweiten Phase –
sie beginnt mit der Gründung der Pascha-Institution beim Auszug aus Ägypten und
endet mit dem Auftreten des Jesus von Nazareth – die insbesondere von den
Gesetzesbüchern und den Propheten vorgebrachte Kritik an der viktimären Logik.
Die im Umfeld der griechischen Mythen anzutreffende rituelle Figur des pharmakos
634
als eines Sündenbocks, 635 der die Funktion des stellvertretenden Opfers, der
victime émissaire erfüllt, wird mit dem Gottesknecht 636 des Jesaja (etwa 740 – 701 v.
Chr.) verglichen und festgestellt, dass in beiden Fällen das für das kollektive Wohl
erforderliche Opfer dargebracht wird. Bei aller Übereinstimmung in der Phasierung
der von der sozialen Krise zur gewaltsamen kathartischen Lösung führenden
Sequenz, besteht der biblische Text auf einer abweichenden Bewertung sowohl bei
der Designation des Opfers als auch der rettenden Gewalt. Obwohl der Gottesknecht
637
wie auch der pharmakos den Tod erleidet, um die Vielen zu versöhnen und zu
retten, besteht der Unterschied zu den mythischen Verfolgungstexten nicht nur darin,
dass seine Unschuld außer Frage steht.
Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten
632
Im Unterschied zu Simone Weil, La source grecque, Paris 1995, anerkennt Girard die Antigone des
Sophokles nicht als figura christi. Obwohl sie sich der mythischen Lüge der aus Gründen der
Staatsraison erforderlichen sakrifiziellen Differenzierung der beiden Brüder widersetzt, stirbt Antigone
nicht für ein lebendiges Kind, wie die Dirne es tun würde, sondern für ein schon gestorbenes Wesen
beziehungsweise für die Aufrechterhaltung der Bestattungsriten. Da Antigone letzten Endes dem
Opferdenken verhaftet bleibt, trifft nach Girard auf sie der Satz aus dem Evangelium (Mt 8, 22) zu:
Lass die Toten ihre Toten begraben!
633
So lautet der Untertitel der deutschen Übersetzung von Des choses cachées.
634
René Girard, La violence et le sacré, S. 137 – 138 : « Prévoyante, la ville d´Athènes entretenait à
ses frais un certain nombre de malheureux pour les sacrifices de ce genre (lapidation de déesses
étrangères, d. Verf.). En cas de besoin, c´est-à-dire quand une calamité s´abattait ou menaçait de
s´abattre sur la ville, épidémie, famine, invasion étrangère, dissensions intérieures, il y avait toujours
un pharmakos à la disposition de la collectivité. [...] Comme Œdipe, la victime passe pour une souillure
qui contamine toutes choses autour d´elle et dont la mort purge effectivement la société puisqu´elle y
ramène la tranquillité. C´est pourquoi on promenait le pharmakos un peu partout, afin de drainer les
impuretés et de les rassembler sur sa tête ; après quoi on chassait ou on tuait le pharmakos dans une
cérémonie à laquelle toute la populace prenait part ».
635
Vgl. René Girard, La violence et le sacré, S. 139, wo in der Fußnote auf Untersuchungen
hingewiesen wird, die sowohl den mythischen als auch den sophokleischen Œdipus als pharmakos
beziehungsweise bouc émissaire identifizieren.
636
Jes 52, 13 – 53, 12
637
René Girard, Des choses cachées, S. 177 - 181
195
und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab,
bei den Verbrechern seine Ruhestätte,
obwohl er kein Unrecht getan hat
und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Es wird auch unmissverständlich festgestellt, dass seine Hinrichtung nicht mit einer
Hierophanie in Verbindung gebracht wird, also keine sakrale Bedeutung hat und das
Mordopfer somit nicht die mythische Trajektorie vom Dämon zum Idol zurücklegt:
Wir meinten, er sei von Gott geschlagen,
von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen,
wegen unserer Sünden.
Weil jedoch das Lied vom Gottesknecht hinsichtlich der Autorschaft der
Tötungsgewalt uneindeutige, ja gegensätzliche Aussagen macht,
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht)
(in der Lesart von Girard: Yahvé s´est plu à l´écraser par la souffrance)
kommt Girard zu dem Schluss, dass in dieser Etappe der biblischen Arbeit, das heißt
an diesem Punkt des seit den ersten Genesis-Erzählungen im Gang befindlichen
Entmythologisierungs- und Desakralisierungsprozesses die Rolle des Herrn noch
ambivalent ist und die Ablösung des alttestamentlichen Gottesbildes zögerlich
voranschreitet. Die Gewaltzuweisung im Lied vom Gottesknecht schwankt zwischen
der göttlichen und der menschlichen Adresse; ob der Leidensknecht von Gott
geschlagen oder von seinen Mitmenschen misshandelt wird, bleibt offen, für Girard
ein Beleg für die Nichterfüllung der biblischen Agenda im Zustand eines
inachèvement vétéro-testamentaire, deren Orientierung gleichwohl erkennbar und
deren schrittweise Annäherung an einen gewaltlosen Gott unumkehrbar ist.
Cette ambiguïté dans le rôle de Yahvé correspond à la conception de la divinité dans
l´Ancien Testament. Dans la littérature prophétique, cette conception tend de plus en
plus à se nettoyer de la violence caractéristique des divinités primitives. […] Jamais,
toutefois, on n´arrive dans l´Ancien Testament à une conception de la divinité
complètement étrangère à la violence.
In dieser Übergangsphase, in der das Alte kritisiert wird, aber nicht erledigt ist, in der
das Neue sich ankündet, aber noch nicht offenbar ist, werden die Opferhandlungen
zwar in Frage gestellt und bleiben dennoch gängige Praxis, wird das Gesetz zwar
vereinfacht und mit der Nächstenliebe 638 zur Deckung gebracht, bleibt aber in
Geltung. Und obwohl Jahwe immer weniger als ein zu fürchtender Gott in
Erscheinung tritt, bleibt er derjenige, der sich die oberste Strafgewalt vorbehält und
der das Prinzip der göttlichen Vergeltung behauptet. Noch immer bleibt die Ausübung
der Tötungsgewalt im Bannkreis des Mythos und dessen Opferlogik, wonach die
Frieden stiftende Gewalt – auch wenn der erreichte Friedenszustand nur bis zur
jeweils nächsten mimetischen Krise reicht - das Heilige ist.
638
Lev 19, 18: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
196
Durchbrochen wird diese sakrale Opferlogik in den Evangelientexten, die nach
Girards relecture das violence-et-sacré-Verfahren endgültig diskreditieren, die
Ordnung bringende Gewalt von jeglicher göttlichen Affinität reinigen und dadurch
dem Menschen als dem humanen Sitz der Gewalt die Wahrheit über sich selbst und
seine Kultur offenbaren. Das Vorhaben, die Menschen- und Gesellschaftslehre des
Mythos von ihrem gewaltverherrlichenden Aspekt zu befreien, wird von der jüdischen
Bibel in Gang gesetzt, aber nicht von ihr vollendet, vorbereitet, aber nicht
abgeschlossen. Dieses Vorhaben der Aufklärung der Menschen und ihrer
Gemeinschaften über sich selbst, welches als forme parfaite d´une entreprise que la
Bible judaïque n´a pas menée jusqu´à son terme beide Botschaften, die des
jüdischen und des christlichen Testaments, miteinander verbindet, gelangt nach
Girards Überzeugung sowohl in den Texten des Neuen Testaments als auch –
wenngleich mit zeitweiligen Verirrungen und Rückfällen – in der christlichen Tradition
zu einem anthropologischen Entwurf, in dem alles von der Beibehaltung oder
Überwindung der Opferlogik und des Sündenbock-Konzepts abhängt, das heißt von
der Fage, ob die Menschen auf Kosten anderer zum Frieden mit sich selbst und in
der Gemeinschaft kommen oder ob es auf dem Weg der Homineszenz und der
Soziogenese andere Lösungen gibt.
Der Gründungsmord wird bereits vom Erzähler der Kainsgeschichte dadurch im
Ansatz entmythologisiert, dass sich niemand findet, der den Abel für schuldig hält
oder ihn gar a posteriori für die Wiederherstellung der Einmütigkeit verehrt. Ohne die
Schuldfrage in diesem Konflikt zu kommentieren, spricht Jesus offen aus, dass das
Morden von unschuldigen Menschen seit jeher das unausgesprochene und
verheimlichte Funktionsgeheimnis aller Kulturen ist und dass nichts an diesem
Geheimnis göttlichen Ursprungs ist. In der Interpretation der Worte gegen die
Schriftgelehrten und die Pharisäer 639 - in der Girardschen Übernahme: malédictions
contre les Pharisiens -, die in die Analyse der Passionserzählungen sowie des
Berichts über die Ermordung des Stephanus einmündet, wird herausgestellt, dass
Jesus sowohl nach Matthäus 640 als auch nach Lukas 641 die Ermordung Abels als
ein Gründungsdatum der Menschheitsgeschichte versteht, dass aber sowohl nach
dem Text des Lukas als auch dem des Matthäus dem Datum des Brudermords eine
weitergehende Datierung vorgeschaltet wird, die nicht nur den mythisch-historisch
zurückverfolgbaren Teil der menschlichen Kultur, sondern jede denkbare Kultur
umfasst. Verfolgen beide zunächst die Spur des unschuldigen Opfers zurück vom
Blut Abels des Gerechten bis zu dem des Zacharias, Barachias’ Sohn, den ihr im
Vorhof zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt, geht Lukas über
Abel hinaus, indem er das Gewaltergreifen gegen den Unschuldigen in eins setzt mit
dem Anfang schlechthin und an das Blut aller Propheten, das seit der Erschaffung
der Welt vergossen worden ist, erinnert. Matthäus hingegen markiert den offenen
Vergangenheitshorizont mit einem Zitat aus dem Psalm 78, das Jesus auf sich selbst
anwendet: Ich öffne meinen Mund und rede in Gleichnissen, ich verkünde, was seit
der Schöpfung verborgen war. 642 In Anlehnung an die Übersetzung der Vulgata: a
constitutione mundi wird von der bibilischen Tradition das Opfergeschehen als
konstitutiv für die Weltordnung betrachtet, und es wird offen als ein Verhängnis
angesprochen, als ein Übel, dessen Tragik darin besteht, dass es Zerstörung bringt,
639
René Girard, Des choses cachées, S. 181 – 202
Mt 23, 34 - 36
641
Lk 11, 50 - 51
642
Mt, 13, 35 (vgl. Psalm 78: „Ich öffne meinen Mund zu einem Spruch; ich will die Geheimnisse der
Vorzeit verkünden“.)
640
197
jedoch zur Chaosbewältigung unabdingbar ist. Wird die von Girard im Titel seines
Hauptwerks verwendete Zeitangabe depuis la fondation du monde auf den
griechischen Text: apò katabolês kósmou bezogen und der ursprüngliche, auch in
der Genesiserzählung zu beobachtende Katabolismus 643 als ein Übergang vom
Chaos zum Kosmos verstanden, wird einmal mehr zum Ausdruck gebracht: Die
Ordnung aber auch Unheil stiftende Gewalt bricht nicht ereignishaft in die
menschliche Geschichte ein; sie ist das Proprium dieser Geschichte, ihr Anfang und
möglicherweise auch ihr – aus heutiger Sicht technisch realisierbares – Ende. Wie
Abels Ermordung nicht als historisches Ereignis, sondern als Prototyp des
mécanisme victimaire anzusehen ist, gilt auch die Mahnung, aus der Spirale der
Gewalt herauszutreten, nicht nur den als Jesu Zeitgenossen auftretenden
Pharisäern, sondern den in deren Geist operierenden Söhnen der Prophetenmörder,
das heißt denen, die zu den Kulturgründern und - bewahrern nach Art des Kain
gehören und denen das Strafgericht der Hölle angedroht wird, wenn, sie sourds et
aveugles à la nouvelle qui leur est annoncée, sich der Botschaft des Evangeliums
verschließen.
Das in den Drohworten vorgetragene antisakrifizelle Plädoyer erfährt seine
Verschärfung und seine metaphorische Kristallisation in der Funktion, die Jesus dem
Grab als dem im doppelten Sinn sakrifiziellen Ort, das heißt dem Ort zugleich der
Gewalt und der Heiligung zuschreibt:
Weh euch! Ihr errichtet Denkmäler für die Propheten, die von euren Vätern
umgebracht wurden. Damit bestätigt und billigt ihr, was eure Väter getan haben. Sie
haben die Propheten umgebracht, ihr errichtet ihnen Bauten (Lk, 11, 47 – 48).
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den
Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei:
Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod
der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der
Prophetenmörder seid (Mt 23, 29 – 31).
Gräber, vom einfachen Tumulusgrab bis zur pharaonischen Pyramide, werden
errichtet, um den Toten zu ehren und sein Andenken zu erhalten. Gleichzeitig
verbergen sie ihn und verwischen, indem sie den Leichnam unsichtbar machen, die
Spuren des Todes, des natürlichen wie des gewaltsamen. Vor allem aber verdecken
die pompös geschmückten Denkmäler das Geschehen des Gründungsmords und
entlarven somit die Erbauer der Grabstätten als Lügner. So wie das Grabmal über
dem Toten errichtet wird, gründen sämtliche Kulturen, sämtliche Religionen auf dem
Gründungsmord, vor allem dem kollektiv begangenen, welchen sie jedoch
kaschieren, ja zur Vermeidung von Rache und Gegengewalt kaschieren müssen.
Nicht nur der kollektive, auch der individuelle Mörder muss töten und immer wieder
töten, um sich nicht als Mörder zu verraten. Indem die Pharisäer sich von der
Gründungstat der Väter distanzieren, ohne jedoch deren unschuldige Opfer zu
rehabilitieren, gestehen sie ein, dass sie bereit sind, die Gründungstat von neuem zu
vollbringen. Sie verdrängen und ‚verbauen’ bei jedem neuen Denkmalbau die
Einsicht, dass die Menschheit als ganze auf dem mythischen Unsichtbarmachen
ihrer Gewalttätigkeit beruht.
643
Für die Biochemie sind Katabolismus und Anabolismus Teile des Metabolismus. Werden im
Katabolismus komplexe Makromoleküle zu einfachen Einheiten abgebaut, dient die anabole Reaktion
der Zusammensetzung von kleinen zu großen Einheiten.
198
Girard resümiert entschlossen den Zusammenhang von Mord und Kultur und dessen
Aufdeckung in den Evangelien: Le meurtre appelle le tombeau et le tombeau n´est
que le prolongement et la perpétuation du meurtre. […] ’ Eux ont tué, et vous, vous
bâtissez’: c´est l´histoire de toute la culture humaine que Jésus révèle et compromet
de façon décisive.
Aus der Heftigkeit der Drohworte gegen die Pharisäer, welche er selbst mit Gräbern
vergleicht, außen weiß angestrichen; […] innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz
und Verwesung, 644 kann geschlossen werden, dass Jesus nicht mit ihrer Umkehr
rechnet. Sie hatten alle Voraussetzungen, um die jesuanische Aufklärung zu
begreifen; das Wissen um die Lügenhaftigkeit des sakrifiziellen Verfahrens war, wie
Lukas (Lk 11, 52) notiert, durchaus in ihrer Reichweite: Weh euch Gesetzeslehrern!
Ihr habt den Schlüssel (der Tür) zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht
hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert. Sie
wenden sich aber von Jesus ab, der sich als Träger dieses Schlüssels versteht und
der mehrmals andeutet, dass wegen der Hartherzigkeit 645 seiner Zuhörer seine
Mission nicht durch sein Sagen und Handelnd zu bewahrheiten ist, sondern durch
das, was ihm geschieht, indem er zum Opferobjekt wird, die Opferlogik zur Schau
stellt und ihre Wirkungslosigkeit vorführt. In dem Gleichnis von den bösen Winzern
646
werden nach und nach die drei Boten, die vom Besitzer des Weinbergs zur
Regelung der Pachtabgaben ausgesandt wurden, von den Pächtern verprügelt und
verjagt. Als der Herr des Weinbergs schließlich seinen geliebten Sohn mit der
Mission beauftragt, kommt es zur tödlich endenden Auseinandersetzung zwischen
dem Sohn, der die legitimen Interessen seines Vaters, des Eigentümers, vertritt und
den Pächtern, die sich gegen ihne zusammenschließen, um ihre gewaltsam
erkämpfte Unabhängigkeit zu verteidigen. Sie wissen, der Sohn könnte ihre an den
Knechten begangenen Verbrechen aufdecken; er muss zum Schweigen gebracht
werden, sonst können sie ihrer Sache nicht sicher sein: Als die Winzer den Sohn
sahen, überlegten sie und sagten zueinander: Das ist der Erbe; wir wollen ihn töten,
damit das Erbgut uns gehört. Und sie warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und
töteten ihn. Sie töten den, der sie hätte richten und überführen können. Sollten sie
ihm ein Grab errichtet haben, wäre dieses Grab das Zeichen, durch welches die neu
gefundene Güter- und Rangordnung besiegelt wird und gleichzeitig die Wahrheit
über das Gewaltfundament dieser Ordnung unterdrückt wird; das Grab wäre die
Keimzelle für eine Mythenproduktion und für eine Gründungserzählung, späteren
Generationen könnte es als erbauliche Pilgerstätte dienen.
Die Erzählung von der einigenden und einmütigen Gewaltaktion der Winzer gegen
den geliebten Sohn des Herrn wird von Jesus mit einer exegetischen Frage zum
Psalm 118a beendet, die er den Schriftgelehrten stellt und deren Aktualität sie
offensichtlich verstehen: Was bedeutet das Schriftwort: Der Stein, den die Bauleute
verworfen haben, ist zum Eckstein geworden? Lukas kommentiert folgerichtig: Sie
hatten gemerkt, dass er sie mit diesem Gleichnis meinte, weshalb sie auch sofort
Anstalten machen, ihn zu verhaften. Der Evangelist macht aber auch deutlich, dass
644
Mt 23, 27
Vgl. Mk 13, 15, wo Jesus die Weissagung des Jesaja (Jes 6, 9) als erfüllt betrachtet: Denn das
Herz dieses Volkes ist hart geworden, und mit ihren Ohren hören sie nur schwer, und ihre Augen
halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit
sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heile.
646
Lk 20, 9 - 19
645
199
Jesus sich mit dem Sohn des Weinbergbesitzers und dem aus dem sozialen
Mauerwerk herausgebrochenen Element identifiziert, dessen Geheimnis indes nur
dadurch erhellt werden kann, dass man dieses Element einem Sündenbock gleich
verstößt, ja dass es keine andere Möglichkeit gibt, den Opfermechanismus
bloßzustellen, als sich hinauswerfen zu lassen und so sein Wissen und sein
Betriebsgeheimnis nach außen zu tragen und öffentlich zu machen. Mit anderen
Worten: Gegen die Gewaltlogik kann nicht offensiv vorgegangen werden. Ein
Vorgehen gegen sie wäre ein weiterer Akt der Gewalt und ein Weiterdrehen der
Gewaltspirale. Nur indem die Gewalt bis zum Ende erlitten wird, kann die Opferlogik
außer Kraft gesetzt und der Schleier der sakrifiziellen Illusion gelüftet werden.
Obwohl die Evangelisten übereinstimmend bezeugen - nicht zuletzt durch die
Betonung des leeren Grabs am Ostermorgen -, dass die jesuanische Passion nicht
zur Errichtung einer geschmückten Grabstätte und zu einer die vorausgehende
Gewalt verheimlichenden Grabkultur 647 führt, von der Girard sagt: La religiontombeau n´est rien d´autre que le devenir invisible de son propre fondememnt, de
son unique raison d´ être, entgehen die frühen und, wie die Kirchengeschichte
eindrucksvoll belegt, späteren Christen nicht der Versuchung, die Sündenbockjäger
zu jagen, das heißt die jüdischen Bauleute wegen des Verwerfens des tragenden
Steins zur Rechenschaft zu ziehen und sich wiederum wie die Prophetenmörder zu
verhalten, die, indem sie beteuern, dass nicht sie es waren, sondern ihre Väter, die
die Propheten umgebracht haben, sich vom Prophetenmord nicht distanzieren,
sondern sich in die vom Evangelisten auf den Punkt gebrachte Logik des Tötens und
Bauens einpassen.
Wie der biblische Gottesknecht bei aller Übereinstimmung in der Ereignisabfolge sich
in der Bewertung vom antiken pharmakos absetzt, verfehlt auch im Gleichnis von den
bösen Winzern das Opfer des geliebten Sohnes die sakrifizielle Funktion. Das
Versagen des Opfersystems löst die sakrifizielle Krise aus und damit die Frage nach
anderen Strategien zur Bändigung der periodisch ausbrechenden Gewalt. Sind es
bei Lukas drei ausgesandte Knechte, von denen bereits der dritte gesteinigt wird,
erweitert Markus die Reihe der ausgesandten und umgebrachten Boten um andere
Knechte und formuliert damit gewissermaßen die Regelhaftigkeit, wonach in
Gesellschaften, die keine Zentralgewalt kennen, die interne Gewalt durch
stellvertretende Opfer unter Kontrolle gebracht wird. Da das alternative Verfahren,
nämlich der Verzicht auf das Opfer und dessen Heiligung, nach Girard das Leitmotiv
der ganzen biblischen Bortschaft und ihrer historischen Arbeit ist und da dieses
Motiv immer klarer und mit der größtmöglichen Klarheit in den Texten des Neuen
Testaments aufscheint, sind diese Texte vor allem als Alternative zur mythischen
Erzählstruktur zu lesen und damit auch im Licht der Entdeckung zu verstehen, die
Girard bei seiner Romananalyse gemacht hat.
So lässt sich mit Hilfe der Girardschen vérité romanesque das Gleichnis von den
bösen Winzern als eine Sequenz zur Entstehung und Bewältigung des mimetischen
Konfliks entziffern, in der die einzelnen Phasen markiert sind und wo in der
Konklusion sowohl die mythische als auch die romaneske Option explizit gemacht
werden kann. Der präliminare, triangulär stabile Zustand ist jener der médiation
externe, in dem die Distanz zwischen dem nachahmenden Subjekt und ihrem Modell
647
Girard hält es für möglich, dass die Verwendung der Grab-Metapher für die kulturelle Kaschierung
des Gründungsmords im Zusammenhang steht mit archäologisch nachgewiesenen Baumaßnahmen
zur Errichtung von Prophetengräbern im damaligen Palästina.
200
so groß ist, dass keine Appropriationskonflikte beziehungsweise Statuskonflikte
entstehen können. Erst als der Weinbergbesitzer in Gestalt der Knechte näher
kommt und ihnen in Augenhöhe gegenübertritt, verwandelt sich in der médiation
interne die Triangulierung in Polarisierung, die Statusdifferenz in Rivalität der
doubles, die aus der Sicht der Pächter unerträglich ist und ihre Aggression auslöst.
Sie wollen ihren Herrn beerben, so sein wie er, und sie lösen den mimetischen
Konflikt, da sie den Herrn nicht treffen können, mit einem stellvertretenden Opfer.
Während nun der mythischen Konklusion entsprechend der Umschlag von der
Gewalt am Opfer zur Heiligung und Befriedung durch das Opfer führen müsste,
tendieren die Evangelisten zu einem eher romanesken Ausgang. Dieser Ausgang
besteht zwar nicht in einer Konversion der Akteure, lässt aber den
Opfermechanismus sich gewissermaßen im Leerlauf drehen, enthüllt ihn und führt
seine Wirkungslosigkeit vor. Und vor allem schließt sich in dieser Konklusion das
Grab über dem Opfer nicht. Als verworfener - und als nicht zu verbauender - Stein
bewahrt dieses das Wissen um den Vorgang, um die Motive der Täter und um die
Unschuld des Opfers auf. Und auf dieses Wissen wird man bauen können.
Zwar einigen sich die Winzer, weil sie den Besitzer des Weinbergs beerben wollen,
gegen dessen Sohn und bringen ihn um, es folgt daraus aber weder der heilende
Umschlag des Alle-gegen-einen zu einem Einer-für-alle noch die Wiederherstellung
einer gesellschaftlichen Ordnung über dem Grab des Opfers. Nichts ist gewonnen,
denn, obwohl Jesu Zuhörer protestieren: Das darf nicht geschehen, wird der
Weinbergbesitzer kommen und diese Winzer töten 648 und den Weinberg anderen
geben. Was also wegen der Ähnlichkeit mit der pharmakos-Sequenz wie ein
Gründungsereignis oder ein sakrifizielles Ritual zur Kommemoration des
Gründungsereignisses aussieht, wird zu einem banalen Verbrechen dekonstruiert, in
dem der Gewalteinsatz, anstatt einen therapeutischen sakrifiziellen Ertrag
abzuwerfen, nichts als rächende Gegengewalt produziert. Aus der Sicht der Zuhörer,
die keine andere Lösung wissen als die, dass der Weinbergbesitzer die rebellischen
Winzer töten und den Weinberg anderen geben wird, steht der Funktion des
mécanisme victimaire und damit der Wiederkehr des kulturellen Gleichen, der immer
wieder gründenden Gründungsgewalt nichts im Weg. Das Gleichnis eröffnet jedoch
eine weitere Perspektive, die von den Zuhörern erahnt, jedoch gleichzeitig abgelehnt
wird, weil sie ihre Position in Frage stellt. Es ist die Perspektive des verworfenen
Steins, dem bereits der Prophet Jesaja vorausgesagt hatte, dass er als Eckstein zum
Fundament einer neuen religiösen und kulturellen Ordnung 649 werden sollte.
Während das Neue dieser Ordnung, kulturhistorisch betrachtet, die Domäne der
christologischen und ekklesiologischen Deutung wird, betont Girard mit großer
Entschlossenheit deren anthropologischen und soziologischen Aspekt. Wenn das
Verwerfen des Steins dem Verwerfen der sakrifiziellen Lösungen entspricht, ist der
Einsatz der Gründungsgewalt zum Unterbechen der mimetischen Raserei in den
648
Während bei Lukas auf die Frage: Was wird der Weinbergbesitzer mit solchen Winzern tun? von
Jesus beantwortet wird, kommt bei Matthäus (Mt 21, 40 – 41) die Antwort von den Zuhörern. Die
rächende Gewalt wird also nicht dem Herrn zugeschrieben, sondern den in sakralen Kategorien
denkenden Zuhörern. Sie sagten zu ihm: Er wird diesen bösen Menschen ein böses Ende bereiten.
649
Vgl. 1 Petr 2, 4- 8: „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber
von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus
aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die
Gott gefallen. Denn es heißt in der Schrift: Seht her, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen
Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Euch, die ihr glaubt, gilt
diese Ehre. Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum
Eckstein geworden, zum Stein, an den man anstößt, und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt“.
201
menschlichen Beziehungen – innerhalb der Gruppe, zwischen den Geschlechtern,
Generationen und Völker – abzulösen durch den Einsatz von geistigen Opfern, und
der Übergang vom Alten zum Neuen Testament ist für Girard der historische
Augenblick des paroxystischen Umschlagens, wo entschieden werden kann
zwischen der Konfliktlösung, die auf der Ausstoßung des Opfers sowie der
Versöhnung auf seinen Kosten beruht, und der nichtsakrifiziellen Konfliktlösung im
Geist der Nächstenliebe.
C´est la crise elle-même qui mûrit, c´est un moment historique jamais possible
auparavant, le moment du choix absolu et conscient entre deux formes de
réciprocité, à la fois proches et radicalement opposées l´une à l´autre, le moment où
la désagrégation culturelle et la vérité de la violence en sont arrivées à un point de
maturation tel que tout doit bientôt basculer soit dans la violence infiniment
destructrice soit dans la non-violence du Royaume de Dieu, seule capable désormais
de perpétuer la communauté. 650
Dass die Gründungsgewalt, auch wenn sie die Überlebensvoraussetzung der frühen
Gesellschaften war und wenn ihr als Erklärung und als Kompensation für ihre
segensreiche Wirkung ein göttlicher Ursprung bescheinigt und kultische Verehrung
zugesprochen wurde, dass diese Gründungsgewalt nichts mit göttlichem Willen zu
tun hat und schon gar nicht mit dem Willen eines biblischen Gottes, dies wird in den
Erzählungen von Jesu Leben und Sterben enthüllt. Und wenn es ein Göttliches gibt
und wenn die Verkündigung von Christus als einer göttlichen Person sinnvoll sein
soll, dann ist dieses Göttliche für Girard nicht als ontologisch existent aufzufassen.
Dieses Göttliche hat die Form eines Wissens, das unendlich viele biblische
Metamorphosen durchlaufen hat, eines Wissens um den Ursprung der Gewalt als
einer menschlichen Gewalt, eines Wissens, das den Menschen und ihren Kulturen
den Spiegel vor Augend hält und sie über ihre Gewalt, die sie stets kaschieren,
aufklärt, eines Wissens schließlich, dessen Evidenz auf lange Sicht nicht zu
unterdrücken und zu verheimlichen ist und das nach Girards Überzeugung allein den
Weg aus der Gewaltspirale weist.
Le fait qu´un savoir authentique de la violence et de ses œuvres soit enfermé dans
les Evangiles ne peut pas être d´origine purement humaine. 651
Wie schwierig es für die Menschen ist, dieses Wissen zu verstehen, kann in der
Erzählung von den bösen Winzern nachvollzogen werden. Jesu Zuhörer ahnen, aber
können nicht begreifen, dass das Verwerfen des Steins zwar ihre
Ordnungsvorstellungen bekräftigt, aber gleichzeitig ihre Gewaltbereitschaft bloßstellt
und dass das Sichverwerfenlassen des Steins die Option der Gewaltlosigkeit
eröffnet. Würde sich der Sohn der gegen ihn gerichteten Gewalt widersetzen, würde
er das Spiel der Gewalt treiben und diese in ihr Recht einsetzen. Widersetzt er sich
nicht, schließt diese ihm den Mund. Und doch gibt es eine, wenn auch flüchtige
Chance, hinter die Maske der Gewalt zu schauen, und diese Chance setzt voraus,
dass es ein Opfer gibt, welches die Wahrheit über die Gewalt verkörpert und in
seinen Köper einschreibt, und dass dieses Opfer in dem kurzen Moment, bevor es
für immer zum Schweigen gebracht wird, sich Gehör verschafft und dass dieses
Gehör von Zeugen vernommen, beglaubigt und über den Augenblick hinaus
aufbewahrt wird.
650
651
René Girard, Des choses cachées, S. 224
René Girard, Des choses cachées, S. 242
202
Le régime de la violence est tel, en d´autres termes, que sa révélation est impossible.
Puisque la vérité de la violence ne peut pas séjourner dans la communauté,
puisqu´elle doit nécessairement s´en faire chasser, elle pourrait se faire entendre, à
la rigueur, en tant, justement, qu´elle est en train de se faire chasser, dans la mesure
seulement où elle devient victime et dans le bref instant qui précède son écrasement.
Il faut que cette victime réussisse à nous atteindre au moment où la violence lui
ferme la bouche. Il faut qu´elle en dise assez pour pousser la violence à se
déchaîner contre elle mais pas dans l´obscurité hallucinée de toutes les fondations
religieuses, qui pour cette raison, restent cachées. Il faut qu´il y ait des témoins
assez lucides pour rapporter l´événement tel que, réellement, il s´est produit. 652.
Die hellsichtigen Zeugen dieser Gewaltenthüllung sind die in den Evangelien
benannten Anhänger Jesu, die, obwohl sie nach seiner Hinrichtung enttäuscht
auseinandergelaufen waren, erkennen, dass dieser ein außerordentliches Wesen
war, welches in der Konfrontation mit der sakrifiziellen Logik die Stelle des Opfers
einnahm und diese Logik durch seinen Tod außer Kraft setzte. Wäre der Tod Jesu
ein von seinem Vater gefordertes Opfer – eine Vorstellung, die besonders in der
Theologie des Mittelalters einflussreich war -, wäre dieser Vater nicht der Gott der
Liebe. Wäre dieser Tod ein Selbstopfer, müsste man sich fragen, welche
sublimierende Absicht damit von Jesus verfolgt werden sollte. Während in den
früheren – und weitgehend den außerbiblischen - Religionen und Kulturen die Gewalt
als das die Menschen Übersteigende gefürchtet, divinisiert und verehrt wird, wird
Jesus als das einzige Wesen erkannt, das in der Lage ist, diese Gewalt zu
transzendieren, wobei die Bewegung des Übersteigens dem Sieg 653 über die Gewalt
eine zu triumphalistische Färbung verleiht und dieser Art von Transzendenz die
Bewegung des Unterlaufens eher entspricht. Schließlich könnte hinter dem
Selbstopfer ein gnadenökonomischer Mechanismus vermutet werden, der, ähnlich
wie der Gabentausch im Potlatsch, die Menschen verpflichten würde, das von Jesus
gebrachte Opfer ihrerseits mit Opfern zu beantworten und so, anstatt die sakrifizielle
Kettenreaktion zu unterbrechen, den mécanisme victimaire zu perpetuieren.
Girard ist sich bewusst, dass seine konsequent antisakrifizielle Lesart der
Evangelientexte mit opfertheologischen Tendenzen in Konflikt gerät, die der
Auffassung des Selbstopfers etwa in der Form des Sühnopfers nahe stehen. Er
besteht aber darauf, dass die Verkündigung des Reiches Gottes mit dem Selbstopfer
nicht in Verbindung gebracht werden kann: A la lumière de nos analyses, il faut
pourtant conclure que toute démarche sacrificielle, même et surtout retournée contre
soi-même, ne correspond pas à l´esprit véritable du texte évangélique. 654 Ohne das
Phänomen des Selbstmordattentäters direkt anzusprechen, macht er darauf
aufmerksam, dass das Selbstopfer in vielen Fällen wenig altruistisch motiviert ist und
dass es einen Masochismus des Selbstopfers gibt, hinter dem sich das Verlangen
der Selbstvergottung verbirgt, ja dass die Idee des Sichopferns häufig auch als
christliches Alibi für die schlimmsten Formen der Unterdrückung missbraucht 655
wurde.
652
René Girard, Des choses cachées, S. 241 - 242
Vgl. 1 Kor 15, 55; Hos 13, 14: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo
ist dein Stachel“?
654
René Girard, Des choses cachées, S. 259
655
Zur Perversion des Opferbegriffs s. Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 841 – 842, wo auf die
Bewirtschaftung der moralischen Sensibilität der Öffentlichkeit durch das herrschende Opfer,
653
203
Auch wenn im jüdischen Tempelkult das rituell geregelte, versöhnende Opfer zu Jesu
Zeit längst nicht mehr im Menschenopfer besteht, ist die mythische und kulturelle
Opferlogik und die darauf beruhende Gottesvorstellung, wie aus zahlreichen, von
Jesus erzählten Gleichnissen abzulesen ist, noch wirkungsvoll. Insofern ist absehbar,
dass Jesu öffentliches Reden und Wirken gegen Tempel- und Opferkult, wollte er
seine Mission nicht verraten, den dramatischen Verlauf nehmen würde, der
mehrmals in Erzählungen antizipiert wurde und in der Kreuzigung seine – im Sinn der
Umwandlung vom Stein zum Eckstein zu verstehende – Vollendung gefunden hat.
Als er Anstoß nimmt an der Opferpraxis und die Tempelwirtschaft in Frage stellt, wird
einmal mehr deutlich, wie unüberbrückbar die Kluft ist zwischen den, wenn auch
tierischen Ersatzopfern, die die sakrifizielle Logik vertreten:
Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die
Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle
aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler
schüttete er aus, und ihre Tische stieß er um. 656.
und den – in der paulinischen Fassung - ohne Gewaltanwendung gottgefälligen
Leistungen, die ein nichtsakrifizielles Mensch-Gott-Verhältnis ankünden, in dem die
liturgisch-vertikale um eine diakonisch-horizontaleTranszendenz ergänzt wird:
Durch ihn also lasst uns Gott allezeit das Opfer des Lobes darbringen, nämlich die
Frucht der Lippen, die seinen Namen preisen. Vergesst nicht, Gutes zu tun und mit
anderen zu teilen; denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen. 657
Mit den so besetzten Positionen und so formulierten Gegensätzen nimmt die
Passionserzählung
den
vom
violence-et-sacré-Verfahren
vorgezeichneten
soziodramatischen Verlauf. Jesus steht einer in die Krise geratenen Gemeinschaft
gegenüber, welche, nachdem die mimetisch erzeugte Begeisterung umschlägt in
eine nicht weniger mimetisch formulierte Ablehnung, in der Einmütigkeit gegen ihn
ihre Einheit wieder finden soll. Wenn auch die Vollstreckung des Todesurteils nach
rechtlichen Kriterien erfolgt, geht das Todesurteil gegen Jesus nicht auf die legalen
Autoritäten zurück; vielmehr geben alle, die es einzeln oder im Kollektiv mit Jesus zu
tun haben, ihre ausdrückliche oder implizite Zustimmung zu seinem Tod: das Volk
von Jerusalem, die jüdischen religiösen Autoritäten, die römischen politischen
Instanzen und sogar seine Anhänger, da diejenigen, die Jesus nicht aktiv verraten
oder verleugnen, schlicht davonlaufen oder sich abwartend verhalten.
Girard erinnert daran, dass im Ereignisbereich kaum Unterschiede zwischen der
Passion und einem mythischen Gründungsmord festzustellen sind, weswegen diese
Passion auch in ethnologischer Perspektive als Ritualmord an einem Sakralkönig 658
gedeutet werden konnte. Was in der Passion im Einzelnen passiert, unterscheidet
sich nicht von der Szenerie der von sämtlichen Gründungsriten nachgestellten
hingewiesen wird, welches einen eigenen, medial verstärkten victimspeak praktiziert, um das eigene
Dasein optimal im Licht von erlittenen Benachteiligungen darzustellen und sich so viktimologische
Prämien zu sichern.
656
Joh 2, 14 - 15
657
Hebr 13, 15 - 16
658
Vgl. James Georges Frazer, Le bouc émissaire (Übers.), Paris 1925
204
Gründungsereignisse: Die applaudierende Menge am Tag vor dem Prozess, die
Bezeichnung und Isolierung des Opfers, der Prozess als Scheinprozess, dessen
Ausgang von vorne herein feststeht, die Verspottung durch die Menge, die höhnische
Verehrung mit Kniefall und Krönung, die Demonstration mythischer Gebrechen beim
Tragen des Kreuzes, die Rolle des Zufalls, die durch das Verlosen der Kleider
angedeutet wird, schließlich die Hinrichtung in einer entehrenden Exekution – Tod
durch Ersticken am Kreuz – vor den Toren der Stadt, damit diese nicht etwa durch
einen überspringenden Funken dieser blutigen Gewalt, sei es in nachahmnder oder
rächender Absicht, kontaminiert wird. So steht für Girard fest, dass die Passion die
mythische Sequenz reproduziert und insofern eine weitere Kopie der universellen
Gründungserzählung ist: C´est bien parce que´elle reproduit l´événement fondateur
de tous les rites que la Passion s´apparente à tous les rites de la planète. 659 Doch im
Unterschied zu der Konklusion der mythischen Erzählungen bleibt die versöhnende
Funktion dieser Hinrichtung aus. Es erfolgt aus ihr keine Riten bildende oder gar
mythogene Übertragung, kein transfert créateur und kein transfert sacralisant, und
die Gemeinschaft der Verfolger findet nicht ihren Frieden am Grab eines
heilbringenden Getöteten. Die Verfolger haben keinen Grund, dem Opfer dankbar zu
sein und seinen Friedensdienst durch kultische Verehrung zu kompensieren. Obwohl
alles unternommen wurde, um das Opfer für schuldig zu erklären und die Akteure auf
ihre Rolle einzustimmen, ist es weder gelungen, das Opfer zum Schweigen zu
bringen, noch die luziden Zeugen auszuschalten, die von der Unschuld des Opfers
überzeugt sind und die nach und nach, im Licht der mit Jesus gemachten
Erfahrungen, begreifen, dass diese Passion den Mythos dekonstruiert und
entsakralisiert. Und obwohl die Erzählungen dieser Passion und die daran
anschließenden Traditionen immer wieder in sakrifizielle Denkbewegungen
zurückfallen und in der Passion ein Eingreifen Gottes auf der Täterseite sehen
wollen, besteht die antimythische subversive Botschaft der Passion darin, dass Jesus
auf einen Gott hinweist, der konsequent als Opfer in das Geschehen eingreift
beziehungsweise sich eingreifen lässt und dadurch den Menschen zu erfahren gibt,
dass die Tötungsgewalt keinen göttlichen Ursprung hat und ohne göttliche
Rechtfertigung ist, dass vielmehr diese Gewalt ihnen selbst zuzuschreiben und allein
von ihnen zu verantworten ist.
Um der mythischen Sequenz jenseits der Ereignisebene zu folgen, müssten die
Evangelien sich den gegen Jesus vorgebrachten Anschuldigungen anschließen und
in der Bilanzierung der Jerusalemer Ereignisse den Standpunkt der in der kollektiven
Gewalt geeinten und neugegründeten Gemeinschaft vertreten. Stattdessen stellen
sie die Passion als schreiende Ungerechtigkeit dar. Mit dem Psalmwort: Ohne Grund
haben sie mich gehasst, 660 markiert der Evangelientext Jesu Distanz von der Rolle
eines Sündenbocks, eines pharmakos oder einer Iphigenia, die alle nach der
kathartischen antiken Methode durch ihre Vertreibung oder Hinrichtung die
angestrebte purgierende und rettende Wirkung entfalten. Mit Jesu Gebet am Kreuz:
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, 661 gibt der Evangelist in aller
Deutlichkeit zu erkennen, dass sich für die Passion neben der mythischen in der Tat
ein zweite Lesart aufdrängt. Während alle Beteiligten sich so verhalten, wie es die
Regie der Gründungsgeschichte vorsieht, entziehen sich allein das Opfer als victime,
welches weiß, dass es kein Opfer als sacrifice ist, und die wenigen durch den
früheren Umgang mit Jesus initiierten Zeugen, denen allmählich die Augen
659
René Girard, Des choses cachées, S. 190
Joh 15, 25, vgl. Ps 35, 19
661
Lk 23, 34
660
205
aufgehen, dem mythischen Sog. Was die Akteure nicht wissen, obwohl sie es wissen
könnten, ist die in der langen antisakrifiziellen Tradition der Bibel herangereifte
Lektion, dass dieser Gott nichts mit den Stammes- und Staatsgöttern gemein hat,
deren Autorität auf der Heiligung der Opfergewalt gegründet ist. Dieses Wissen um
die Versöhnbarkeit der Menschen ohne viktimäre Konklusion 662 sowie um die soziale
Synthese ohne aufbauendes Feindbild, das Jesus mit seinem Gott, den er Vater
nennt, teilt, lässt sich indes nicht in Lehrsätzen explizieren oder gar in einem
Streitgespräch durchsetzen. Dieses Wissen wird offenbart im radikalen Verzicht auf
jede Geste der Überwältigung und des Rechtbehaltens. Der in den Erzählungen des
Neuen Testaments aufgedeckte Gründungsmechanismus wird in der Passion erneut
in Bewegung gesetzt, und zwar um diese Entdeckung zu unterdrücken und um die
Stimme dessen, der ihn durchschaut und denunziert hat, zum Schweigen zu bringen.
Nach der Auskunft der Evangelientexte lässt sich jedoch die Erkenntnis, dass alle
Gewalt einen menschlichen Ursprung hat und dass alle Opferlogiken auf Täuschung
und Selbsttäuschung beruhen, nicht mehr unterdrücken. Kein Gott trägt Schuld
daran, dass es Krankheiten, Seuchen, Katastrophen und Kriege gibt.
Girard notiert, dass Markus und Lukas am Ende ihrer Passionsberichte ein Wunder
geschehen lassen, il n´y en a qu´un, et il a une portée symbolique remarquable: 663
Im Augenblick des Todes des Gekreuzigten reißt der Tempel des Vorhangs von oben
bis unten entzwei. Dies ist wie die Enthüllung der choses cachées depuis la
fondation du monde, die Enthüllung und Bloßstellung der Gewalt als dem Grund der
alten Religionen und Kulturen. Der Vorhang ist die Sichtblende, die den Menschen
den Blick auf das Opfergeheimnis versperrt; er kleidet den Gewaltkern in eine Aura
der Heiligkeit. Mit Jesu Tod – und dem Zerreißen des Vorhangs - ist nun der Blick
freigegeben, und keine Illusion sollte mehr diesen Blick trüben.
Mit der antimythischen und nichtsakrifiziellen Deutung des Passionstextes verlässt
Girard den engeren Bereich der Literaturkritik und verarbeitet seine Theorie von der
konfliktiven Mimesis und ihrer Folgenbewältigung zu einem geschlossenen
anthropologischen und soziologischen Konzept, das sich auch als kritische Apologie
des Christentums 664 versteht. Indem er das Prinzip der Triangulierung der
menschlichen Verhältnisse von der Literatur auf weitere Kulturbereiche anwendet,
zum Beispiel auf die Ökonomie, 665 die Pädagogik ,666 die Psychologie, 667 die
Geschichtsschreibung 668 kommt er zu überraschenden Einsichten und gibt Anstöße
zu einer Kulturbetrachtung, die trotz der eher pessimistischen Befunde zur
662
Lk 23, 12 liest sich wie eine viktimäre Konklusion, die erzielte Einigung ist aber historisch folgenlos:
„An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren se Feinde gewesen“.
663
René Girard, Des choses cachées, S. 257, vgl. Mt 15, 38 ; Lk 23, 45
664
Untertitel der mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk versehenen Übersetzung von: René Girard,
Je vois Satan tomber comme l´éclair, Paris 1999
665
Vgl. Paul Dumouchel et Paul Dupuy, L´enfer des choses, Paris 1979. Paul Dupuy spricht von der
spirituellen Dimension des Kapitalismus, dessen Anliegen entgegen der soziologischen Deutung von
Max Weber nicht materieller, sondern symbolischer Art sei. Seine Dynamik verdanke sich weniger der
simplen Aneignung von Objekten, sondern dem Neid, und die Objekte des Begehrens seien Symbole
des Neids, in denen der Vermittler oder der Andere gegenwärtig sei.
666
Vgl. Giuseppe Fornari, Les marionnettes de Platon, « L´anthropologie de l´éducation dans la
philosophie grecque et la société contemporaine», in : Maria Stella Barberi (Hg.), La spirale
mimétique.Dix-huit leçons sur René Girard.
667
Vgl. Livingston Paisley, Models of Desire, René Girard and the Psychology of Mimesis, Baltimore
1992
668
Vgl.Nicolaus Sombart, Wilhelm II., Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996
206
Ausgangslage der condition humaine von der Hoffnung auf ein Ende der Gewalt
beseelt ist.
669
Peter Sloterdijk, der bekundet, dass sein Beschreibungsversuch für moderne
Mediengesellschaften durch Anregungen von René Girard und Gabriel Tarde
motiviert ist, 670 formuliert in der ihm eigenen philosophierenden Erzählweise die
aktuelle kulturhistorische Herausforderung, die darin besteht, dass ein Ausweg aus
der sakrifiziellen Logik mit all ihren kulturtechnischen Derivaten, die immer wieder zur
mimetischen Krise und zur Konfrontation der doubles führt, gefunden wird. Seine
Erkundungen nach wohnbaren Sphären, in denen sich auch im planetarischen
Maßstab atmen und wohnen lässt, lesen sich geradezu als einfühlsamer Kommentar
zu Girards Welt der harmonischen und opferfreien Beziehungen. Beide
Denkbewegungen konvergieren im Aufzeigen von Möglichkeiten zur mythischen
Entspannung und Abrüstung und im Hinweis auf neue, beziehungsweise aus dem
religiösen Fundus neu gehobene Formen der colle collective, einer sozialen
Immunisierung mit durchlässigen Grenzen. In der zur Abwendung der ultimativen
Katastrophe unabdingbaren Absage an metaphysische Statik und in der Vision von
selbsttragenden und flexiblen Verbindungen plädieren beide – mit unüberhörbarem
apokalyptischen Unterton - für das Erproben alternativer Architekturen, nicht nur im
Bereich der gesellschaftlichen Zellen und Körper – Sloterdijk stellt dem
viktimologischen Kollektiv eine Gesellschaft der durchlässigen Wände 671 gegenüber
- , sondern auch und vor allem im Denken:
Die Denkaufgabe besteht aber in etwas viel Umfassenderem – in der Notwendigkeit,
die opferholistische Denkform als solche aufzuheben, und mit ihr das gesamte
Paradigma der zweiwertigen Weltauslegungen. Von diesen stammt unser Erbe an
Paranoia, von der wiederum der militante Ernst abhängt und dessen ganzes Gefolge
an Auslöschungsbereitschaft nach innen und außen. Was klinisch Paranoia heißt, ist
bewusstseinstheoretisch die Folge aus dem allzu engen Sichanketten von
Kultursubjekten an ihre Weltbilder, ihre Gemeinschaften und ihre Moralen – Luhmann
würde von Weltbeschreibungen erster Ordnung sprechen. Die überfällige Abkehr
vom Opfersystem gelingt nur dann, wenn man die Kampfmetaphysik und den
Militärholismus, allgemeiner: den politischen Holismus der historischen Gruppen
außer Kraft setzt, ohne in die individualistische und nihilistische Falle zu laufen – das
ist die Wette der zeitgenössischen Philosophie, wo sie auf der Höhe der Probleme
denkt. Natürlich ist das auch das Engagement des ‚Sphären’-Projekts. Unser
Ernstfall besteht darin, dass wir den Ernstfall der Zweiwertigkeit, die tötet,
unterwandern. Jedes Weltalter hat eine Idee von dem, was ihm als das Ernsteste
gelten soll – und für uns ist die Überwindung der Feindlogik der Gedanke, ernster als
welcher nichts gedacht werden kann. Der Feind ist die eigene Zweiwertigkeit als
Gestalt. 672
Dass Girard in seiner menschheits- und kulturgeschichtlichen Perspektive den
Passionsberichten die exklusive Funktion zuweist, den Opferholismus außer Kraft zu
setzen und im Hinblick auf die Ahnungslosigkeit der Täter die folgenlose Absorption
der Gewalt durch das Opfer und besonders das leere Grab die Ohnmacht des
669
Titel der Übersetzung von Girards Hauptwerk Des choses cachées depuis la fondation du monde
Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrich, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen,
Frankfurt/M 2001, S. 76
671
P. S. Im Weltinnenraum des Kapitalismus, Frankfurt/M 2005, S. 239 - 241
672
Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrich, Die Sonne und der Tod, S. 314
670
207
kulturell vielfach erprobten und mythengestützten violence-et-sacré-Verfahrens zu
demonstrieren, mag angesichts der theologischen, dogmatischen und
kirchengeschichtlichen Tradition, die an das Passionsgeschehen anknüpft, als völlig
inakzeptable Reduktion erscheinen. Auch darf es nicht überraschen, dass er, wenn
er die nach seiner Passionsauslegung erfolgte Aufdeckung und Zerschlagung des
Opfergedankens als den geoffenbarten göttlichen Willen bezeichnet, sich den
Vorwurf einhandelt, ein Gnostiker im Gewand des Kulturtheoretikers 673 zu sein, der
die christliche Lehre zu einem bloßen Beispiel für seine mimetische Theorie und für
die Erklärung der Gewaltentstehung und –bändigung herabsetzt.
Da es bei der gegebenen Aufgabenstellung nicht um eine fachtheologische
Bewertung von Girards Exegese, sondern um die strukturelle Unterscheidung der
biblischen und der mythischen Erzählsequenz geht – sowie um die Brauchbarkeit der
gewonnenen Kriterien für die Entzifferung von Erzählungen am Ende des 20.
Jahrhunderts -, sei abschließend auf einen neutestamentlichenText verwiesen, in
dem sich wegen seiner Kürze und vor allem seiner im Vergleich mit den
Passionsberichten geringeren theologischen Befrachtung die Typologie der
antimythischen und desakralisierenden Erzählung in fassbarer Weise zu erkennen
gibt.
Mit Stephanus präsentiert der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte einen
jener hellsichtigen Zeugen, die in der Hinrichtung am Kreuz eine Fortsetzung der
Prophetenmorde sehen, welche wiederum als Handlungs- und Erzählvorlage für die
Ermordung des ausgesandten Sohnes durch die bösen Winzer gedient hatten. Da er
um die Unschuld Jesu ebenso weiß wie um die Unschuld der Propheten, und da er
genau beobachtet hat, dass von der Entladung der kollektiven Gewalt gegen Jesus
zwar eine vorübergehende Einmütigkeit ausging, dass aber die freigesetzte Energie
zu keinem transfert créateur führte, der die Täter hätte dekulpabilisieren sowie das
Opfer hätte sakralisieren und in einen mythischen Helden verwandeln können, da er
also Träger eines Wissens ist, das den mörderischen Autoritäten gefährlich werden
könnte, muss er von diesen zum Schweigen gebracht werden. Obwohl alle
Modalitäten des Verfahrens mit ritueller Gründlichkeit beachtet werden, stellt sich am
Ende der erhoffte Konsensus nicht ein. Und Stephanus legt in seiner Rede vor dem
Hohen Rat das Gewalfundament der bestehenden Ordnung bloß und prangert die
neuerliche Gewalttätigkeit gegen den an, der die Perfidie dieser Ordnung
durchschaut hatte. Mit diesem Wissen gibt es zwischen ihm und dem Hohen Rat
keinen Kompromiss. Auch kann dieses Wissen nicht argumentativ dargelegt werden.
Daher endet der Text, wie er endet. Indem er stirbt, wie Jesus gestorben ist, und aus
dem gleichen Grund wie er, wiederholt Stephanus als erster in einer langen Reihe
von Zeugen die Aufdeckung der Gründungsgewalt.
Für Girard ist damit die Wende von der Mythologie zum Verfolgungstext endgültig
vollzogen. Die Evangelien markieren für ihn den Punkt, von dem an die mythische
Überhöhung des Opfers zum Opferhelden unglaubwürdig ist und von dem an der
Gründungsmechanismus durchschaut und für alle durchschaubar ist.
Il faut comprendre qu´il n´y aura pas de victime, désormais, dont la persécution
injuste ne finisse par être révélée en tant que telle, car aucune sacralisation ne sera
possible. Aucune production mythique ne viendra transfigurer la persécution. 674
673
674
René Girard, Ich sah den Satan, Nachwort von Peter Sloterdijk, S. 251
René Girard, Des choses cachées, S. 196
208
Sollten also Sakralisierungen nicht mehr funktionieren, stattdessen hinterfragbar
werden oder gar nur bei entsprechender ideologischer Konditionierung oder auf
autoritäre Anordnung hin durchsetzbar sein, kann das nicht ohne Folgen für die
Sache des Erzählens sein, wenn das Anliegen des Erzählens darin besteht, dass die
Möglichkeiten der menschlichen Beziehungen, der Gemeinschaftsbildung, der
Wohnbarkeit und der Atembarkeit der Sphären reflektiert und ausgeleuchtet werden.
Die Fernwirkung – jedenfalls in der vom Evangelium berührten Welt der westlichen
Zivilisation -, die Girard der Stephanus-Erzählung und mit ihr allen Märtyrerlegenden
prognostiziert, ist daher eindeutig: C´est pourquoi nous avons toujours moins de
mythes proprement dits dans notre univers évangélique et toujours plus de textes de
persécution. 675
Die Stephanus-Erzählung ist der Typ des Verfolgungstextes, der die Steinigung als
Lynchmord, das heißt als Massenmord mit der Masse in der Rolle des Mörders zu
erkennen gibt, der für die Brutalität der Täter keinerlei Rechtfertigung liefert und dem
Protagonisten jede soziale Bedeutung und Anerkennung versagt. Aber auch ein
Verfolgungstext, der weder die Absichten der Verfolger teilt noch die Blindheit des
Schicksals bemüht, sondern sich auf die Seite des Verfolgten stellt und seine völlig
illusions- und ausweglose Lage gleichzeitig als Moment der Erleuchtung und der
Gottesbegegnung schildert.
Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist
widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure
Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten
geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr
durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, aber es nicht gehalten
habt .[…] Als sie das hörten, waren sie aufs äußerste über ihn empört und knirschten
mit den Zähnen. Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah
die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur rechten Gottes stehen und rief: Ich sehe den
Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Da erhoben sie
ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los,
trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. 676
Die Stephanuserzählung verdeutlicht Girards Annahme, dass die Alternative zur
mythischen und rituellen Sequenz in einem im christlichen Sinn heilsgeschichtlichen
Verlauf besteht, der wiederum auf die in den Romananalysen entdeckte
Verwandtschaft zwischen der romanesken und der religiösen expérience verweist.
Daher ist Stephanus kein mythischer Held, der sein Leben für eine ‚gute Sache’
eintauscht, und es wird ihm keine Grabstätte errichtet, die seine Verletzungen
kaschiert und sein Andenken bewahrt. Sein Ende ist aber auch nicht das des
absurden Helden. Er ist der erste Märtyrer. Er bezeugt, nicht durch seine
Verlautbarung, sondern durch seinen Tod, dass die erlittene Gewalt weder einen
heiligen Ursprung noch eine heiligende oder auch nur heilende Wirkung hat, dass sie
vielmehr Menschenwerk ist und dass immer wieder und geradezu zwanghaft zur
Verheimlichung dieses ihres Ursprungs zu ihr gegriffen wird. Während der Frieden
dieser Welt, also die kulturelle Ordnung als solche über die Verstoßung und
Opferung des Sündenbocks erreicht wird, verweisen die evangelischen Texte in
Präzisierung der hebräischen Bibel auf den ungerechten und heuchlerischen Aspekt
675
676
ebenda
Apg 1, 51 - 58
209
des sakrifiziellen Systems. Sie verkünden, dass die auf diesem antiken Pfad
gefundene Ordnung eine böse und zugleich fragile Ordnung ist, weil sie auf die
ewige Wiederkehr des Sakralen in Form des sakrifiziellen Zyklus angewiesen ist.
Soll es nach den Entdeckungen von Girard eine vérité romanesque geben, die die
Aussicht eröffnet, dass sich in der Verfolgung der Stationen des Begehrens und bei
der Klärung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens andere Ergebnisse
als die im mythologischen Umkreis erhobenen erzielen lassen, wird zu zeigen sein,
ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die von ihm gemachten literarischen
Entdeckungen sich zur Decodierung von Erzählungen verwenden lassen, welche
explizit nicht unter die von Girard immer wieder angesprochenen Meisterwerke
subsumiert werden können. Von Girard selbst sind keine Äußerungen zur aktuellen
Romanproduktion bekannt außer der, dass es solche geben soll, die das mimetische
Begehren abbilden und andere, die es durchschauen. Die abbildenden Varianten
würden nach Girards Analyse das mythologische System perpetuieren, während
die letzteren, ebenso bewusst oder unbewusst, dem Projekt der im westlichen
Kulturkreis insbesondere von der Bibel propagierten antisakrifiziellen Aufklärung
verpflichtet wären, welche darin besteht, dass den Ritualteilnehmern ein Wissen
darüber aufgeht, dass sie in Wirklichkeit Verfolger sind, dass sie nicht länger guten
Gewissens sich um ein von ihnen zum kollektiven Nutzen schuldig gesprochenes
Opfer scharen können und dass sie, wenn sie es dennoch tun, wissen müssen, was
sie tun.
Nach François Lagarde - ehemaliger Girard-Schüler und seit 1995 auf dem Lehrstuhl
für französische Literatur in Stanford (Kalifornien) – ist Girards mimetische Theorie in
der Literaturkritik vor allem der USA von großem Einfluss. Mit Hilfe des Girardschen
Konzepts der durch die Begehrensnachahmung ausgelösten, sich zuspitzenden und
gewaltsam beziehungsweise durch Begehrensverzicht auflösenden Rivalität werden
literarische Werke erschlossen, wird die Ereignisabfolge zu einer schlüssigen
Handlung gedeutet, werden die Motive der Protagonisten offen gelegt. So begreiflich
es ist, dass diese Theorie als literaturkritischer Ansatz sich solchen Texten zuwendet,
bei denen sie auf ausformulierte konkurrierende Interpretationsansätze trifft und sich
mit ihnen messen kann, dass sie also ihre Leistungsfähigkeit an den kanonisierten
Werken der Literatur 677 nachzuweisen sucht, so lohnend mag es sein, dieses in den
romanesken Erzählungen entdeckte, in den ethnologischen Befunden erhärtete, in
der biblischen relecture bewahrheitete und zu einer allgemeinen Kulturtheorie
erweiterte Modell als Leseraster für solche narrativen Werke zu verwenden, die zum
einen – zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit - außerhalb des von Girard direkt
bearbeiteten erzählerischen Materials liegen, zum andern durch ihren
Entstehungsort, ihren jeweiligen kulturellen Hintergrund und die gegebene
Autorensituation in den USA, Frankreich und in Russland eine gegenseitige
Einflussnahme oder Abhängigkeit nicht ohne weiteres vermuten lassen.
677
François Lagarde, op. cit., S. 182 erwähnt als Beispiele die spanische comedia, Cervantes, Léon
Bloy, Bernanos, Racine, Molière, Harold Pinter, Valéry und besonders die Literatur des 18.
Jahrhunderts.
210
10. Zusammenfassung
Die Girardsche Methode ist die des mimetischen Realismus. 678 Dieser Realismus
nimmt die aristotelische Feststellung über die menschliche Nachahmungsfähigkeit
und Nachahmungsbedürftigkeit beim Wort und entfaltet die weitestgehenden
anthropologischen, intersubjektiven und sozialen Konsequenzen. Auf Grund der
Dynamik der mimetischen Relation sowohl im Mikro- als auch im Makrobereich
kommt es zu der Infragestellung der vorherrschenden – Girard nennt sie auch die
romantischen – Auffassungen des autonomen Subjekt und seines Begehrens aus
eigenen Stücken. Unser Begehren, so Girard, verdankt sich immer dem Begehren
eines anderen, welches wir nachahmen. Wenn es der Gruppe der
Zusammenlebenden nicht gelingt, eine hierarchisierende Differenz zwischen dem
begehrenden Subjekt und und seinen Rivalen zu errichten, nimmt die Nachahmung,
zumal sie pandemisch verläuft, antagonistische Formen an und beschwört in letzter
Konsequenz den kollektiven Suizid herauf. Dabei verliert das Objekt der Begierde in
dem Maß an Bedeutung, wie die Rivalen an- und gegeneinander geraten und ihr
Hasspotenzial sich auflädt. Die Annahme einer mimetischen Mechanik lässt nicht nur
die zwischenmenschlichen Beziehungen in einem neuen Licht erscheinen; auch die
Frage nach der persönlichen Identität wird neu gestellt sowie die der
psychopathologischen Verwicklungen. Von größter Bedeutung ist indes die
Rückwirkung des unkontrollierten Mimetismus auf das Kollektiv, wenn dieser zur
Matrix von Konflikten wird, die sich in Ressentiments, Rachereaktionen und im
Ausbruch von kollektiver gegenseitiger Gewalt äußern. Die einzige Möglichkeit, der
kollektiven Selbstauslöschung zu entgehen, besteht darin, dass die gegenseitige in
eine einseitige Gewalt transformiert wird. Daher setzt jede kulturelle Emergenz
voraus, dass es eine Kontroll- und Schaltinstanz gibt, die die von dem mimetischen
Begehren immer wieder von neuem ausgeschiedene Gewalt neutralisiert und in
sozial unschädliche Formen überführt. Insofern gilt die Formel, dass die Erforschung
des Mimetismus einem priviliegierten Zugang zur Erforschung der condition humaine
gleichkommt.
Da die mimetische Theorie zunächst über die Lektüre der großen Romane gewonnen
wurde, in denen naturgemäß die konfliktiven menschlichen Beziehungen thematisiert
werden, überwiegen in Girards Analysen die negativen und zerstörerischen
Konsequenzen des mimetischen Begehrens. Eher beiläufig wird zum Ausdruck
gebracht, dass die Imitation zwar als solche eine anthropologische Konstante ist,
dass sie aber wesentlich ambivalent ist. Während sie einerseits die Nachahmenden
in die Kollision treibt, ist sie gleichzeitig die Basis jeder kulturellen Tradition und der
erste Schritt einer jeden Kooperation. Bevor es aber zur positiven Nachahmung
beispielsweise in den Prozessen des Erziehens, Lernens, in der Kunst, im Erkennen
und in der emulativ-enthusiastischen Vergemeinschaftung kommen kann, muss der
soziale Raum der Kooperanten quasi entmimetisiert, eingefriedet und somit erst
hergestellt werden.
Überwunden wird das mimetische Chaos nicht durch die rationale Konstruktion eines
Vertragsschlusses, wenngleich die Übertragung der allseitigen Gewalt auf einen
absoluten Souverän eine formale Ähnlichkeit mit Girards Sündenbock-Verfahren
678
René Girard, Les origines de la culture, S. 38 : « Georges Poulet a également lu mon manuscrit
(Mensonge romantique, d. Verf.) et a réagi avec une certaine violence. [...] J´étais content, au fond,
d´une réaction qui confirmait à mes yeux la valeur de protestation de mon réalisme mimétique ».
211
aufweist. Girards bouc émissaire dient als Kollektor, der die sich pest-, flut- und
feuerförmig ausbreitende Gewalt – im Hegelschen Doppelsinn – aufhebt und sie in
rituell
überwachter
Dosierung
in
kultische
Energie
umsetzt.
Der
Sündenbockmechanismus kanalisiert die kollektive Gewalt und verwendet deren
Energie, von Mal zu Mal, das heißt Opfer um Opfer, zur Konstruktion des prekären
Gebäudes der Institutionen und zur Begründung jener ethischen Normen, welche,
indem sie die konfliktive und appropriative Nachahmung als Sünde beziehungsweise
als Delikt ausgeben, gleichzeitig die positiven Aspekte der Nachahmung kulturell
prämieren.
Wenn Michel Serres die auf dem bouc émissaire gründende Kulturtheorie als
darwinistisch 679 bezeichnet, bedeutet dies, dass diese sich auschließlich aus ihren
Resultaten erklärt und daher nicht falsifizierbar ist sowie dass das sie konfigurierende
Urereignis kontingenter, von Zufall und Notwendigkeit bestimmter Art ist. Während
die Anthropologen, die Historiker, die Soziologen und die Naturwissenschaftler ihre
Kulturtheorie einem empirischen Gegenstand über die jeweilige Feldforschung
abgewinnen, erlaubt die darwinistische Hypothese einen Zugriff auf die Dinge seit
Anbeginn der Welt. Dort muss am Ende einer längeren Phase von Versuch und
Irrtum und gegebenenfalls nach dem Scheitern von magischen Praktiken zufällig der
Opfermechanismus, der sich als geeignet für die Pazifizierung der frühmenschlichen
Gruppe herausgestellt hat, herausgefunden worden sein, und dieser
Opfermechanismus muss sich ebenso als notwendig und unerlässlich erwiesen
haben für die Herausbildung von Verhaltensmustern, die dem Kollektiv Bestand und
Dauer versprechen. Von diesem Mechanismus aus müssen sich sowohl die
symbolischen Formen, also Sprache und Riten, entwickelt haben, die die Menschen
zur Orientierung in einem Verband mit wachsender Komplexität benötigen und die
diesen Verband stabilisieren, als auch die kognitiven und technischen Instrumente,
die die Adaptionschancen der Gruppe erhalten und perfektionieren. Kontingent ist
also dieses rettende Proto-Ereignis insofern, als einerseits keine Notwendigkeit zu
seiner Entdeckung führt, andererseits ohne seine akzidentelle Erfindung die
anstehende Selektionsschwelle nicht überschritten worden wäre und die betreffende
Gruppe aus dem Regelkreis der Selbstzerstörung nicht herausgefunden hätte.
Schließlich ist Girard durch die Betonung der Kontingenz des Urereignisses in der
Lage, den Vorwurf zurückzuweisen, das von ihm formulierte Sündenbockverfahren
sei
überdeterminiert
durch
seine
religiöse
Grundeinstellung.
Der
Sündenbockmechanismus, der für die Mitglieder der frühmenschlichen Gruppe den
Rang einer Hierophanie hat, enthüllt sich als ein quasi natürlicher Vorgang. Wenn die
Theorie der natürlichen Selektion die Entwicklung der tierischen Arten erklärt, fungiert
die Girardsche Sündenbocktheorie als eine Theorie der Gewaltkontrolle und damit
der kulturellen Emergenz oder Fitness und gibt eine Antwort auf die Frage nach der
Entstehung und der Evolution der Kulturen. Wie die jeweiligen Arten, sind nach
dieser evolutionären Kulturtheorie auch die jeweiligen Kulturen das Ergebnis eines
prinzipiell offenen Selektionsprozesses, der in seiner jeweils aktuellen Phase zu einer
Passung der Umwelt gegenüber geführt hat - und weiter führen wird.
Indem der Girardsche Mimetismus durchweg als ein mécanisme vorgestellt wird,
kann die mimetische Theorie als eine erzählende Theorie verstanden werden, die
eine geregelte und gerichtete Ereignisabfolge beobachtet und abbildet. In Anlehnung
679
Vgl. Michel Serres, Atlas, Paris 1994, S. 220 : « En ce qui concerne les groupes humains René
Girard serait à Darwin ce que Georges Dumézil est à Linné, parce qu´il propose une dynamique,
montre une évolution et donne une explication universelle ».
212
an die formalistische Formulierung von Vladimir Propp ist sie daher als Sequenz,
Serie, Parcours, Prozess oder Prozedur, keinesfalls als Zyklus zu bezeichnen. Der
referenzielle Kern dieser Sequenz, deren phänomenologische beziehungsweise
narrative Ausgestaltung ähnlich wie in den von Propp untersuchten Märchen
unabschließbar weit und für unzählige Kombinationen offen ist, lautet: Es entsteht ein
mimetischer Konflikt mit kumulativer und kontaminierender Wirkung, der in dem
Augenblick erlischt, wo sich ein letztes Opfer findet, gegen das sich alle zusammen
tun, das alle verachten, das alle für die drohende soziale Katastrophe haftbar
machen und das sie schließlich umbringen. Liegt das Opfer in seinem Blut, kommt
die kollektive Raserei zur Ruhe. Plötzlich ist der Frieden in die Gemeinschaft
zurückgekehrt, welche jedoch das Verdienst für die allgemeine und wundersame
Versöhnung sich nicht selbst zurechnet. Die Menschen betrachten die eingekehrte
Harmonie als eine segensvolle Gabe des Wesens, das sie gerade getötet haben,
weil sie in ihm den Urheber allen Übels sahen. Nun erweist sich der Übeltäter als ein
Wohltäter, und der Sündenbock wird zur Gottheit – im archaischen Sinn umgedeutet, das heißt zu der einen und unteilbaren, für das Wohl und das Übel
zuständigen Allmacht. In äußerster Abstraktion weist diese Sequenz eine drei
Phasen umfassende Morphologie auf, die schon Aristoteles in der
Tragödienproduktion seiner Zeit ausgemacht hat: den anfänglichen Konflikt, die dem
Höhepunkt entgegendriftende Krise in der Mitte, die kathartische Lösung am Ende.
Katharsis in diesem Sinn hat eine streng soziodramatische, keine theologische und
keine psychologische Funktion. Sie ist der Moment der Reinigung der Gemeinschaft
von der reziproken Gewalt, morphologisch auf einer Stufe mit der Konfiguration des
Exekutionskommandos und des Todeskandidaten, mit dem Spruch des Strafrichters
im Namen des Volkes oder des Gesetzes gegenüber dem Angeklagten, mit der
Szene der Menge, welche den Einzelnen durch ihren Applaus isoliert, mit dem show
down des Kriminalfilms oder des Westerns, aber auch mit dem Werk des Künstlers
oder der Theorie des Wissenschaftlers in dem Moment, wo diese ihre Vorgänger
überwinden und einen Schaffensprozess abschließen.
Ebenso kontingent wie das Auftreten des Sündenbockmechanismus als solcher ist
die Wahl des Sündenbocks. Es können die im nachhinein von der mythischen
Bearbeitung festgestellten spezifischen Gebrechen sein, die ein Wesen geeignet
erscheinen lassen, den mimetischen Furor gegen sich zu entfachen und durch
seinen Tod das Kollektiv von der Gewalt zu purgieren und zu re-harmonisieren. Es
genügt aber auch, dass einer kommt und dieses Sündenbockverfahren lautstark
kritisiert und dadurch als fauteur de troubles sich plötzlich isoliert und dem Hass der
Vielen ausgesetzt sieht, die sich nicht vorstellen können, dass man jemals auf das
bewährte Mittel der Pazifizierung und die Basis der kollektiven Integrität verzichten
könnte. Das prominente Beispiel für diesen Verrat an der archaischen
Befriedungspraxis und für die – im Rahmen der Girardschen Sequenz –
vorhersehbare Reaktion des herausgeforderten Kollektivs stellt der Prozess Jesu
dar, wie ihn die Evangelien erzählen. 680 Gleichzeitig aber wird durch diesen Prozess
und die Passion die viktimäre Logik auf irreversible Weise erschüttert und einer ihrer
Grundvoraussetzungen beraubt, nämlich der Annahme, dass das Opfer schuldig sei
und dass es besser sei, dass einer für das ganze Volk sterbe. Formuliert man die
Passion als eine neuartige, christliche Sequenz, dann beginnt mit ihr die Phase, wo
die Menschen sich bei der Bewältigung ihrer Konflikte und Krisen frei machen von
680
René Girard, Les origines de la culture, S. 79 : « Si quelqu´un dénonce le mécanisme du bouc
émissaire, et si celui-ci finit par prévaloir, ce fauteur de troubles en sera la victime toute désignée ».
213
der Notwendigkeit, auf die Schuldigsprechung und Opferung von Sündenböcken
zurückzugreifen.
Während die Evangelien davon berichten, dass die Passion Jesu keinen
solidarisierenden Effekt hat und insofern kein ‚perfektes Verbrechen’ darstellt, halten
die Mythen daran fest – und in den Riten wird diese Überzeugung planmäßig
nachgestellt und -, dass das Opfer schuldig ist, die Ausstoßung verdient und eben
dadurch sich um das Kollektiv verdient macht. Dabei bildet das Corpus der Mythen
und der Riten, denen Girard als autodidaktischer Anthropologe nachgeht, eine
einzige Indizienkette, die den Nachweis zu erbringen hat, dass in ihnen seit
Anbeginn der Welt eine schreckliche und aus Gründen der kulturellen
Selbsterhaltung stets unterdrückte Wahrheit verborgen ist, die Wahrheit nämlich,
dass die Menschen Begehrensnachahmer sind und daher ihre Gesellschaften,
sofern sie nicht historisch untergegangen sind, sich der Tötung von Sündenböcken
verdanken. In der Tat haben die Mythen und Riten ein und denselben Referenten
und erzählen immer die gleiche Geschichte: die Geschichte von einem
Gründungsmord, der sich tatsächlich ereignet hat, aber immer von einer
mythologischen Struktur kaschiert wird, welche zugleich der Ursprung der Kultur ist.
Und dieser Mord kann nur in verhüllter Form vergegenwärtigt werden, denn die
Kultur und deren soziale Ordnung können im Interesse ihrer Stabilität und des
inneren Friedens nicht mit dem Gedanken leben, dass sie ihre Gründung einem
Lynchmord verdanken. Girard aber, indem er die Mythen und Riten vergleicht und
ihre Konstanten herausstellt, beobachtet gewissermaßen den Mörder, der immer
wieder zum Tatort zurückkehrt, nimmt seine Spuren auf und ermittelt gegen ihn.
Dieses Beobachten und das Festhalten an einer bis auf Mensonge romantique
zurückgehenden Intuition ist nicht etwa das Derivat einer auf Grund biographischer
Notizen vermutbaren religiösen Option. Girard betont die Wissenschaftlichkeit seines
mimetischen Realismus, den er als Leseraster bei seinen literarischen Analysen
anwendet und dessen Erschließungsleistung er als den konkurrierenden
Decodierungen überlegen betrachtet. Da nicht die Fachwissenschaften, sondern die
Werke der Literatur das Wissen um das menschliche Verhalten thesaurieren, gilt es,
die Literatur als Untersuchungsinstrument zu betrachten und mit empirischen
Methoden die in sie eingelassenen anthropologischen und ethnologischen
Konstanten zu ermitteln. Literatur wird für Girard zur Materialsammlung, die ihm die
Beweise für die Richtigkeit seiner Sequenz bereitstellt. Allerdings liegen diese
Beweise nicht in einer Art Paragraphensammlung vor; sie sind keine direkten
Beweise, sondern als Indizienbeweise in Erzählungen eingeschlossen, und die
Ermittlungskunst des mimetischen Realisten besteht darin, die unter der bisweilen
faszinierenden und die analytische Aufmerksamkeit blockierenden erzählerischen
Oberfläche verborgenen mimetischen Prinzipien aufzudecken und die immergleiche
Sequenz wiederzuerkennen und zu rekonstruieren.
Im Rückblick auf sein Schaffen räumt Girard ein, dass sein Literaturbegriff als
littérature comme preuve wegen der Engführung auf das Mimetische und wegen der
Einfachheit des begrifflichen Apparats angreifbar ist. Je suis toujours à la recherche
de preuves circonstantielles, et certains critiques trouvent cette constante assez
détestable. 681 Dennoch sieht er sich nicht in der Rolle des Notars, der die
angetroffenen Sachverhalte bloß zu registrieren und zu archivieren hätte. Da jeder
681
René Girard, Les origines de la culture, S. 228
214
Erzähler seinen eigenen geschichtlichen Hintergrund und den seiner Gesellschaft
miterzählt, bearbeiten die verschiedenen Autoren den mimetischen Mechanismus auf
jeweils eigene Art, wobei hinzukommt, dass, wie Propp es auch in der
Märchenforschung festgestellt hat, die intrasequenziellen Kombinationen wie auch
die sprachlichen Variationen prinzipiell unbegrenzt sind. Doch wenn sich auch die
Mimesis von Autor zu Autor auf unterschiedliche Weise äußert und es keine
einheitliche Schablone zu ihrer Erkennung gibt, ist es für den über die mimetische
Logik Bescheid wissenden Leser ein offenes Geheimnis: Jede Erzählung, will sie
ihren Anspruch als Erzählung erfüllen, folgt dieser mimetischen Logik und dient als
Indizienbeweis für die Gültigkeit der mimetischen Theorie: Si les écrivains sont
tellement différents et que pourtant les mêmes principes fondamentaux sont
identifiables dans leurs œuvres, alors on tient là une preuve indirecte solide de la
viabilité des hypothèses mimétiques. 682
Die bereits in Mensonge romantique diagnostizierte Identität von romanesker mit
religiöser Erfahrung ist für Girard das leitende Kriterium zur Einteilung der narrativen
Formen in solche, die den mimetischen Prozess durchschauen und überwinden, und
solche, die ihn lediglich abbilden und damit die Illusionen über die Autonomie des
Subjekts und die Unbedingtheit seines Begehrens perpetuieren. 683 Diejenigen, die
den mimetischen Prozess durchschauen, enthüllen den Begehrensvermittler als
Begehrensrivalen und entwinden sich dessen Faszination durch einen Akt der
Bewusstmachung und der Umkehr. Die anderen, die den Vermittler präsentieren,
ohne die Rivalität der doubles zu überwinden, kommen nicht los von dem
gegenseitigen Überwältigungszwang und treiben unaufhaltsam auf den Punkt zu, wo
die mimetische Krise in Zerstörung oder Selbstzerstörung endet. Daher bezeichnet
der Begriff der conversion romanesque nicht nur die finale Konklusion, in der der
Protagonist nach dem Vorbild des Don Quixote sich lossagt von seinen Illusionen
und Verirrungen. Ein konvertierter Autor ist beispielsweise Shakespeare, dessen
ganzes Werk bereits diesseits der Konklusionen der Aufdeckung des mimetischen
Mechanismus dient und dem Girard mit Feux de l´envie eine detaillierte Studie
widmet, in welcher auch James Joyce als Vertreter jener vérité romanesque
gewürdigt wird. C´est pourquoi l´on retrouve toujours, chez les grand auteurs, une
sorte de conversion à la théorie mimétique. 684
Der konvertierte Erzähler kennt die mimetische Natur des Begehrens und kalkuliert
sie in das Verhalten seiner Personen ein. Daher entfällt für diese die Unterscheidung
zwischen authentischem und unauthentischem Verlangen. Sie leben in Anerkennung
ihrer selbst und des Anderen, in dem, was für Girard die vérité romanesque ist; sie
brauchen nicht die opferbasierten Konklusionen des Entweder-Du-oder-Ich eines
mensonge romantique.
682
René Girard, Les origines de la culture, S. 228
René Girard, Mensonge romantique, S. 31 : « Nous réserverons désormais le terme romantique
aux œuvres qui reflètent la présence du médiateur sans jamais la révéler, et le terme romanesque aux
œuvres qui révèlent cette présence ».
684
René Girard, Les origines de la culture, S. 229
683
215
IV. Romanlektüre mit Girard:
Die Girardsche Sequenz als Deutungsmuster
Elementarteilchen und Der himmelblaue Speck
für
American
Psycho,
Vorbemerkung:
Da die Girardsche Sequenz mit dem triangulären Begehren beginnt, zur mimetischen
Krise führt und mit der Konklusion – in Form der Konversion oder Katastrophe endet, ist in Erinnerung zu rufen, wie und warum das trianguläre Begehren entsteht
und sich immer wieder auf neue Konfigurationen übertragen lässt. In der
Auseinandersetzung mit dem Freudschen Ödipus-Komplex räumt Girard ein, dass
Sigmund Freud die Dreieckskonstellation von Subjekt, Objekt und Rivale erkannt und
die Begrifflichkeit zu dessen Beobachtung geschaffen hat, hält diese Grundfigur aber
nicht für generalisierbar, weil sie sich nicht von den Positionen des Kindes, der
Mutter und des Vaters ablösen lässt und mit dem familialen Archetypus verhaftet
bleibt. Wo dann dennoch der Versuch gemacht wird, dieses ödipale Begehren auf
ein konfliktives Szenario außerhalb dieses familialen Archetyps zu übertragen,
benötigt Freud mit dem Unbewussten und dem Todestrieb weitere instinktive
Steuerungsinstanzen, die den Ödipuskomplex als solchen zwar beschreibbar halten,
aber seinen Anspruch auf eine originäre Analyse des Begehrens und seiner
pathogenen Folgen stark einschränken. Im Unterschied zum ödipalen, familialen
Dreieck lässt sich das Dreieck des mimetischen Begehrens, welches als
Aneignungsbegehren ein vorgängiges animalisches Fundament aufweist, auf alle
möglichen Situationen übertragen. Es strukturiert ebenso die erotischen
Beziehungen wie die literarischen Handlungen, seien diese komisch oder tragisch,
dramatisch oder romanesk.
Die Frage also, wie ein literarischer Text zu entschlüsseln sei, lässt sich mit Girard
auf die Frage nach den triangulären Figuren reduzieren. Comment reproduire un
triangle? 685 ist demnach die Kurzformel für seine grille de lecture, welche darauf
angelegt ist, die Figuren des Begehrens aus dem Text herauszulesen, das heißt die
Spitzen des Dreiecks zu markieren und zu besetzen, den Verlauf des Konflikts von
der externen zur internen Begehrensvermittlung zu beobachten und von seiner
Lösung her die Unterscheidung zwischen der mythologischen und der romanesken
Intention der Erzählung zu treffen. Festzuhalten ist dabei, dass der mimetische
Konflikt keinen Enstehungsprozess durchläuft. Er ist vielmehr immer schon da, wenn
ein Begehren anhebt, denn jedes Begehren – im Unterschied vom triebhaften
Bedürfnis – ist immer schon das Nachahmen eines präexistierenden anderen
Begehrens, es existiert nur als Parasit eines Begehrens und besetzt gewissermaßen
die dritte Spitze des Dreiecks. Und insofern ist beim Eintreten des begehrten Objekts
in den Horizont des Begehrens auch der mitbegehrende Andere als Vorbild und
Rivale von Anfang an im Spiel, und seine Anwesenheit ist konstitutiv für das
Begehren.
Wird beim Begehren ein Vorbild imitiert und dadurch übergangslos der Rivale auf
den Plan gerufen, können, was die Distanz des Rivalen betrifft, verschiedene Stufen
685
René Girard, Des choses cachées, S. 378 - 391
216
beobachtet werden. Wie oben ausgeführt, unterscheidet Girard zwischen einem
entfernten Vorbild-Rivalen in der médiation externe und einem nahen Vorbild-Rivalen
in der médiation interne, wobei es der Kunst, der Phantasie und vor allem der
Beobachtungsgabe des Erzählers aufgetragen ist, die Übergangszone zu nutzen und
zu definieren.
Daher liegt es nahe, bei der Analyse der vorliegenden Erzählungen nach dem
Girardschen Verfahren
das trianguläre mimetische Begehren aufzuzeigen,
die konfliktive Verschärfung beim Übergang von der externen zur internen
Vermittlung zu beobachten und
in der Konklusion die Frage nach der Konversion oder der Katastrophe zu
beantworten
und damit den Nachweis zu versuchen, dass dieses Verfahren generalisierbar ist und
die gängigen literaturkritischen Methoden um einen originellen Ansatz erweitert.
Sollte dies gelingen, wäre zugleich der Nachweis einer Analogie zwischen der
Erzählsequenz und der nach mythischem Muster verlaufenden Handlungssequenz
erbracht, wie sie sich im Opferritual abbildet – die umgekehrte Reihenfolge wäre
ebenso gültig - , wobei die opferkritische Erzählung den gleichen mythischen Spuren
folgt und eben nur in der Bewertung der Schuld und der Diviniserung des Opfers eine
andere Position vertritt. Eine Erzählung in der Girardschen Festlegung würde daher
nur dann die Anforderungen einer Erzählung erfüllen, wenn sie dem Schema der den
Mythen und Riten abgewonnenen Sequenz entspricht, wenn sie also mit der
mimetischen Entdifferenzierung startet und mit der entweder sakrifiziellen oder
antisakrifiziellen, der biblischen Entsakralisierung nachgebildeten, romanesken
Redifferenzierung endet. Mit anderen Worten: Eine Erzählung würde nur dann den
Leser – wie auch den Verfasser - befriedigen, wenn sie sein Interesse an ihr
auslösen würde, was wiederum bedeutet, dass sie ihm als ein Dokument begegnet,
welches einen an ihn gerichteter Vorschlag zur Menschwerdung, zur Soziogenese
und zur Kulturwerdung enthält und ihn in eine Konklusion verwickelt, in der die
Alternative zwischen der romantischen und der romanesken Lösung erkennbar ist.
1. American Psycho von Bret Easton Ellis (1991)
Der Handlungsrahmen:
Alle mögen ihn, den Patrick Bateman: Er ist jung, gut aussehend, elegant, sportlich
und Nichtraucher. Für ihn ist immer ein Tisch in den angesagtesten Restaurants von
Manhattan reserviert. Er ist der Typ des im Beruf erfolgreichen Yuppies, der einem
sowohl auf der Wall Strett als auch in den Werbekatalogen von Calvin Klein und
Hugo Boss begegnet.
217
Er weiß, welche Gadget-Artikel zu welchem Preis wo zu haben sind und ist seinen
Arbeits- und Partykollegen ein stil- und markensicherer Ratgeber in allen Out-FitAnliegen. Darüber hinaus ist er ein unübertrefflicher Experte für Fragen der
Körperpflege, des Bodybuilding und der Herren- und insbesondere der
Haarkosmetik, weil diese für das jugendliche Aussehen von erhöhter Bedeutung ist.
Auffallend ist seine Verehrung für Stars und Bands der Popmusik wie Huey Lewis
and the News, Genesis und Withney Houston, denen er in seinem Tagebuch
schwärmerische Artikel widmet.
Obwohl er als Analyst in einer renommierten Broker-Agentur, bei Pierce & Pierce
arbeitet, die vermutlich von ihm täglich den vollen Einsatz abverlangt, erlebt man ihn
nicht direkt in seiner beruflichen Umgebung. American Psycho zeigt ihn vielmehr bei
den abendlichen Streifzügen durch die eleganten Restaurants und Bars, vor allem
aber bei den scheußlichsten Grausamkeiten, die er nächtens begeht: Er reißt
bettelnden Clochards die Augen aus, ersticht streunende Hunde, schläft mit
Prostituierten, die er dann in Stücke schneidet, um davon zu essen, benützt Ratten
als Tötungswerkzeuge, aber auch Schlagbohrer, Salzsäure, Messer mit gezackter
Klinge und Bolzenschussgerät.
American Psycho ist das Tagebuch, in dem Patrick Bateman seine Taten notiert,
ohne sie zu begründen oder wie etwa die Figuren des Marquis de Sade auf ein
philosophisches System und eine Weltanschauung zu beziehen. Er beschreibt mit
der gleichen Anteilslosigkeit einen gemusterten Anzugsstoff, einen ToshibaDigitalreciever und die Folterung einer Prostituierten, so dass der Leser, wenn sein
Ekel auch nicht unterdrückbar ist, die Gewaltexplosionen dieses Verrückten auch mit
einem Schuss schwarzen Humors verfolgen kann. Dass dies kein Kriminalromen ist,
wird indes bereits nach den ersten Stationen der Grausamkeit deutlich: Patrick
Bateman stürzt sich in seinen Blutrausch – bisweilen flankiert von reichlich Alkohol
und Kokain -, ohne jemals selber in Gefahr zu geraten oder gar entdeckt und mit
Strafverfolgung konfrontiert zu werden. Er ist ein Mensch, der die Frauen hasst, auch
seine Eltern und seinen Bruder, der die Clochards unausstehlich findet, der alles,
was sich ihm als andersartig darbietet, verfolgt und zerstört. Gleichzeitig ist er ein
Mensch, der perfekt integriert ist in eine Gesellschaftsschicht, die sich als modern
versteht und Macht ausübt. Da er als Glied dieser Gesellschaft einfach nur
dazugehören…will (330),686 ohne sich an ein transsoziales Wertesystem zu binden,
führt er ein rein ästhetisches Dasein, in dem seine Identität zunehmend prekär wird:
Er beginnt von sich in der dritten Person zu reden, einige seiner Kollegen sehen ihn
an Orten, die er nach seinem Bekunden nie aufgesucht hat, man spricht ihn unter
fremden Namen an, und er antwortet, ohne dass er die Verwechslung bemerkt.
Mit dem Dante-Zitat Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren beginnt die
Tagebuch-Erzählung ohne Inhaltsverzeichnis, und sie endet nach 60 Kapiteln mit der
Inschrift KEIN AUSGANG an der Sicherheitstür des New-Yorker Restaurants von
Harry’ s, wo sie nach den Auftakt-Kapiteln Aprilscherze (13 –42) und Morgen (42 –
50) auch begonnen hat. Sie endet also topologisch an ihrem Anfang. Der
Protagonist, der keine Kindheit hatte, stirbt auch keinen Tod. Patrick Batemans
Leben und Treiben geht weiter. Der aristotelische Katharsis-Moment bleibt aus, das
686
Die Zahlen in Klammern sind die jeweiligen Seitenangaben der betreffenden Werke von Ellis,
Houellebecq und Sorokin, die in den vorliegenden Ausgaben kursiv gesetzten Stellen sind durch
Unterstreichen gekennzeichnet.
218
Ende der Erzählung ist die Mitteilung, dass der Giftstoff nicht ausgeschieden werden
kann. Und diese Mitteilung ist frei von Resignation.
Mit dem Begriff der Aprilscherze in Verbindung mit dem Eintauchen in die New
Yorker Wall Strett gibt American Psycho einen ersten, präambelhaften Hinweis auf
die Geometrie des Begehrens. Der maßgebende Börsenplatz der Welt ist der Ort par
excellence, an dem sich Begehren als Imitat von Begehren herausstellt. Wie die im
Aprilscherz vorgespiegelten falschen Tatsachen eine Reaktion des Gefoppten
auslösen, ergibt sich der Kurs eines Wertpapiers nicht aus dessen Substanz,
sondern aus dem Interesse oder Desinteresse, das andere ihm gegenüber an den
Tag legen. Es ist Aufgabe des Analysten, gleichsam eine Wette auf den Kursverlauf
des Wertpapiers abzuschließen und bei seinen Einsätzen das Begehren der
Konkurrenten rascher und besser als diese selbst zu erkennen. Der Analyst trifft
keine souveränen Entscheidungen; seine Kunst besteht in einer datengestützten und
die Konkurrenten beobachtenden Mimesis, seine durch die Einsätze anderer
konditionierten Einsätze üben auf wiederum andere einen Nachahmungssog aus.
Die Börse ist nicht der Ort der statischen Werte, sie ist ein diskursives Verfahren zu
einer immer vorläufigen Bewertung auf Grund von vorläufigen Bewertungen.
Da nach Girard die Natur des Begehrens immer eine mimetische ist, ergeben sich
schwerwiegende Folgen für den Begehrenden, wenn sein Bestreben sich auf
nichtmaterielle und nichtteilbare Güter wie Ehre, Ansehen, Macht oder gar den
Sexualpartner richtet. In allen diesen Fällen, besonders in dem Fall des
Sexualpartners ist nicht nur der Konflikt mit dem oder den Mitbewerbern, sondern mit
dem ‚Objekt’ des Begehrens selbst programmiert. Ist der gegengeschlechtliche
Partner nicht ‚börsennotiert’, erweckt er kein Interesse. Ist er aber deswegen
interessant und attraktiv, weil andere ihr Begehren auf ihn fokussieren, kann
niemand ein Exklusivrecht auf ihn geltend machen, mit der Folge, dass in jedes
Liebesverlangen eine tiefsitzende Kränkung eingewoben ist. Das ist die Wirklichkeit,
und, wie mein verhasster Bruder Sean sagen würde, damit muss man leben können
(363). Denkbar ist eine andere Reaktion auf diese Kränkung: Tatsächlich will ich,
dass meinen Schmerz auch andere erleiden. Ich will, dass keiner davonkommt (519),
und dies bedeutet, dass gegen alle Widerstände, sowohl gegen den Widerstand der
Konkurrenten als auch gegen den des ‚Objekts’ ein Begehrensmonopol behauptet
und die Alleinverfügung durchgesetzt wird. American Psycho macht aus dem
Erwachen aus dem Aprilscherz, beginnend mit dem darauf folgenden Morgen,
blutigen Ernst.
a.) Begehrensdreiecke
Unter der Annahme, dass seine Ereignisabfolge einer sequenziellen Ordnung
gehorcht und einer Konklusion zustrebt, muss nach Girard sowohl der Startimpuls
der Erzählung wie auch ihr weiterer Antrieb in der durch den mimetischen Konflikt
freigesetzten Energie zu sehen sein.
Patrick trifft sich zu einem Dinner mit Freunden in der Wohnung von Evelyn Richards,
mit der er verlobt ist. Als die übrigen Gäste gegangen sind, ist er mit Evelyn und
219
Timothy Price allein, die beide wie er als erfolgreiche Börsenmakler tätig sind. Das
erste mimetische Dreieck konstituiert sich:
Price liegt jetzt auf den Knien und riecht und schnüffelt an Evelyns nackten Beinen,
und sie lacht. Die Wut steigt in mir hoch. […] Ich bin mir ziemlich sicher, dass die
beiden ein Verhältnis haben. Timothy ist der einzige interessante Mensch, den ich
kenne (39).
Aus dieser Konstellation entwickelt sich jedoch weder eine amouröse Affäre, noch
überlässt Patrick dem bewunderten Rivalen seinen Platz als Prätendent. Die
Minisequenz endet ohne Konklusion, ohne eine Wendung, die die Beteiligten
engagieren würde:
Nachdem ich gut fünfzehn Minuten lang versucht habe, sie zu ficken, gebe ich es
auf. […] Ich greife nach dem Glas Brandy. Ich trinke es aus. Evelyn ist abhängig von
Parnate, einem Antidepressivum. Ich liege neben ihr und verfolge mit abgestelltem
Ton den Home Shopping Club. […] Evelyn döst langsam weg. […] Ich gehe nach
Hause. […] Ich masturbiere, denke erst an Evelyn, dann an Courtney, dann an
Vandem und wieder an Courtney, aber kurz bevor ich komme - ein schlapper
Orgasmus – an ein halbnacktes Model in einem Trägertop, das ich heute in einer
Calvin-Klein-Anzeige gesehen habe (41 – 42).
Das sexuelle Begehren verdankt sich dem Dritten, der es als Vorbild stimuliert und
gleichzeitig als Rivale blockiert. Weil es, da es letztlich ein metaphysisches, nicht
objekt- sondern statusbezogenes Verlangen ist, sein Ziel durch Inbesitznahme und
durch objektale Bemächtigung verfehlt und verfehlen muss, werden Strategien zur
Ersatzbefriedigungen entworfen, die in dieser Szene dargestellt werden, aber auch
darüber hinaus die zerstörerischen Konsequenzen ahnen lassen, mit denen die sich
wiederholenden mimetischen Krisen zu lösen versucht werden. Das in der
Appropriationsmimesis ausagierte Habenwollen kann nicht erkennen, dass es
metaphysisch blind ist. Umsomehr vervielfacht es seine Anstrengungen und
investiert in die Konkurrenz mit den Mitbewerbern, selbst dann, und dies mit
gesteigerter Intensität, wenn das Begehrensobjekt aus dem Blickfeld verschwindet.
Neben den Möglichkeiten, auf physische Weise den Rivalen zu eliminieren, das
Begehrensobjekt zu substituieren oder das Begehrenssubjekt auszuschalten, lässt
sich aus dem zitierten abendlichen Auftakt auch die Alternative extrapolieren, auf
dem Weg der toxischen Persönlichkeitsveränderung die Akteure aus der heißen
Zone des Dreiecks herauszulösen. Es wäre ein tautologisches Vorgehen, die
Entwicklung Patrick Batemans zum Serienkiller mit einer dämonischen Potenz, einer
pathologischen Tag- und Nachtseite oder mit dem Hinweis auf die Gewaltneigung
seiner Gesellschaft zu erklären. Dass der sich im Lauf der Erzählung wiederholende
triangulär aufgeladene Antagonismus schließlich zur Senkung der Gewaltschwelle
führt und, gerade auch wenn das Objekt der Begierde an Bedeutung abnimmt, die
Konfrontation der doubles zu einer mörderischen beziehungsweise suizidalen
Lösung drängt, findet im mimetischen Konflikt eine im Vergleich zu den
psychologischen oder soziologischen Ansätzen weit plausiblere Erklärung.
Da es in der Auseinandersetzung um einen Sexualpartner um ein Begehrensobjekt
geht, welches nicht teilbar ist, ist die Position des modell- und maßgebenden Rivalen
besonders stark ausgeprägt. American Psycho verleiht dem Imitationskonflikt aber
220
gerade dort eine kaum zu überbietende Schärfe und macht diesen Konflikt zu seinem
Generalthema, wo geradezu banale Begehrensobjekte die Kontrahenten in eine
rivalitäre Stellung bringen. Wie die meisten Kapitel, wird auch Pastels nach dem
Namen eines Restaurants benannt, in dem die Schickeria der Wall Street verkehrt
und nur mittels guter Beziehungen zum Empfangschef, dem Maître d´, ein Tisch
reserviert werden kann. Da die Wahl des Restaurants eine Prestigefrage ist, die über
Konkurrenzvorteile entscheidet, bildet bereits auch der Maître d´ eine Spitze im
Begehrensdreieck der Bewerber um einen gut platzierten Tisch, wobei die gute
Platzierung wiederum eine trianguläre Konfiguration im Verhältnis zu anderen
Tischen erzeugt, wohin und von wo aus neidende, vergleichende, triumphierende,
gedemütigte oder frustrierte Blicke geworfen werden können.
McDermott kennt bei Pastels den Maître d´, und obwohl wir unsere Platzreservierung
erst vor ein paar Minuten aus dem Taxi durchgegeben haben, werden wir umgehend
durch die überfüllte Bar in den pinkfarbenen, hell erleuchteten Speisesaal geführt
und in einer erstklassigen Nische für vier Personen ganz vorn plaziert. Es ist absolut
unmöglich, bei Pastels einen Tisch zu bekommen, und ich glaube, Van Patten, ich
selbst und sogar Price sind von McDermots Talent, sich einen Tisch zu sichern,
beeindruckt, wenn nicht gar neidisch (62).
Nach dem Bestehen der relativ konfliktfreien Rivalitäten um das angemessene
Restaurant und um den aussichtsreichen Tisch, sollte sich alsbald in dem YuppieQuartett der Streit an einem Objekt von unüberbietbarer Banalität, den jeweiligen
Visitenkarten, entzünden, ein Streit, der die Schwelle der Gewalt zwar nicht
überschreitet, jedoch Einblick in die Motivationsstruktur des Protagonisten bietet und
den Grund seiner Gewaltexzesse ahnen lässt. Patrick sieht sich McDermot
gegenüber in einem vielleicht von einem/einer Dritten verursachten Nachteil, macht
den Versuch, seinen Stand auf der Prestigeskala zu verbessern und muss dabei eine
Niederlage einstecken, die ihn schmerzt und möglicherweise an Revanche denken
lässt.
Ich weiß nicht, woher McDermot Alain so gut kennt – vielleicht Cäcilia? – und das
nervt mich ein bisschen, deshalb zeige ich allen meine neue Visitenkarte, um
einigermaßen gleichzuziehen. Ich hole sie aus meiner Brieftasche aus Gazellenleder
(Barney´s, 850 Dollar), klatsche sie auf den Tisch und warte auf Reaktionen. […] „Die
ist sehr cool“, sagt Van Patten zurückhaltend, der neidische Hund, „aber das ist noch
gar nichts…“. Er zückt seine Brieftasche und klatscht eine Karte neben den
Aschenbecher. „Sieh dir das an“. Wir beugen uns alle vor und inspizieren Davids
Karte, und Price sagt leise: „Die ist wirklich nett“. Kurz durchzuckt mich Eifersucht,
als ich die Eleganz der Farbe und die noble Schrifttype sehe. Ich balle die Faust
zusammen… […] Benommen nippe ich an meinem Drink und hole dann tief Luft. […]
„Klasse, was?“ Prices Tonfall lässt erkennen, dass er sich über meinen Neid im
Klaren ist. „Klar“, sage ich leichthin und schnippe die Karte zu Price zurück, als wäre
sie mir schnuppe, aber der Brocken ist hart zu schlucken“ (68 – 70).
Wenn auch der Brocken hart zu schlucken ist, die aufzuckende Eifersucht nicht so
rasch verglüht und die geballte Faust die Erinnerung an die Demütigung wach hält,
stellen die nacheinander wieder eingesteckten Visitenkarten doch ein
Begehrensobjekt dar, welches die Nachahmensrivalen auf Distanz zueinander hält
und die imitierende Energie neutralisiert. Anders verhält es sich dort, wo die doubles
nicht mehr durch die Fixierung auf ein Drittes sich gegenseitig in Schach halten und
221
gewissermaßen ungebremst und ungedämpft sich in den Kampf um den Vorrang
stürzen. Das im Idealfall regelmäßige und daher krisenunanfällige Begehrensdreieck
mit gleichen Winkeln und gleichen Distanzen wird durch den weiter unten
darzustellenden, gleitenden Übergang von der externen zur internen
Begehrensvermittlung im Extremfall so verschoben, dass die Vermittlerposition
unklar wird und eine face- to-face-Situation eintritt, die in eine von Vernichtungswillen
erfüllte Konfrontation einmündet.
Das Scheitern des Versuchs, durch Appropriation eine Status-Sicherung zu
erreichen, wie es beim Dinner in Evelyns Wohnung inszeniert wurde – von Girard als
désir métaphysique und insofern als ontologisch unmöglich bezeichnet – bringt den
Protagonisten nicht zur Einsicht. Im Gegenteil: Dieser erhöht den antagonistischen
Einsatz, und obwohl er sich selbst beobachtet und dabei feststellt, dass er in
Zuckungen verfällt, von Panikattacken eingeholt wird und die Kontrolle über sich
verliert, steigert er die Mittel, die er für erforderlich hält, um Gegenspieler und
Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wenn auch weder die erotischen noch die
beruflichen Ambitionen des Protagonisten die originäre Arena von American Psycho
darstellen, lässt sich doch auf diesen Feldern der Lauf der konfliktiven Imitation
exemplarisch und in seiner unerbittlichen Konsequenz abbilden und registrieren, wie
der Erzähler die Girardsche Anforderung: comment reproduire un triangle? in immer
neuen Varianten einlöst.
Am Beginn der zweiten Hälfte der Erzählung, also in einem Stadium, in dem das
antagonistische Potenzial des Protagonisten sich in dem Maß gesteigert hat, wie sein
Status-Begehren sich als unerfüllbar erwiesen hat, kommt es in einem Restaurant,
das wohl nicht zufällig Vanities heißt, zu einem Wiedersehen mit Bethany, die
während des gemeinsamen Studiums in Harvard - wo ich ihr immer Gedichte
geschrieben hatte, lange, düstere, ehe wir uns trennten (321) und ich ihr alles
Schöne dieser Welt zeigen wollte (335) - seine Geliebte gewesen war. Lunch mit
Bethany kann in der Tat als Lehrstück im Aufbau von triangulären Konfigurationen
gelesen werden, die in einem als Energiequelle für das konfrontative Finale dienen,
zum andern das letzte Duell der Konkurrenten verzögern und über kurzfristige
Ablenkungen und Umwege eine jeweils prekäre Ordnung zu stabiliseren suchen.
Schon der erste Satz: Heute treffe ich mich mit Bethany zum Lunch bei Vanities, dem
neuen Bistro von Evan Kiley in Tribeca (321) entwirft insofern eine dreipolige
Situation, als die Begegnung der ehemaligen Liebenden, in der die Hoffnung auf
einen Neuanfang zumindest mitschwingt, aus der Sicht von Patrick Bateman
überwölbt wird durch das Interesse an einem neu eröffneten Lokal, wobei dieses
Interesse wiederum umgelenkt wird durch den Bezug auf den Eigentümer und den
Standort des Bistros. Weil Patrick, wie der Leser erfährt, die Zurückweisung fürchtet
(321), wird die Annäherung an Bethany immer wieder verzögert und auf
Zwischenstationen umgelenkt. Dies gilt sowohl für die Vorbereitung: Damit uns beim
Lunch nicht der Gesprächsstoff ausgeht, versuche ich, eine schicke neue
Kurzgeschichtensammlung…zu lesen (321), als auch für die wohl berechnete
Verspätung: Gott, denke ich bei mir, als ich, nur fünfzehn Minuten zu spät, bei
Vanities eintrete (321) sowie auch der ersten Schritte im Bistro, wo der Vermittler in
der Gestalt des unvermeidlichen Maître d´ die dritte Stelle einnimmt: Als ich mich
hinter dem Maître d´ dem Tisch nähere (322). Nachdem aber der Begegnung mit
Bethany weder durch die szenische Hereinnahme des Pärchens am Nachbartisch
noch des Kellners ausgewichen werden kann und auch ein Zwanzigdollarschein für
222
den Maître d´ aus der Gazellenleder-Brieftasche sich als ein nutzloses, weil keine
aufschiebendes Wirkung erzielendes apotropäisches Opfer herausstellt, steigert sich
die innere Unruhe von Patrick Bateman zu einer Panik, die sich auch auf körperliche
Reaktionen erstreckt. Auf eine Welle der Übelkeit (322) folgen fiebrige, romantische
Anwandlungen (323), unkontrollierte Äußerungen wie: ich bin hurig, ich meine ruhig
(323), die Feststellung, dass sich in mir alles zusammenzieht (326) und mein Bein
unterm Tisch unkontrollierbar auf und ab zuckt (326). Das Bekentnis: Ich gerate in
Panik (329) wird verdeutlicht mit der schreckhaften Reaktion auf Bethanys
Konversation: Jede Silbe dringt in langem Abstand an mein Ohr und explodiert wie
ein Überschallknall in meinem Kopf (330). Als Patrick dann sich im Selbstgespräch
gelegentlich an eine Erstsemester-Studentin in Harvard erinnert, die er, weil sie seine
Lebensauffassung nicht teilte, enthauptete und in den Fluss warf, und dazu bemerkt,
dass seine Wut in Harvard weniger grausam als jetzt (336) war, sind die letzten
Zweifel beseitigt, dass das Zusammentreffen bei Vanities mit Bethanys Tod enden
würde.
Während das Personal – „Weiter“, sage ich und sehe mich nach dem Kellner um
(325) - und die Gäste bei Vanities – Sie fällt anderen Männern auf, wenn sie an
unserem Tisch vorbeigehen (331) – nur Spielfiguren des Werbens sind, ist mit
Robert Hall ein äußerst chancenreicher Mitbewerber um Bethany als ernst zu
nehmender Dritter im Bund, der als vermögender Harvard-Absolvent sowie
anerkannter Koch und Teilhaber des Spitzenrestaurants Dorsia dem Patrick Bateman
einiges voraus hat und wiederum einen schwer zu schluckenden Brocken darstellt.
Daher seine entsetzte psychosomatische Reaktion: Richtig, mein Kopf explodiert,
und es zerreißt mir den Magen – eine krampfhaft gastritische Übersäurung; Sterne
und Planeten, ganze Galaxien kleiner weißer Kochmützen rasen vor meinem inneren
Auge vorbei. Ich presse eine weitere Frage hervor. „Warum Robert Hall?“ fragte ich.
„Warum er?“ (333). Um das mimetische Verlangen anzufachen und es unstillbar zu
machen, braucht Robert Hall jedoch nicht persönlich zu intervenieren. Der Blick, den
er von fern auf Bethany wirft, genügt, um diese in den Augen von Patrick Bateman
derart aufzuwerten und begehrlich zu machen, dass sie am Ende ihm sogar
überlegen wird und ihm als sein double entgegentritt, dessen Existenz als das
schlechthin Andere er nicht zulassen kann. In diesem Fall tritt das ein, was Girard mit
der bei Dostojewski beobachteten Identifizierung des Rivalen mit dem Wunschobjekt
meint und wo sich beide, der Rivale und das Objekt der Begierde zu einem einzigen
Hindernis zusammenschließen, welches das begehrende Subjekt alternativlos
herausfordert und als solches in Frage stellt.
Um Bethany mit ausreichenden Herausfordererqualitäten auszustatten, hätte es
sicher genügt, wenn der Erzähler neben ihrer persönlichen Erscheinung und ihres
beruflichen Erfolgs: Ihr Körper, ihr Teint, wirkt straff und rosig. „Milbank Tweed“, sagt
sie. „Da arbeite ich“ (329) sowie ihrer erotischen Attraktivität: Ihr Mund […] zieht mich
an wie ein Magnet voller Lippenstift (331) den Begehrensvermittler Robert Hall
entsprechend stark gemacht hätte. Um Patrick Bateman in die ausweglose Situation
zu manövrieren, in dem er sein Heil nur noch im kompromisslosen Zurückschlagen
finden kann, erscheint Bethany nicht nur begehrenswert, sondern in einer
Überlegenheit und Unerreichbarkeit, die die eher geschmacklichen Dimensionen der
mit dem Fäusteballen endenden Visitenkarte-Episode weit übersteigt. Bestand der
Dissens mit der ermordeten Harvard-Kommilitonin darin, dass diese meinte, dass
das Leben voller unendlicher Möglichkeiten steckt (336) und nicht, wie Patrick
Bateman, alles ausblendete, was sich jenseits der Grenzen meines unmittelbaren
223
Horizonts abspielt (336), baut sich mit Bethany ein Kräfteverhätnis auf, das als
double-bind-Beziehung das Programm zur gegenseitigen Erhöhung wie zur
gegenseitigen Vernichtung ist. Da American Psycho als Vorwort ein Zitat aus den
Auszeichnungen aus dem Kellerloch nimmt, ist Patrick Bateman durchaus den von
Dostojewski als für die Massen- und Warengesellschaft typischen Menschen
zuzurechnen, die unausbleiblich (sind), wenn man jene Verhältnisse in Betracht
zieht, unter denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat (11). In Abwesenheit des
Dritten – in Analogie zu Dostojewski: eines transzendenten, göttlichen Maître d´, der
respektiert wird, sich aber nicht einmischt in die irdischen Begehrensverhältnisse –
sind die doubles aneinander gekettet, und jeder ist des anderen Begehren und
Verbot. Weil Bethany in jeder Hinsicht attraktiv ist, und weil sie das in den Augen
Patricks nur dann ist, wenn neben Robert Hall alle anderen sie attraktiv finden –
Bethany sieht absolut bezaubernd aus, ganz wie ein Model (323) -, muss Patrick sie
zugleich lieben und hassen. So kommt es schließlich, dass Patrick nach einigen
Demütigungen, die er durch Bethany erfahren muss – sie verwechselt die Marke
seines Anzugs, sie besteht darauf, die Restaurant-Rechnung zu bezahlen und
benutzt dazu eine ihren herausgehobenen Status markierende Platin-AmericanExpress-Karte: Ich schweige, beobachte dann, wie sie die Karte auf das Tablett mit
der Rechnung legt. Ein Krampfanfall scheint unausweichlich, falls ich nicht aufstehe.
(337) – , sich mit einem Bolzenschussgerät in der Hand auf Bethany stürzt und eine
abscheuliche Bluttat begeht, bei der die Rolle des Dritten insofern eine fiktive
Besetzung aufweist, als Patrick eine handtellergroße Sony-Handycam in Position
bringt und die tödliche Quälerei an seinem Opfer fortsetzt, sobald die Kamera auf
dem Stativ steht und auf Automatik läuft (342). Die auf dem dreibeinigen Stativ
stehende Kamera hat die technischen Voraussetzung zu einer Überwachungs- und
Dokumentationskamera und könnte daher sowohl eine beschützende als auch bei
der Tataufdeckung dienliche Funktion haben. Zu diesem Zweck müsste sie jedoch
mit einem externen System verkabelt sein, welches den Tatort transzendiert und
über Interventions- oder Sanktionskapazitäten verfügt. Da sie aber, obwohl
automatisch ablaufend, mit dem Täter kurzgeschlossen ist, wird der Raum der
Immanenz nicht verlassen. Die Kamera ist also ein filmender Als-ob-Zeuge, ein Alsob-Vermittler, eine Daten speichernde Als-ob-Instanz zur ethischen Bewertung und
zur Differenzierung von Gut und Böse, ein blindes Schauen. Sie ist als Abstraktion
des Dritten der Beleg für die Unausweichlichkeit der double-bind-Situation.
Eine letzter Triangulationsversuch schlägt fehl, als Patrick die widerstrebende
Bethany, die vorher noch telefonieren will, mit dem Angebot: Ich habe ein vierteiliges
Durgin Gorham Tee- und Kaffeeset aus Sterlingsilber, das ich dir gern zeigen würde
(338) in seine Wohnung zu kommen überredet, sie aber auf die Frage nach der
Präsenz eines Vermittlers hintergeht. „Bei dir gibt´s einen Portier, stimmt´s?“ fragt sie
misstrauisch. „Ja“. Ich lächle, es reizt mich, wie ahnungslos sie ins Verderben läuft.
(339)
Nachdem der letzte mögliche Vermittler ausfällt und Bethany mit der Bemerkung,
Patrick habe ein abstraktes Bild wohl verkehrt aufgehängt, ihm gegenüber eine letzte
Überlegenheitsgeste ausführt, verwirklicht dieser seinen Plan. Mit dem Schrei: „Was
hast du Nutte mit Robert Hall?“ (341) schlägt er sie mit dem Bolzenschussgerät
nieder, das er in seinen behandschuhten Händen hält, und nagelt sie an Händen und
Füßen – die Analogie zur Kreuzigung auf Golgatha ist ebenso wenig zu übersehen
wie das silberne Kaffeeset, mit dem Patrick sein Opfer an den Tatort und in seine
Hände lockte, mit dem Judas-Lohn - auf dicke Holzbretter, blendet sie mit
224
Tränengas, beißt ihr die Finger bis auf die Knochen ab, schneidet ihr die Zunge aus
dem Mund und penetriert sie in den Mund, als sie bereits im Todeskampf liegt. Dann
ficke ich sie in den Mund, und nachdem ich abgespritzt und meinen Schwanz
rausgezogen habe, gebe ich ihr noch mehr Tränengas. […] „Kennst du den noch?“,
rufe ich, als ich über ihr stehe (343). Patrick Bateman handelt nicht im Blutrausch, die
Vorbereitungen erfordern ein hohes Maß an Planung, die einzelnen Schritte sind
durchdacht und lassen sich als ein Vergeltungsritual deuten.
Liest man American Psycho als Anwendung des Girardschen mimetischen
Realismus, erscheint Patrick Bateman nicht als der Killer, der seine Instinkte nicht
unter Kontrolle hat. Die Tötung von Bethany, seiner füheren Geliebten, die er an
Robert Hall verloren hat, mit dem sie eine Familie zu gründen gedenkt – „Ich will
Kinder haben“ (333). - erfolgt über den Angriff beziehungsweise Gegenangriff in der
Form eines Präzisionsschlags gegen strategische anatomische Ziele. Weil Bethany
aus der Sicht Patricks diesen verlassen und sich Robert Hall zugewandt hat – Ich
berühre ihre Hand, sie zieht sie weg (335) -, werden, nachdem Patrick sich
vergewissert hat, dass seine Wohnungstür verriegelt (340) ist, ihre Gliedmaßen
immobilisiert. Mit dem Tränengas, das in die Augen, den Mund und in die
Nasenlöcher gesprüht (341) wird, werden die Sinne ausgeschaltet, mit dem
Herausschneiden der Zunge – Blut schießt aus Bethanys Mund, und ich muss ihren
Kopf halten, damit sie nicht erstickt (343) - wird sie mundtot gemacht, mit der
Scherenattacke auf das Geschlecht wird sie als Sexualpartnerin eliminiert. Bethany
fängt wieder an zu schreien, als ich ihr das Kleid vom Leib gerissen habe und ihr nur
den BH, das rechte Körbchen dunkel von Blut und den uringetränkten Slip lasse, die
ich mir für später aufhebe (342). Da die in anderen Tagebucheinträgen notierten
tödlichen Frauenschändungen sich zu einem Tatprofil zusammensetzen lassen, kann
der Leser wissen, dass jeweils die Penetration in den Mund erfolgt, weil die Vaginas
bereits amputiert, aus verschiedenen Frauen geschnitten (510) sind und als
Trophäen aufbewahrt werden. Durch das wiederholte Einsprühen von ätzendem
Tränengas soll auch verhindert weden, dass Bethany vor Schmerzen bewusstlos
wird oder gar stirbt, bevor ihr Peiniger seinen Triumph ihr gegenüber zur Schau
stellen kann und die Kompensation des Begehrensnachteils registriert bekommt.
Nachdem er dann mit der Richtigstellung bezüglich seiner Anzugsmarke, bei der er
selber die Namen verwechselt – „Es ist auch nicht Garrick Anderson. Der Anzug ist
von Armani! Giogio Armani. […] Und du hast ihn für Henry Stuart gehalten“ (343) –
und mit dem demonstrativen Anzünden einer Zigarre auf ihre im Restaurant
gemachten Vorhaltungen zum Rauchen seine letzten Konterattacken praktiziert,
notiert er, dass Bethany gestorben ist. Dies geschieht jedoch nicht etwa in der
Feststellung, dass ihr Tod eingetreten ist, sondern in der am eigenen Leib
gemachten Beobachtung, dass der Brennpunkt des Begehrens, der auch der
Schmerzpunkt des Zurückweisens ist, erloschen ist: … und versuche dann, sie noch
mal in den Mund zu ficken, aber ich kann nicht kommen, also lass ich´s (343).
Es sind nicht Morde, die Patrick Bateman etwa aus Mordlust begeht, es sind
verzweifelte Versuche, die im Begehrenswettbewerb erlittenen Demütigungen und
Verluste, und seien sie auch imaginärer Art, auszugleichen und sich an den
Verursachern schadlos zu halten. In den Reaktionen auf die erlittenen Kränkungen,
wird deren Natur in aller erzählerischen Deutlichkeit gespiegelt. Wäre die HarvardKommilitonin aus dem ersten Semester etwa Patricks Geliebte gewesen, hätte sie
mit einer Behandlung rechnen müssen, wie sie Bethany, ein Mädchen, mit dem ich in
Harvard gegangen bin und die mich später abservierte (294) erleiden musste. Da es
225
aber eine theoretische Auseindandersetzung um abstrakte Lebensfragen ging, ist
durch den mimetischen Realismus eine andere Lösung angezeigt: Im selben Winter
fand man ihren Körper im Charles River treibend, enthauptet, ihr Kopf baumelte drei
Meilen entfernt an den Haaren von einem tiefhängenden Ast (336).
Für die Beseitigung der Leichen hat Patrick Bateman in einem verlassenen
Lagerhaus eine Etage gemietet, wohin er per Taxi die zerfetzten Körper in Kleideroder Müllsäcken transportiert und sie in einer Badewanne mit Kalk bedeckt, damit sie
sich restlos auflösen. Bethanys Knochen und der größte Teil ihrer Innereien werden
wohl durch den Müllschacht im Flur vor meinem Apartment wandern und in der
Verbrennungslanlage landen (347).
Wird die double-bind-Situation der Liebespartner zwischen dem Protagonisten und
Bethany inszeniert – wie bei dem Menschen aus dem Kellerloch führt das
Liebesverlangen zwangsläufig zur hochkonfliktiven Paarbildung mit einem aus der
Wahrnehmung Patricks heraus prostituierten Model -, kommt es auf dem Terrain der
beruflichen Konkurrenz zu einer derartigen Konstellation mit dem mit 27 Jahren
gleichaltrigen Paul Owen, welcher wegen seiner Erfolge an der Börse zugleich der
intensivst nachgeahmte und bestgehasste Berufskollege ist. „Er handelt den FisherAccount“, sagt irgendwer. „Verdammter Glückspilz“ murmelt irgendjemand anders.
„Verdammter jüdischer Glückspilz“, sagt Preston. (58) Da auch hier die Agenda der
Triangulation befolgt wird, muss festgehalten werden, dass Paul Owen nicht aus
eigener Tüchtigkeit einen gewissen Vorsprung vor Patrick Bateman hat, sondern weil
er, wie die Wall Street-Experten wissen und sich in den eleganten Klubs erzählen, in
seiner Vermögensverwaltungsagentur ein besonders gut platziertes Depot, den
myteriösen Fisher-Account (301), betreut, um den ihn alle beneiden. Unter einem
falschen Namen reserviert Patrick Bateman einen Tisch in dem Restaurant, in dem
er sich mit Paul Owen trifft, der ihn, da er bereits nicht mehr nüchtern ist, tatsächlich
für den hält, unter dessen Namen er reserviert hat. Vergeblich versucht er, von ihm
Informationen über den Fisher-Account und die so erfolgreiche Anlagestrategie zu
erhalten. Immer dann, wenn er als Marcus Halberstam dem Paul Owen kaum mehr
als nur rudimentäre Informationen entlocken will, lenkt dieser ab und bringt entweder
Sonnenstudios ins Gespräch oder Zigarrenmarken, bestimmte Fitnessclubs oder die
besten Joggingstrecken von Manhatten (302). Am Ende des Dinners ist Paul Owen
so betrunken, dass Patrick ihn nicht nur dazu bringt, die Rechnung über 250 Dollar
zu bezahlen, sondern noch auf einen Drink mit ihm nach Hause zu gehen. Dort ist
alles für die finale Abrechnung vorbereitet: die zur Beruhigung benötigten ValiumTabletten, die in der Dusche verstaute Axt, die auf dem Parkettboden aus weißer
Eiche (303) ausgebreiteten Zeitungen. Die Axt trifft mitten ins Gesicht, bevor er den
Satz beenden kann, die dicke Klinge fährt seitwärts in seinen offenen Mund und
bringt ihn zum Schweigen (303). Bevor Patrick Owens Wohnung mit der Leiche im
Kleidersack verlässt, manipuliert er, da seine Stimme der von Owen sehr ähnlich ist,
dessen Anrufbeantworter so, dass man erfahren soll, dass er sich in London aufhält
und übergießt in dem angemieteten Lagerhaus den in eine übergroße
Porzellanwanne gelegten Körper, nachdem ich ihn gründlich nass gemacht habe, mit
zwei Beuteln Kalk (306).
Während im Fall von Bethany das Objekt der Begierde sich nach und nach mit der
Position des Rivalen identifiziert, kommt es im Dreieck von Patrick, Owen und dem
Fisher-Account
zu keiner Positionsverschiebung. Als Unterlegener im
Börsengeschäft schafft Patrick seinen stärksten Rivalen aus dem Weg, kommt
226
dadurch aber dem Objekt seiner Begierde, dem von allen aufmerksam beobachteten
Fisher-Depot, keinen Schritt näher. Er müsste im Sinne einer denkbaren
Verschiebung glaubwürdig vor aller Welt die Stelle seines ermordeten Konkurrenten
einnehmen, das heißt sich als Paul Owen ausgeben und nicht nur den gleichen
Geburtsjahrgang und die gleiche Stimme wie dieser präsentieren, um an das
begehrte Dossier heranzukommen. Da Patrick intelligent genug ist, um um auf einen
solchen aussichtslosen Täuschungsversuch zu verzichten, gibt es für den Mord an
Paul Owen kein Vorteilsmotiv. Es handelt sich, von außen betrachtet, um einen Mord
um nichts. Indem aber gerade weder der Haben-Status noch der Sein-Status eine
Erhöhung erfährt, führt American Psycho vor, dass das Töten das ständige
Bestreben darstellt, einen Status-Vorteil zu erzielen, wohl wissend und daran
verzweifelnd, dass sich dieser Vorteil dem Tötenden immer entzieht. Die Zahl der
Opfer, die Batemans Weg säumen, steigt unaufhörlich, und die Tötungs- und
Foltertechniken überbieten sich von Mal zu Mal an Grausamkeit. Das Töten wird zu
einem Töten auf Vorrat, um alle denkbaren kommenden Kränkungen und
Unterlegenheitserfahrungen zu kompensieren; es antizipiert das Zurückschlagen auf
Zurückweisungen, die noch nicht eingetreten sind, auf Zurückweisungen auf dem
Feld des beruflichen und gesellschaftlichen Ansehens, vor allem aber auf
Niederlagen sexueller Art, das heißt überall, wo man mit Rivalen zu rechnen hat. Mit
Rivalen, die man andererseits so bitter nötig hat, gilt doch in allem die mimetische
Grundregel: ohne Rivalen kein Verlangen. Zwar erzielt Patrick in der Beseitigung von
Paul Owen einen taktischen Gewinn, aber er entwickelt sich, und dessen wird er sich
selber klar, zu einem Serienmörder, zu einem Mörder, dessen Motiv nicht im
jeweiligen Opfer zu suchen ist, dessen Motiv die unabschließbare Serie ist. „Ich habe
Owens verdammten Kopf abgesäbelt. Ich habe Dutzende von Mädchen gefoltert. Die
ganze Nachricht, die ich hinterlassen habe, war wahr. Ich bin ausgelaugt, wirke
unruhig und frage mich, warum ich so wenig Erleichterung spüre“ (534). Opferlogisch
ausgedrückt: Es tritt keine sakrifizielle Wirkung ein, es kommt nicht zu der von den
Mythen praktizierten divinisierenden beziehungsweise heroisierenden Umwertung, es
kommt nicht zur Erneuerung der individuellen oder kollektiven Identitäten. Es
geschehen Opfer ohne Wert, und der sich steigernde und sich beschleunigende
Opferwahn wird durch keinen kathartischen Eingriff gestoppt.
Die endlose Zyklizität, zu der sich die Triangulierung des Begehrens dehnt, spiegelt
sich schließlich im unaufhörlichen Tag- und Nachtwechsel und dieser wiederum in
Patricks Tag- und Nachtaktivitäten, wobei das berufliche Tun in American Psycho bis
auf wenige Büroszenen ausgeblendet wird, in denen in der Regel außergeschäftliche
Angelegenheiten wie Tischbestellungen oder abendliche Verabredungen erledigt
werden: Sie (die Sekretärin, d. Verf.) schüttelt gutmütig den Kopf, als sie geht, und
schließt die Tür hinter sich. Ich ziehe einen Panasonic-Watchman mit 9-ZentimeterBildröhre und AM/FM-Radio hervor und versuche, etwas Interessantes reinzukriegen,
vielleicht ‚Jeopardy’!, ehe ich mich meinem Computer-Terminal zuwende (100). In
äußerster Verkürzung ergibt sich die Trajektorie eines Protagonisten, dem sich am
Tag die Begehrensrechnung mit den stets von neuem offenen Posten des Objekts
und des oder der Rivalen präsentiert und der in der Nacht diese Rechnung begleicht.
Dabei gibt es Zonen der Dämmerung und des Übergangs, die – in Analogie zu
Baudelaires abendlichem Stoßgebet: Sois sage, ô ma Douleur – mit Alkohol und
Drogen aller Art überbrückt werden. Und wie auf jede Nacht ein neuer Tag folgt, wird
nach der sexuellen, genitalen und voyeuristischen Inbesitznahme: Sex (in der Regel
mit zwei Girls, d. Verf) findet statt – eine Hard-Core-Montage (419), der Ent- und
teilweisen Einverleibung der Opfer und der Entsorgung der Reste der Reigen des
227
désir mimétique wieder einsetzen, der die in das Gesichtsfeld kommenden, allein
oder in Begleitung auftretenden Frauen mit repetitiver Monotonie in Hardbodies,
Fickfleisch verwandelt, deren uniforme Attribute große Titten, blond, toller Arsch,
Stöckelschuhe (50) sind und die jenseits der detailliert beschriebenen Kleider-,
Accessoire- und Parfümmoden gesichts- und ausdruckslos sind: Modeltyp, dünn,
Titten okay, kein Arsch, hohe Absätze -, und sie trägt einen Rock aus Wollcrêpe und
ein Veloursjackett aus Wolle und Kaschmir und über dem Arm einen Veloursmantel
aus Wolle und Kaschmir, alles von Louis Dell´Olio. Schuhe mit hohen Absätzen von
Susan Bennis Warren Edwards. Sonnenbrille von Alain Mikli. Tasche aus geprägtem
Leder von Hermès. […] Nicki lächelt höflich, wie ein Roboter. […] Montgomery hat
den Raum schon halb durchquert. Nicki schleicht hinter ihm her. Ich habe mich geirrt:
Sie hat einen Arsch (65 – 66).
Wohin der Blick auch fällt, schon konstituiert sich ein Begehrensdreieck, welches die
mimetische Energie erzeugt für die Auseinandersetzung mit dem Vorbild, dem
Hindernis, dem Rivalen, dem Gegner. Würde Courtney mich weniger lieben, wenn
Luis (ihr Freund, d. Verf.) tot wäre? Das ist die Frage, der ich mich stellen muss, die
unterschwellig an mir nagt…[…] Würde Courtney mehr Zeit mit mir verbringen?[…]
Erregt sie mein Körper, meine Schwanzgröße oder der Kitzel, dass sie sich hinter
seinem Rücken mit mir trifft? Und warum, da wir schon dabei sind, möchte ich
Courtney gefallen? […] Würde ich alles zerstören, wenn ich Luis erwürge? (222 –
223).
Wird die Objektspitze in diesen Dreiecken mit dem vorgestellten Sexualpartner
besetzt, wird die gewaltsame Lösung der mimetischen Spannung in gewisser Weise
verbal vorbereitet und antizipiert, wenn die Wall Street-Yuppies sich zum abendlichen
Essen, Trinken und Koksen in ihren Szene-Klubs treffen. Er legte eine dramatische
Pause ein. „Sie wollte mir nur einen runterholen, und stellt euch vor…sie hat ihren
Handschuh anbehalten“. Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück und nippt mit
selbstgefälliger, zufriedener Miene an seinem Drink. Wir nehmen dies mit
gebührendem Ernst zur Kenntnis. Keiner erlaubt sich einen Scherz über McDermots
Enthüllung oder seine Unfähigkeit, die Kuh härter anzufassen (55). Während die
Entladung der mimetischen Spannung in nahezu ritueller Formenstrenge erfolgt,
wobei die Ritualanalogie dadurch unterstützt wird, dass die designierten Opfer als
Models, als beim Begleitservice bestellte und bezahlte Girls und als Prostituierte alle
Stellvertretermerkmale auf sich vereinigen, die das rituelle Ersatzopfer auszeichnen,
geschieht das Aufladen dieser Spannung in fast unbemerkten Triangulationen, deren
Objektspitze keine sexuelle Besetzung aufweist.
Was die Entladung des mimetischen sexuellen Begehrens betrifft, schließt American
Psycho keinen Kompromiss. Es werden anstatt der Mädchen nicht Fetische zerfetzt,
Puppen verbannt oder tierische Substitutionen geschlachtet. Wer auch immer den
Protagonisten herausfordert und sein Ich durch den Anblick des Anderen relativiert
und verunsichert, ist vor seiner vergeltenden, ja die Vergeltung antizipierenden
Gewalt nicht sicher. Bei manchen Morden jedoch kommt Patrick im Nachhinein zu
der Erkenntnis, dass sie nutzlos waren, weil das Opfer seinem Begehren nicht direkt
im Weg stand. So geschehen bei der Hinrichtung einer Prostituierten, die in ihrer
Unbedarftheit die Agentur Pierce & Pierce für ein Schuhgeschäft hält und die er zu
Tode quält, in dem er eine ausgehungerte Ratte durch ein Rohr in ihre Scheide
kriechen lässt: Mir ist jetzt bereits klar, dass das einer der üblichen nutztlosen,
sinnlosen Tode sein wird, aber ich bin nun mal den Horror gewöhnt (454), oder auch
228
bei der Ermordung eines fünfjährigen Kindes, das er im Zoo: Möchtest du…ein
Plätzchen?“ (413) von seiner Mutter weg und hinter eine Mülltonne lockt und das er
mit einem Messerstich tötet: Obwohl ich zuerst zufrieden mit mir bin, durchfährt mich
plötzlich klägliche Verzweiflung darüber, wie sinnlos, wie außerodentlich schmerzlos
es ist, ein Kind ums Leben zu bringen.[…] Wieviel schlimmer (und erfreulicher) ist es,
jemandem das Leben zu nehmen, der auf der Höhe des Lebens steht, der Ansätze
einer echten Geschichte hat… (415). Ein Opfer ist nur dann sinnvoll, wenn es fütr
den Opferer eine Rendite abwirft in der Form eines Leidens, das für andere eine
solche Streuung hat, dass es den eigenen Schmerz zu kompensieren vermag. Zu
den außerordentlich schmerzlosen Tötungen gehören demzufolge die Abtreibungen,
sowohl diejenigen, die Patrick veranlasst, als auch die beiden, die er eigenhändig
ausführt: Das ist, glaube ich, das fünfte Kind, das ich habe abtreiben lassen, das
dritte, das ich nicht selbst abgetrieben habe… (525).
Sinnvolle Opfer hingegen sind jene Kontrahenten, die dem Begehren des Patrick
Bateman jenes Maß an Widerstand entgegensetzen, das erforderlich ist, um ihm das
Objekt des Begehrens streitig zu machen, sei es, dass sie ihm wie im Fall des Paul
Owen als rivalisierende Dritte entgegentreten, sei es, dass sie, wie im Fall des
sexuellen Begehrens, sich ihm als Verheißung und Verhängnis in einer einzigen
Person darbieten. Zu den Opfern zählen jene, die tagtäglich Patricks Weg kreuzen:
jene versammelte Mannschaft, welche weiter über intelligente Aktiva diskutiert,
darüber, welche Aktien vielversprechend fürs kommende Jahrzehnt aussehen, über
Hardbodies, Immobilien, Gold, […] Depots, wie man Macht sinnvoll einsetzt, neue
Trainingsmethoden, […] wie man bei VIPS am besten Eindruck schindet, ständige
Wachsamkeit, die Sonnenseiten des Lebens (478). Sie alle sind potenzielle Opfer
und Beute, und wenn die Umstände zwar die panikhafte Opfersituation beschwören,
die Exekution jedoch verhindern, hat das Ersatzopfer zumindest von der Art zu sein,
dass sein Auslöschen einen Verlust bedeutet: Ich scheine mich hier im Bouley (ein
Restaurant, d. Verf.) kaum zügeln zu können, hier in einem Raum, in dem es vor
Opfern nur so wimmelt; ich kann mir nicht helfen, in letzter Zeit sehe ich sie überall –
bei Meetings, in Nachtclubs, Restaurants, in vorbeifahrenden Taxis und in Aufzügen,
aufgereiht vor Geldautomaten und auf Pornovideos, in David´s Cookies und auf
CNN, überall, und alle haben sie eins gemeinsam: sie sind Beute, und während des
Dinner gehe ich fast aus dem Leim, verfalle in einen Zustand, der an Höhenangst
grenzt […], und dann kommt der Moment, wo ich auf der Herrentoilette eine Line
Kokain nehme, meinen Giorgio-Armani-Wollmantel und die schlecht verborgene
357er Magnum darin von der Garderobe abhole, ein Schulterhalfter anlege, und
dann bin ich draußen. […] und als das Opfer die Augen öffnet und auf die Waffe
blickt, hört es zu spielen auf, das Mundstück des Saxophons noch zwischen den
Lippen […], und dann hebe ich die Waffe an sein Gesicht und ziehe den Abzug
mitten in einem Akkord (478 – 480).
Wo es um nicht sexuell markierte Begehrensobjekte geht, ist anzumerken, dass der
Fall des Paul Owen insofern singulär und kein durchgehendes Motiv ist, als die
Auseinandersetzung mit den beruflichen Konkurrenten und Kollegen in American
Psycho nicht mit dem gezackten Messer und in der abgeriegelten Wohnung, sondern
mit erlesenen Artikeln und auf dem Terrain des Lifestyle, der Geltungssucht, des
Luxuskonsums geführt wird. Mit anderen Worten: An die Stelle der sexuellen
Markierung tritt der Markenartikel, und das obsessive Verlangen in Form einer
‚Besessenheit für’ und einer ‚Besessenheit von’ vertauscht die Wachsamkeit für den
Sexualpartner mit der Expertise für den Konsumartikel. In formaler Hinsicht gleicht
229
der Mord an Paul Owen jedoch den Sexualmorden, weil weder durch die eine noch
durch die andere Tötung das Objekt der Begierde in Patricks Besitz gebracht werden
kann. Weder wird durch die Tötung des Konkurrenten der Fischer-Account erobert,
noch wird durch die Prostituiertenmorde eine sexuelle Autonomie begründet. Obwohl
der Leser gerade auch wegen der schockierenden Inszenierung der bewusst jede
kathartische Wirkung verfehlenden sexuellen Abrechnungen die MarkenVersessenheit des Protagonisten für einen zwar originellen, doch eher spleenigen
und nebensächlichen Einfall halten mag, summiert sich die sich an den modischen
Artikeln einspielende Triangulation zu einer Gesamtwirkung, die dem Werk eine
besondere Aussagekraft verleiht. Dies vor allem deswegen, weil im Unterschied zu
den sexuell markierten Objekten der Blick auf die Dinge des Bedarfs oder des
Luxuskonsums kein geschlechtsspezifischer Blick ist. Aber auch, weil im
mimetischen Verlangen den Dingen gegenüber, die Position des Vorbilds, des
Rivalen, des Neiders und Bestreiters im Prinzip von jedermann zu besetzen ist und
dieses Begehren im Prinzip jeden angeht und auch ansteckt.
Ob sexuell markiert oder als Markenprodukt präsentiert, die betroffenen Objekte –
wie die Markenprodukte sind auch die zum Sex in die Wohnung bestellten Girls
käuflich - sind immer zum Endverbrauch bestimmt. Die nächtlichen DreikörperArrangements in Patricks Wohnung – diese werden jeweils gefilmt, bei der nächsten
Sex- und Gewaltorgie zur Stimulierung wiedergegeben und betonen so deren
kurzschlüssigen und seriellen Aspekt – sind von einer solchen Grausamkeit, dass
kaum plausibel ist, dass sie einem individuellen Vorstellungsbereich entstammen.
Die auf den Kamerablick ausgerichteten Positionen und Genitalien, die nicht lösende,
sondern Gewalt auslösende Funktion der sukzessiven Orgasmen, der Übergang der
körperlichen Berührungen in werkzeugbewehrte Über- und Eingriffe, dies alles
scheint weniger einer eigenen, auch imaginären Erfahrung zu entspringen, als dem
Drehbuch und besonders dem Schneidetisch von einschlägigen Videoproduzenten,
denen es darum geht, die Tötung des Opfers und, wie es dazu kommt, ins Bild zu
setzen. Wie die Logik des Endverbrauchs kann auch die Logik des Opfers sowie die
Logik der Serie es nicht zulassen, dass gegen den Täter ausgesagt wird. Da der
Mörder mit seiner Tat nur leben kann, wenn er die Spur, die zu ihm führt, durch einen
neuen Mord verwischt, darf es wie in dem Gleichnis von den bösen Winzern keine
Zeugen geben, die für die Schuld des Täters einstehen, auch keine auf einem
Datenträger gespeicherten Aufzeichnungen, die von einem Dritten gelesen werden
könnten: Elizabeth treibt es mit Christie, beide nackt auf meinem Bett, das Zimmer
hell erleuchtet, während ich in dem Louis-Montoni-Stuhl neben dem Futon sitze,
ihnen sehr genau zusehe und ab und zu ihren Körper neu in Position bringe. Jetzt
lasse ich Elizabeth auf dem Rücken liegen und beide Beine hochhalten, offen, so
weit gespreizt wie möglich, und dann stoße ich Christies Kopf runter und lasse sie an
ihrer Fotze lecken – nicht saugen, sondern schlabbern, wie ein durstiger Hund – und
dabei die Klitoris befingern…[…] Elisabeth läuft nackt aus dem Schlafzimmer, schon
voll Blut, mühsam taumelnd, und kreischt irgend etwas Gurgelndes. Mein Orgasmus
hat sich lange hinausgezögert, die Entladung war intensiv, und meine Knie sind
wacklig. […] … und ich versetze ihr einen ungezielten Hieb mit dem schon nassen
Schlachtermesser, das ich mit der rechten Hand umklammere, schlitze ihren Nacken
hinten auf und durchtrenne irgendwas, irgendwelche Adern. […]…und ich halte ihren
Kopf unten und reibe meinen Schwanz, steif und mit Blut bedeckt, an ihrem
röchelnden Gesicht, bis sie regungslos daliegt. In meinem Schlafzimmer liegt Christie
noch auf dem Futon…[…] An eine Batterie angeschlossene Jumperkabel sind an ihre
Brüste geklemmt, die langsam braun werden. […] Ich knete ihre Brüste mit einer
230
Kombizange durch, zermalme sie, und dann geht alles ganz schnell…[…]… ich
lache, als sie stirbt, vorher fängt sie noch an zu weinen… (399 – 403)
Zum Endverbrauch bestimmt sind auch die Markenprodukte. Dies sind
Konsumartikel, die weniger ein Bedürfnis als einen künstlich erzeugten Bedarf
befriedigen. Sie sind begehrenswert, weil sie mit einigem Aufwand und
massenmedial beworben, das heißt als von anderen begehrt oder bereits in Besitz
genommen dargestellt werden. Wenn die Werbung über Produkte informiert, so
primär darüber, dass diese Produkte in der Hand der Schönen, Reichen, Jungen und
Erfolgreichen sind und dass folglich ihr Nichtbesitz ein Nachahmungsdefizit und ein
Zukurzgekommensein gegenüber den Inkarnationen des Lifestyle zum Ausdruck
bringt.
Für Patrick Bateman sind die Angst des Zukurzgekommensein und die Furcht vor
dem Zukurzkommen unerträglich. Er ist wie der gefallene oder der fallende Engel,
den das Fallen, das erlebte wie auch das befürchtete, in Panik versetzt und der mit
allen Mitteln gegen den Höhenverlust ankämpft. Es ist die Stärke von American
Psycho – und die mimetische Lektüre bringt diese Stärke zum Vorschein -, dass die
Erzählung die Endverbrauchsartikel, durch deren Konsum der Protagonist sich auf
der Höhe hält, explizit macht und dass sich die Frage des Konsums immer auch als
Frage der Rivalenabwehr stellt, wobei die objektalen wie auch die personalen ‚Artikel’
dem Patrick Bateman in einer geschlossenen Front gegenüberstehen und kein
Unterschied gemacht wird, ob es gastronomische oder sexuelle Events sind,
Boutique-Moden oder high-tech-Geräte, Drogen oder Musikerlebnisse: Ich kippe
meinen Drink herunter, kaum dass er da ist, winke sofort nach einem neuen und
denke, Courtney ist definitiv Fickfleisch, aber kein Sex kann für dieses Essen
entschädigen. Während ich eine attraktive Frau – blond, dicke Titten, enges Kleid,
Satinstiefeletten mit Goldspitzen – gegenüber im Saal bewundere, ändert sich das
Gesprächsthema drastisch, als Scott mir von seinem neuen CD-Player erzählt,
während Anne ahnungslos einer völlig weggetretenen Courtney etwas über neue
Sorten natriumarmen Vollkornreis-Kuchens, frische Früchte und New-Age-Musik,
insbesondere Manhatten Steamrolle, vorquasselt (144). Häufig und geradezu mit
wahnhafter Penetranz wird diese komsumptive Selbstbehauptung und
Selbsterhöhung als Modus der Rivalenerkennung und -bekämpfung dadurch
gesteigert, dass Patrick seine Erwerbungen mit der Preisauszeichnung versieht,
seinen ganzen Konsum also entdifferenziert und auf einen einzigen, monetären
Nenner bringt. Dabei unterlaufen ihm Übertreibungen, die sich damit erklären lassen,
dass in der von Girard beschriebenen mimetischen Krise das Objekt der Begierde in
dem Maß undeutlich wird, wie der Antagonismus der Konkurrenten zunimmt.
Nachdem zum Beispiel das Gespräch auf eine David-Onica-Ausstellung kommt und
Patrick zugeben muss, dass er die Ausstellung nicht gesehen hat, prahlt er mit dem
Besitz eines Bildes von David Onica, dessen Preis Courtney, seine gelegentliche
Geliebte und Rivalin seiner verlobten Evelyn, mit zwanzigtausend Dollar angibt.
Obwohl der Onica eigentlich nur zwölf Riesen gekostet hat (143), erhöht Patrick:
tatsächlich waren es fünfzigtausend (143) und verblüfft seinen Kollegen Scott und
dessen Begleiterin: „Aber fünfzigtausend?“ fragt Scott misstrauisch (143). Ob bei
einer Einkaufsstour bei D´Agostinos (228) der wirkliche Preis des Diplomatenkoffers
von Louis Vuitton 3200 Dollar beträgt, ein Trenchcoat von Gianfranco Ferré 4000
Dollar kostet oder die Preisangabe mit 300 Dollar im Ausverkauf für einen EtroRegenschirm mit Paisleymuster und Holzgriff von Bergdorf Goedman zutreffend ist,
231
kann zuminderst hinterfragt werden, die in der Hitze des Gefechts mit dem
imaginären Rivalen absolvierten Fitness-Übungen in Form von zweitausend
Klappmesser und dreißig Minuten Seilspringen (228) sind mit Sicherheit als taktische
Aufwertung zu verstehen. Wie der Besitz eines David Onica nicht auf Interesse an
der Kunst schließen lässt, dürfen Patricks gymnastische Übungen auch nicht als eine
Option auf ein gesteigertes Körperbewusstsein gedeutet werden. Patrick trainiert im
Fitness-Center, und die Mitgliedschaft beträgt fünftausend Dollar im Jahr (100). Er
investiert in die in den mimetischen Positionswettbewerben erforderliche körperliche
Fitness: …ich trinke mittlerweile fast zwanzig Liter Evian am Tag und gehe
regelmäßig ins Sonnenstudio (153), so dass auch dieses Gut sich in der
Einheitswährung ausdrücken und bewerten lässt und somit wall-street-logisch mit
allen anderen Begehrensobjekten verrechnet werden kann. Wenn diese durch
Bezahlung angeeignet werden – im Restaurant, in der Boutique, bei den
Straßenprostituierten -, wird nicht nur der Rechnungsbetrag beglichen. Handelt es
sich um die am Automaten gezogenen Hundertdollarscheine, werden sie dem
Leistungsgeber ostentativ aus der extrem teueren Gazellenlederbrieftasche heraus
gereicht: …sechs Scheine in einer silbernen Geldklammer von Hughlans (395). Bei
bargeldlosen Zahlungen, wo je nach der Position des Gegenübers die einfache
American-Express-Karte (396) beziehungsweise ihre goldene (417) Version eigesetzt
wird, wird der Handelspartner erforderlichenfalls mit dem prestigehaltigen - und
biblisch konnotierten - Silberglanz der Platin-American-Express-Karte geblendet, die
als Platin-Am-Ex (417) wie eine Waffe gezückt wird, und ihn symbolisch um den im
Preis enthaltenen Mehrwert bringt. So wird in American Psycho jeder simple Kauf zu
einem Positionskampf mit Angriff und Abwehr und zu einem submedialen règlement
de comptes, zu einem Duell, das auf der Zeichenebene geführt wird, während
dessen strategische Impulse von den Überwältigungsphantasien der Jäger wie auch
der Gejagten gespeist werden. Dass es dabei keine etwa durch einen tiers garant
gesicherte Preis- und Qualitätsstabilität gibt, wird dadurch veranschaulicht, dass der
Restaurantführer, der autoritativ über die Szene-Lokale von Manhattan Auskunft gibt
und die abendlich ausgehenden Yuppies wie ein Radar (50) steuert: „Ich habe den
treuen Mr. Zagat mitgebracht“, meint Van Patten, holt den dunkelroten
Restaurantführer aus der Tasche… „Hurra“, sagt Price trocken (53), von dem
mimetischen Taumel der Konkurrenten erfasst wird. In der Zagat-Rangliste steht das
Dorsia scheinbar unangefochten auf dem ersten Platz: Auf meinem Wunschzettel für
Weihnachten steht: 1. eine Tischreservierung für Freitag abend acht Uhr für mich und
Courthney im Dorsia (250), den es jedoch verliert, als Patrick von Bethany erfährt,
dass ihr Freund und voraussichtlicher Ehemann Robert Hall dort Koch und Teilhaber
ist: „Ich will es im Zagat ausstreichen“ (333).
Die Zagat-Hierarchie der gastronomischen Pilgerstätten wird jedoch unvermutet zum
Einsturz gebracht, als ein Wertevermittler auf den Plan tritt, der für den Protagonisten
zum Herr der Maßstäbe schlechthin wird, obwohl das Objekt dieses ersten und rein
geschmacklichen Bewertungskonflikts nur eine Pizza bei Pastel´s ist, die er brüchig
(157) findet, von der er sich jedoch von seinen Kollegen darüber belehren lassen
muss, dass Donald Trump sie in einem Zeitungsartikel als erstklassig bezeichnet:
„Was ist das?“ frage ich und falte das Blatt auf. „Ein Artikel über deinen Helden,
Donald Trump“. […] „Wo gibt´s Donald Trumps Meinung nach in Manhattan die
beste Pizza?“ „Lass mich das lesen“, seufze ich und winke ihn weg. „Du könntest
dich irren. Was für ein mieses Foto“. […] Ich tue so, als würde ich den Scheißartikel
lesen, aber dabei werde ich wütend, muss McDermot den Artikel zurückgeben…[…]
„Ich vermute, ich muss die Pizza da noch mal probieren…“ Ich sage das mit
232
zusammengebissenen Zähnen“ […] „Pass auf, wenn die Pizza mit Donny klargeht…“
Ich hasse es, dies McDermot gegenüber zugeben zu müssen; dann seufze ich und
sage fast unhörbar: „…geht sie auch mit mir klar“(158).
b. ) Externe und interne Vermittlung
Es gibt Begehrensdreiecke, in denen sich, wie Patricks Bruder meint, leben lässt.
Dies bedeutet, dass der Konflikt mit dem durch die Nachahmung zum Rivalen und
Hindernis gewordenen Modell umso leichter auszuhalten ist, je weiter dieser Dritte
vom begehrenden Subjekt entfernt ist. Im Idealfall befindet sich dieser Dritte in einem
transzendenten Raum, enthält sich jeder irdischen mimetischen Versuchung und
Eifersucht und verspricht den Begehrenden, dass sie dadurch, dass sie ihm allein die
höchste Verehrung bezeugen und ihn als ihren Herrn anerkennen, gegenseitig auf
Distanz gehalten werden, dass sie, wenn sie zu ihm wie zu einem Vater aufschauen,
sich miteinander selbst ohne Zuhilfenahme von Opfern versöhnen und brüderlich und
schwesterlich miteinander umgehen. Nach der Diagnose des Augustinus, auf den
sich Girard bezieht, ist ohnehin das mimetische Verlangen eine Abart des
metaphysischen Verlangens, welches nur in Gott gestillt werden kann. Die Chance
auf ein stabiles und nicht konfliktives Dreieck ist also nicht jenseits allen Denkbaren.
In American Psycho wird diese transzendentale Position nicht mit einer göttlichen
Person, sondern mit einer real existierenden Person besetzt, welche zu dem YuppieProtagonisten etwa die gleiche Entfernung aufweist wie der Amadis von Gallien zu
dem verarmten Kleinadligen von La Mancha mit seinen Ritterphantasien oder die
glanzvolle Pariser Gesellschaft zur provinziellen Emma Bovary mit ihren
romantischen Glücksträumen. Donald Trump ist für Patrick Bateman unerreichbar
weit entfernt. Zum einen, weil der Reichtum des größten Immobilienbesitzers von
New York schier unermesslich ist, und dann auch, weil dieser Reichtum einen realen,
sozusagen grundbuchgesicherten Wert darstellt und nicht auf die spekulative
Imitation von Iimitationen angewiesen ist. Außerdem ist seine Frau, Ivana Trump,
eine öffentliche Person, die sich zwar von der Boulevardpresse interviewen lässt,
aber nicht in den angesagten Yuppie-Lokalen verkehrt: Im Lift erzählt mir Frederick
Dibble von einer Meldung auf Page Six oder irgendeiner anderen Klatschspalte über
Ivana Trump…(94 – 95). […] „Ist das…Ivana Trump?“ fragt sie und späht über meine
Schulter: Ich fahre herum. „Wo? Wo ist Ivana?“ „In der Nische beim Vorderraum, die
zweite von… „Nein, o mein Gott, o mein Gott, Evelyn“, ächze ich, enttäuscht und am
Boden zerstört… „Wie konntest du die Schlampe für Ivana halten?“ (174). Mit seinen
Hotel- und exklusiven Geschäftsimmobilien, besonders mit dem hoch aufragenden
Trump World Tower: Bewundernd schaue ich auf zum Trump Tower, hoch, stolz
glänzend im Sonnenlicht des Spätnachmittags (530), ist Donald Trump nicht nur in
der Skyline von Manhattan präsent, mit seinem Büchern imponiert er auch als
intellektuelle Autorität für berufliche und soziale Aufsteiger: 687 Ich denke an nichts.
687
Was American Psycho (1991) nicht wissen konnte, Patrick Batemans Trump-Bild jedoch verifiziert:
Donald Trump (geb. 1946, Großvater Trumpf stammt aus Baden-Baden) wurde 2004 in einer Umfrage
zum ‚meistgeliebten Milliardär’ gewählt. Der Sieger seiner NBC-Fernsehsendung The Apprentice (in
drei Serien von 2003 bis 2005) mit einer Durchschnitsquote von – in der Anfangsserie - 26 Millionen
Zuschauern, welche die geflügelte Phras you are fired prägte, erhielt einen mit 250.000 Dollar
dotierten Ein-Jahres-Vertrag in Trumps Firmenimperium. Der Sieger von 16 Kandidaten arbeitete in
233
Es ist still im Büro. Um das Schweigen zu brechen, deute ich auf das Buch auf dem
Schreibtisch neben der San-Pellegrino-Flasche. Die Kunst des Erfolgs von Donald
Trump (384).
Obwohl der real existierende Donald Trump in seiner How-to-Get-Rich-Strategie 688
durchaus auch riskante Finanzmanöver praktiziert – 1992 muss er die von Patrick
gelobte Fluggesellschaft Trump Shutle: Es war sehr angenehm. Der Service wirklich
erstklassig (324) verkaufen - und seine amourösen Abenteuer die Bild- und
Textseiten der nationalen und internationalen Regenbogenpresse füllen, ist er für
Patrick Bateman, dessen Tagebuch seinen Namen über zwanzigmal erwähnt, die
absolute Instanz, die bewertet und nicht bewertet wird, gewissermaßen der oberste
Währungshüter nicht nur in Sachen der objektalen Güter, sondern auch in Bezug auf
die persönlichen Beziehungen. Auf seinem Wunschzettel für Weihnachten rangiert
der Milliardär vor Paul Owen, für dessen legendäres Wertpapierdepot sich Patrick
doch so brennend interessiert: 2. zur Weihnachtsfeier von Donald Trump auf seine
Yacht eingeladen werden, 3. alles Menschenmögliche über Paul Owens mysteriösen
Fisher-Account in Erfahrung bringen (250). Im Gegensatz zu dem erfolgreichen
Analysten-Kollegen wird der um vieles vermögendere Donald Trump nicht im
Geringsten beneidet. Er ist kein Rivale, der Patricks Begehren im Weg steht, kein
Konkurrent, der, nachdem er einen Wetteinsatz provoziert hat, diesen sogleich
bestreitet. Er beteiligt sich nicht am mimetischen Stellungsspiel. Er lässt es zu, dass
auch andere sich in seinem Licht sonnen und dass von seinem Glanz auf sie abfällt,
wenn sie dort verkehren, wo er verkehrt: „Trump isst da“ (433), wenn sie seine
Vorlieben teilen: …und in der Limousine […] versucht Carrouthers, alle zu
beschwichtigen, indem er lang und breit erzählt, dass Donald Trump ein großer U2
Fan (eine irische Band, d. Verf.) sei… (203) und wenn sie, deren korrekte
Bezeichnung beachtend, seine Immobilien als Orientierungsmarken anerkennen und
für ihre Verabredungen verwenden: „Hör zu“, sagt sie. „Das Bankett der Young
Republicans im Pla…“ Sie unterbricht sich, als sei ihr etwas eingefallen, und fährt
dann fort: „… im Trump Plaza ist nächsten Donnerstag“ (463).
Wie darauf geachtet wird, dass Trumps Namen ehrfurchtsvoll ausgesprochen und
unverkürzt widergegeben wird – allein Patrick imponiert seinen Konkurrenten mit
dem distanzverkürzenden und imaginäre Intimität stiftenden Donny -, wird beim Blick
auf seine Gattin jede erotische Anzüglichkeit vermieden. Ivana Trump ist in Patricks
Tagebuch nur unter ihrem Namen und gewissermaßen in madonnenhafter Ferne
präsent. Sie hat für ihn keinen Körper, an dem sich weibliche Formen oder die
aktuellen Designermoden ablesen lassen, sie existiert außer Konkurrenz und hält
sich heraus aus dem Wettbewerb mit den Frauen der Szenelokale, und wenn seine
Verlobte versehentlich einen Partygast mit Ivana Trump verwechselt, reagiert Patrick
heftig: …ich explodiere fast (174) und nimmt Evelyns Entschuldigung für diesen
Fehltritt mit einer aggressiven Geste an: „Sorry“, höre ich sie zirpen. „Kleiner Fehler?“
„Unverzeihlich“ zische ich, beide Augen zusammengekniffen (174).
Donald Trump tritt in American Psycho nicht als Akteur auf. Zusammen mit seiner
Frau bildet er vielmehr den absoluten Bezugspunkt, dem gegenüber sich die Akteure
selbst verorten und ihre jeweiligen Relationen bestimmen. Wie eine Sonne steht er
der Projektleitung des neuen Trump-Towers in Chicago. Diese Sendung wurde von RTL kopiert unter
dem Namen Big Boss mit Rainer Calmund, in der Schweizer Version als Traumjob mit Jürg Marquard.
(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Donald_Trump, Stand: 25.02.2005)
688
Vgl. Donald Trump, TRUMP How to Get Rich, Random House 2004
234
über dem Treiben der Irdischen, eine Lichtgestalt, deren Strahlen, obwohl sie den
Pfad des how-to-get-rich beleuchten, nicht als Feuer des Neides zu ihr zurückkehren.
Donald Trump ist der unermessliche Maßstab, mit dem sich das Haben- und
Seinsbegehren messen lässt, er steht für die Skala, auf der sich die
Begehrensabstände skalieren lassen, die Referenz- und Leitwährung, an der sich die
Bonität der anderen Währungen und Wertungen orientiert.
Besteht die analytische Plausibilität von American Psycho darin, dass diese
Erzählung im Sinn der Girardschen Vermittlungstheorie eine nach oben
geschlossene Donald-Trump-Skala errichtet und deren Fallhöhe bis auf das Niveau
des Protagonisten beschreibt, so gewinnt sie eine gesteigerte diagnostische
Aussagekraft dadurch, dass sie die Vertikalität dieser Skala vom
Protagonistenniveau aus gesehen konsequent nach unten weiterdenkt und mit dem
Decknamen Les Misérables 689 einen Kontrapunkt zum sonnenhaften
Begehrensvorbild setzt. In Analogie zu der mechanistischen Wirkungsweise des
triangulären Begehrens, wie sie der mimetische Realismus formuliert, würde dann
einem absoluten Nachahmen, das durch kein Rivalisieren bestritten wird, ein
absolutes Rivalisieren gegenüberstehen, das durch keine Nachahmung eingeholt
werden kann. Mit anderen Worten: Zeigt sich in Donald Trump, an der
transzendentalen Spitze des Begehrensdreiecks, das absolute Vorbild allen
Begehrens, formiert sich am entgegengesetzten Pol mit Les Misérables das absolute
Vorbild allen Rivalisierens. Erschließt der Blick nach oben alles, was man noch
haben kann und haben muss, enthüllt der Blick nach unten das, was man verlieren
kann und demzufolge mit aller Kraft verteidigen muss.
Im erzählerischen Stellungs- und Verschiebespiel der Begehrensvermittler – nach
Girard geradezu die Paradedisziplin des Romans und von keiner theoretischen
Abhandlung erreichbar - verfährt American Psycho insofern recht erfinderisch, als
sich zahlreiche Zwischeninstanzen in Form von Begehrensagenten oder
Begehrensagenturen sowohl auf der Strecke von Donald Trump bis Patrick Bateman,
als auch von dort bis zu Les Misérables identifizieren lassen. Die unterhalb des
gottähnlichen Trump angesiedelten und ebenfalls für die Folgen nicht belangbaren
Begehrensvermittler wären zu Cervantes’ oder Flauberts Zeiten Ritterbücher,
Liebesromane, Modezeitschriften oder fahrende Händler mit einem Musterkoffer der
neuesten Pariser Moden gewesen. In American Psycho, dessen Protagonist an der
Börse selber als Begehrensanalyst und Nachahmungsmanager tätig ist, sind es
Fernsehsendungen, Leih-Videos, Lifestyle-Magazine, Schaufenster, Partys, Poster,
Programmhefte, die – in Girards Sprechregelung - die fonction séminale übernehmen
und für die erzählerische Chiffrierung: comment reproduire un triangle? zuständig
sind. Aus beiden Richtungen, sowohl von der Höhe eines Donald Trump als auch
aus der Tiefe der Elenden, kommen die externen Vermittlungen und Vermittler auf
Patrick Bateman zu, verlassen nach und nach die mediale Zone und rücken ihm
schließlich so nahe, dass sie entmediatisiert, ihm unmittelbar präsent sind und seine
Reaktion herausfordern. Während in der externen Begehrensvermittlung
gewissermaßen ein Sicherheitsabstand die Konkurrenten voreinander schützt,
entpuppt sich in der internen Vermittlung der vermittelnde Dritte als Rivale – im Falle
des sexuellen Begehrens als Rivale und Streitobjekt in einer Person – und spitzt sich
689
Etwa dreißigmal ist in den Tagebuchaufzeichnungen die Rede von Les Misérables, einem
Erfolgsmusical von Alain Boubil und Claude-Michel Schönberg mit Song-Texten von Herbert
Kretzmer, das am 12. März 1987 am Broadway-Theater Premiere hatte. Der Bezug zu dem
gleichnamigen Roman von Victor Hugo und dem Protagonisten Jean Valjean wird nicht thematisiert.
235
der Begehrenskonflikt so zu, dass, wenn der Begehrensverzicht durch Ein- und
Umkehr nicht erfolgt, der Konflikt in der ausweglosen Konfiguration von Opferer und
Opfer zur Entscheidung drängt.
Die externen Vermittler in American Psycho umgeben und umkreisen den
Protagonisten in einer solchen zeitlichen und räumlichen Dichte, dass eine reflexive
Distanz den Wahrnehmungen gegenüber kaum gewonnen werden kann. Schon am
Anfang der Erzählung: schiebt sich ein Bus neben uns, und eine Seitenwerbung für
Les Misérables versperrt den Blick (13) und reproduziert Patrick schlagzeilenhafte
Politikmeldungen: Also zum einen müssen wir der Apartheid ein Ende setzen. Und
das nukleare Wettrüsten stoppen, dem Terrorismus und dem Hunger auf der Welt
Einhalt gebieten. Eine starke nationale Verteidigung sicherstellen… […] Wir müssen
eine Rückkehr zu den traditionellen moralischen Werten propagieren und Sex und
Gewalt in Fernsehen, Film und Popmusik, überall, aufs entschiedenste
entgegentreten (29 – 31). Wie zu einer morgendlichen Mediendusche schaltet Patrick
zum Frühstück die Patty Winters Show ein – sie fehlt in fast keiner seiner
Tagebuchaufzeichnungen, ebensowenig wie das nächtliche Pendant in Form der
Late Night with David Lettermann 690
-, in der vor einem Studiopublikum
sozialvoyeuristische Themen behandelt werden, die, da die Sendung eine hohe
Einschaltquote hat, den Konversationen des Tages häufig Horizont und Material
liefern. In dieser Sendung, in der die miserablen gesellschaftlichen Phänomene der
Gesellschaft ins Bild gesetzt und damit gleichzeitig ihre Abartigkeit und
Marginalisierung unterstrichen wird, wird zwar keine direkte Reaktion seitens der
Zuschauer ausgelöst, doch wird gerade durch die Anziehungskraft der abseitigen
und abstoßenden Themen eine Front aufgebaut, an der das Beunruhigende, weil es
nicht begehrt wird, bedrohlich aufbegehrt und daher aus der gesellschaftlichen Mitte
verwiesen werden muss. Als beispielsweise Frauen präsentiert werden, die an
Persönlichkeitsspaltung leiden und eine unscheinbare übergewichtige Frau von der
Moderatorin interviewt wird, antwortet diese: „Oh, nein, nein, nein. Menschen mit
multipler Persönlichkeit sind nicht schizophren“ […] „Wir sind nicht gefährlich“ (49).
Es ist die medial vermittelte und daher zunächst nur eine Abwehrhaltung und keine
offene Aggression erzeugende Welt der Miserablen, die vorgeführt wird, wenn es um
Autismus (95) oder Killer-Ufos geht (165), um Mord an Kleinkindern (196), um Opfer
von Haiangriffen (203) oder Überlebende KZ-Opfer (309), um den neuen Sport des
Zwergenweitwurfs (236) oder um ein Leben mit 700 Pfund (393), um MöchtegernRambos (127), um Missgeburten (306), misshandelte Frauen (357) oder um einen
Jungen, der in eine Seife verliebt ist (411). Stets sind es absolut begehrensunwerte
Objekte, die vor Augen gestellt werden; sie lassen jedoch den Betrachter nicht
gleichgültig, konditionieren seinen Abscheu und bestärken ihn in seiner Auffassung,
dass er dem nichtmiserablen Teil der Gesellschaft angehört, ja dass dieser
nichtmiserable Teil der Gesellschaft gegen die Elenden verteidigt werden muss,
selbst wenn die Methoden zur Verteidigung und gesellschaftlichen ‚Säuberung’ den
Rahmen des politisch Korrekten überschreiten sollten: Heute morgen ging es in der
Patty Winters Show um Nazis, und ich sah die Sendung unerklärlicherweise mit
echtem Gewinn. Obwohl ich nicht gerade angetan war von den Taten der Nazis,
waren sie mir andererseits auch nicht unsympathisch ebenso wie, muss ich
hinzufügen, dem Großteil des Publikums (221).
690
David Lettermann (geb. 1947), quotenstarker und hochdotierter TV-Komiker, in Deutschland
erfolgreich kopiert von Harald Schmidt bei SAT.1 und ARD.
236
Anhand der Patty Winters Show demonstriert American Psycho aber auch, dass die
von Girard in Cervantes’ Roman dagnostizierte médiation externe keine exklusive
Externalität besitzt. Während Sendungen über Aerobic (281), Salatbars (315),
Schoßtiere (404) oder Lady Dis Schönheitstricks (417) wohl eher unbeteiligt und als
Füllmaterial für banale Konversationen zur Kenntnis genommen werden, lassen sich
bei den Heimabtreibungs-Sets (456) konkrete, die Mediengrenze überspringende
und auch erzählte Folgehandlungen vorstellen, wie auch sexuell getönte
Morgensendungen ihre Wirkung und auch ihre erzählte Fernwirkung nicht verfehlen:
Heute morgen ging es in der Patty Winters Show um schöne Teenager-Lesben, die
ich so erotisch fand, dass ich zu Hause bleiben, ein Meeting verpassen, zweimal
abspritzen musste (497).
Kann das TV-Morgenmagazin als Sammelbegriff für die Abnormitäten verstanden
werden, die alltäglich zur Schau gestellt und gleichzeitig, was die unmittelbare
Rückwirkung betrifft, medial einigermaßen unter Kontrolle gebracht werden, sind es
in American Psycho die Figuren der hungernden, frierenden und ungepflegten Bettler
und Obdachlosen, die den Bildschirm verlassen und ihre fordernde und drohende
Botschaft aus dem Untergrund – Dostojewskis Kellerloch wird mit underground
übersetzt – auf die Straßen von Manhatten tragen und im Blickfeld des Protagonisten
auftauchen. Damit entsteht eine face-to-face-Situation, in der kein Rückzugsraum
mehr vorhanden ist; es kann ihr nicht mit Abschalten, Aufzeichnen und Überspielen
ausgewichen werden. Nach der Logik der médiation interne, wie sie von Girard in
den Romanen von Stendhal, Flaubert, vor allem Dostojewski diagnostiziert wird,
treibt der Begehrenskonflikt auf eine Lösung zu, die, wenn es kein Umschalten im
Sinne einer Konversion gibt, mit dem Ausschalten eines der Kontrahenten endet.
Nachdem mehrmals bettelnde Obdachlose: hässlicher Penner…, der unter einem
Müllcontainer…lauert (50) , Penner, der vor einem Restaurant kauerte (63), ein
Penner, der schmerzgekrümmt vor einem Müllcontainer nach Essen oder Kleingeld
jammert (115) Patricks Weg kreuzen beziehungsweise ihm in den Blick kommen,
erfolgt eine erste gewaltsame Konfrontation mit einem Obdachlosen, der zudem ein
Schwarzer ist und von einem Hund begleitet wird. Zuerst mit einem ZehndollarSchein, dann mit einem Fünfdollar-Schein gefoppt, der ihm hingehalten und wieder
weggenommen wird, wird der Obdachlose als Dieb und Parasit beschimpft: „Hören
Sie. Finden Sie es fair, Leuten Geld abzunehmen, die Jobs haben? Arbeitenden
Menschen“? […] Mein Hass flammt auf…(186) und dann auf brutale Weise
geblendet: Ich strecke die Hand aus, berühre sein Gesicht wieder voll Mitleid und
flüstere: „Weißt du, was für ein dreckiger Loser du bist“? Hilflos beginnt er zu nicken,
und ich ziehe ein langes, schmales Messer mit gezackter Klinge, und darauf bedacht,
ihn nicht zu töten, stoße ich die Klinge etwa einen Zentimeter tief in sein rechtes
Auge, lasse den Griff hochschnellen, sofort platzt die Netzhaut auf. […] Ich fasse
seinen Kopf mit einer Hand und stoße ihn zurück, halte dann mit Daumen und
Zeigefinger das andere Auge offen, zücke das Messer und stoße die Spitze in die
Augenhöhle…(187 – 188). Nachdem der Obdachlose durch weitere Messerstiche in
den Unterleib und die Handrücken gepeinigt wird, wird auch der Hund als
potenzieller Angreifer ausgeschaltet: Dann drehe ich mich nach dem bellenden Hund
um, trete ihm, als ich wieder aufstehe, auf die Vorderbeine, während er sich mit
gebleckten Zähnen zum Sprung duckt, zerschmettere ich mit einem Tritt beide Läufe
(188). Für Patrick Bateman endet diese innere Vermittlung eines negativen
Begehrens, und er zieht eine positive Bilanz aus diesem Zusammentreffen mit einem
real existierenden Vertreter des Miserablen: Als ich ein näherkommendes Taxi sehe,
gehe ich langsam davon. Nachher, zwei Block weiter westlich, fühle ich mich
237
beschwingt, beschwipst, aufgeladen, als hätte ich eben trainiert und Endorphine
durchfluten mein Nervensystem, oder als hätte ich gerade jene erste Line Koks
genommen, den ersten Zug an einer guten Zigarre getan, mein erstes Glas Cristal
geschlürft (188).
Die direkte Konfrontation mit den Boten aus der Unterwelt, den Homosexuellen – ein
alternder Schwuler (231) -, den bettelnden Kindern: Heute habe ich ein Mädchen
zusammengeschlagen, das die Leute auf der Straße um Geld gebeten hat (298),
dem Obdachlosen, den er demütigt: „Nimmst du American Express?“ (239), dem
Bettler, den er als Vertreter der genetischen Unterklasse (369) bezeichnet, schafft
Verhältnisse, in denen sich für Patrick Bateman nicht leben lässt, weil sie
Verlustangst erzeugt. Wo er nicht persönlich gegen diese aus seiner Sicht
parasitären Gestalten vorgehen kann, glaubt er sogar, sich der Staatsgewalt
bedienen zu können: Ohne ihn (Luis Carrouthers, d. Verf.) zu beachten, reiche ich
der Verkäuferin meine Platin-Am-Ex-Karte und sage: „Vor der Tür sitzt ein Penner.“
Ich zeige durchs Fenster auf den weinenden Obdachlosen… „Sie sollten die Polizei
rufen oder so“ (311). Zu diesen internen Vermittlern, deren negative
Begehrensvermittlung darin besteht, den Etablierten in einer drohenden feindlichen
Übernahme das in Besitz Genommene streitig zu machen, gehören alle jene, die in
Patricks Yuppie-Perspektive als Nichtdazugehörige stigmatisiert werden und die in
der Lage sind oder in die Lage kommen könnten, sich gegen ihre
Nichtdazugehörigkeit aufzulehnen. Sie umfassen die sowohl sozial als auch ethnisch
Marginalisierten: die Judenschlampe (216), den Scheißnigger (296), die EurotrashHardbodies …, die verdächtige Ähnlichkeit mit brasilianischen Transvestiten haben
(282), …ein Model. Magersüchtige, versoffene, verklemmte Fotze. Absolut
französisch (67) oder eine armenische Schnepfe (68), als auch die ökonomischen
Aufsteiger in der Gestalt des japanischen Fahrradboten (254), der von Patrick
ermordert wird oder der Japsen (433): Sie sparen mehr als wir und erfinden nicht
viel, aber eins können sie, unsere Erfindungen stehlen, sie weiterentwickeln und uns
dann damit zuscheißen (206). 691
Verläuft an der Miserablen-Front die Bewegung von der externen zu internen
Vermittlung auf einem Weg, der – in exemplarischer Verkürzung - von dem TVAbnormitätenkabinett zu den Obdachlosen und den Marginalen führt, lässt sich auf
der Trump-Seite eine ähnliche Degradation und konfliktive Erhitzung des Verlangens
nachzeichnen. Auch dort agieren Vermittler zunächst in virtuellen Kontakten mit den
begehrenden Subjekten, provozieren jedoch ebenso wie im Fall der miserablen
Gestalten die antagonistische Situation, sobald sie persönlich die Grenze zu deren
Individualsphäre überschreiten. Externe Vermittler sind zunächst sämtliche Agenten
und Agenturen, die es verstehen, Produkte, sofern sie nicht der elementaren
Bedürfnisbefriedigung dienen, begehrenswert zu machen. Sie verleihen diesen
Produkten den Begehrenswert, indem sie sie so bewerben, dass sich ein
691
In dem zitierten Vortrag, den René Girard 1989 in Tel Aviv hielt, in: ders. La voix méconnue du réel,
S. 304 - 305, wird die Verwandlung der Imitatoren in Innovatoren ohne Polemik und als eine immer
wieder anzutreffende Querelle des Anciens et Modernes beschrieben: « Encore récemment, les
Japonais étaient méprisés comme simples imitateurs de l´Occident, incapables de la moindre
invention dans aucun domaine. Or ils constituent aujourd´hui, dans des domaines techniques de plus
en plus nombreux et diversifiés, la force motrice de l´innovation. […] A l´heure qu´il est, les imitateurs
des Japonais – Coréens, Taïwanais – réitèrent le même processus. Les voilà qui se transforment très
rapidement à leur tour en novateurs. Ce phénomène ne s´est-il pas déjà produit au XIXe siècle, quand
l´Allemagne est entrée en compétition avec l´Angleterre dans la course à la puissance industrielle
avant de la surpasser? »
238
inszeniertes Verlangen danach durch Nachahmung in reales Verlangen verwandelt,
welches wiederum zu weiterer Nachahmung ansteckt. Sind die Produkte dann mit
einem Prestigemehrwert ausgestattet, wirken sie wie die Wertpapiere an der Börse
selbst als Vermittler und stimulieren den Wettbewerb der Begehrenden. Endet der
Wettbewerb durch Kauf oder Endverbrauch, wird ein Verlust oder Gewinn verbucht,
ohne dass damit eine existenzielle Konfrontation ausgelöst wird.
Diese externe Vermittlung auf der Trump-Seite ist in American Psycho so
allgegenwärtig, dass sich die Erzählung geradezu als Lifestyle-Katalog lesen lässt,
dessen gastronomische und Spirituosenabteilung ebenso stilbildend und voller
Nachahmens-Wert zu sein beanspruchen könnte wie die Sparte der Designer- und
Ausstattungsmoden für Damen und Herren, der Kosmetika, der avantgardistischen
Wohnungseinrichtungen, der Unterhaltungselektronik, der Betäubungs-, Aufputschund Fitnessmittel und nicht zuletzt der Popmusik. Fände die Börse der
Begehrlichkeiten nicht in Manhattan mit seinen begrenzen Parkmöglichkeiten statt,
ist davon auszugehen, dass die großen Luxusmarken in den diversen Statuskämpfen
vertreten wären und nicht nur wie im Fall von BMW, Porsche oder Lamborghini
äußerst sporadisch zum Einsatz kämen.
Es werden in American Psycho über zwanzig Printmedien erwähnt, die beides,
Bedrohungsnachrichten aus der Unter- wie Verheißungsbotschaften aus der
Oberwelt vermitteln. Was auf der einen Seite die Patty Winters Show ist, sind auf der
anderen eher die Hochglanzbroschüren mit ihren detaillierten Produkt- und
Anwendungsinformationen. Die auf der Trump-Seite tätigen Vermittler lassen sich
pauschal in all den Magazinen verorten, denen Patrick Bateman in seiner Wohnung
ein eigenes Designermöbel, einen Zeitschriftenständer von Gio Ponti (43) widmet
und von denen wohl Vanity Fair (289) den repräsentativen Titel aufweist. Eine
spezielle Rolle ist dabei neben dem Polo-Katalog der Ralph-Lauren-Broschüre (105)
vorbehalten, welcher Patrick Bateman wohl sein – auf Nachahmung bestehendes Expertenwissen in Modeangelegenheiten verdankt, um das ihn alle beneiden und
das ihm einen beträchtlichen Nachahmens-Wert und Status-Vorteil verleiht. Mit dem
gebündelten Katalog-Wissen verblüfft Patrick Bateman seine Konkurrenten. Allein
sein Kleidermoden-Repertoire umfasst hundertzwanzig Labels, das ergänzt wird um
fünfzehn Schuh-Labels. Wäre die Streuung der Markenprodukte etwas weniger
auffällig, läge der Verdacht auf umsichtig praktiziertes product placement oder ein
gewolltes branded entertainment nahe. Indem der Protagonist aber nicht nur die
Labels der in seinem Gesichtsfeld auftauchenden Bekleidungen identifiziert, sondern
zugleich alle einschlägigen technischen Spezifikationen weitergibt, verwandelt er
diese Produkte selbst wieder in Vermittler, die die Aufforderung zum Nachahmen, vor
allem aber zum Habenwollen, aussprechen, und er macht sie scharf zum Kampf um
den Prestigevorteil. Was sich beipielsweise auf den ersten Blick wie eine
nuancenreiche, entspannte after-work-Szene ausnimmt, enthüllt sich im Licht der –
noch - externen Vermittlung als eine Kampfzone, in der diskrete Waffen in Stellung
gebracht werden: Wir drei, Todd Hamlin, George Reeves und ich, sitzen bei Harry´s,
und es ist kurz nach sechs. Hamlin trägt einen Anzug von Lubian, ein tolles
gestreiftes Baumwollhemd mit Haifischkragen von Burberry, eine Seidenkrawatte von
Resikeio und einen Gürtel von Ralph Lauren. Reeves trägt einen zweireihigen
Sechsknopf-Anzug von Christian Dior, ein Baumwollhemd, eine gemusterte
Seidenkrawatte von Clairborne, Oxfords mit gerader Kappe von Allan-Edmonds, ein
Stofftaschentuch in der Brusttasche, höchstwahrscheinlich von Brooks Brothers; eine
Sonnenbrille von Lafont Paris liegt auf einer Serviette neben seinem Drink und eine
239
ziemlich schöne Aktentasche von T. Anthony steht auf einem leeren Stuhl an
unserem Tisch. Ich trage einen einreihigen Zweiknopf-Anzug aus Wollflanell mit
Kreidestreifen, ein mehrfarbiges buntgestreiftes Baumwollhemd und ein seidenes
Taschentuch, alles von Patrick Aubert, eine gepunktete Seidenkrawatte von Bill
Blass und eine Brille mit ungetönten Gläsern, Gestell von Lafont Paris (127).
Die Leichtigkeit, mit der Patrick Bateman die Markenprodukte erzählerisch erfasst,
lässt darauf schließen, dass er sich von diesen eine profunde Kenntnis erworben hat.
Diese Kenntnis in den verschiedensten Bereichen ist von einer solchen
Beschlagenheit, dass sie nicht auf persönlicher Erfahrung beruhen kann. Es ist dies
das von den Vermittlern übernommene und insofern nachgeahmte Marken-Wissen,
das ihn auszeichnet und wiederum zu dem in seiner Umgebung gesuchten und
beneideten Ratgeber macht. Das Nachahmespiel in der nichtkonfrontativen externen
Vermittlung wird von ihm perfekt gespielt; in seiner Rolle als gelehrig nachahmender
‚Experte’ wie auch als begierig nachgeahmter Kenner wird er allen Anforderungen
gerecht: Was trägt man heute? […] Fragen werden mir beiläufig hingeworfen, unter
anderem: Gelten fürs Tragen eines Einstecktuchs dieselben Regeln wie für weiße
Dinnerjacketts? Besteht überhaupt ein Unterschied zwischen Deckschuhen und TopSiders? Mein Futon ist jetzt schon durchgelegen und unbequem – was lässt sich da
machen? Wie beurteilt man die Qualität von CDs vor dem Kauf? Welcher
Krawattenknoten ist zierlicher als der Windsor? Wie bleibt ein Sweater elastisch?
Irgendwelche Tips beim Kauf eines Lammfell-Mantels? (543 – 544). Wie einem
Ausstellungsprospekt samt Betriebsanleitung entnommen ist die Beschreibung einer
Sofaecke in Patricks Wohnzimmer, welche das Verfahren der aus Imitation
gewonnenen Innovation aufdeckt: Das Gemälde blickt herab auf eine weiße
daunengefüllte Couch und einen Digital-Fernseher von Toshiba mit 75-ZentimeterBildröhre; es ist ein hochauflösendes Modell mit Farbkonturschärferegelung und
High-Tech-Cube-Combination von NEC mit digitaler Bild-in-Bild-Funktion (und
digitalem Standbild); zum Audioteil gehört ein eingebautes MTS und ein Fünf-WattPro-Kanal-Ausgansgverstärker. Ein Toshiba-Videoredorder steht unter dem
Fernseher in einer Glasvitrine; es ist ein Super-High-Band Betagerät mit eingebauter
Schnittfunktion, Acht-Seiten-Charaktergenerator, High-Band-Record und Playback
sowie einem Drei-Wochen-Timer mit acht Programmplätzen (42). Ergänzt man das
Arsenal der Unterhaltungselektronik um die übrigen Einrichtungsgegenstände, vom
Maud-Sienna-Teppich bis zum Ettore-Sottsass-Tastentelefon, vom kostbaren
Kristallaschenbecher von Fortunoff bis zu den Toiletten- und Pflegeartikeln im
Badezimmer (42 – 44), weist Patricks Wohnung nicht weniger als sechsundfünfzig
Markenartikel auf. Wie er am Handgelenk seine Rolex trägt, die er nie ablegt, besteht
seine Umgebung geradezu aus Markenprodukten, und er demonstriert die
Markenfaszination als ein durch das Begehren anderer vermitteltes Begehren, mit
dem er wiederum den Neid und das Begehren anderer entfacht. Wer, wenn nicht ein
Markenbesessener, kennt schon die Namen von zweiundzwanzig Sorten
Mineralwasser? Ich starre gedankenverloren aus dem Fenster des Taxis, von der
Stille, die ich auslöse, mit namenoser Furcht erfüllt, und zähle benommen
mechanisch die folgenden Marken auf …(344). Wer, wenn nicht ein ein begieriger,
auf den Informationsvosprung erpichter Leser von Gastrokritiken und
Restaurantführern, verfügt über ein ebenso umfangreiches wie taktisch einsetzbares
Repertoire an Menus? Sie sagt kein Wort, bis wir an einem mittelmäßigen Tisch im
hinteren Bereich des Hauptspeiseraums sitzen, und dann auch nur, um einen Bellini
zu bestellen. Ich bestelle zum Dinner die Shadrogen-Ravioli mit Apfelkompott als
Vorspeise und den Fleischkäse mit Chèvre und Wachteljus als Hauptgericht. Sie
240
bestellt Red Snapper mit Veilchen und Pinienkernen und als Vorspeise eine
Erdnussbuttersuppe mit geräucherter Ente und Kürbispüree, was sich merkwürdig
anhört, tatsächlich aber ganz gut schmeckt. Das New York Magazine nannte es ein
„verspieltes, aber geheimnisvolles kleines Gericht“, und ich erzähle das Patricia, die
sich eine Zigarette anzündet, dabei mein brennendes Streichholz ignoriert, beleidigt
in ihrem Stuhl hängt, mir den Rauch direkt ins Gesicht bläst…[…] Das Dinner dauert
zwar nur neunzig Minuten, es kommt mir aber vor, als würden wir schon eine Woche
in Barcadia sitzen, und obwohl ich keine Lust habe, anschließend in den Tunnel
(Nachtlokal, d. Verf.) zu gehen, erscheint das doch als eine angemessene Strafe für
Patricias Verhalten. Die Rechnung beläuft sich auf 320 Dollar – weniger als ich
eigentlich erwartet habe -, und ich bezahle mit meiner Platin-Am-Ex (114).
Obwohl die Markenfaszination eine starke Abhängigkeit von dem Beispiel gebenden
und vorbildlichen Modell darstellt, bewahrt Patrick Bateman insofern und so lange
einen Rest von Souveränität, wie dieses an der Markenbörse spekulierende und
Wert setzende Modell eine abstrakte und anonyme Größe bleibt und er sich vor
allem des Vorsprungs vor den Mitbegehrenden sicher sein kann: „Wie ist die
Basswiedergabe bei solchen Lautsprechern?“ fragt er (Scott, d. Verf.) misstrauisch.
„Tiefste Grenzfrequenz bei fünfzehn Harz“, säusele ich, jedes Wort betonend. Das
bringt ihn für eine Minute zum Schweigen. […] Ich lehne mich zurück, zufrieden, dass
ich Scott den Mund gestopft habe, aber leider gewinnt er zu schnell seine Fassung
wieder… (145) Von dem Augenblick an, wo diese seinen Vorsprung in Frage stellen
oder gar aufholen und, anstatt als ferne Dritte in den Katalogen, in seinem
Aktionsraum als direkte Gegenüber und Nachbarn auftauchen, wird aus der externen
eine interne Begehrensvermittlung, was zur Folge hat, dass der Funke des Neids und
des nachgeahmten Begehrens die kurze und rückraumlose Distanz zwischen den
nächsten Umstehenden überspringt. Im äußersten Fall ist die Distanz der
Konkurrenten so gering, dass nicht einmal mehr eine Platin-Am-Ex-Geste als
Girardsches sacrifice émissaire die notwendige Redifferenzierung zu leisten vermag
und die entweder mit der Konversion oder mit der Katastrophe aufzulösende Devise
ausgerufen wird: à nous deux!
Parallel zu den Obdachlosen und Marginalen, die als gefährliche und daher
auszuschaltende Habenichtse Patricks Weg kreuzen, sind es auf der Trump-Seite
die Yuppie-Konsorten beiderlei Geschlechts, die entweder tatsächlich oder auch nur
vermeintlich in beruflicher und sexueller Hinsicht von Erfolg und Glück begünstigt
sind und damit den von Patrick beanspruchten Vormachts-Status in Frage stellen. Da
ihre Eliminierung bis auf wenige Ausnahmen sich als nicht machbar erweist, behilft
sich Patrick Bateman mit Ersatzopfern in der Gestalt von Models und Prostituierten
und lässt sich dabei – analog zu der Patty Winters Show für die Marginalen - von
Gewalt- und Horrorvideos anleiten, die er per Abonnement in großen Mengen
konsumiert. Wie der Blick auf die Rolex und das Verfolgen der morgendlichen TalkShow gehört der Gang zur Videothek zu den Taktgebern in American Psycho. Die
Mitgliedschaft bei VideoVision kostet jährlich nur zweihundertfünfzig Dollar (161), und
die Videos, die Patrick ausleiht, She-Male Reformatory und Ginger´s Cunt, werden
aus einem Tresor im Hinterraum des Ladens hervorgeholt. Doch eigentlich
interessiert er sich nur für einen einzigen Titel, Der Tod kommt zweimal, den er
schon 37mal ausgeliehen (161) hat und in dem er am liebsten die Stelle mag, wo die
Frau…von diesem Schlagbohrer im Film…durchbohrt wird (162). Wenn nun aber die
Hochglanzphotos in den Magazinen: Ich kaufe Lesbische Vibrator-Nutten und Fotze
auf Fotze (104) ihre kathartische Funktion nicht mehr erfüllen, wenn neben den
241
Horror-Videos auch die Einnahme der jederzeit verfügbaren Psychopharmaka den
drohenden Souveränitätsverlust nicht mehr wettmacht und wenn auch die ‚leichten’
Ersatzopfer der Obdachlosen oder der über einen Begleitdienst in die Wohnung
bestellten Girls das mimetische Verlangen nicht mehr ruhig stellen können, erfüllen
auch die Markenprodukte und das an ihnen demonstrierte Expertenwissen nicht
mehr die ihnen zugedachte Fetischfunktion, und es steht der Konfrontation der
Nachbarn als den Akteuren und Aktanten der internen Begehrensvermittlung
buchstäblich nichts mehr im Wege.
Auf der Jagd nach dem Fisher-Account, die sich wie eine Grals-Suche durch die
ganze Erzählung hindurchzieht, stößt Patrick Bateman auf Paul Owen und räumt ihn
als Hindernis beiseite. Er tötet ihn jedoch nicht nur, weil er beruflicher Rivale ist. Paul
Owen rivalisiert mit Patrick Bateman um Courtney, welche die Geliebte von Luis ist,
welcher wiederum Patrick gegenüber seine homosexuellen Neigungen zu erkennen
gibt, die dieser nicht erwidert. Paul Owen erhöht also Patrick gegenüber den
Begehrens-Wert von Courtney und fungiert als Vorbild und Hindernis in einer Person:
Courtney küsst Paul Owen auf die Wange, und schon halten beide Händchen. Ich
erstarre und bleibe stehen (261). Nachdem Paul Owen ausgeschaltet ist, ist auch die
wichtige Rolle des Mitbegehrenden im Falle von Courtney nicht mehr besetzt, mit der
Folge, dass ihr erotischer ‚Kurswert’ so weit sinkt, dass Patrick von der ersehnten
Liebesnacht mit ihr enttäuscht ist: Ich bin in Courtneys Bett. Luis ist in Atlanta,
Courtney zittert, presst sich gegen mich, entspannt sich. Ich rolle von ihr runter auf
den Rücken, lande auf etwas Hartem, das mit Fell bedeckt ist. […] Ich kann kaum ihr
Gesicht in der Dunkelheit sehen, aber ich höre das Seufzen, schmerzlich und tief,
das Geräusch einer aufschnappenden Medizinflasche, ihren Körper, der sich im Bett
umdreht. […] Ich… stehe auf, nehme eine Dusche (496 – 497).
Wenn im inneren Kreis des vermittelten Begehrens mit Bethany und Owen nur zwei
prominente Opfer zu verzeichnen sind, liegt dies nicht nur daran, dass Patricks
physische Möglichkeiten als mörderischer Supermann begrenzt sind; wie die
Ökonomie des mimetischen Begehrens einen funktionierenden Markt von Gütern und
Interessenten voraussetzt, benötigt Patrick Bateman ein Publikum aus Nachahmern
und Vorbildern. Wenn er nur dazugehören will: „Ich will doch…“ Ich sehe die Skyline
und murmele wie ein Kind vor mich hin: „… doch nur, dass es weiterläuft“ (542), darf
sich dieser innere Kreis nicht auflösen, und an der Stelle der Rivalen und
Hindernisse, die sich in diesem Kreis aufbauen, müssen Ersatzopfer die kathartische
Wirkung besorgen. Weil diese trotz oder gerade wegen ihrer großen Zahl die
erstrebte Wirkung aber stets verfehlen, obwohl oder gerade weil sich am Rand des
Kreises die Schwelle zur Gewaltanwendung mehr und mehr senkt, scheint sich der
Dante-Satz zu bewahrheiten: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren…
c. ) Konversion
Die Frage, ob eine Erzählung die Gegenwart des Vermittlers nur abbildet und
inszeniert oder sie enthüllt und durchschaubar macht, ist bereits für den frühen
Girard des Mensonge romantique der literarturkritische Prüfpunkt schlechthin, die
narrative ‚Sollbruchstelle’, an der sich herausstellt, ob der Erzähler den mythischromantischen Traditionalisten oder den antimythisch-romanesken Aufklärern
zuzurechnen ist. In der erzählerischen Bewegung, die auf diesen Punkt hin führt,
242
kann und muss die Frage nach dem Wesen des oder der Vermittler offen bleiben; es
ist dies die Bewegung, die der den Riten ‚abgelauschten’ mimetischen Sequenz
entspricht und wo aus einem zufälligen Anlass durch reziproke Nachahmung ein
explosiver kritischer Zustand entsteht, der nach dem seit Anbeginn der Welt kulturell
eingespielten violence-et-sacré-Verfahren durch dosierten Gewalteinsatz – stets bis
auf weiteres - gemeistert wird. Wohin die Erzählung letztendlich führt, wird in der
Konklusion sichtbar. Ob der Protagonist ähnlich dem Initianden in der Wassertaufe
aus dem gefährlichen Element wieder auftaucht und im hellen Licht und bei reiner
Luft seine Wiedergeburt feiert, oder ob er sich aus dem Sog und der Faszination der
Untiefen nicht herauswinden kann, entscheidet sich in der Konklusion. Diese ist
entweder der Ort einer Läuterung und Umkehr – prototypisch dargestellt durch den
Don Quixote, der sich am Ende seines Lebens und seiner Irrfahrten lossagt von
seinem faszinierenden Vermittler, sich mit Gott und der Welt versöhnt und seine
Identität findet - oder der Ort der wenn auch versuchten, so doch verweigerten
Umkehr und verpassten Auferstehung, wie sie beispielsweise Camus’ Meursault
verkörpert. Für Girard ist jedes ernsthafte Romanprojekt gleichzeitig eine religiöse
Erfahrung, eine Experiment, welches durch die Beobachtung von menschlichem
Verhalten eine Aussage darüber treffen soll, ob es menschengemäß ist, die primären
und mimetisch gesteuerten Handlungsimpulse binden zu lassen und Bedingungen
und Bindungen für das Zusammenleben zu akzeptieren, oder ob es vielmehr
menschengemäß ist, den primären Impulsen, deren animalische Basis Girard immer
wieder betont, freien Lauf zu lassen.
Im Vorwort zu American Psycho wird die religiöse Dimension des Romanprojekts
insofern auf das profan-kulturelle Maß umformatiert, als der Autor die 1938 geborene
amerikanische Schriftstellerin Judith Martin 692 - ihr pen name ist Miss Manners - mit
einem Wort zur vorherrschenden Zeitströmung der Emanzipation und
Selbstverwirklichung am Ende des 20. Jahrhunderts zitiert: Einer unserer Irrwege war
die rousseauistisch-naturalistische Bewegung der sechziger Jahre, deren Credo
lautete: „Warum nicht einfach aussprechen, was einem durch den Kopf geht?“
Zivilisation erfordert ein Mindestmaß an Beherrschung. Wenn wir alle unseren
Impulsen nachgeben würden, würden wir uns gegenseitig umbringen (12).
Das gegenseitige Sich-Umbringen, vom symbolischen Ausstechen des Rivalen mit
Hilfe der Visiten- oder Kreditkarte bis zum physischen und technisch ausgefeilten
sowie teilweise kannibalistisch motivierten Abschlachten des unbezwingbaren
Hindernisses, wird in American Psycho dem Leser als unabdingbare Konsequenz der
mimetischen Krise mit schonungsloser Härte vor Augen geführt. Was an dem zum
Serienmörder gewordenen Protagonisten explizit wird, ist nicht die Banalität des
Schrecklichen oder das Agieren in einem ganz eigenen amerikanischern Traum, 693
es ist die erzählerisch schlüssig und bis ins grausame Detail durchgerechnete
Reaktion auf seinen immer wieder gescheiterten Versuch, die Anerkennung und
Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen, in einer harmonischen Beziehung mit
seiner Umwelt zu leben und dadurch auch die für das Selbstakzeptanz notwendige
Gelassenheit aufzubringen. Auch wenn das verwendete Metaphernmaterial die
apokalyptische Aufladung weitgehend kaschiert, kann American Psycho als ein
Endzeitbericht gelesen werden, als Bericht über das Ende einer Epoche, in dem die
Quittung für die hedonistischen Heilsversprechungen präsentiert wird, welche in der
Kulturrevolution der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts verkündet und mit flower
692
693
Vgl. Judith Winter, Miss Manners Guide to Excruciatingly Correct Behaviour, New York 2005
so die Publizistin Elke Heidenreich im Klappentext der vorliegenden Ausgabe.
243
power gefeiert wurden. In einer Welt des schrankenlosen Begehrens, welchem eine
unendliche Produktion von Gütern sowohl vorausgeht als auch nachfolgt, wird ein
jeder eines jeden Vorbild, gleichzeitig ein jeder eines jeden Rivale und ein jeder
eines jeden Hindernis, das gewaltsam zu beseitigen ist. Und da der mimetische Furor
- nach der Analyse von Girard, besonders aber auch von Calasso – nicht mehr wie
in den archaischen Religionen durch dosierte Injektionen sakraler Gewalt zu stoppen
ist und Gewaltstreiche anderer Art sich wegen der Unabschätzbarkeit der Folgen
verbieten, scheint es in der Tat keinen anderen Ausgang zu geben als das finale no
exit am Ende der Erzählung, wo es die kontrapunktische Antwort auf den
Danteschen Prolog spricht. Zu fragen ist indes, ob die resignative no-exit-Bilanz, die,
nachdem alle Opferungen sich als unwirksam erwiesen haben und auch die
öffentliche polizeiliche Gewalt der Raserei nicht Einhalt gebieten kann, wirklich
unausweichlich ist. Wenn nicht, wird zu zeigen sein, ob und gegebenenfalls in
welcher Situation Patrick Batemans Trajektorie in eine andere Richtung hätte weisen
können als in die des unersättlichen monströsen Serienmörders.
Der innere Kreis um Patrick Bateman öffnet und verliert sich. Die Verlobung mit
Evelyn wird aufgelöst. Courtney, von Evelyn gehasst und von Patrick begehrt,
heiratet Luis, dessen homoerotische Neigung zu Patrick von diesem mit Demütigung
und sogar Morddrohung beantwortet worden war. Die nächstliegenden
Anhaltspunkte für das trianguläre Begehren sind also gelöscht. Auch hier kein
Anschluss: no exit.
Enthielte American Psycho nicht auch den Versuch, dem Lauf der Geschichte um
Patrick Bateman eine andere Wendung zu geben, gehörte das Werk zu den récits
contemporains, von denen Girard behauptet, dass ihnen das romaneske Format fehlt
und sie sich darin gefallen, den mimetischen Rausch abzubilden, anstatt ihn zu
durchschauen, dessen Reflex zu sein und nicht dessen Revelation. In äußerster, von
mensonge romantique vorgezeichneter Konsequenz wären dies Erzählungen, die,
wenn die konversiven Chancen auf dem Weg des Protagonisten nicht sichtbar
gemacht werden, nicht nur in dem Sinn mangelhaft sind, dass ihnen etwas fehlt;
nach Girards Prüfbestimmungen wären es Werke, die schlichtweg unvollkommen
sind, die nicht dem achèvement romanesque der großen Literatur entsprechen und
deren inachèvement letzten Endes darauf zurückzuführen ist, dass der Autor in
seiner eigenen Biographie die Schwelle zur Desillusionierung und zur
Entromantisierung noch nicht überschritten hat.
Eine erste potenzielle Wende-Instanz, die aber vergeblich sich darum bemüht,
Patrick Bateman zum Umlenken zu bringen, ist seine Verlobte Evelyn. Sie ist es, die
Einspruch erhebt gegen die Divinisierung des externen Vermittlers: „Nicht schon
wieder Donald Trump“, mault Evelyn. „…Diese Obsession muss aufhören!“ schreit
sie fast (273) und den Ikonenstatus von Ivana Trump in Frage stellt, indem sie diese
mit einer gewissen Norris Powell (174) verwechselt. Sie ist es, die – mit fast
biblischer 694 - Eindringlichkeit die Stimme erhebt und mit der dreimaligen,
investigatorischen Frage Rechenschaft über Patricks nächtliches Treiben fordert:
„Wo warst du letzte Nacht, Patrick?“ (169). Schließlich ist sie es, die ihre Beziehung
mit Patrick auf Dauer stellen, ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen will: Sie
berührt meine Hand, meine Rolex, sie atmet noch mal durch, diesmal
erwartungsfroh, und sagt: „Wir sollten es tun.“ Ich versuche, einen Blick auf unsere
694
Vgl. Gen 3, 9: „ Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?“, auch Gen 4, 9: „Wo ist dein
Bruder Abel?“
244
Hardbody-Kellnerin zu erhaschen… „Was… tun?“ „Heiraten“, sagt sie und klimpert
mit den Wimpern. „Hochzeit feiern.“ […] „Wir sollten es tun“, sagt sie sanft.
„Patrick…“ (178 –179) . Patricks Reaktion auf Evelyns Versuch, ihn zu binden und
festzulegen, ist jedoch vorhersehbar: „Ich bin siebenundzwanzig. Ich will mich nicht
mit einer festen Beziehung belasten. […] Evelyn, ich will nicht, dass du mich
irgendwie nennst. Ich finde, wir sollten uns nicht mehr sehen […] Ich will, dass
Schluss ist. Ich brauche Sex in regelmäßigen Abständen. Ich brauche Zerstreuungt“
(468 - 469). Evelyn wird zurückgestoßen, weil sie nicht zu denen gehören will, die
sich von Patrick ge- und verbrauchen lassen, sondern ihm gegenüber einen eigenen
Besitzanspruch anmelden. Sie rivalisiert erfolgreich mit der schönen Courtney, die
ihre Konkurrenz fürchtet: „Wo bist du gestern nacht gewesen? Sag bloß nicht bei
Evelyn, sonst fängst du dir eine“ (205), der Gefährtin von Luis und der gelegentlichen
Geliebten von Patrick: Ich denke an Courtneys Schenkel, gespreizt und um mein
Gesicht geschlungen (155), der sich nicht entscheiden will: Courtney hat den etwas
besseren Körper, Evelyn die besseren Titten (204). Da Evelyn selbst als Brokerin
arbeitet und stabil in die Yuppie-Szene integriert ist, ist sie Patrick gegenüber
gleichrangig und ebenso machtbewusst wie er, so dass er befürchten muss, in einer
festen Beziehung nur verlieren zu können: Zum ersten Mal geht mir auf, dass ihr
Blick in den beiden letzten Jahren weniger mit Anbetung auf mir ruht als mit etwas,
das an Habgier grenzt (466).
Da Patrick feststellen muss, dass Evelyn ihm die Anbetung verweigert und er sie
wegen ihrer Einbindung in die Szene nicht physisch eliminieren kann, praktiziert er
an ihr eine symbolische Ausscheidung, die das Scheitern dieses
Konversionsversuchs besiegelt. Ein im Männerklo gestohlener und zu Hause mit
einer Schokoladencouvertüre eingefrorener Duftstein wird von dem mit einem
Fünfzigdollarschein bezahlten Kellner unter einer Silberglocke als Dessert serviert,
und Patrick ist befriedigt, Evelyn etwas essen zu sehen, auf das ich und zahllose
andere gepisst haben (466).
Obwohl die Trennung nicht aufzuhalten ist, erinnert Evelyns Stimme wie ein
schwächer werdendes Echo an die vertane Konversionschance und appelliert an die
noch verbleibenden Möglichkeiten zu einer auf Desillusionierung und gegenseitige
Anerkennung beruhenden Selbstfindung. Parallel zu der dreifachen Frage der
investigierenden Gewissenserforschung: Wo warst du? erfolgt der dreifache SinnAppell des quo vadis? in einer Abschiedsszene, die das romaneske Format von
American Psycho eindrucksvoll belegt. Nachdem Patrick und Evelyn im Restaurant
und mit für die Gäste vernehmlicher Lautstärke sich gegenseitig als Monster tituliert
haben, erfolgt Patricks Bruch und Aufbruch: „Ich gehe jetzt“, sage ich besänftigend.
„Was mich angeht, ist jetzt alles klar, und ich gehe jetzt.“ „Nicht“, sagt sie und
versucht, meine Hand zu fassen. „Geh nicht.“ “Ich gehe, Evelyn.“ „Wo gehst du hin?“
[…] „Sag mir, Patrick, wo willst du hin?“ […] „Wo gehst du hin?“ fragt sie wieder. Ich
gebe keine Antwort, verloren in meinem eigenen privaten Labyrinth, in Gedanken bei
ganz anderen Dingen: Optionsanleihen, Aktienpakete, ESOPS, LBOS, IPOS,
Finanzierung, Refinanzierung, Anleihen, Wandelanleihen, proxy statements, 8-Ks, 10
Qs, Nullcoupon-Anleihen, PiKs… (472).
Im Unterschied zu Evelyn gehört Jean, meine in mich verliebte Sekretärin (152), nicht
zur Schickeria von Manhattan. Ihre Nähe zu ihrem Chef ist über die Akten vermittelt,
die sie ihm vorlegt und die Termine, die sie für ihn verwaltet, schließlich über das
Vorzimmer, aus dem sie ihm die Telefonanrufe weiterleitet und seine Besucher mit
245
Getränken bedient. Unter dem Gesichtspunkt des triangulären Begehrens definiert
sich Jeans Position dadurch, dass sie nicht dem internen Kreis der den
Protagonisten umstellenden Vorbilder, Rivalen und Hindernisse angehört, dennoch
aber weder auf der Höhe des unerreichbaren externen Vermittlers Donald Trump
noch der eines zwar vielbeachteten aber immerhin unter einer gemeinsamen
Adresse, fünfundfünfzig West-Eighty-First-Street, American Gardens Haus (375),
anzutreffenden ‚Models’ anzusiedeln ist, dem er im Aufzug begegnet: Es ist der
Schauspieler Tom Cruise, der im Penthouse wohnt […] Er wirkt in natura viel kleiner
und trägt die gleiche schwarze Wayfarer (Sonnenbrille, d. Verf.) wie ich. Er trägt Blue
Jeans, eine weißes T-Shirt und ein Armani-Jackett (105). Indem sie sich sowohl aus
der inneren mimetischen ‚Kampfzone’ als auch aus dem äußeren
Blendungszusammenhang heraus hält, wird sie zur Sekretärin in einer überaus
wörtlichen Bedeutung, das heißt zu einer Geheimnisträgerin und confidente an der
Schnittstelle der evidenten und der diskreten Vorgänge, wo sich Interesselosigkeit
und Engagement gelegentlich überlagern. Die Perspektive einer mimetischen
Ruhigstellung durch den Aufbau einer dauerhaften Paarbeziehung ist im Fall von
Evelyn getrübt durch eine gewisse Militanz, mit der Evelyn ihre Partnerinteressen
vertritt, darüberhinaus auch belastet mit mädchenhaften Illusionen: „Jane Simpsons
Hochzeit war so schön“, seufzt sie. „Und der Empfang danach war heiß… Women’s
Wear Daily haben eine ganze Seite gebracht.“ […] „Hochzeiten sind so romantisch.
Zur Verlobung hatte sie einen Diamantring bekommen. Du weißt, Patrick, ich würde
mich nicht mit weniger begnügen“, sagt sie bescheiden. „Es muss ein Diamant sein.“
Ihre Augen werden werden glasig… (177).
Im Konversionsexperiment mit der mitwissenden Sekretärin kann das Ausbrechen
aus dem mimetischen Zirkel mit größerer Freiheit geprobt werden, weil sich mit Jean
die Partnerrolle mit einer Person besetzen lässt, deren Sicht auf Patrick im
Unterschied zu Evelyns zwischen Anbetung und Habgier schwankender Hinwendung
als authentisch, unmittelbar und unvermittelt verstanden und formuliert werden kann.
Ein erstes außergeschäftliches Zusammensein, das noch ganz von Patricks
Imponier- und Begehrensgehabe beherrscht ist: Was mag Jean für Bücher lesen?
Titel jagen mir durch den Kopf: Der erste Schritt: so lerne ich Männer kennen. Liebe
wie am ersten Tag. Geschäftsabschluss: Heirat. In einem Jahr vor dem Altar.
Verliebt-Verlobt-Verheiratet. In meiner Manteltasche ertaste ich das Kondometui aus
Straußenleder von Luc Benoit, das ich letzte Woche gekauft habe, aber, nein, danke
(368), endet mit einer für den in kompetitiven Kategorien befangenen Protagonisten
neuen Erfahrung: Und obwohl es keineswegs ein romantischer Abend war, umarmt
sie mich und verströmt diesmal eine Wärme, die mir ungewohnt ist (368). Die
verwandelnde Wirkung des Dinner in eben dem heiß umkämpften Luxusrestaurant,
von dem so oft die mörderischen Eskapaden ausgingen, wird darin spürbar, dass
Patrick nach der Verabschiedung von Jean gegen den hässlichen Penner (369) auf
dem Weg zur Park Avenue nicht gewaltsam vorgeht, vor allem darin, dass er sich
eine harmonische und fröhliche Beziehung mit Jean vorstellen kann: … und dann,
hinten im Taxi, auf dem Weg durch die Stadt zu meinem Apartment, sehe ich mich
mit Jean an einem kühlen Frühlingsnachmittag durch den Central Park laufen,
lachend, händchenhaltend. Wir kaufen Ballons, wir lassen sie fliegen (369).
Die zweite Begegnung dieser Art mit seiner Sekretärin findet zu einem Zeitpunkt
statt, an dem Patrick, wie es den Anschein hat, bereits rettungslos in die Mordserie
verwickelt ist und die Kontrolle über sich verloren hat: In meiner Garderobe bei
Xclusive (Fitnessclub, d. Verf.) liegen drei Vaginas, erst kürzlich aus verschiedenen
246
Frauen herausgeschnitten, die ich in der letzten Woche überfallen habe. Zwei sind
abgewaschen, eine nicht. An einer klemmt eine Haarspange, die, die mir am liebsten
ist, ziert ein blaues Band von Hermès (510). Anstatt in einem teuren Restaurant
treffen sie sich dieses Mal zum Brunch in einem Straßencafé, und ganz unvermutet
bringt Jean beim Dessert ihren Chef in allergrößte Verlegenheit, als sie fragt: „Hast
du nie den Wunsch gehabt, einen anderen glücklich zu machen?“ (514) Und als Jean
die Gesprächsführung übernimmt: „Hör mal, Patrick. Wir müsen etwas besprechen“,
sagt sie. „Oder wenigstens möchte ich es besprechen“ (516), sträubt er sich nicht
und lässt sich in ein Gespräch verwickeln, das alle Voraussetzungen für eine
confessio erfüllt, welche wiederum ein Akt der Reue und ein erster Schritt der
Umkehr und Befreiung aus dem Spiegelsaal des mimetischen Begehrens sein
könnte: „Ich glaube, es wird… Zeit für mich…mir die Welt, die ich geschaffen habe,
anzusehen“, würge ich mit Tränen in den Augen hervor und höre mich plötzlich
beichten“. (522)
In einem von Jeans Frage angestoßenen inneren Monolog blickt Patrick wie ein
plötzlich von allen Illusionen befreiter Don Quixote auf sein Leben zurück, das ihm
nun, im Licht einer von Überwältigungsabsicht freien Du-Erfahrung, wie eine
unendlich sich dehnende Wüste (516) vorkommt. In dieser Wüste ist es ihm nie in
den Sinn gekommen, niemals, Menschen könnten gut sein, oder ein Mann könne
sich ändern, oder die Welt könnte schöner aussehen, wenn jemand sich an einem
Gefühl, einer Geste, einem Blick erfreut, an der Liebe oder Zuneigung einer anderen
Person (516). Einen langen Augenblick erscheint Patrick als der Konvertit, der auf
dem Weg ist zur größtmöglichen Annäherung an eine Offenbarung unter der Führung
einer Partnerin, entschlossenen, mich in ein neues unbekanntes und Land zu führen
(521), zumal es für ihn einen weiteren Grund gibt, sich führen zu lassen: Sie hat
einen besseren Körper als die meisten Mädchen, die ich kenne (522), und dieser
Körper wird nicht wie sonst üblich als Hardbody und in sexistisch-konsumistischer
Weise angesprochen. Um die begonnene Konversion zu vollenden, müsste sich
Patrick Bateman allerdings nicht nur gegen sein bisheriges Leben bekennen; er
müsste in einem Akt der Lossagung sich gleichzeitig für ein neues Leben
entscheiden, in einem Opferakt wenigstens symbolisch die alten mimetischen
Markengötzen verbrennen und ein Wendemonument setzen, das die Umkehr – in
religiöser Diktion: die Auferstehung - markiert.
Wer den Eindruck gewinnt, dass das Konversionsexperiment mit Jean, anstatt einer
existenziellen Wette gleichzukommen, eher einen Auswahlcharakter hat und sich
demzufolge als eine von mehreren denkbaren Optionen ausweist, wird darauf
gefasst sein, dass sein Ausgang ebenso überraschend ist wie sein Anfang. In der Tat
entpuppt sich die Affaire mit Jean als ein Sprachspiel, in dem das Ja ihr gegenüber
eine von mehreren möglichen Antworten ist. Die weiteren Reaktionen sind: Es ist
sowieso jeder austauschbar (522) oder: Ist eh egal. Sie sitzt vor mir, mürrisch, aber
hoffend, charakterlos, kurz davor, in Tränen auszubrechen (522 – 523). Wie Jeans
Anfangsfrage
nach
der
Glücksmöglichkeit
einer
enttriangulierten
und
entmimetisierten Paarbeziehung den Protagonisten verunsichert, konfrontiert dieser
am Ende des teils realen, teils imaginären Beichtgesprächs seine confidente ein
letztes und entscheidendes Mal mit seiner von fremdmarkiertem Begehren
beherrschten Welt. In einem Test, den Jean nicht bestehen wird, obwohl und
vielleicht gerade weil das Testobjekt an Banalität kaum übertroffen werden kann,
scheiden sich die Geister und klärt sich, warum Patrick über die größtmögliche
Annäherung an die Offenbarung nicht hinauskommt und die Wall Street- und
247
Manhattansphäre des uneigentlichen, vermittelten und durch Markierung
ausgelösten Begehrens nicht verlassen kann: „Hast du einen Aktenkoffer?“ frage ich
schluckend. „Nein“, sagt sie. „Habe ich nicht.“ „Evelyn schleppt immer einen
Aktenkoffer mit“, werfe ich ein. „Tut sie das…?“ fragt Jean. „Und was ist mit einem
Filofax?“ „Einen kleinen“, gesteht sie. „Designer?“ frage ich misstrauisch. „Nein.“ Ich
seufze… (523).
Jeans no-name-Organizer hält den Vergleich mit Evelyns Aktenkoffer als Symbol des
Dazugehörens zur Welt des pulsierenden Begehrens nicht aus. Und obwohl die
Verlobung mit Evelyn aufgelöst ist, kann Jean die freigewordene Position nicht
besetzen. Jean hat Patrick einen Blick in ein neues unbekanntes Land werfen
lassen, das für einen Augenblick die Faszination eines ‚gelobten Landes’ besitzt:
…ich spüre, wie ich mich gleichzeitig nähere und entferne, und alles ist möglich
(524), das er jedoch nicht betreten wird, weil er die romaneske Konklusion eines si le
grain ne meurt , wie sie Girard den großen Werken der Literatur ablauscht, nicht
akzeptiert und sich dafür entscheidet, das Erototop der triangulären Provokation 695
nicht zu verlassen.
Das Scheitern der Konversionsversuche mit den beiden aus unterschiedlichen
Distanzen operierenden Frauengestalten macht zugleich die Wirkungslosigkeit der
anderen von American Psycho ins Spiel gebrachten, jedoch jeweils rasch
übergangenen Instanzen plausibel, die hätten als Wendemarken fungieren können.
Die Bemerkung An der Ecke der Straße ist eine Kirche. Wen kümmert’s? (525) ließe
sich ebenso auf Patricks Elternhaus übertrage: Meine Mutter…versucht zu lächeln,
während sie fragt, was ich zu Weihnachten möchte. Es überrascht mich, wie schwer
es mir fällt, den Kopf zu heben und sie anzusehen (503), wie auf den Versuch, sich
in einem Urlaub in den Hamptons zusammen mit Evelyn vom Kontakt mit der Natur
inspirieren zu lassen: Nichts verschaffte mir Erleichterung. Bald wurde alles schal.
[…] Es wurde Zeit, die Hamptons zu verlassen. […] Auf meinen Vorschlag, eines
Morgens beim Frühstück, willigte sie ein, und am letzten Sonntag vor dem Labor Day
kehrten wir per Hubschrauber nach Manhatten zurück (391 – 392).
Wenn American Psycho den Protagonisten wider alles Erwarten nun doch nicht alle
Hoffnung fahren lassen lässt, steht nach den gemachten Erfahrungen fest, dass für
etwaige Konversionschancen weder meditative Begegnungen mit der Natur hilfreich
sind noch personale Retter in Frage kommen. Dennoch ist es überraschend, wenn
Erlösung vom mimetischen Furor sich von einer Seite her anbietet, die permanent
dem Verdacht ausgesetzt ist, uneigentliches Begehren zu provozieren und die
Begehrenskontamination geradezu zu ihrem Daseinszweck zu machen. Was die
Naturbegegnung nicht vermag und die Personen bei aller oder gerade wegen ihrer
Attraktivität und Führungsbereitschaft nicht leisten, ist der Musik vorbehalten. Doch
wenn es die Ausstiegsschancen sind, die die Musik bietet, legt American Psycho
besonderen Wert darauf, dass es nicht Live-Musik: Ich hasse Livekonzerte, doch um
uns herum hält es niemand auf den Stühlen, Begeisterungs-Schreie konkurrieren mit
dem Radau aus den aufragenden Lautsprecher-Wänden, die sich über uns türmen
(204), sondern medial gespeicherte und verbreitete Musik ist, bei deren Wiedergabe
Patrick Regie führt und sich nicht der unmittelbaren Konkurrenz mit den Popstars
aussetzt. In den drei Tagebucheinträgen, die jeweils einer Pop-Gruppe
beziehungswiese einem Pop-Sänger gewidmet sind, Genesis (189 – 195), Whitney
695
Peter Sloterdijk, Sphären III, S. 406
248
Houston (351 – 356) und Huey Lewis and the News (486 – 496) legt Patrick nicht nur
ein musikalisches Expertenwissen an den Tag, das durchaus auf der Höhe der
Markenkenntnisse im Bereich der Designermoden und der life-style-Gadgets ist; er
spricht dort eine Sprache, die man von ihm nicht kennt. Titel um Titel bespricht er die
einzelnen Alben, beschreibt einfühlsam sowohl die musikalischen Arrangements als
auch die Themen der Songs, deren jeden er als persönliche Botschaft an die
Menschheit und als Minidrama deutet, welches alle angeht und mitnimmt. In diese
Welt der Pop-Songs führt Patrick den Leser ein, ohne darauf hinzuweisen, dass alle
Hoffnung fahren zu lassen sei. Es ist dies eine Welt der offenen und ehrlichen
Kommunikation, in der das Schöne bewundert und bestaunt, das Schmerzhafte
beweint und betrauert und das Unerfüllte ersehnt und erhofft werden kann: Aber
Whitneys Talent erstrahlt um so heller bei dem überwältigenden „The Greatest Love
of All“, einem der besten, stärksten Songs, die je über Selbsterhaltungstrieb und
Seelengröße geschrieben wurden. Von der ersten Zeile (Michael Masser und Linda
Creed zeichnen hier als Songschreiber) bis zur letzten eine maßstabsetzende
Ballade über den Glauben an sich selbst. Es ist ein ausdrucksstarkes Statement und
eines, das Whitney mit einer Grandezza singt, die ans Sublime grenzt. Seine
universelle Botschaft überschreitet alle Grenzen und erfüllt uns mit Hoffnung, dass es
nicht zu spät für uns ist, uns zum besseren zu wenden, sanftmütiger zu werden. Da
es in einer Welt wie der unseren unmöglich ist, Mitgefühl mit anderen zu empfinden,
haben wir immer noch uns zu bemitleiden. Es ist eine wichtige Botschaft, elementar
sogar, und wunderschön ausgedrückt auf diesem Album (353).
Wenn einer wie Patrick Bateman aus seinem Tages- und Nachttreiben ausbricht, von
Selbsterhaltung im Zusammenhang mit Seelengröße spricht, den Glauben an sich
selbst mit Sanftmut verbindet und das solidarische Mitleiden als universelle Haltung
postuliert, ist nicht weniger als das Wunder der Auferstehung eines neuen Menschen
geschehen. Wer sich erinnert, wie hasserfüllt und grausam der Yuppie gegen die
Obdachlosen vorgeht, erlebt einen geläuterten Patrick beim Anhören eines GenesisSongs: Mein Lieblingssong ist „Man on the Corner“, der einzige, den Collins ganz
allein geschrieben hat, eine hinreißende Ballade mit hübscher Synthie-Melodie und
hämmerndem Schlagzeug im Hintergrund. Auch wenn es leicht von jedem Collins
Soloalbum hätte stammen können, da Einsankeit, Paranoia, Entfremdung et cetera
von Genesis nur allzu bekannt sind, zeigt es den hoffnungsvollen Humanismus der
Band. „Man on the Corner“ beschreibt höchst einfühlsam das Verhältnis zu einer
einsamen Figur (ein Penner, vielleicht ein armer Obdachloser?), „that lonely man on
the corner“, der einfach herumsteht (191).
Patrick Bateman erzählt die Titel eines Albums wie die Kapitel eines Romans, der als
Ganzes einer Konklusion zustrebt, in der sich musikalisch wie thematisch eine
Vervollkommnung ereignet: Aufwärts ging es für Huey und die Jungs mit dem
zweiten Album, Picture This von 1982, das zwei Semihits abwarf,“ Workin’ for a
Living“ und „Do You Believe in Love“ […]. Der Sound, obwohl immer noch durchsetzt
von New-Wave-Elementen, war mehr Roots-Rock-orientiert als das vorhergehende
Album […]. Ihr Songwriting ist raffinierter geworden […]. Sie zeigen mehr Interesse
für persönliche Beziehungen…, anstatt sich als junge Nihilisten aufzuspielen […].
Völlig verschwunden ist das Bad-Boy-Image (488- 489). Die einzelnen Titel der Alben
fügen sich nach Art der Proppschen Funktionen zu einer Gesamterzählung, deren
Konklusion sie andeuten und vorbereiten. Die Synthese, die sich in Patricks
Tagebuch-Wiedergabe aus den Songs und Alben ergibt, ist eine Welt, die bei der
Suche nach Harmonie vorankommt und die mit Optimismus dabei ist, die
249
individuellen, gesellschaftlichen und globalen Probleme zu lösen. Mit spürbarer
Zustimmung notiert Patrick die Themen und Thesen eines der Alben (487 - 496), die
nachdrücklich Einspruch erheben gegen die no-exit-Blockade, und entwirft ein
Panorama der überwundenen und überwindbaren Spannungen sowie der geheilten
und heilbaren Schäden. Neben selbsterklärenden Songtiteln wie „Hope You Love Me
Like You Say“, „Is It Me?“ oder “The Only One” finden sich Patricks Kommentare zu
den Hörerlebnissen, die sich wie Botschaften aus einer Gegenwelt zu American
Psycho lesen: Sehnsucht und Reue klingen in einem Lied an, von einem
ergreifenden Song über treue Freunde ist in einem anderen die Rede, Nachteile
flüchtiger Bettgeschichten werden betrachtet, einer der eindringlichsten Anti-DrogenSongs, die je geschrieben wurden, wird vorgestellt sowie soziales Bewusstsein, das
neu für die Band ist, wird registriert. Während Patrick in einem Song ein Loblied auf
das Erwachsenwerden sieht, bestärkt ihn ein anderer in der der Auffassung, dass er
kein Song über Mädchen, hinter denen man her ist, sondern eine
Auseinandersetzung mit menschlichen Beziehungen ist, ein Aufruf gegen Alkohol
und Drogen oder ein Song über harte Lehrjahre und neugewonnene
Kompromissfähigkeit. Wer hätte je sich denken können, dass dieser Patrick Bateman
sich begeistern lässt für ein Loblied auf feste Beziehungen und die Ehe, dass er auf
der CD einen Titel ansteuert, der sich für dauerhafte Beziehungen ausspricht, der
sich anhört als eine bezaubernde Ode an Monogamie und sexuelle Erfüllung oder
gar die Zeit der Unschuld preist? Nicht weniger überraschend, weil im Kontrast zu
den gewaltsamen und verbalen Ausschreitungen gegen Vertreter der ethnischen und
sozialen Minderheiten in den USA, ist seine apologetische Deutung, wenn er einen
Song hervorhebt, weil er globale Fragen aufgreift, sich für globale Verständigung
engagiert und dessen Wiedergabe ein beglückendes Gemeinschaftserlebnis ist.
Deutlicher als in der Besprechung der Pop-Alben: Die Lyrics sind positiver und
bejahender als alles, was ich im Rock bislang gehört habe (194) kann die Konversion
eines Menschen, der sich von seinem falschen früheren Leben lossagt, nicht zum
Ausdruck gebracht werden, zumal diese Wende in Patricks Moderation eine
überzeugende ästhetische Dichte gewinnt, wenn es von den Songs heißt, sie
verströmen warme, luxuriöse Jazzarrangements (352), sind von umwerfenden
Streicherarrangements begleitet (353) oder wenn von einer Stimme gesagt wird, sie
klinge wie eine makellose, warme Maschine, die fast das Sentiment der Musik
überrundet (355).
Da die musikalische Konversion jedoch, wie man weiß, völlig folgenlos ist und daher
eine rein virtuelle Geste ist, braucht ihr Scheitern gar nicht erst eingestanden und
erzählt werden. Während in den Fällen von Evelyn und Jean der Versuch einer
Umkehr in eine Konfrontation mündet, die mit der Niederlage des einen Teils, also in
einer
opferähnlichen
Konklusion
endet,
gleicht
das
musikalische
Konversionsexperiment einem Selbstversuch, bei dem von vorneherein das Kriterium
der Verbindlichkeit unterschlagen wird. Wie die Kamera in Patricks Wohnung ohne
Anschluss nach außen ist, sind auch der Walkman oder der häusliche CD-Player
kurzgeschlossen mit dem, der die CD auswählt und einlegt – und aus eben diesem
Grund auch die Livemusik hasst. Indem American Psycho das Bild einer zivilisierten
und nach humanistischen Normen sich regelnden Welt entwirft und gleichzeitig
dieser Welt eine ausschließlich ästhetische Seinsweise bescheinigt, wird diese Welt
als Fatamorgana denunziert, als eine Wirklichkeit, deren Substanz reinen
Wunschcharakter hat. Während die versuchten Paarbeziehungen als Ausweg aus
dem mimetischen Taumel mit Evelyns offener Wut oder mit Jeans heimlichen Tränen
250
endet, herrscht nach dem Verklingen der Musik beziehungsweise dem Abschalten
der Wiedergabegeräte nichts als Schweigen, eine Stille, die eindringlicher als die
dialogischen Eingeständnisse die Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit einer Umkehr
bezeugt. Es ist das no exit des Schlussakkords, welches die Unmöglichkeit einer
romanesken Konklusion besiegelt. Wie die Botschaft der Songs durch einfaches
Ausschalten zum Schweigen gebracht werden kann, kann sie sowohl zum
Hintergrundgeräusch deklassiert werden: die entspannenden Klänge von Pachelbels
Kanon passen irgendwie zu den grell ausgeleuchteten Hochglanzphotos in den
Magazinen (104), als auch das Folterwerkzeug ergänzen: Im tragbaren CD-Player,
der auf dem Bücherbord über dem Bett steht, läuft eine CD der Traveling Wilburys,
um eventuelle Schreie zu übertönen. Ich fange damit an, Torri ein wenig zu häuten
mache leichte Einschnitte mit einem Steakmesser… (421). Schließlich erfolgt das
sinnfälligste Abrücken von der Musik als Portal in ein neues unbekanntes Land und
der Verrat an der Musik als kommunikative Chance dadurch, dass Patricks Tag- und
Nachtstationen nicht von musikalischen Hörerlebnissen, sondern von dem
Wettbewerb um die neuesten Aufnahme- und Wiedergabegeräte markiert werden:
Mitte Oktober wird folgendes geliefert: Ein Audio-Reciever, der Pioneer VSX-9300S,
mit integriertem Dolby Prologic Surround Sound Prozessor mit Digitaldelay, 125 Watt
Lautsprecherleistung nach vorne und 30 Watt nach hinten und einer InfrarotFernbedienung, die bis zu 154 Programmfunktionen fremder Geräte anderer Marken
speichern kann (424).
Versteht man die Musik in American Psycho als Platzhalter für den populären
Kulturbetrieb mit seinen einflussreichen gesellschaftlichen Sinn-Agenturen, erhält die
Ungültigkeitserklärung der dort vertretenen Normen eine gleichsam apokalyptische
Dimension. Wenn in der Tat Patrick Batemans Begehren unstillbar und seine
Karriere als Nachahmender unaufhaltbar ist und daher die Beseitigung der
mitnachahmenden Rivalen erfordert, und wenn in seinem Leben die Verhältnisse
explizit werden, unter denen sich die Gesellschaft bildet, enthält American Psycho
eine düstere, endzeitliche Prognose und rechnet sich – nach Girards Klassifizierung
– eher den Erzählungen zu, die das mimetische Begehren abbilden, anstatt es zu
durchschauen.
Da American Psycho vor allem in der nächtlichen Szenerie, welche jedoch mehr und
mehr an das Tageslicht drängt, eine Geschichte von Kapitalverbrechen ist und
demzufolge die Erzählung völlig unbefangen auch als Kriminal-Lektüre betrachtet
werden kann, dürfen bei der Einschätzung der Konversionschancen diejenigen nicht
übergangen werden, die als polizeiliche Maßnahmen die mimetische Kettenreaktion
unterbrechen, das heißt öffentliche und legale Gewalt einsetzen, um den Täter von
den Objekten seiner Begierde abzubringen, ihn dingfest zu machen und ihn zur
Umkehr zu zwingen. Die Handlungsstruktur des simplen Kriminalromans weicht nicht
nur nicht ab von der Girardschen Sequenz der mimetischen Krise und ihrer
Bewältigung; sie ist vielmehr – wie auch der Western auf dem Gebiet der filmischen
Erzählung - deren populäre und auf die einfachsten Funktionen reduzierte Version:
Es wird ein Rivale, das heißt ein Begehrensnachahmer ausgeschaltet. Der Täter, der
den Frieden und die Ordnung bedroht, sieht sich in der Position des Einer-gegenalle, und in seiner Verfolgung homogenisiert sich die Gesellschaft zu einer Formation
des Alle-gegen-einen, die durch die Mordkommission repräsentiert wird. Die
Konklusion und Zwangskonversion erfolgt in der durch das Mandat der bien
pensants legitimierten Festnahme des Einen, der seiner gerechten Strafe zugeführt
wird und dessen kriminelle Karriere gewaltsam gestoppt wird. Das übermächtige
251
staatliche Gewaltmonopol und die keiner Partei verpflichtete Justiz sind die
Garanten, dass am Ende dieser Sequenz nicht erneut Gewalt in Form der Rache
entflammt.
Obwohl der Anschein aufkommen mag, Patrick Bateman agiere in einem
gesetzesfreien Raum, Morde könnten in den Straßanschluchten von Manhattan
unbeobachtet geschehen und die Beseitigung der Leichen sei ohne weiteres über
den Müllschlucker von American Garden Haus möglich, wird in American Psycho,
wenn auch mit überschaubarem Aufwand, die Zwangsumkehr mit Hilfe der
staatlichen Gewalt erzählerisch bearbeitet. Wie gering die der legalen Gewalt
zugemessene Autorität ist, wird allerdings schon dadurch sichtbar, dass nach dem
Verschwinden des von Patrick ermordeten Paul Owen nicht von der New Yorker
Polizei, sondern von dem Privatdetektiv Donald Kimball ermittelt wird, den Patrick mit
Erfolg in die Irre führt: Als ich ihn zur Tür dirigiere, Pudding in den Knien,
astronautenhaft, und aus dem Büro führe, spüre ich doch, obwohl ich leer bin, jeden
Gefühls beraubt – ohne mir selbst etwas vorzumachen - , das ich etwas geleistet
habe… (385). Und obwohl Patrick nach dem Mord an einem Taxichauffeur
steckbrieflich gesucht wird: „Mann, dein Gesicht ist auf’ m Fahndungsplakat
downtown“, sagt er ungerührt (539), wird keine amtliche Strafverfolgung gegen ihn
erwähnt. Auch hier ist die Ermittlung und die Ahndung des Verbrechens von der
staatlichen auf die private Ebene verlagert, was in diesem Fall dazu führt, dass
Patrick von einem Kollegen des ermordeten Taxifahrers gestellt wird, dessen
Aufklärungs- und und Sanktionsintention wiederum von eigenen Interessen
durchkreuzt wird: „Du has Solly kaltgemacht“, sagt er, er kennt mich eindeutig von
irgendwoher […]. Er hält das Taxi an und dreht sich zum Rücksitz um. Er richtet die
Pistole auf mich. […] „Die Uhr. Die Rolex“, sagt er schlicht. […] „Brieftasche.“ Er
wedelt mit der Pistole. „Nur Cash.“ (540 –541). Als es dann schließlich nach dem
Mord an dem Saxophonspieler auf offener Straße doch zu einer Konfrontation mit der
Polizei kommt: … und nachdem der Knall der Magnum weithin echot und verklingt,
zerreißt die Sirene des Streifenwagens die Nacht (480) und sich ein spektakulärer
show down durch die Straßen von Manhattan anschließt, werden die Ordnungskräfte
trotz Überzahl und trotz Hubschraubereinsatz in eine für sie äußerst verlustreiche
Schießerei verwickelt, welcher Patrick, der bei der Flucht mehrere Passanten
erschießt, heil entkommt. Während das Eingreifen der Polizei in einem
feuerwerksähnlichen Finale verpufft: …Mündungsfeuer blitzt wie im Film […], als ein
Querschläger, die sechste Kugel des neuen Magazins, den Benzintank eines
Bullenwagens trifft, die Scheinwerfer flackern, ehe er in Fetzen fliegt und einen
Feuerball hoch in den dunklen Himmel schleudert, der Scheinwerfer der
Straßenbeleuchtung darüber unerwartet in gelb-grünem Flammenregen explodiert,
Flammen rasen über die Körper der Polizisten, der Lebenden und Toten, alle Fenster
im Lotus Blossom bersten… (482 – 483), rettet sich Patrick in die Anonymität meines
eigenen Büros (485). Der Tagebucheintrag besiegelt dann endgültig das no exit auch
dieser Konversionschance und bestätigt erneut, dass durch nichts, auch nicht durch
externe Einwirkung der infernale Reigen anzuhalten ist: …und die Sonne, ein
Feuerplanet, steigt nach und nach über Manhattan auf, ein neuer Morgen, und schon
wird die Nacht so schnell zum Tag, dass es fast wie eine optische Täuschung wirkt…
(486).
Wenn nun also in American Psycho keine der Chancen, aus der Zyklizität des
mimetischen Begehrens und seiner gewaltsamen Lösungen auszubrechen, ergriffen
wird, wenn die Logik der Rivalität und deren temporäre Überwindung durch das
252
Opfer ungebrochen bleibt und die Erzählung einen mythisch vorgezeichneten Verlauf
nimmt, anstatt zur romanesken Befreiung zu führen, so ist gleichwohl festzuhalten,
dass die Konversionschancen bewusst gemacht und mit erzählerischem
Engagement geprüft werden. Diese Chancen sind vorhanden, lassen sich aber nicht
realisieren. Ihre ontologische Qualität ist ästhetisch, musikalisch, von der Präsenz
einer Stimmung, einer Erinnerung, eines sich entfernenden Echos. Es sind Signale,
die nicht ankommen und zu schwach sind, um einen Ausweg anzuzeigen.
2. Elementarteilchen von Michel Houellebecq (1996)
Der Handlungsrahmen:
Die von einer Vorrede (7 – 9) sowie einer Nachrede (347 – 357) umschlossene
Erzählung gliedert sich in drei Abschnitte, Das verlorene Reich (11 – 104), Die
seltsamen Augenblicke (105 – 298) und Emotionale Unbegrenztheit (299 – 344),
welche wiederum in mehrere Kapitel aufgeteilt sind, die entweder eine Überschrift
tragen oder nur nummeriert sind.
In einer mittleren Zone zwischen den Grenzdaten 1882 und 2079 wird das Leben der
beiden Halbbrüder Bruno Clément, geboren 1956, und Michel Djerzinski, geboren
1958, erzählt. Während Bruno die letzten Jahre seines Lebens in einer
Psychiatrischen Klinik in Verrières-le-Buisson verbringt, wo er den Silvesterabend
1999 zusammen mit den Mitpatienten und dem Pflegepersonal feiert, wird Michel am
27. März 2009 zum letzten Mal von seinen Mitarbeitern gesehen; zwanzig Jahre
später auf den Tag genau wird aufgrund seiner Forschungen die erste Synthese zur
Schaffung eines neuen Menschen im Institut für Molekularbiologie in Palaiseau
durchgeführt. Und wiederum gut fünfzig Jahre später (356) wird die Richtigkeit des
Verfahrens zur gentechnischen Menschenbildung bestätigt
1882 wird in einem Dorf in Korsika Martin Ceccaldi geboren, den sein
Grundschullehrer wegen seiner Begabung auf die Höhere Schule nach Marseille
schickt, von wo aus er nach seiner Ausbildung als Ingenieur für Wasserwirtschaft
nach Algerien geht. Aus der 1923 mit Geneviève July geschlossenen Ehe geht die
Tocher Janine hervor, die 1945 ihr Medizinstudium in Paris aufnimmt, wo sie Serge
Clément kennenlernt, der einer der ersten Fachärzte für kosmetische Chirurgie wird
und Fachklinken in Neuilly und Cannes gründet. Nach Brunos Geburt lässt sie sich
von Serge Clément scheiden und heiratet Marc Djerzinski, dessen Vater 1919 von
Kattowitz nach Frankreich gekommen war und nach der Heirat mit Marie Le Roux bei
der SNCF gearbeitet hatte. 1958 wird Michel geboren und Bruno zu seinen
Großeltern nach Algerien gebracht. Als Janines Ehe mit Marc Djerzinski, der eine
vielversprechende Karriere als Fernsehreporter beginnt, nach zwei Jahren aufgelöst
wird, kommt Michel zu seiner Großmutter väterlicherseits nach Charny, später nach
Crécy-en-Brie, von wo aus er das Gymnasium in Meaux besucht. Janine geht mit
dem Amerikaner italienischer Abstammung, Francesco di Meola, den sie an der Côte
d´Azur kennengelernt hat, nach Kalifornien und lebt, nunmehr als Jane, in einer
Kommune, die sexuelle Freiheit und den Gebrauch psychedelischer Drogen
propagiert. Sie sieht ihre Söhne fünfzehn Jahre lang nicht. Nach dem Tod der
Großmutter, die, nachdem sie verwitwet war, von Algier nach Marseille umgezogen
253
war, wird Bruno in ein Internat nach Meaux gebracht und besucht in einer
Parallelklasse das gleiche Gymnasium wie sein Bruder. Bruno und Michel kennen
sich jedoch nicht, und nur durch Zufall erfährt Michel, dass er einen Halbbruder hat
und dass dieser die gleiche Schule besucht wie er. Nach dem Abitur übersiedeln die
beiden Scheidungskinder beziehungsweise Halbwaisen nach Paris, wo Bruno, dem
sein vorläufig noch vermögender Vater ein Appartement gekauft hat, Literatur
studiert, und Michel, der sich im Studentenwohnheim nicht unwohl fühlt, an der
Fakultät von Orsay-Paris XI ein Mathematik- und Physikstudium mit großem Erfolg
abschließt und eine Doktorarbeit in Molekularbiologie vorlegt. Bruno wird Lehrer in
Dijon und versucht sich ohne Erfolg als Schriftsteller. Die Ehe mit Anne, aus der ein
Sohn, Victor, hervorgeht, wird nach wenigen Jahren geschieden, und Bruno lässt
sich nach Meaux an seine frühere Schule, versetzen. Auf der Suche nach sexueller
Erfüllung besucht er die Nudistenkolonien an der Côte d´Azur, wo er Christiane
kennenlernt, die seine Geliebte wird und mit der zusammen er in Paris regelmäßig
Swingerclubs besucht. Michel, der nach fünfundzwanzig Jahren anlässlich der
Bestattung seiner Großmutter seine Jugendliebe Annabelle wieder sieht, macht als
Gen-Forscher auf sich aufmerksam, lässt sich aber von seinem Pariser Institut zu
einem Sabbat-Jahr beurlauben, aus dem er jedoch nicht zurückhehrt, sondern nach
Irland auswandert, um in der Zeit von 2000 bis 2009 an einem dortigen Institut in
Ruhe und Abgeschiedenheit weiterzuarbeiten. Annabelle, die sich ein Kind von
Michel wünscht und sich als Vierzigjährige auf die Risikoschwangerschaft einlässt,
erfährt bei der ärztlichen Untersuchung, dass sie an einem untherapierbaren Krebs
erkrankt ist. Bevor der Lebensweg der Halbbrüder in der Klinik beziehungsweise auf
der irischen Forschungsstation zu Ende geht, scheiden sowohl Annabelle als auch
die an einem unheilbaren Rückenleiden erkrankte Christiane freiwillig aus dem
Leben.
a. ) Begehrensdreiecke
Obwohl die erzählerischen Takte von dem Bruderpaar ausgehen und die beiden
Protagonisten zwei Parallelgeschichten zu orchestrieren scheinen, ist nach der
Ansage des Prologs das Buch in erster Linie die Geschichte eines Mannes, die
räumlich und zeitlich in der zweiten Häfte des zwanzigsten Jahrhunderts…in
Westeuropa (7) eingebettet ist. Die Festlegung des Autors auf diesen einen Mann in
der Person von Michel Djerzinski macht aus diesem ein symptomatisches Element
(27), in dessen Lebensweg vom Halbwaisen zum nobelpreisverdächtigen (7)
Wissenschaftler im Rang eines Albert Einstein (336) der kulturgeschichtliche Wandel
der gemeinten Epoche abgebildet werden kann, in dessen Kontakten mit anderen
Menschen die Gültigkeit der für die menschlichen Beziehungen maßgeblichen
Normen diskutiert werden können und in dessen Erlebnissen den Motiven
nachgegangen werden kann, die innerhalb des angegebenen Erlebensraums von
den metaphysischen Wandlungen 696 (7) zu einer metaphysichen Revolution geführt
haben (334). Wenn daher Elementarteilchen den Anspruch eines ‚tableau de
696
Im Original : mutations métaphysiques. Die deutsche Übersetzung wird dem
naturwissenschaftlichen Aspekt des Mutationsbegriffs nicht gerecht und erzielt daher nicht die
provozierende Wirkung des biologisch-philosophischen Begriff-Paars. Keine Schwierigkeit hat die
Übersetzung mit der nicht weniger irritierenden semantischen Grenzüberschreitung im Falle der
Übersetzung von Pour une esthétique de la bonne volonté mit Für eine Ästhetik des guten Willens
(241).
254
mœurs’ bekräftigt und sich die Girardsche Maxime: Comment reproduire un triangle?
auch an einem kulturhistorischen Längsschnitt in Erzählform bewahrheiten soll, darf
das Phänomen der Mutationen beziehungsweise das chronologisch beobachtbare
Fortschreiten nicht kreationistisch und linear verstanden werden, sondern als ein
Prozess im Hinblick auf ein Ziel, für dessen Identifizierung ein zu imitierendes Modell
zur Verfügung steht und den Begehrens-Wert bereitstellt. Obwohl sich die Erzählung
in ihrem kulturhistorischen Aspekt an die Dreistadienlehre von Comte anlehnt, in
welcher in der Endstufe das Heraufkommen der wissenschaftlichen Epoche durch
die Unangepasstheit der vorausgehenden, metaphysischen Epoche erklärt wird,
entsteht das für die Elterngeneration der Halbbrüder Neue und das aus der Sicht der
Kinder Zerstörende in einer mimetischen Reaktion auf die in den USA ablaufenden
gesellschaftlichen Veränderungen: …die Lebensmittelrationierung wurde erst 1948
aufgehoben. Jedoch innerhalb einer kleinen betuchten Randgruppe der Gesellschaft
tauchten schon die ersten Anzeichen eines unterhaltsamen LibidinalMassenkonsums auf, der aus den USA kam und sich im Lauf der folgenden
Jahrzehnte auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen sollte (28). In Nachahmung des
transatlantischen und von Filmen wie Phantom of the Paradise, Clockwork Orange
und Emmanuelle (77) propagierten Modells entsteht zu einer Kultur, die tief in der
jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt blieb (77) ein antagonistisches Gegenmodell,
dessen Siegeszug der prinzipielle Agnostizismus der französischen Republik (79)
erleichtert. Zu den bahnbrechenden Erfolgen dieser ‚imitierenden Innovation’ zählt
Elementarteilchen die Eröffnung des ersten Vitatop Clubs (77) 1974 in Paris, welcher
eine breite Bewegung des Fitnesstrainings und des Körperkults auslöst, sowie die
gesetzgeberischen Neuerungen zur Herabsetzung der Volljährigkeit, zur
Ehescheidung und zur Abtreibung.
Die Welle einer nicht aus eigenem Antrieb, sondern über Modelle motivierten
Liberalisierung erfasst über die gesellschaftlichen Neuerungen hinaus auch die
Individualsphäre der beiden Kinder. Als Bruno zwei Jahre alt ist, sich seine Mutter
von Serge Clément scheiden lässt und sein Bruder Michel geboren wird, dessen
Vater, Marc Djerzinski, von einer China-Reportage nicht zurückkommt, verliebt sich
Janine in einen der Amerikaner, die die Côte d´Azur besuchen, denn in den USA,
Kalifornien, war etwas grundlegend Neues im Entstehen begriffen. In Esalen, in der
Nähe von Big Sur, wurden Kommunen gegründet, auf der Grundlage von sexueller
Freiheit
und
dem
Gebrauch
psychedelischer
Drogen,
denen
eine
bewusstseinserweiternde Wirkung zugeschrieben wurde (32). Wird so auf der einen
Seite eine – unter kinetischen Gesichtspunkten – positive trianguläre Provokation
sichtbar, zeichnet sich bereits hier eine negative Provokation zwischen den Kindern
und ihren Eltern ab. Bruno und Michel werden für fünfzehn Jahre bei den Großeltern
in Algier beziehungsweise in Crécy-en-Brie abgegeben; von nun an sind die Eltern,
vor allem die Mutter, ein Modell der negativen Nachahmung, das heißt ein Objekt der
Abschreckung und des Abscheus, und die Beziehungsunfähigkeit der beiden Söhne
für die Zeit jenseits des großmütterlichen Bezugs ist auf unkorrigierbare Weise
vorgezeichnet. Janine, die über ihren Geliebten Francesco di Meola das
kaliformische Modell imitiert, hat ihrerseits vor der Bekanntschaft mit dem Amerikaner
der schwer zu klassifizierenden Kategorie der Vorläufer (27) angehört, die sich
dadurch auszeichnen, dass sie außergewöhnliche geistige Fähigkeiten erkennen
lassen, die sich mit einem äußerst unabhängigen Charakter (27) verbinden. Sie hat
nicht nur mir dreizehn Jahren ihre Unschuld verloren, in ihren Pariser Studienjahren
war sie von der Sagan-Clique fasziniert, obwohl sie zu diesem Milieu trotz ihres
Geldes keinen Zugang (30) hatte. Indem in Elementarteilchen die Vorläufer weder
255
den Revolutionären noch den Propheten zugerechnet werden, wird ihre
nachahmende Rolle zwar kenntlich gemacht, es bleibt allerdings offen, inwieweit
diese Nachahmung auf die von Girard postulierte anthropologische Begründung
zurückgreift, oder ob es sich bei ihr nicht eher um einen soziologisch zu erfassenden
Reflex handelt, wie es der von Auguste Comte, Gabriel Tarde und Emile Durkheim
ausgedrückten Denkweise entspricht. Da die Vorläufer-Protagonisten in
Elementarteilchen: zu denen gehören, die zum einen sehr stark der von der Mehrheit
ihrer Zeitgenossen geführten Lebensweise angepasst sind, zum andern aber darum
bemüht sind, diese Lebensweise „von oben her“ zu überwinden, indem sie sich für
neue Verhaltensweisen einsetzen oder zur Verbreitung von noch wenig bekannten
Verhaltensweisen beitragen…(27), muss und kann ungeklärt bleiben, ob das durch
sie konstituierte Begehrensdreieck eher soziologisch oder eher anthropologisch zu
deuten ist. Entscheidend ist, dass die angestrebte Veränderung mehr ein Produkt
des Mitläufertums als eine Vorläuferleistung ist, dass historisch wirksame
Bewegungen, auch wenn sie sich avantgardistisch oder revolutionär geben, keine
Neuerung im Sinn einer creatio ex nihilo darstellen, sondern ihre Attraktivität und
Faszination stets einem Modell schulden, und dies im positiven Habenwollen wie im
negativen Vernichtenwollen.
In Abwandlung der von Girard formulierten fonction séminale de la littérature würde
dies bedeuten, dass ein Don Quixote, der in den fünfzigerJahren des 20.
Jahrhunderts die westeuropäische Kultur- und Medienlandschaft durchlebt, anstatt
Ritter-Romane zu lesen und Fechtübungen zu absolvieren, ins Kino und in den
Fitness- und Ferienclub gehen würde und sich dort die Kopiervorlagen für sein
Verhalten, seine Ansprüche und seine Wünsche besorgte. Dass auch auf der Ebene
eines ‚quixotesken’ Kollektivs die trianguläre Provokation wirksam ist, wird nicht nur
in der Faszination durch das amerikanische Modell demonstriert; der Blick nach
Osten – Michel lernt als zweite Fremdsprache Deutsch (54), die fernöstliche
japanische Konkurrenz gab es damals noch nicht (55) - wie auch nach Norden gilt
soziokulturellen Modellen mit einer hohen Ausstrahlung auf das eigene kollektive
Verhalten, wie Bruno in einem Bericht über den FKK-Strand von Cap d´Agde notiert:
Ich möchte hier erneut den Begriff der ‚sozialdemokratischen Sexualität’ einführen,
da ich dazu neige, darin eine ungebräuchliche Anwendung der gleichen, jedem
Vertrag gegenüber erforderlichen Eigenschaften wie Disziplin oder Respekt zu
sehen, die es den Deutschen ermöglicht haben, im Abstand von nur einer
Generation zwei ausgesprochen mörderische Kriege zu führen, ehe sie in einem
Land, das zu weiten Teilen in Trümmern lag, wieder eine starke, exportfreudige
Wirtschaft haben aufbauen können (251). Wenn es auch möglicherweise tradierte
Vorstellungen sind: Dänemark und Schweden, die den europäischen Demokratien
auf dem Weg zur wirtschaftlichen Angleichung als Vorbild dienten, standen ebenfalls
Pate, was die sexuelle Freiheit betraf 697 (71), zeigt sich doch auch darin, dass es
nicht die ‚richtigen Ideen’, die spontanen Regungen oder die unvermittelten und
bedingungslosen Missionen sind, die ein Begehren leiten, dass vielmehr in der
Begehrensregie immer auch ein Dritter am Werk ist. Was für die Generation der
Eltern der beiden Halbbrüder gilt - Brunos Vater hat sich im Dienst der
Verführungsindustrie (28) als Schönheitschirurg etabliert, jedoch den Boom der
Silikonbrüste und der Penisverlängerung verpasst - : Es gibt kein einziges Beispiel
für eine aus den USA kommende Mode, der es nicht in wenigen Tagen gelungen ist,
Westeuropa zu überschwemmen (81), trifft in den siebziger Jahren für die Generation
697
Le Danemark et la Suède, qui servaient de modèle aux démocraties européennes dans la voie de
l´égalisation économique, donnèrent également l´exemple de la liberté sexuelle (82).
256
der Söhne ebenso zu: Das Musical Hair, das das Ziel verfolgte, die sexuelle
Befreiung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hatte großen Erfolg. Die
Oben-ohne-Mode verbreitete sich schnell an den Stränden im Süden. Innerhalb
weniger Monate stieg die Zahl der Sexshops in Paris von drei auf fünfundvierzig (54).
Da die romaneske Erzählung nur beiläufig den Auftrag zu erfüllen hat, ihre Personen
eine historische Zeit durchqueren zu lassen und ihren Motiven eine
kulturgeschichtliche Verortung zu verleihen, fungieren auf der soziokulturellen Ebene
die dreipoligen Positionen der Nachahmer, der Nachgeahmten und des in der
Nachahmung begehrten Objekts eher als ein Resonanzraum oder eine diskrete
Folie, die die Kulisse bildet, vor der die realen Akteure ihre Reaktionen, Reflexionen
und Beziehungen inszenieren. Umso mehr ist zu erwarten, dass, sollte sich Girards
These von der mimetischen Natur des Wollens und Sichbehauptens bewahrheiten,
eine Fülle von Belegen gewonnen werden kann, wenn die Dreiecksproben auf der
Ebene der Individuen angestellt werden.
Brunos erste Erinnerung stammt aus seinem vierten Lebensjahr und ist die
Erinnerung an eine Demütigung. Im Kindergarten in Algier sollten die Jungen für die
Mädchen aus Herbstblättern Girlanden fertigen und sie ihnen um den Hals legen,
was allen außer Bruno, dem die Blätter in der Hand zerbröseln, gelingt:…alles ging in
seinen Händen kaputt. Wie sollt er ihnen erklären, dass er Liebe brauchte? Wie sollte
er ihnen das ohne die Blättergirlande erklären? Brunos erste Erfahrung einer
Konkurrenzsituation endet mit einer schmerzenden Niederlage: Er begann vor Wut
zu weinen (42), und die Übermacht der Rivalen sollte sein Scheitern in den späteren
triangulären Kompetitionen vorwegnehmen. Denn auch in den im Internat üblichen
Rangkämpfen, die häufig mit brutaler Gewalt ausgefochten werden, stellt sich
heraus, dass Bruno als Omega-Tier (51) auf den letzten Platz abonniert ist und keine
Chance hat, durch einen Sieg über das Beta-Tier die Alpha-Position zu erreichen.
Schließlich wird ihm auch als Heranwachsender bewusst, dass er mit seinen
Konkurrenten nicht mithalten kann. Als er die Ferien in der Villa seiner Mutter in
Cassis verbringt und zusieht, wie Janine, die sich jetzt Jane nennt, Hippies als
jugendliche Liebhaber zu sich einlädt, ist ihm klar, dass er im dreipoligen sexuellen
Begehren zwar präsent ist, aber nie aus der Verliererecke herauskommt: Sie badeten
nackt in kleinen Felsbuchten. Bruno weigerte sich, seine Badehose auszuziehen. Er
fühlte sich kalkweiß, winzig, abstoßend und dick. Manchmal nahm seine Mutter einen
der Jungen mit ins Bett. Sie war schon fünfundvierzig; ihre Schamlippen waren
dünner geworden und hingen etwas herab, aber ihre Züge waren immer noch
hinreißend. Bruno wichste dreimal am Tag. Die Scheiden der jungen Frauen waren
zugänglich, manchmal waren sie nicht mehr als einen Meter entfernt; aber Bruno
begriff vollkommen, dass sie ihm verschlossen blieben: die anderen Jungen waren
größer, gebräunter und kräftiger (67). Obwohl er auch als Erwachsener von der
Begierde verzehrt (70) ist und sich als Ziel seines Lebens kein anderes als das
sexuelle vorstellen kann - Darin war Bruno charakteristisch für seine Epoche (71) -,
kommt er diesem Ziel nicht näher. Die Welt war langsam und kalt. Doch es gab eine
warme Sache, die die Frauen zwischen den Beinen hatten; aber zu dieser Sache
hatte er keinen Zugang (68). Jeder Versuch, diesem Ziel näher zu kommen, endet
mit Enttäuschung und Resignation: Er hatte nicht wirklich die Absicht, auf die
verschiedenen Annoncen zu antworten. […] Die Frauen, die bereit waren, sich mit
Singles einzulassen, bevorzugten im allgemeinen Schwarze und erwarteten sowieso
Mindestmaße, die er bei weitem nicht erreichte. […] Um wirklich in die Porno-Szene
reinzukommen, hatte er einen zu kleinen Schwanz. […] Er schenkte sich einen
257
weiteren Whisky ein, ejakulierte auf die Zeitschrift und schlief beinah friedlich ein
(112). Selbst seine erhöhte intellektuelle und kulturelle Position als Professeur
Agrégé in Meaux, wohin er sich nach der Scheidung von seiner Frau versetzen lässt,
gleicht das sexuelle Handikap nicht aus, wie auch nach Brunos Diagnose weder die
in den Romanen von Marcel Proust und Thomas Mann beschriebenen
Unterscheidungsstrategien – etwa die Reinheit des Blutes, der Adel des Genies im
Vergleich zum Adel der Rasse (218) - noch der finanzielle Erfolg einen
Begehrensvorteil garantieren: Die Herzogin von Guermantes hatte viel weniger Kohle
698
als Snoop Doggy Dog (erfolgreicher Rap-Sänger der 90er Jahre, d. Verf.); Snoop
Doggy Dog hatte weniger Kohle als Bill Gates, aber bei ihm kriegten die Mädchen
leichter feuchte Schenkel (219). In der Literaturklasse, die er unterrichtet, fällt sein
Blick auf eine Schülerin, die mit dem dunkelhäutigen Ben aus dieser Klasse
befreundet ist: Der Neger ging genau mit der, die ich mir auch ausgesucht hatte:
niedlich, hellblond, ein kindliches Gesicht und hübsche apfelförmige Titten (218). Als
Ben eines Tages den Unterricht durch eine vorlaute Bemerkung stört, setzt Bruno
seine pädagogische Autorität ein, verweist ihn aus der Klasse und feiert einen
kleinen Sieg (220) über den Rivalen, der sich jedoch am nächsten Tag in eine
Niederlage verwandelt, an die sich eine hilflose Ersatz- und Kompensationshandlung
anschließt: Er schien etwas begriffen zu haben und hatte wohl einen meiner Blicke
erhascht, denn er fing an, seine Freundin während des Unterrichts zu befummeln. Er
schob ihren Rock hoch und legte seine Hand ganz oben auf ihren Schenkel, so hoch
wie möglich; dann sah er mich lächelnd und sehr cool an. Ich hatte eine
Wahnsinnslust auf die Kleine. Ich habe das Wochenende damit verbracht, ein
rassistisches Pamphlet zu verfassen, wobei ich fast ununterbrochen eine Erektion
hatte (221). Obwohl erneut unterlegen, fängt Bruno wieder an, an die Sache zu
glauben (223), die er mit Adjila, einer Nordafrikanerin aus der elften Klasse – ein
rivalisierender Ben ist in diesem Wettbewerb vielleicht nur in Form von Adjilas
Hautfarbe im Spiel - einzulösen hofft: Sie erwiderte meine Blicke und schien das
nicht seltsam zu finden (223). Die obszöne Annäherung nach Unterrichtsschluss
jedoch führt nicht nur zu einer erneuten Niederlage, sondern, nachdem Bruno seinen
Psychiater konsultiert hat, trotz der Verschwiegenheit des fünfzehnjährigen
Mädchens zum Ausscheiden aus dem aktiven Schuldienst und zur Versetzung in die
Lehrplankommission: Mit einer flehenden Geste habe ich mein Glied genommen und
es ihr hingehalten. Sie hat laut aufgelacht. […] Ich habe weiter gelacht und mir einen
runtergeholt, während sie ihre Sachen zusammenpackte und aufstand, um
hinauszugehen. Auf der Türschwelle hat sie sich umgedreht, um mir noch einen
letzten Blick zuzuwerfen; Ich habe ejakuliert und nichts mehr gesehen. […] Ich habe
drei Nächte im Krankenhaus Sainte-Anne verbracht, dann hat man mich in eine
psychiatrische
Klinik
in
Verrières-le-Buisson
gebracht,
die
dem
Erziehungsministerium untersteht (224 – 225).
Ebenso niedergeschlagen wie angesichts des überlegenen Dritten ist Bruno in
solchen Konstellationen, in denen dieser Dritte sich plötzlich verweigert und, anstatt
das Objekt der Begierde anzustrahlen und aufzuwerten, dieses überschattet und
defasziniert. Vorgesehen aber nicht besetzt ist die Rolle des Dritten in der ersten
sexuellen Begegnung des damals Achtzehnjährigen, die der Vierzigjährige seinem
Psychiater erzählt. Er erinnert sich an die Ferien an der Côte d´Azur, die er
abwechselnd im Haus der Mutter und des Vaters verbringt, mit denen jedoch kein
Kontakt möglich ist: Nach zwei Tagen wurde die Atmosphäre wirklich bedrückend.
698
moins de thune (239)
258
Bruno verließ jetzt öfter das Haus, blieb ganze Nachmittage fort; er ging ganz einfach
an den Strand (82). Dort sieht er die siebzehnjährige Annick, die er am vierten Tag
auch anspricht und mit nach Hause nimmt, in das Haus seines Vaters, der betrunken
ist und von dem Liebesspiel in Brunos Zimmer nichts bemerkt: Sie schloss die
Augen. In dem Augenblick, als ich ihr die Hände unter den Hintern schob, hat sie ihre
Schenkel ganz gespreizt. Das hatte eine solche Wirkung auf mich, dass ich sofort
ejakulierte, noch ehe ich in sie eindringen konnte. Auf ihren Schamhaaren waren ein
paar Samenspritzer. Es tat mit schrecklich leid, aber sie hat mir gesagt, das sei egal,
sie sei glücklich (84). Obwohl der genitale Austausch entsprechend den natürlichen
Reaktionen verläuft, fehlt Annick außer der organischen Ausstattung: …aber sie
hatte eine Möse, eine ebenso anziehende Möse wie jeder Frau (84) alles, was sie
begehrenswert machen könnte. Wer wie sie den ganzen Nachmittag allein am Strand
und offensichtlich eine arme Tochter reicher Leute (82) ist, präsentiert sich als
jemand, für den sich niemend interessiert. Zu dem vom vorherrschenden
Schönheitsideal abweichenden Äußeren: Sie war ziemlich dick, ein kleiner Fettkloß
mit schüchternem Gesicht (82 – 83) kommt hinzu, dass sie in Liebesdingen völlig
unerfahren ist, also auch keinen imaginären früheren Mitbewerber vorweisen kann:
Das habe sie noch nie getan, hat sie mir gesagt (83).
Zu den Personen, die ohne Begehrens-Mehrwert in Brunos Horizont eintreten und
sozusagen ein mimetisches Dreieck bilden, in dem eine Leerstelle klafft, gehört auch
seine Frau Anne – sie hatte nur das Staatsexamen 699 (196) -: Sie war nicht
besonders hübsch, aber ich hatte die Nase voll vom Wichsen. […] „Meine
puritanische Wohlstandstusse mit den großen Titten“. Sie hatte keine Ahnung von
Erotik, von Reizwäsche, sie hatte einfach keine Erfahrung ( 193 - 194). Das
Lehrerehepaar zieht nach Dijon, und nach der Geburt des Sohnes Victor verliert
Anne weiter an Attraktivität: Wir schliefen nicht mehr miteinander, aber ich glaube,
das hat sie nicht mal gemerkt (197). Weil Anne nicht die Blicke anderer auf sich zieht
nach dem Motto: Die Möglichkeit zu leben beginnt im Blick des 700 anderen (199),
erlischt auch Brunos Interesse an ihr, und da Anne als Begehrensobjekt ausfällt und
sich somit ihm kein nachahmenswerter und gegebenenfall bekämpfenswerter Rivale
entgegenstellt, entwirft er in der Phantasie und schließlich auch in der Tat, neue
mimetische Dreiecke: In den Diskotheken gabe es viele kleine Luder mit sinnlichen
Lippen, und während Annes Abwesenheit bin ich mehrmals ins Slow Rock und ins
L´Enfer gegangen; doch sie gingen mit anderen und lutschten andere Schwänze und
nicht meinen (199) und macht klar, dass für ihn die Sexualität unter den
entmimetisierten und auf Dauer angelegten Bedingungen von Ehe und Familie nicht
lebbar ist. Die Begierde entflammt in Konkurenz zu Mitbegehrenden und an dem
Objekt, das auch von anderen Begehrt wird. Die gescheiterten Versuche, von den
Menschen seiner Umgebung das nötige Maß an Liebe, Anerkennung und Zärtlichkeit
zu empfangen, werden schließlich kompensiert durch perfekt ausgeführten,
kampflosen, verführungslosen und unerotischen Sex: Mit seiner Kreditkarte bezahlte
er dreitausend Franc für ein Flasche Dom Pérignon, die er mit einer sehr hübschen
Blondine leerte; in einem der Zimmer im oberen Stock holte ihm das Mädchen
langsam einen runter und legte ab und zu eine Pause ein, um die Lust zu bremsen.
Sie hieß Hélène, stammte aus der näheren Umgebung und studierte Touristik; sie
war neunzehn. Als er in sie eindrang, zog sie ihre Scheidenmuskeln zusammen – er
erlebte wenigstens drei Minuten völliges Glück (208). Später, nach der endgültigen
699
…elle n´avait que le CAPES (216).
Das präpositionale de ist mehrdeutig. Demzufolge ist le regard de l´autre (219) mehr als der Blick,
der vom anderen aus geht; er ist auch der Blick, den man auf den anderen wirft.
700
259
Reduzierung seiner Glückserwartung auf den orgastischen Moment wird Bruno zu
Protokoll geben: Es hat keinerlei Verführung gegeben, es war eine reine Sache
(159).
Die ‚Bereinigung’ der sexuellen Begierde vom zugleich faszinierenden und
bedrohlichen Rivalen und der Durchbruch zu einer Beziehung sowohl ohne
finanzielle als auch emotionale Interessen und Komplikationen bahnt sich im zweiten
Teil der Erzählung an, als Bruno zu dem 1975 von einer Gruppe von
Altachtundsechzigern gegründeten ORT DER WANDLUNG 701 (107) aufbricht, einer
halb religiös, halb künstlerisch inspirierten New-Age-Kommune in der Gegend von
Cholet, wo er nach etlichen erneuten Disqualifikationserfahrungen mit von dritter
Seite über- oder unterbegehrten und daher nur potenziellen Sexpartnerinnen mit
einer Frau in Berührung kommt, die ihn verwandeln sollte. Zu erwarten ist jedoch
weder eine Umkehr in Form einer Konversion zur sexuellen Askese noch eine sich
zur Gewaltanwendung und Zerstörung steigernde Begierde, wie sie in der Gestalt
des David di Meola vorgeführt wird, dessen Sexparties auf der Suche nach immer
stärkerem Nervenkitzel (238) sich in Folterparties in Satanischen Sekten verwandeln:
Als David eines Abends zu einer Sexparty bei einem befreundeten Rechtsanwalt
eingeladen war, erkannte er einen seiner Filme wieder, der in einem der
Schlafzimmer mit dem Videobildschirm gezeigt wurde. Auf dieser Kassette, die einen
Monat zuvor gedreht worden war, trennte er mit einer Motorsäge ein männliches
Geschlechtsteil ab (237- 238); die Verwandlung bedeutet vielmehr, dass Brunos
Leben, ohne die Richtung zu ändern und ohne das Hauptziel der sexuellen
Lustempfindung aufzugeben, einen anderen, ruhigeren Verlauf nimmt. Eine mögliche
Richtungsänderung: Ich habe noch einmal den Versuch gemacht, katholisch zu
werden (199) wird zwar dadurch angedeutet, dass im Begehrensdreieck die
Besetzung des Postens des Dritten – die trianguläre Kurzformel ist: Vater unser durch eine transzendente Instanz in Frage kommen und die ad-oratio einer anderen
Adresse als der oralen Mündung und des oral- genitalen Anschlusses gelten könnte.
Doch die Umbesetzung des Arrangements sollte nicht gelingen. Bruno tritt
vorübergehend der Gruppe Glauben und Leben bei: Eine junge Koreanerin nahm
auch daran teil, die sehr hübsch war […]. Eines Samstags hat Anne die Gruppe zu
uns eingeladen; die Koreanerin hat sich aufs Sofa gesetzt, sie trug einen kurzen
Rock; ich habe den ganzen Nachmittag nur auf ihre Beine gestarrt, aber das hat
niemand gemerkt (198 – 199).
In einem nächtlichen Wasserballett im Licht des Vollmonds und unter dem durch die
Kiefernzweige hindurch strahlenden Sternenhimmel, begleitet vom sanften Brodeln
des Whirlpools, der die Funktion eines Jungbrunnens erfüllt, wird aus dem für Bruno
oft leidvoll erfahrenen pas-de-trois, welcher ihn immer wieder aus dem Traum eines
sexuellen Kommunismus (154) herausgerissen hat, unverhofft ein beseeligender
pas-de-deux, der von nun an die Choreografie und die Melodie seines Lebens
bestimmen wird. Zunächst beobachtet Bruno einen leidenschaftlichen Paarungsakt
am gegenüberliegenden Beckenrand, und als der Mann das Becken wortlos verlässt
und weggeht und die Frau, die sich nicht rührt, die Beine im Wasser ausstreckt, ahmt
Bruno sie nach, und die beiden berühren sich: Ein Fuß legte sich auf seinen
Schenkel, streifte sein Glied. Mit leichtem Plätschern löste sie sich vom Beckenrand
und kam auf ihn zu: […] Er ließ den Beckenrand los und gab sich ganz ihrer
Umarmung hin. Er spürte, wie sie wieder in die Mitte des Beckens zurückglitt und
701
le Lieu du Changement (127)
260
sich langsam um die eigene Achse drehte. […] Senkrecht über seinem Gesicht
drehten sich langsam die Sterne. Er entspannte sich in ihren Amen, sein
aufgerichtetes Glied ragte aus dem Wasser. Sie bewegte die Hände leicht über
seinem Körper, er spürte ihr Streicheln kaum, er befand sich in einem Zustand
völliger Schwerelosigkeit. […] Sein ganzer Körper bebte vor Seligkeit. Sie schloss
ihre Lippen und nahm seine Eichel ganz langsam in den Mund. […] …gleichzeitig
spürte er, wie er von den Unterwasserwirbeln gewiegt wurde, und plötzlich war ihm
sehr heiß. […] Er kam mit einem lauten Schrei; er hatte noch nie solche Lust verspürt
(155 – 156).
Die Frau, von der Bruno die ‚Lust-Taufe’ empfängt, ist die vierzigjährige Christiane,
die Bruno in ihren Wohnwagen einlädt und von nun an seine Geliebte ist. Sie ist
geschieden und seit vielen Jahren Gast in der Kommune, wo sie die Leichtigkeit der
unkomplizierten sexuellen Kontakte schätzt: „Ab und zu überkommt mich das, dann
vögele ich mit jedem“, sagte sie. „Nur für die Penetration verlange ich ein Kondom“.
(157) Als Biologielehrerin weiß sie, dass die köperliche Lust ein physiologischer
Vorgang ist und dass dieser Vorgang umso beglückender sein kann, wenn er von
Verführung und Anmache (158) frei ist. Entscheidend ist nicht, dass man geliebt wird,
sondern dass der andere einem gern Lust verschaffen (158) möchte. Wie Lust zu
schenken ist, ist kein Geheimnis, denn: Klitoris und Eichel sind mit Krause-Endkolben
übersät, in denen sich sehr viele Nervenfasern befinden. Wenn man sie streichelt,
werden im Gehirn Endorphine in großen Mengen freigesetzt. Die Geschlechtsorgane
jedes Mannes und jeder Frau besitzen etwa die gleiche Anzahl von KrauseEndkolben… (159 – 160). Im kampflosen Lust-Austausch mit Christiane verändert
sich die Rolle des Dritten. Aus dem Rivalen wird der Begleiter und der mitwissende
Komplize. Die Dritten sind dann die ungeniert vor aller Augen kopulierenden Pärchen
und die durch diesen Anblick zum friedlichen Masturbieren oder zum Imitieren
angeregten Voyeure in der Nudistenkolonie in Cap d´Agde, wo Bruno und Christiane
die Sommerwochen verbringen; die befreundeten Paare, die sich zu geordneten
Sexparties gegenseitig einladen, schließlich die Mitglieder in den Pariser Swinger
Clubs, die beim Partnertausch sowie in der Dreier- oder Viererkonfiguration
respektvoll miteinander umgehen und die jeder für jeden da sind.
In einem Artikel für die Zeitschrift Esprit, deren Redaktion ihn jedoch ablehnt, fasst
Bruno diese allgemeine sexuelle win-win-Situation mit dem Begriff Ästhetik des guten
Willens (243) zusammen. Dies bedeutet, dass die Maximierung der Lust in der
sexuellen Befriedigung – der stärkste Sinnengenuss, den der Mensch erleben kann
(249) - auf der Basis des guten Willens erfolgen kann und sowohl ohne die geistigen
Konstruktionen der Liebe als auch ohne die Vorstellungen von Eroberung und
rivalitärer Dominanz auskommt. Mit Ästhetik sind die Empfindungen gemeint, welche
durch taktile Reize ausgelöst wurden. Diese Empfindungen bedürfen nicht der
kulturell erworbenen Phantasmen, weder in der weiblichen in Form der Liebe (249),
noch in der männlichen in Form der Überwältigung. Da in diesem humanistischen
Angebot (249) die Dritten nicht als Rivalen und Hindernisse auftreten, sondern als
Medien, die die eingehenden Reize aufnehmen, verarbeiten und weiterleiten, nimmt
der mimetische Taumel des Gruppensex nicht den Verlauf einer Sequenz an, die in
einer opfer- und gewaltförmigen Konklusion endet. Da die nachahmende Begierde
auf kein Hindernis stößt, prinzipiell grenzenlos ist und so weit geht, wie die Körper
reichen, verlaufen diese Sequenzen als Wellen, deren Amplituden infolge eines
natürlichen Energieverbrauchs abnehmen und sich erschöpfen: Ausgehend vom
ersten Paar breitet sich so am Strand sehr schnell eine unglaublich erregende Welle
261
von Liebkosungen und Wollust aus.[…] Kein Wort wird gewechselt; man hört
deutlich den Wind, der durch die Dünen pfeift und über die Grasflächen streicht.
Manchmal lässt der Wind nach; dann herrscht völlige Stille, die nur vom lustvollen
Stöhnen unterbrochen wird (250). Bruno verdankt Christiane die Initiation in diese
Ästhetik des guten Willens, für die es nach ihrer Meinung nur ein bisschen
Großzügigkeit braucht und den Willen, dem anderen ein bisschen Lust zu
verschaffen. Diese Art des sexuellen Begehrens - irgendeiner muss damit anfangen
(227) - sieht dann völlig ab von dem Dritten als dem Ursprung seiner Schärfe und
seiner ‚Zielansprache’. Es wird zu einem Akt der gegenseitigen Fürsorge: Christiane
lutschte ihm den Schwanz und kümmerte sich um ihn, wenn er krank war (272) und
eine Geste der Aufmerksamkeit: „Möchtest du jetzt einen kleinen Orgasmus, oder ist
es dir lieber, wenn ich dir im Taxi einen runterhole?“ (227)
Wenn auch der idyllische Charakter dieser kollektiven und intersubjektiven
Umgangsform nicht darüber hinwegtäuscht, dass an gewissen Differenzen
festgehalten wird – eine Frau mit jungem, ansprechendem Körper oder ein
markanter, gutaussehender Mann [ist] schmeichelhaften Angeboten ausgesetzt […]
oder ein fettes alterndes oder hässliches Individuum [ist] zur Onanie verdammt (351)
-, so sind diese Ausgrenzungen nie mit Gewaltanwendung oder verbaler
Diskriminierung verbunden; das Recht auf das Empfinden friedlicher Lust bei
gewissermaßen höflichen Verkehrs- und Umgangsformen wird niemandem bewusst
vorenthalten. Es ist, als ob alle mit allen einen Vertrag zum korrekten Austausch von
Leistung und Gegenleistung geschlossen hätten, ohne dass eine ausdrückliche
Regelung erforderlich wäre. Bruno ist jedenfalls mit Christiane unter den
Bedingungen der libertären Sexualität am Ziel seines Lebens angekommen: „Ich
glaube, ich bin glücklich. […] Ich glaube, ich liebe dich“ (252).
Als bei der Fortsetzung dieser Liebeskommune in einem der regelmäßig
frequentierten Pariser Swinger Clubs Christiane während einer Kopulation kollabiert:
Fünf Männer hatten sich bereits abgelöst, ohne dass sie ihnen einen Blick
zugeworfen hatte (279), und infolge einer Nekrose für immer gelähmt ist, tritt eine
neue Wandlung tritt ein. Christiane will ihrem Geliebten eine Frau im Rollstuhl nicht
zumuten und begeht Selbstmord. Bruno ist erschüttert und betrachtet Christiane als
das Opfer seiner Glücksuche: …und das war allein seine Schuld. Diesmal waren alle
Karten gemischt, alle Spiele gespielt und die letzte Runde ausgeteilt worden, und sie
endete mit einer endgültigen Niederlage. Wie schon die Eltern vor ihm, war auch er
nicht zur Liebe fähig gewesen (282). Die erneute und für Bruno letzte Wandlung
besteht darin, dass das Feld der Ästhetik des guten Willens sich in die psychiatrische
Klinik verlagert, die Bruno nicht mehr verlassen wird: Er erkannte den
diensthabenden Krankenpfleger wieder und sagte: „Da bin ich wieder“ (284). Dort in
der Klinik sind es nicht die taktilen Reize, die das Glücksempfinden auslösen. Es wird
sein wie bei Brunos erstem Aufenthalt in Verrières-le-Buisson: Man hat mich so mit
Neuroleptika vollgestopft, dass ich keinerlei sexuelles Begehren mehr hatte; aber ab
und zu haben mich die Krankenschwestern in den Arm genommen. Ich habe mich an
sie geschmiegt und mich ein oder zwei Minuten nicht mehr gerührt, und dann habe
ich mich wieder hingelegt. Das hat mit so gut getan… (226).
Da sich an Brunos Lebensweg das Lese- und Erzählraster: comment reproduire un
triangle? vor allem in den Metamorphosen des sexuellen Begehrens darstellen lässt,
reichte dessen Geschichte für sich schon aus, um die vollständigen erzählerischen
Anforderungen zu erfüllen, die in einer anfänglichen Mimesis, einer mittigen
262
mimetischen Krise und einer abschließenden Konklusion in Form einer in diesem Fall
subjektiv gescheiterten, aber medikamentös konditionierten Konversion bestehen.
Das Projekt der Elementarteilchen geht jedoch über den Bruno-Roman hinaus und
weist diesem die Funktion einer Vorstufe für die Trajektorie des hauptsächlichen
Protagonisten zu, dessen Mission alles daransetzt, das Begehrensdreieck zu
sprengen und schließlich mit den Mitteln des Molekularbiologen außer Kraft zu
setzen,
mit
Methoden,
die
einen
anderen
als
den
palliativen,
psychopharmakologischen Ausweg weisen und der Liebe unter den Menschen eine
‚Bereinigung’ anbieten, die auch Brunos Experiment des kampflosen Begehrens zu
übertreffen verspricht.
Gilt Bruno als der untergehende Held einer in Auflösung begriffenen alten Ordnung
(10), wird Michel eingeführt als ein aufgrund einiger außergewöhnlicher
Lebensumstände […] bewusster und hellsichtiger Wegbereiter dieser Wandlung, die
nichts weniger als eine radikale metaphysische Wandlung ist, die eine neue Epoche
in der Weltgeschichte einleiten sollte (8). Wie Bruno ist Michel ein Scheidungskind.
Seit seinem zweiten Lebensjahr lebt er allein mit seiner Großmutter. Seine
Begegnung mit der Welt nimmt jedoch einen anderen Verlauf als bei seinem
Halbbruder, denn die Verhältnisse im Reich der Kinder sind unberechenbar 703 (35).
Im Bestreben um Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und Eigensinn scheint es
keine Konkurrenten zu geben; was er haben will, macht er anderen nicht streitig, und
was ihn interessiert, ist nicht deswegen interessant, weil andere ihren Blick darauf
werfen. Er spielt selten mit den Jungen in seinem Alter, versteht sich aber durchaus
nicht schlecht mit ihnen, und obwohl er in der Schule zum großen Stolz der
Großmutter der Beste ist, wird er von seinen Klassenkameraden weder gehasst noch
schikaniert. Er lässt sie bei der Klassenarbeit wie selbstverständlich von sich
abschreiben. Er wartet, bis sein Nachbar fertig ist, dann beginnt er eine neue Seite
(35). Da seine Vorbilder die Zeitschriften- Helden aus Pif (38) sind, kann es mit ihnen
nicht zu rivalitären Auseinandersetzungen kommen, und als seine Großmutter ihm
zum zwölften Geburtstag den Experimentierkasten Der kleine Chemiker (40) schenkt
und ihn mit Büchern über Biochemie versorgt, ist er zum Einzelgänger programmiert,
ohne dass er seine Isolierung als Verlust empfindet. Es gibt für ihn schlicht keinen
Grund, diese Situation nicht zu akzeptieren, denn es gab niemanden, mit dem er
ernsthaft über diese Dinge hätte diskutieren können (41). Im Gymnasium lernt er
Annabelle kennen, die in seine Nachbarschaft wohnt und die er als seine Freundin
betrachtet. Sie besuchen sich gegenseitig, um die Hausaufgaben zu erledigen,
Radtouren zu unternehmen, ins Café zu gehen. Als einmal seine Mutter zu Besuch
kommt und sich über Annabelle äußert: „Du hast aber eine hübsche Freundin…“ (69)
erschrickt Michel über die in dieser Bemerkung verborgene erotische Anspielung:
Ihre Worte trafen Michel mit voller Wucht, seine Gesichtszüge veränderten sich (70).
Die Welt der triangulären Provokation ist ihm fremd. Was ihn interessiert, wo er sich
seiner Identität versichert und sich zu den strahlenden Höhen innerer
Ausgeglichenheit (75) aufschwingt, sind nicht die Dominanzkämpfe und die
Eroberungen: Die mathematischen Gleichungen dagegen erfüllten ihn mit großer,
innerer Freude (74). Michel entzieht sich jeder Konkurrenz nicht nur darin, dass er
lächerliche Anoraks und Wollmützen trug und nicht kicken (75) konnte, auch seine
Beziehung zu Annabelle, gelangt nicht in die von ihr erwartete erotische Phase: Er
blickte Annabelle mit aufmerksamen, regungslosen Augen an. Annabelle gab nicht
auf; für sie glich Michels Gesicht dem Kommentar einer anderen Welt (75). Besiegelt
702
702
703
l´ancien règne (13)
Les conditions du royaume sont fragiles (43).
263
wird Michels Singularität schließlich in einer Situation, in der er den Ausstieg aus
dem Begehrensdreieck vollzieht, gleichzeitig sich aber auch schuldig macht, indem
er seine Freundin in die Arme ihres Verführers David di Meola und ihrer späteren
Verführer treibt.
Auf dem Landgut von Francesco di Meola in der Haute-Provence, wohin Bruno,
Michel und Annabelle zum Campen gefahren sind, findet eine nächtliche Tanzparty
statt, auf der Annabelle ausgiebig mit David tanzt: Seit über einer Stunde tanzten sie
unermüdlich zu einem bald schnellen, bald langsamen Tamburin-Rhythmus. Bruno
beobachtet, wie Annabelle die Tanzgruppe verlässt, auf Michel zugeht und ihn fragt,
ob er nicht tanzen wolle: Ihr Gesicht war in diesem Augenblick sehr traurig. Michel
lehnt die Aufforderung mit einer unglaublich langsamen Geste ab, wie sie ein
vorgeschichtliches Tier, das gerade wieder zum Leben erweckt worden ist, hätte
ausführen können. Annabelle blieb fünf bis zehn Sekunden regungslos vor ihm
stehen, dann wandte sie sich um und schloss sich wieder der Gruppe an. David
nahm sie an der Hüfte und zog sie fest an sich.
Seit dieser Nacht, die sternklar und sanft war, hat Michel endgültig die Gewissheit,
dass er von den üblichen Begehrensverhältnissen ausgeschlossen ist. Er ahnt, dass
er auch in Zukunft die menschlichen Regungen nur durchqueren würde, aber nie das
Glück oder die Verzweiflung kennenlernen würde. Wie der Anblick der Tanzenden
würde ihn weder das menschliche Dasein noch das gesellschaftliche Treiben mit
seinen Kämpfen, Siegen und Niederlagen jemals wirklich betreffen oder erreichen.
Mehrmals blickt sich Annabelle beim Tanzen nach ihm um, aber er ist nicht in der
Lage, auf ihre appellierende Geste zu reagieren. Er hätte sich gern gerührt, aber er
konnte nicht; er hatte deutlich das Gefühl gehabt, in eisigem Wasser zu versinken
(95 - 96). Einen vierzigseitigen Brief Annabelles: Sie musste viel durchstreichen und
sehr oft wieder von vorne anfangen […]. Zum erstenmal war es wirklich ein
Liebesbrief (99) lässt er unbeantwortet. Er verlässt Crécy-en-Brie, zieht nach Paris
ins Studentenheim und führt das Leben eines Solitärs.
Von Annabelle sagt ihr Verführer David, der schon über fünfhundert Frauen gehabt
hat, dass er sich nicht entsinnen konnte, je eine solche plastische Schönheit
gesehen zu haben (95). Wer indes wie Michel das Glück und die Verzweiflung nicht
kennenlernt, weil er nicht aus sich heraus geht und sich nicht hineinziehen lässt in
die vermittelten Freuden und Leiden, dem bleibt als Schönheitserlebnis die
Schönheit der mathematischen Gleichungen; auf der Seite der Verzweiflung bleibt
ihm das einsame Leiden und die einsame und mit keinem anderen teilbare
Ohnmacht. Seine Großmutter, zu deren Beerdigung er nach Crécy-en-Brie kommt,
gehörte zu den Menschen, die ihr Leben aus Hingabe und Liebe zu den anderen
buchstäblich geopfert haben (102); er selbst kann in seiner Introversion nicht einmal
trauern, er reagiert somatisch auf den Verlust seiner einzigen verlässlichen
Bezugsperson, zieht sich in sein ehemaliges Schlafzimmer zurück, krümmt sich zu
einer embryonalen Stellung ein, und sein Gesicht wird zur tierischen Fratze: Es
vergingen etwa zwei Minuten, dann hörte man aus dem Schlafzimmer eine Art
Miauen oder Heulen. […] Michel lag zusammengerollt am Fußende des Bettes.
Seine Augen waren etwas aus den Höhlen getreten. Auf seinem Gesicht spiegelte
sich keine, der Trauer oder einem anderen menschlichen Gefühl gleichende Regung.
Sein Gesicht war von widerwärtigem Entsetzen verzerrt (104). Annabelle sieht
Michels Renault 16 vor dem Haus der Trauerfamilie stehen, geht gegen ein Uhr
264
nachts über die Straße, wagt es aber nicht, an der Tür zu klingeln. Es sollten fast
fünfundzwanzig jahre vergehen, ehe sie Michel wiedersehen würde (103).
Michel führt ein rein geistiges Dasein (133), ein Leben ohne Angst, aber auch ohne
Erwartung und ohne Dramen (134). Im Unterschied zu Bruno lebt Michel in einer
genau geregelten Welt, die, wenn sie auch keine absolute Sicherheit zu bieten hat,
durch gewisse kommerzielle Zeremonien einen gleichmäßigen Rhythmus bekommt
(136). Das Fernsehen, die wiederkehrenden Sportereignisse, die mit den
Jahreszeiten wechselnden Versandhauskataloge, die politischen Kampagnen, die
Sonderangebote im Supermark: All dies sind Vorgänge, an denen Michel in der
Souveränität des Endverbrauchers teilnimmt, In all dem konnte man sein Glück
finden (137), ohne sich für die Gefühle und Motive zu interessieren, die das Leben
der Menschen bestimmen. Auch seine sexuellen Bedürfnisse sind derart unter
Kontrolle, dass sie ihn vor melodramatischen Verwicklungen bewahren: Er selbst
onanierte selten; die Phantasmen, die ihn als junger Forscher vor dem Minitel oder
auch beim Anblick junger Frauen […] von Zeit zu Zeit heimgesucht hatten, waren
allmählich verschwunden. Er regelte das Nachlassen seiner Potenz mittlerweile
durch harmloses, friedliches Wichsen, wofür sich der 3-Suisses-Katalog, gelegentlich
ergänzt durch eine erotische CD-ROM für 79 Francs, als völlig ausreichende Vorlage
erwies (136).
Während Brunos Welt, die nach dem Urteil seines Bruders mit Superweibern und
Fettklößen, mit geilen Typen und Saftsäcken bevölkert (136) ist, der Schauplatz der
triangulären Provokation par excellence ist, verschreibt sich Michel der
Dekonstruktion der Begehrensdreiecke, deren rivalitäre Spitze er herausbricht und
somit den auch von ihm geteilten Wunsch zu lieben (133) auf eine neue Grundlage
stellt. Mehr als in seiner Lebensweise praktiziert Michel die Entmimetisierung und
Entdramatisierung des Begehrens in seinen Forschungen am Institut für
Molekularbiologie des CNRS in Gif-sur-Yvette, welches für ihn der wahre Ort der
Wandlung ist.
Dort arbeitet er in einem Forschungsfeld, welches biologische Grundannahmen mit
denen der Physik verbindet, das heißt Genmutationen als atomare Vorgänge
beobachtet und untersucht, inwiefern der mathematische Voraussageformalismus
der Elementarteilchen direkt auf die Steuerung biologischer Phänomene einwirken
kann (140). In einer seiner wichtigsten Veröffentlichungen, Prolegomena zu einer
vollkommenen Replikation, vertritt er die These, dass die Trennung von Sexualität
und Fortpflanzung nicht nur zur ‚Bereinigung’ und Entdramatisierung der
menschlichen Beziehungen führt, sondern auch bessere ‚Zuchterfolge’ verspricht.
Die Manneskraft und männliche Kampfbereitschaft, die in früheren Zeiten, als es
noch zahlreiche Bären gab, eine spezifische, unersetzliche Rolle gespielt hat, hat seit
mehreren Jahrhunderten nur Kriege und Revolutionen verursacht und dazu geführt,
dass die Entwicklung der Menschheit nicht in den regelmäßigen Bahnen eines
allmählichen Aufstiegs, sondern unter Brüchen und chaotischen Wendungen verlief.
Für all das waren die Männer (mit ihrer Bereitschaft zum Risiko, ihrer Lust am Spiel,
ihrer grotesken Eitelkeit, ihrer Verantwortungslosigkeit und ihrer grundsätzlichen
Brutalität) unmittelbar und ausschließlich verantwortlich. Würde das mimetische
Begehren, jedenfalls in seiner geschlechtsspezifischen männlichen Variante,
ausgeschaltet, wäre vorstellbar, dass eine aus Frauen bestehende Welt dieser aus
Zerstörung und Wiederaufbau bestehenden Wirklichkeit überlegen wäre. Sie würde
sich zwar langsamer auf einen Zustand allgemeinen Glücks hinentwickeln, aber mit
265
größerer Regelmäßigkeit, ohne Rückschläge und ohne verhängnisvolle
Infragestellung (187). Die Überlegenheit der nichtsexuellen Reproduktion, wo an
einfachen Organismen nachgewiesen ist, dass die Arten, die sich auf sexuellem Weg
vermehrten, sich langsamer weiterentwickelten als die Arten, die sich durch Klonen
vermehrten (301), wird sich schließlich auch in der menschlichen Praxis bewähren
und das Projekt der Enttriangulierung – das Schlusskapitel des ‚Michel-Romans’
lautet Emotionale Unbegrenztheit 704- vollenden. Dann würde die Menschheit nicht
nur in der Lage sein, ihre eigene biologische Entwicklung zu steuern (302), sondern
es ließen sich dann auch alle die mimetischen Konflikte vermeiden, die die
Menschen ins Unglück stürzen; die Menschen würden von ihren romantischen, den
weiblichen Liebes- und den männlichen Eroberungsphantasien befreit, und die
Sexualität würde sich im nachhinein als eine unnötige, gefährliche und regressive
Funktion (302) herausstellen, deren Herauslösung aus dem Wertebereich von Ehe,
Familie, Besitz, Ansehen und Macht die Aussicht auf eine menschlichere und
umfassendere Art der Beziehungen (302) bietet.
Wie die Bekämpfung der Kampfbereitschaft läuft auch die Dekonstruktion des
konfliktiven Mimetismus Gefahr, unter dem Schein eines Lösungsangebots den
status quo ante zu stabilisieren, anstatt die durch den Dritten provozierte und auf
diesen zurückfallende Spannung zwischen dem begehrenden Subjekt und dem
Objekt der Begierde zu überwinden. Daher kann auch Michel das Begehrensdreieck
nur soweit dekonstruieren, dass der Dritte aus dem Blick- und Aktionsfeld des
Begehrenden hinausgedrängt wird, was wiederum eher ein Regelproblem der
Verschiebung und Vermittlung ist und mehr die zu- beziehungsweise abnehmende
Intensität des Begehrens betrifft als seine Aktualität. Er kann den Dritten nicht
eliminieren. Das Experiment, in dem der Rivale so weit zum Verschwinden gebracht
wird, dass die Bedingungen für das Ausbrechen der mimetische Krise nicht erfüllt
sind, wird in der Denkspur des 1932 erschienen Romans von Aldous Huxley,
Schöne, neue Welt 705, durchgeführt, dessen Vision einer manipulativ konditionierten
und daher friedlichen Menschheit durch die von Michel erforschten gentechnischen
Verfahren fortgesetzt und übertroffen wird. Während in der Brawe-New-WorldGesellschaft der Dritte in der Gestalt des Zentrallabors präsent ist, welches im Dienst
der Diktatur einer selbst ernannten und wohlmeindenden Elite steht, von der alle
Menschen physisch und psychisch so manipuliert werden, dass sie einerseits keine
tiefen Gefühle und keinen freien Willen haben, andererseits politische Stabilität,
Frieden, Gesundheit, lebenslange Jugend und sexuelle Befriedigung genießen,
entwirft Michel die Vision einer Welt, welche die Ideen der durch die Nazi-Ideologie
diskreditierten Eugenik und Rassenverbesserung (179) auf demokratischparlamentarischem Weg verfolgt. Er erinnert daran, dass der Biologe Julian Huxley –
sein Großvater war ein Freund von Darwin (178) -, der ältere Bruder des
Romanciers, nach dem Krieg, im Jahr 1946 […], zum Generaldirektor der soeben
gegründeten UNESCO ernannt ( 179) wurde und prognostiziert eine Situation, in der
für die westlichen Gesellschaften, sollten sie überleben wollen, eine fundamentale
Wandlung 706 unerlässlich geworden (354) ist. Diese Wandlung gründe auf der auch
letztlich von der New-Age-Bewegung geteilten Überzeugung, dass die
704
Illimité émotionnel (329)
Der Titel stammt aus einem Monolog der Miranda aus Shakespeares Der Sturm (The tempest):
O Wunder! / Was gibt’s für herrliche Geschöpfe hier! / Wie schön der Mensch ist. Schöne, neue Welt, /
Die solche Bürger trägt!
706
mutation (391)
705
266
philosophischen Fragen im Verständnis der Öffentlichkeit jeden Bezug 707 verloren
(354) hätten, dass philosophischen Größen der Postmoderne wie Foucault, Lacan,
Derrida und Deleuze (354) verspottet würden und dass die Lösung aller Probleme –
einschließlich der psychologischen, soziologischen und gemeinhin menschlichen
Probleme - nur technischer Art sein könne (355). Die Prognosen Michels werden
durch den irischen Forscherkollegen und Nachlassverwalter Hubczejak formuliert,
welcher notiert, dass von der UNESCO im Jahr 2021 die ersten Kredite (255) für
dieses Projekt bewilligt werden, die rettende Wandlung also ein durch das
Weltparlament legitimiertes Menschheitsanliegen ist. Der Auslöser für den durch
Michels Forschung vorbereiteten weltweiten Meinungsumschwung ist Hubczejaks im
Jahr 2013 zur Maxime erhobene Schlussfolgerung: „DIE WANDLUNG FINDET
NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN“ (355). Michels Prognose
sollte in dem Bewusstsein gipfeln, dass diese Wandlung, in dem sie auf glaubhafte
Weise den Sinn für die Kollektivität, die Kontinuität und das Heilige wiederherstellen
würde (354), keine historische Etappe, sondern eine metaphysische Revolution ist.
Bei seiner Ankunft 1999 in Irland fährt Michel vom Flughafen Shannon nach
Roscahill zu dem mit Mitteln der EU finanzierten Forschungsinstitut und kommt an
einer Weide mit einer Herde schöner hellbrauner Kühe vorbei. Sein Begleiter erklärt
ihm: „…das sind die Nachkömmlinge der ersten Kühe, die nun schon vor zehn
Jahren aufgrund Ihrer Arbeiten gezüchtet worden sind. […] Sie sind
widerstandsfähig, vermehren sich ohne Probleme und geben ausgezeichnete Milch“
(327). Michel betrachtet diese Geschöpfe, deren genetischen Code zur Replikation
ihrer Zellen er errechnet und technisch verwertbar gemacht hat. Nüchtern bilanziert
er: Für sie müsste er eigentlich ein Gott sein; und dennoch ließ sie seine
Anwesenheit anscheinend gleichgültig (327). Gleichwohl bedeutet dieses
Forscherfazit nichts weniger als die Wiedereinsetzung des Heiligen, wie sie es sein
Nachfolger Hubczejak formulieren wird, wenn eine fortgeschrittene Molekularbiologie
eine human-gentechnische Anwendung ermöglich. In der neuen Moral, deren
religiöse Absicherung Gemeingut ist, wird verkündet, dass die Menschheit in dem
Stadium, in dem sie angelangt war, die gesamte Entwicklung der Welt – und
insbesondere ihre eigene biologische Entwicklung – steuern konnte und musste
(350) und dass die aus den Offenbarungsreligionen stammenden Vorstellungen des
Heiligen und des Göttlichen in den Steuerungsbereich dieser so definierten
Humanwissenschaften überführt werden. In der neuen Ordnung wird es die Schönen
Künste ebenso geben wie die philososphischen und historischen Deutungen der
Wirklichkeit, aber die Suche nach dem Wahren und dem Schönen besitzt, da sie
nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen Eitelkeit angespornt wird das heißt entmimetisiert ist – einen weniger dringlichen Charakter (356). Die in der
alten Ordnung als unüberwindbar geltenden oder immer nur vorübergehend im
violence-et-sacré-Verfahren in Schach gehaltenen Kräfte des Egoismus, der
Machtgier und der Zerstörung sind bezwungen. Die neue Welt, wie sie am Ende des
21. Jahrhunderts sein wird, gleicht einem Ort, von dem die ehemalige Menschheit
nur phantasieren konnte und den sie mehrheitlich in einem Jenseits vermutete. Die
neuen Menschen werden feststellen: Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt
unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im Übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn
auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen ‚Götter’ bezeichnen, der so viele
Träume bei ihnen ausgelöst hat (356).
707
tout référent bien défini (391)
267
Wenn alle Gott sind oder die gottgleiche Gen-Instanz im Namen aller agiert, lebt es
sich im ‚Menschenpark’ wie auf jener Wiese zwischen Shannon und Roscahill, wo die
Anwesenheit eines Gottes nicht weiter störend wirkt. Der Dritte ist tatsächlich aus
dem Begehrensbereich, den er zum Paradies umformatiert, hinausgedrängt, zugleich
aber ist er die Instanz, die diesen Bereich schützt und erhält, indem er alle
Aggression von vorneherein und – im wahrsten Sinn des Worts – im Keim
unterbindet. Michels metaphysische Revolution in Verbindung mit der
Wiedereinsetzung eines solchen Heiligen bietet eine außerordentlich zugfeste
trianguläre Konstruktion, welche den relativ verlässlichen Dritten, wie ihn
beispielsweise Don Quixote in seinem Amadis von Gallien antrifft, an Stabilität
übertrifft, weil jetzt dieser zugleich transzendente und immanente Dritte nicht
enttäuschen und illusionieren kann, weil er nicht bezweifelt, angegriffen und in einer
aufklärerischen Geste wegerklärt werden kann, weil seine Verehrung genetisch
gesichert ist und nicht auf so unsicheren Fundamenten wie Glaube, Liebe und
Hoffnung gründet.
Durch seine Lebensumstände ist Michel zu einem Vorläufer der neuen Ordnung
geworden. Seit seiner frühen Kindheit gehörte er zu denen, die sich im Gegensatz zu
seinem Halbbruder aus den mimetischen Dreiecken heraushielten. Er hat in seinem
Leben Zeugnis für die neue Triangulierung abgelegt, durch seine Forschung hat er
ihr den Rang einer allgemeinen humanen Physik verschafft und in einer
überlebenskritischen Phase der Menschheit einen Ausweg angezeigt: Es lag etwas
in der Luft, das die Vorstellung einer apokalyptischen Dürre aufkommen ließ (15). Die
neue Zeit, die anbricht, ist ein neuer Bund, ein neues Gesetz, unter dem die
Menschen im Licht leben, in einem Licht, das keinen himmlischen und keinen
rationalen Ort hat, sondern unsere Körper umströmt, unsere Körper umhüllt, mit
einem Strahlenkranz der Freude (9 - 10).
b. ) Externe und interne Vermittlung
Die Söhne Janines aus der Verbindung mit Serge Clément und mit Marc Djerzinski
wachsen bei verschiedenen Großmüttern auf, Bruno trifft sich mit seiner Mutter hin
und wieder in den Ferien, mit dem Vater während der Schulzeit an Wochenenden,
Marc kennt seinen von einer Chinareise nicht mehr heimgekehrten Vater nicht, seine
Mutter besucht ihn selten, da das Verhältnis mit der Schwiegermutter angespannt ist.
Nach dem Tod der aus Algier nach Marseille umgezogenen Großmutter kommt
Bruno in das Internat nach Meaux. Michel, zunächst am Collège in Crécy-en-Brie,
besucht dann ebenfalls die Internatsschule als Externer. Als er seine Großmutter
verliert, ist er schon Abiturient und auf dem Weg zum Studium in Paris. Die beiden
Halbbrüder lernen sich erst in der 11. Klasse, im Alter von etwa 17 Jahren kennen.
Beide sind typische Scheidungskinder, bei denen die leiblichen Eltern als
Orientierungsinstanzen ausfallen, die jedoch über die Großeltern, jedoch mit
unterschiedlicher Intensität, einen Rest von familiärer Kontinuität und Wegbegleitung
erfahren. Beide teilen das Los des aus dem Nest gefallenen Vogels, reagieren auf
ihre Situation aber höchst unterschiedlich. Michel wird sein Leben lang der ‚Externe’
sein, Bruno sein ‚Internat’ nie verlassen. Das extern vermittelte Begehren wird Michel
gegenüber transzendentalen Modellen in Position bringen, das intern vermittelte
Begehren wird Bruno mit leibhaftigen Modellen konfrontieren und ihn in dramatisch
268
ablaufende mimetische Konflikte stürzen. Innerhalb der jeweiligen Biographie wird es
nur geringe Verschiebungen von der einen zur anderen Art der Begehrens- und
Motivstiftung geben. Die beiden Halbbrüder sind die klar profilierten Vertreter ihres
jeweiligen Mediationstyps.
Mit einem kleinen experimentellen Vorspiel deutet Michel an, dass er nicht die
Perspektive des aus dem Nest gefallenen Vogels übernimmt, sondern ihm
gegenüber die Distanz des Beobachters einnimmt. Der weiße Kanarienvogel, den er
sich aus einem Bedürfnis nach Gesellschaft angeschafft hat um irgend etwas zu
haben, das ihn abends beim Heimkommen empfing, wird aus seinem Käfig geholt,
weil Michel sehen wollte, wie er auf seine Befreiung reagieren würde, und einen
Monat später hatte er den Versuch wiederholt (15). Ebenso gibt er mit seinem Blick
aus dem Fenster seines Studentenappartements zu verstehen, dass das Problem
der Elementarteilchen und deren Beschleunigung für seine Lebensführung nichts zu
bedeuten hat. Er ist nicht wie sein Bruder mit einem beschleunigten Teilchen zu
vergleichen, das Kräften ausgesetzt ist, die nur registriert aber nicht mit letzter
Genauigkeit kalkuliert werden können. Seine Perspektive ist erhaben und distanziert:
Man sah auf eine Rasenfläche, die sich bis an den Fluss hinunter zog; wenn er sich
etwas aus dem Fenster lehnte, konnte er ganz rechts die Betonmasse des
Teilchenbeschleunigers erkennen (99).
Schon als Kind lässt sich Michel von den Menschen seiner Umgebung nicht
beeinflussen und beeindrucken. Die Personen, an denen er sich misst, sind die
Helden der Bücher von Jules Verne und der Jugendzeitschriften Pif oder Fünf
Freunde, besonders aber der Schwarze Wolf, der einsame Indianer, der das Gesetz
der Prärie verkörpert und den Michel später als den Idealtypus des kantischen
Helden betrachtet, der immer so handelte, als ob er durch seine Maximen jederzeit
ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre (38). Im
Fernsehen interessiert er sich für die Jugendquiz-Sendung Hundert Fragen (34), für
alle Tiersendungen; die Direktübertragung der Mondlandung vom 21.7.1969, die er
als Elfjähriger erlebt, bezeichnet er später als den Höhepunkt der ersten Periode des
technologischen Traums der westlichen Welt (37). In der Buchreihe Das ganze
Universum vertieft er sich in die Festigkeitslehre, die Form der Wolken, den Tanz der
Bienen, Sokrates’ Tod oder die Erfindung der Geometrie vor dreitausend Jahren
durch Euklid […]; er nimmt Wissen in sich auf (34). Sein Lieblingsbuch ist Werner
Heisenbergs wissenschaftliche Autobiographie Das Teil und das Ganze, die ihn seit
dem siebzehnten Lebensjahr begleitet (22). Obwohl auch er den Wunsch [hat] zu
lieben, zumindest verlangte er sonst nichts. Nichts Genaues (133), vermeidet er den
unmittelbaren menschlichen Kontakt. Er ist zufrieden, wenn im Supermarkt die
Kassiererin seinen kurzen Gruß erwidert und in den in seiner Umgebung
ablaufenden Vorgängen eine gewisse Präzision erkennt: Es hatte in den letzten zehn
Jahren, seit er dort wohnte, in dem Wohnblock viel Hin und Her gegeben. Manchmal
bildete sich ein Paar. Dann beobachtete er den Einzug […]. Oft (aber nicht immer)
zogen die beiden Partner bei der Trennung, die darauf folgte, zur gleichen Zeit
wieder aus (133). Folgerichtig gehört noch mehr als der Blick aus dem Fenster das
Fernsehen für ihn zu den reinen Freuden, weil er dort die Erfahrung macht,
besonders in den Nachrichten von TF1, dem ersten Programm, dass es nicht das
Leiden ist, das den betroffenen Menschen eine zusätzliche Würde verleiht, sondern
allein dessen Vorzeigen im Fernsehen (134). Wenn der Winter-Katalog des
Kaufhauses Les 3-Suisses von einem Zusteller anonym in seinem Briefkasten
deponiert wird, reicht ihm das aus als Zeichen gegenseitiger Treue, mit den
269
modernen Romanen, die das Absurde und die existenziellen Verzweiflung
thematisieren, kann er nichts anfangen, er findet sie extremistisch und kann nicht
nachvollziehen, dass sein Bruder: Er schrieb zahlreiche Seiten voll und onanierte viel
(135), davon träumt, Schriftsteller zu werden. Am liebsten bezieht er seine
Informationen incognito aus dem Internet, meistens von amerikanischen
Universitäten. Bisweilen stößt er dabei auf Autoren, die er einmal kennengelernt hat,
zum Beispiel auf eine Biologin aus Ann Arbor, Alicia Marcia-Coelho: Sie hatte ihn
sogar zehn Jahre zuvor nach einem reichlich begossenen Abendessen im Rahmen
eines Generikkongresses in Baltimore entjungfernt. […]; er hatte sich gewundert,
dass er einen Ständer bekommen und sogar in der Scheide der Forscherin
ejakulieren konnte, ohne die geringste Lust zu empfinden (142).
Wie an den Vorgängen in der unmittelbaren Umgebung, nimmt Michel auch an den
makrosphärischen Phänomenen als Beobachter und nicht als Betroffener teil.
Spätestens seit der Entdeckung von Spuren fossilen Lebens durch eine
amerikanische Marssonde ist für ihn der Schleier um die Fähigkeit zur
Selbstreplikation von Lebewesen gelüftet und sind die mythischen und religiösen
Konstruktionen, an denen sich die Menschheit seit jeher erfreut, widerlegt: Es gab
keinen einmaligen grandiosen Schöpfungsakt; es gab kein auserwähltes Volk, nicht
einmal eine auserwählte Gattung oder einen auserwählten Planeten. Es gab fast
überall im Weltraum nur ungewisse und im Allgemeinen wenig überzeugende
Versuche (138). War denn, so fragt sich Bruno, sein Bruder überhaupt von etwas
beseelt? 708 (241)
Wenn Michel sich auf ein Experiment einlässt, dann als Experimentator. Und wenn er
überhaupt von etwas beseelt ist, dann von Wissensdrang 709 und nicht von der
Aussicht auf eine menschlichere und umfassendere Art der Beziehungen (302). Es
entgeht auch Bruno nicht, mit dem er lange Gespräche führt, dass Michel eine
Ausnahme darstellt und dass seine Existenz einer Bewegung gleicht, die gradlinig
und gleichförmig verläuft, weil sie weder der Reibung noch einer von außen auf sie
einwirkenden Kraft ausgesetzt ist und undurchsichtige Machtkämpfe nicht kennt
(241). Zu welch unterschiedlichen Sehergebnissen an einem einzigen, minimalen
Bild-Detail jeweils der extern und der intern vermittelte Blick kommen kann, zeigt
sich, als die Brüder in einem Moment der Stille im Zimmer den Heizkörper
betrachten. Wenn Bruno stundenlang und stumpfsinnig die Rohre des Heizkörpers
(188) betrachtet, kann dies als Eingeständnis der Monotonie, des Gefangenseins,
der Resignation oder gar des Ekels gedeutet werden. Derartige menschliche
Regungen sind Michel fremd. Er zerlegt den Heizkörper kurzerhand in seine
Funktionen und lässt sich von dessen aufreizender Dinglichkeit nicht herausfordern:
Mehrere Tage lang betrachtete er den Heizkörper, der links neben seinem Bett
angebracht war. In der kalten Jahreszeit füllten sich die Heizrippen mit warmem
Wasser, das war ein nützlicher, wohldurchdachter Mechanismus (184).
Ausführlicher als der Heizkörper-Blick lässt die relecture des Huxley-Romans den
Unterschied zwischen der externen und der internen Motivationsvermittlung
erkennen. Bruno wundert sich, wie unglaublich zutreffend die Voraussagen sind, die
Aldous Huxley in „Schöne neue Welt“ gemacht hat (176); für ihn ist das wahr
geworden, was der Abbau der Hierarchien in den zwischenmenschlichen
Beziehungen und im globalen Maßstab zu Folge hatte. Während der unbeschränkte
708
709
…mais, à vrai dire, Michel état-il mû par quelque chose ? (265)
le désir de connaissance (334)
270
sexuelle Wettbewerb ihn in das Begehrensdreieck mit seinen Rivalen einspannt, führt
in seiner Sicht der infolge der Globalisierung verschärfte ökonomische Wettbewerb
zur Konfrontation von über- und unterlegenen Wirtschaftssystemen. Was Huxley in
seinem Roman als befreiende Utopie entworfen hat, ist für Bruno und seine
Generation zur Leidenssituation geworden. Was als Zeitalter der universellen
Entspannung vorausgesagt wurde, erweist sich als ein neues Feld für den
narzisstischen Konkurrenzkampf (71 – 72). Aber es ist haargenau die Welt, die wir
anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg (177).
Brunos Balbbruder hingegen liest den Huxley-Roman nicht als existenzielle
Herausforderung; er ist von dessen Vorhersagen weder enttäuscht noch euphorisiert.
Für Michel ist Aldous Huxley ein Denker des genetischen Humanismus, der die
kulturelle Evolution auf eine naturwissenschaftliche Grundlage stellt: Unter den
Schriftstellern seiner Generation war er bestimmt als einziger dazu fähig, die
Fortschritte zu erahnen, die die Biologie machen würde (179). Und er verweist auf
ein Werk, das der Zoologe und spätere UNESCO-Generalsekretär Julian Huxley,
Aldous’ älterer Halbbruder, ein Jahr vor Schöne neu Welt unter dem Titel What dare I
think veröffentlicht hat und in dem sich bereits Anregungen zur genetischen Kontrolle
und zur Artenverbesserung, einschließlich der der Menschheit (179) finden.
In Analogie zu der Girardschen Unterscheidung zwischen den Erzählungen, die das
mimetische Verlangen abbilden und solchen, die es durchschauen, ist Bruno der
Protagonist, der die sinnliche Begierde im Hinblick auf Schöne neue Welt als sein
Schicksal erfährt und Michel derjenige, der sie in diesem Werk analysiert und
kritisiert. Wie bei allen Utopisten stellt Michel auch bei Huxley die Diagnose, dass er
in seiner rationalen Gesellschaft den Kampf dadurch abmildert, dass sowohl die
wirtschaftlichen Schwankungen unter Kontrolle gebracht und der ökonomische
Wettbewerb ausgeschaltet wird, als auch die sexuelle Konkurrenz durch die
etablierte Promiskuität abgestellt ist. Auch räumt er ein, dass für den Rest an
Unüberschaubarkeit kleine humanistische Korrektive (182) wie Meditation,
Medikamente oder bewusstseinserweiternde Drogen gegen Angstgefühle,
Depressionen oder Todesangst eingesetzt werden können. Was Huxley aber
übersieht, ist die metaphysische Wandlung (180), die mit dem Heraufkommen des
Materialismus und der modernen Wissenschaften eingetreten ist und die vor allem
darin besteht, dass der zum Durchbruch gelangte Rationalismus einen verbreiteten
Individualismus zur Folge hatte. Huxley hat vergessen, den Individualismus zu
berücksichtigen (181) und nicht begriffen, dass die von der Zeugung abstrahierte und
zum Lustprinzip erhobene Sinnesfreude, anstatt sich selbst konsumistisch zu
genügen, von neuem zu einer Strategie subjektiver Unterscheidung wird und – in
Resonanz zu dem scheinbar immer gesättigten Markt der Waren und Marken - einen
neuen Sex-Fetischismus hervorbringt. Mit der Nüchternheit des Forschers konstatiert
Michel das Scheitern des Huxley-Entwurfs in den westlichen Gesellschaften, vor
allem dass die eros- und werbungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben (182), auf
der einen Seite das mimetische Begehren in den Individuen unaufhörlich anheizt,
andererseits sich für dessen Befriedigung als nicht zuständig erklärt. Was ihn
beschäftigt, ist die Diskrepanz zwischen der Forderung nach Wettbewerb und nach
Zunahme der sinnlichen Begierden, die für das Funktionieren der Gesellschaft
unabdingbar sind, und den Möglichkeiten der unmittelbaren Befriedigung, welche
nicht von der Gesellschaft organisiert wird und deren Kosten unter den gegebenen
Verhältnissen von den Individuen zu tragen sind.
271
Das Huxley-Experiment kann jedoch, wie Michel meint, weiterentwickelt werden. Die
Herrschaft von Eitelkeit und Grausamkeit (183) muss, da das letzte Wort des
Molekularbiologen noch nicht gesprochen ist, nicht hingenommen werden. Das
Experiment der Schönen neuen Welt ist ins Stocken geraten. Der historisch erreichte
Zustand ist für Bruno ein Kampfplatz, bevölkert von zahllosen Modellen und Rivalen,
mit denen er sich herumschlägt und wo er sein Leben verzehrt; für Michel, der sich
dort nicht internieren und vereinnahmen lässt, weil er gleichsam einem Stern folgt,
der von außen leuchtet, ist der historisch erreichte Zustand eine Labor-Situation, in
der die Aufgabe zu lösen ist, die äußerste Individualisierung mit der innigsten
Harmonisierung der menschlichen Beziehungen in Einklang zu bringen. Es besteht
kein Zweifel, dass die Fortschritte der Wissenschaft und des Materialismus die
Grundlagen aller traditionellen Religionen (182) und deren aufgeklärt-humanistische
Fortsetzungen und Ersetzungen unterminiert haben. In diesem In-Einklang-Bringen
formuliert sich in der Labor-Situation auch und gerade die Herausforderung, eine
Religion [zu schaffen], die mit dem heutigen Stand der Wissenschaften vereinbar
(182) ist, also einen neuen Bund zu stiften und das zu verwirklichen, was die
Menschen früherer Zeitalter manchmal in ihrer Musik erahnten (9). Dazu ist ein Gott
nicht mehr erforderlich, ebenso wenig wie die Vorstellung einer unsichtbaren
vorhandenen und natürlichen Realität. Zu dieser dieser neuen Religion notiert
Michel: Es gibt menschliche Wahrnehmungen, menschliche Zeugnisse und
menschliche Versuche und es gibt die Vernunft, die diese Wahrheiten verbindet, und
das Gefühl, das sie mit Leben erfüllt (338). Dazu braucht man weder Metaphysik
noch Ontologie, jene Kinderkrankheit des menschlichen Geistes (339). Anstelle der
Glaubensinhalte und Weltanschauungen, der ‚mythischen und religiösen
Konstruktionen’, genügt ein Konsens über das Resultat von Versuchen innerhalb der
Gemeinschaft der Beobachter. Auch ein solcher Konsens kann religionsförmig sein,
dass heißt er kann begeistern und Äußerungen von geradezu ekstatischer
Bewunderung (339) hervorrufen. Die gemeinschaftlich beobachteten Versuche und
deren Resultate lassen sich dank einer vernunftbedingten Intersubjektivität
kommunizieren und durch Theorien miteinander verbinden, die widerspruchsfrei sind,
sich aber gegebenenfalls falsifizieren lassen.
Verkörpert Michel mit seinem in der Jugendlektüre aufgenommenen Wissensdrang
sowie seiner Verehrung für Stars der Wissenschaft wie Max Planck, Wolfgang Pauli,
Werner Heisenberg, Niels Bohr, Charles Darwin und Julian Huxley den Begehrenstyp
der externen Vermittlung, dessen Vorbilder nicht als Rivalen seinen Aktionsradius
durchkreuzen, und Bruno jenen Begehrenstyp der internen Vermittlung, dessen
Modelle in ihm die ‚Feuer des Neides und der Lust’ 710 entzünden, weil sie im Raum
und in der Zeit sich mit ihm stoßen, tritt mit Annabelle ein Begehrenstyp in
Erscheinung, bei dem im Unterschied zu den Halbbrüdern die Vermittlerdistanz nicht
festgelegt ist, sondern sich eine Verschiebung der externen zur internen Mediation
beobachten lässt. Wie im Fall der Halbbrüder, die sich als Beamter beziehungsweise
CNRS-Institusleiter dem ökonomischen Wettbewerb nicht zu stellen haben – auf
diesem Kampfplatz konkurrieren eher die Figuren aus der zweiten Reihe als
Freiberufliche und Lohnabhängige -, geht es auch Annabelle nicht um den
Begehrensvorteil im Hinblick auf materielle Güter. In einer glücklichen Familie
geboren – in fünfundzwanzig Ehejahren hatten ihre Eltern keinen einzigen
ernsthaften Streit gehabt, und das Unternehmen für Präzisionsoptik ging gut: Die
japanische Konkurrenz gab es damals noch nicht (55) -, weiß Annabelle mit dreizehn
710
Les feux de l´envie (französischer Titel der Shakespeare-Analyse von René Girard, A theater of
envy, New York 1991)
272
Jahren: Irgendwo auf der Welt gab es einen Jungen, den sie nicht kannte und der sie
auch nicht kannte, aber mit dem sie ihr Leben verbringen würde (55). Als sie Michel
kennenlernt, hat sie die Gewissheit, dass sie ihrer großen Liebe begegnet ist, was
nach Meinung von Mademoiselle Age tendre, der von ihr konsultierten
Mädchenzeitschrift, das Schönste ist, was einem auf der Welt passieren könne (63).
Ihre Beziehung zu Michel geht jedoch über kameradschaftliche und freundschaftliche
Formen nicht hinaus, obwohl sie im Alter von fünfzehn Jahren von einer solchen
äußeren Schönheit ist, dass sie zu den Mädchen zu zählen ist, die ganz einfach
dadurch, dass sie über die Geschäftsstraße einer mittelgroßen Stadt gehen, den
Herzrhythmus der jungen Männder und der Männer im reiferen Alter beschleunigen
und den Greisen ein Grunzen des Bedauerns entlocken (65). Früher oder später, das
weiß sie, würde Michel Lust haben, sie zu küssen und ihren Körper zu liebkosen,
dessen Verwandlung sie spürt: Sie erwartete diesen Augenblick ohne Ungeduld und
auch ohne allzu große Angst; sie war voller Zuversicht (66). Annabelles
Glücksvorstellung ist zwar nicht durch ein persönliches externes Vorbild vermittelt,
wohl aber durch die in ihrem familiären und bürgerlichen Milieu herrschenden
Normen, die für sie selbstverständlich und fraglos gültig sind, wobei eine geeignete
Mädchenzeitschrift die mediale Verstärkung beisteuert. Jedenfalls steht sie – noch weit außerhalb des mimetischen Regelkreises von stimulus und response und ist
sich auch nicht bewusst, dass sich jemals eine Entsicherung von diesem Halt
ereignen könnte.
Als anfänglich dank der externen Vermittlung in sich ruhende Person, die von der
Schwellensituation an zur ‚bewegten Frau’ 711 wird und nach einem turbulenten
fünfundzwanzigjährigen theater of envy zur Ruhe kommt, ist Annabelle die
vollkommene Protagonistin für einen eigenen Roman, welcher der von Girard
geforderten Sequenz-Struktur gerecht wird. Mit dem Verlust der provinziellbürgerlichen Stabilität durch den Verführer David di Meola, der, nachdem Michel die
Einladung zum nächtlichen Tanz am Lagerfeuer abgelehnt hat, in Annabelle die
körperliche Lust geweckt hat: Beim erstenmal hat es etwas weh getan, aber
anschließend hatte sie Lust verspürt, wilde Lust; sie hatte nicht einmal geahnt, dass
sexuelle Lust so stark sein könnte. Und dabei hegte sie keinerlei Zuneigung für
diesen Typen; (98), verlässt die Protagonistin die stabile Umlaufbahn um einen
externen Fixpunkt und gerät in den Bereich der direkten Kohabitation und damit in
die Zone des unvermittelten, internen Begehrens und Begehrtwerdens. Der
Annabelle-Roman wird nach diesem Umschwung ins Krisenhafte schließlich auch
insofern den sequenziellen Anforderungen gerecht, als er in einer ausgeprägten
kathartischen Station endet. Beim Wiedersehen mit Michel nach fast fünfundzwanzig
Jahren blickt Annabelle auf ein unglücklich verlaufenes Leben zurück: „Ich glaube,
ich habe der Liebe eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen. Ich habe mich zu
leicht den Männern hingegeben; sobald sie erreicht haben, was sie wollten, haben
sie mich fallengelassen, und ich habe sehr darunter gelitten“ (264). Obwohl die nun
vierzigjährige Annabelle um die Risiken einer Schwangerschaft weiß, wünscht sie
sich von Michel, der bereits die Einladung des Forschungsinstituts nach Irland
angenommen hat, ein Kind: Mach mir ein Kind. Ich brauche jemanden in meiner
Nähe. Du brauchst es weder aufzuziehen noch anzuerkennen; […] aber mach mir
einfach ein Kind. […] Das ist meine letzte Chance. Manchmal bedaure ich es, dass
ich abgetrieben habe (309 – 310). Wenn sich diese letzte Chance auch nicht bietet –
Annabelle erfährt bei der ersten gynäkologischen Untersuchung nicht nur, dass die
711
In Anspielung an Der bewegte Mann, 1994, erfolgreiche deutsche Filmkomödie unter der Regie
von Sönke Wortmann.
273
Schwangerschaft abgebrochen werden muss, sondern auch dass der
fortgeschrittene Gebärmutterkrebs ihr nur noch wenige Monate lässt -, macht sie
dennoch den glaubhaften Versuch, sich von ihrem unruhigen Leben abzuwenden
und aus der Zone der internen Begehrensvermittlung herauszufinden: Sie hatte ein
bewegtes Leben hinter sich; hatte Kokain genommen, an Sexparties teilgenommen,
in Luxushotels geschlafen. Da sie aufgrund ihrer Schönheit in das Zentrum der
Bewegung für die sexuelle Befreiung geraten war, die ihre ganze Jugend bestimmt
hatte, hatte sie besonders darunter gelitten – und sollte letztlich ihr Leben dafür
lassen (268).
Obwohl die beiden Halbbrüder an ihrem jeweiligen Ort der Wandlung ankommen,
Bruno am nächtlichen Jungbrunnen, wo er auf Christiane trifft, Michel am nächtlichen
Tanzabend, wo er sich in sein Zelt zurückzieht und Annabelle ihrem Verführer
überlässt, bleiben sie ihrem Begehrenstyp treu und installieren sich in ihren
jeweiligen Handlungsräumen, Bruno in dem auf die Swinger Clubs ausgeweiteten
Areal der sexuellen Erfüllung, Michel in dem durch die irische Forschungsstation
erweiterten Labor für molekularbiologische Forschungen, Michel im geistigen Kontakt
mit den Größen der vorangegangenen Forschergeneration, Bruno im corps- à- corps
mit den in seinem Blickfeld sich bietenden Geschlechtern. Da auch Christiane,
Brunos kongeniale Partnerin, eine deutliche Veränderung ihres Begehrenstyps vor
ihrer Begegnung mit Bruno nicht erkennen lässt: Ich war sehr verliebt in meinen
Mann. Ich habe sein Glied voller Verehrung gestreichelt und geleckt; […] ich besaß
ein Foto von seinem aufgerichteten Glied , das ich immer in der Brieftasche bei mir
hatte; es war für mich wie ein Bild der Andacht 712 (160), ist Annabelle die einzige der
vier Hauptakteure, bei der sich eine Verschiebung der externen zur internen
Vermittlung, vom erhellenden Licht zum verzehrenden Feuer nachzeichnen lässt.
Beide Frauen scheiden freiwillig aus dem Leben, Annabelle durch eine Überdosis
eines Beruhigungsmittels, Christiane durch einen Sturz im Treppenhaus mit dem
Rollstuhl. Während die erbetene Schwangerschaft alle Anzeichen einer Umkehr und
eines Neuanfangs aufweist, erleidet Christiane ihr Ende durch eine Überdosis Sex,
als sie im Swinger Club zusammenbricht und von da an gelähmt ist. Hebt sich
Annabelle von den anderen Figuren dadurch ab, dass die beiden Begehrenstypen
und ihre Verschiebung in einer einzigen Person abgebildet werden, zeichnet sie sich
zusätzlich noch darin aus, dass ihre Trajektorie nach den Phasen der Differenzierung
und der krisenhaften Entdifferenzierung in eine finale Re-Differenzierung einmündet.
Sie ist also in Elementarteilchen die romaneske Figur schlechthin, weil sie nicht nur
den Übergang von der präliminaren Ordnung in das mimetische Chaos verkörpert,
sondern auch den illusionären Schleier auf eine erneuerte Identität hin durchbricht
und einen Ausweg aus dem Chaos, eine Konversion, andeutet.
Der Typ des Begehrens, bei dem das Wunschobjekt dem Begehrenden unvermittelt
gegenübersteht und ihm so nahe rückt, dass wie bei dem Kellerloch-Helden von
Dostojewski eine antagonistische Situation entsteht, wird von den ElementarteilchenAkteuren nicht inszeniert. Brunos Schmerz über die Unerreichbarkeit des andern
auch bei gesteigertem sexuellem Konsum geht nicht so weit, dass seine Frustration
sich in Überwältigungsphantasie verwandelt, den ‚sozialdemokratisch’ verfassten und
auf Vertragsbasis gestellten Rahmen der Triebbefriedigung verlässt und die Grenze
zur Gewalt zu überschreitet. Das ‚Bündnis für Liebe’ bleibt gewaltfrei, und seine
Sexpartnerinnen werden nicht zu doubles, die die Macht- und die identitäre
712
une image pieuse (177)
274
Überlebensfrage stellen; und im Verhältnis zu Christiane wird der Ernst der
Ichbehauptung ohnehin von einem gewissen Maß an Vertrautheit und Verliebtheit
abgemildert, so dass Christiane zu Recht bemerkt: „Du hast nichts Böses getan…“
(209).
Gleichwohl komplettiert Elementarteilchen die Girardsche Typologie des Begehrens
in einem teleskopischen Verfahren, in dem Bruno bei einem nächtlichen BrasserieBesuch in Les Halles von einem Artikel in Paris Match und von einem Buch (228 –
240) erzählt, das sich mit der Geschichte des David di Meola befasst, dem Verführer
von Annabelle und dem Sohn des Francesco di Meola, welcher der Geliebte von
Janine, Brunos und Michels Mutter, und der Begründer einer kalifornischen HippieKommune mit einer Dépendance in Südfrankreich war, auf der auch schon
Christiane mit ihrer Mutter ihre Ferien verbracht hatte: Meine bescheuerten Eltern
gehörten dem anarchistisch angehauchten, leicht ausgeflippten Milieu der 50er Jahre
an. Der Verfasser des Buches From Lust to Murder: a Generation, das unter dem
reichlich blöden Titel Génération meurtre (Mördergeneration) in Französische
übersetzt worden ist, ist Daniel Macmillan, der Staatsanwalt des Bundesstaats
Kalifornien, der in Los Angeles an dem Prozess gegen eine satanistische Sekte, die
an die Charles Manson-Sekte erinnert, beteiligt war. Unter den Angeklagten war
auch David di Meola, der jedoch der Polizei entkommen und nach Brasilien flüchten
konnte. In seinem Buch zeichnet Macmillan Davids Biographie nach und formt aus
der Lebensgeschichte die These, dass die ‚serial killers’ der 90er Jahre die
Nachfahren der Hippies der 60er Jahre waren und eine ältere Tradition fortsetzen:
zweihundert Jahre zuvor hatte de Sade einen ähnlichen Weg beschritten, in der auch
die Wiener Aktionisten Nitsch, Muehl oder Schwarzkogler stehen, die mit ihren zu
happenings erklärten Tiermassakern den dionysischen Willen propagieren, das
Tierische und Böse im Menschen freizusetzen. Folgerichtig, so die Macmillan-These,
muss die Befreiung des Individuums von allen moralischen und gesellschaftlichen
Bidungen über die vom älteren di Meola verkündete und gelebte sexuelle Freiheit
hinausgehen und sich in ihrer reinsten Form in der vom jüngeren di Meola
praktizierten Gewalt, Zerstörung und Tötung realisieren. Es ist die
Begehrenssituation, in der kein Rivale mehr vorhanden ist, der aus dem Feld
geschlagen werden könnte, eine double-bind-Situation, in der das Wunschobjekt
zugleich der potenzielle Rivale ist und für das Begehrenssubjekt eine solche
Bedrohung darstellt, dass es, völlig auf sich allein gestellt, sich gegen dieses
Wunschobjekt und - nach dem Motto des Kellerloch-Menschen: „Ich bin Einer, sie
sind alle“ - gegen alle möglichen Wunsch-Hass-Objekte behaupten und durchsetzen
muss. Die übliche Erklärung für das Umschlagen von Sexparties in Gewaltorgien
durch die Suche nach stärkerem Nervenkitzel oder umfassenderer Befriedigung
grausamerer Instinkte ist überwiegend an den sekundären Phänomenen orientiert.
Für Daniel Macmillan hingegen ist dies ein durchaus logischer, unabwendbarer
Prozess auf der Linie der individuellen Befreiung, hinter deren Fassade sich
unweigerlich der Hedonismus in Satanismus verwandelt. Aber auch in diesem
Satanismus sieht Macmillan eine unzulässige und leichtfertige Dämonisierung, weil
die angeblichen Satanisten weder an einen Gott, noch an einen Teufel, noch an
irgendeine außerirdische Macht glauben und die entsprechenden Zeremonien und
Requisiten nur dazu benutzen, bei den Anfängern die moralischen Hemmungen zu
überwinden.
David di Meola, der als Rock-Gitarrist erfolglos bleibt, lernt bei seinem ersten Kontakt
mit dem Popstar Mick Jagger einen Menschen kennen, der ein Machtproblem in
275
seiner Band hatte und durch einen Mord an dem Gitarristen Brian Jones zum
Bandleader der größten Rockgruppe der Welt geworden ist. Für David schlägt
blitzartig die externe Mediation in eine interne um. Zufällige begegnet er auf einer
Party in Cannes seinem großen Vorbild: Er war mit einem Satz zwei Meter
zurückgewichen, als sei er auf eine Viper gestoßen. Mick Jagger war der größte Star
der Welt; er wurde heiß verehrt, war reich und zynisch, all das, wovon David nur
träumen konnte. David schafft den musikalischen Durchbruch nicht, ist aber der Typ,
der großen Erfolg bei den Frauen hat: Seine erotischen Ansprüche stiegen, und er
gewöhnte sich an, mit zwei Mädchen gleichzeitig zu schlafen – am liebsten mit einer
Blonden und einer Dunkelhaarigen. Die meisten waren einverstanden, denn er sah
wirklich sehr gut aus – er hatte etwas Kräftiges, Männliches, fast Tierisches. Nach
und nach nimmt die sexuelle Begierde veränderte Formen – und dominantere
Stellungen - an: Er verlor allmählich das Interesse an an der Penetration, aber
empfand immer noch große Lust beim Anblick der Mädchen, die vor ihm knieten und
seinen Schwanz lutschten. Als er dann in Koalifornien in Kontakt mit satanistischen
Sekten tritt, die im allgemeinen nur rituelle Orgien feiern und manchmal auch
Tieropfer vollziehen, bekommt er durch ihre Vermittlung Zugang zu härteren Kreisen,
in denen auch Chirurgen abortion-parties organisieren, in denen nach der Operation
der Fötus zermalmt, durchknetet und mit Brotteig vermengt [wird], um anschließend
von den Teilnehmern verspeist zu werden. So überrascht es nicht, wenn Macmillan
notiert, dass David 1983 seinen ersten Ritualmord begehen darf, und zwar an einem
puertoricanischen Säugling. Zu diesem Zeitpunkt hat David seinen Traum, ein
Rockstar zu werden, verabschiedet, auch wenn ihm den Anblick von Mick Jagger auf
dem Musiksender MTV manchmal fürcherliche Magenschmerzen bereitet. Statt
dessen identifiziert er sich auch aufgrund seiner Genueser Abstammung in seiner
Allmachtsphantasie mit Napoleon, welcher - im Gegensatz zu Hitler, im Gegensatz
zu Stalin - Europa mit Feuer und Schwert verwüstet und Hunderttausenden von
Menschen den Tod gebracht hatte, ohne auch nur eine Ideologie, einen Glauben
oder irgendeine Überzeugung als Ausrede vorbringen zu können. Der nach der
Macmillan-These logische Endpunkt ist schließlich erreicht, als auf einer in der
Gerichtsverhandlung vorgeführten Video-Kassette – aus einem guten ‚snuff movie’
konnte man viel Geld herausschlagen, rund zwanzigtausend Dollar für eine Kopie –
David mit unverhülltem Gesicht zu erkennen ist: Di Meola hat mit einer großen
Kneifzange das Baby vor den Augen der Großmutter zerstückelt, dann hat er der
alten Frau mit den Fingern ein Auge ausgerissen, ehe er in ihre blutende Augenhöhle
onaniert hat.
Die Begehrenssequenz des David di Meola endet in einer viktimären Konklusion, wie
sie Girard immer wieder in den Riten und den mythisch konstruierten Erzählungen
nachzeichnet. Dabei ist das Ziel der Opferhandlung nicht die Tötung an sich, sondern
der Ge- oder Verbrauch des Getöteten zu dem Zweck, die an der Verfolgung und der
Tötung Beteiligten als Komplizen einer ungeheuren Tat zu einer verschworenen
Gemeinschaft zusammenzuschweißen, das Ensemble gegen innere Fliehkräfte zu
immunisieren und nach außen abzuschirmen. Sinnfälliger als die ‚Ausbringung’ des
Spermas in die im Blut schwimmende Augenhöhle der gefolterten Frau ist das
Opfermahl als materialisierte Kommunion und als colle collective, welches den
Opferer und die gegebenenfalls medial vergegenwärtigte und ausgeweitete
Verfolger- und Opfergemeinschaft vorübergehend ruhig stellt und so eine heilende,
im Sinn der Gruppenreligion sakralisierende Wirkung entfaltet. Daher ist der von
Bruno erzählte David des Macmillan der Protagonist eines auf der Folie des violenceet-sacré-Verfahrens aufgeführten Stückes, in dem die aufgrund der ganz fernen und
276
der ganz nahen Vermittler – von Napoleon über Mick Jagger bis hin zu den sich als
Satanisten gebärdenden Mitwirkenden in den Sex- und Folterparties – ausgelöste
mimetische Krise sich abspielt. Das Arrangement der Party-Szenen lässt durchaus
die Deutung zu, dass der Protagonist nicht nur auf eigene Faust, sondern von der
Gruppe mandatiert vorangeht und dass somit die Zurichtung und die folgende
Einverleibung des Opfers sowohl der individuellen, als auch der kollektiven
Ruhigstellung dienen. Insofern wird die mimetische Krise gleichsam
programmgemäß durchlaufen und durch die gewaltsame Re-Differenzierung von
Täter und Opfer, Verfolgung und Beute, Hinrichtung und Einverleibung zu Ende
gebracht, so dass eine neue Ordnung aufgrund einer neuen Hierarchiebildung
möglich erscheint. Gleichwohl ist diese neue Ordnung in höchstem Maß gefährdet,
da das zur Anwendung gekommene Verfahren prinzipiell unter Wiederholungszwang
steht, extrem ansteckend ist und kaum kulturell eingegrenzt werden kann.
Indem Bruno seiner Geliebten diese Geschichte eines Entfesselten erzählt –
Macmillans Buchtitel warnt vor der Entfesselung einer ganzen Generation -, markiert
er die Distanz zu seiner eigenen, gewissermaßen privat- und gesellschaftsvertraglich
eingefriedeten Begehrenslaufbahn. Es kommt ihm daher nicht in den Sinn, in seinem
Verhalten eine Analogie zu Davids Karriere zu sehen, seine Kränkungen mit denen
des gescheiterten Rockstars zu vergleichen und die von ihm gefundene Lösung
gegenüber der von David verübten Gewalttat zu bewerten. Für Bruno handelt es sich
um unterschiedliche Strategien, die man als Menschenleben bezeichnet. Von David
unterscheidet er sich nicht dadurch, dass er andere Lebensziele als den
Sinnengenuss verfolgt, vielleicht aber darin, dass er auf seiner Suche nach
Sinnenfreuden nicht auf die Wertschätzung oder Bewunderung der anderen 713 (241)
verzichten will, was die anderen zu Mitsuchenden macht und sie davor bewahrt,
seine Opfer zu werden.
c. ) Konversion
Annabelle und Christiane gehen in den Tod, David entkommt nach Südamerika,
Bruno meldet sich für immer in der psychiatrischen Klinik zurück, und Michel wird
zum letzten Mal am 27. März 2009 gesehen. Sein Auto war in der Nähe des
Strandes abgestellt, seine Leiche wird nie gefunden. Man nimmt an, dass er,
nachdem seine Arbeiten beendet waren, beschlossen hat, zu sterben, da ihn
keinerlei menschliche Bande mehr zurückhielten (344). Sieht man von Annabelles
Versuch ab, ihrem Leben aus eigenem Antrieb eine Wende zu geben, vollzieht sich
an den Akteuren der Erzählung keine Konversion. Schon gar nicht im Fall des Michel
Djerzinski, dessen Geschichte dieses Buch in erster Linie gewidmet ist, und bei dem,
was das Selbst- und Weltverständnis angeht, alle Entscheidungen seit seiner frühen
Kindheit gefallen sind. Er ist auf dem einmal eingeschlagenen Weg als
Wissenskollektor und als Forscher durch nichts und durch niemand mehr – also
durch keinen internen Vermittler – abzubringen, weder durch seinen Bruder, der ihn
wegen seiner fast autistischen Zielstrebigkeit zugleich bewundert und bemitleidet,
noch durch Annabelle, deren Schönheit überall Aufsehen erregt, ihn jedoch
gleichgültig lässt.
713
l´estime ou l´admiration d´autrui (264), wo der andere zugleich Subjekt und Objekt ist.
277
Sucht man die Antwort auf die Frage nach der Konversion aber nicht in einer
plötzlichen Erleuchtung in der Art eines Gnaden-, Blitz-, Turm- oder Bergerlebnisses,
sondern in einer Strategie zur Überwindung der mimetischen Krise oder gar deren
Vermeidung sowie in einem Verfahren zur Entfaszinierung des Wunschobjekts,
stellen die Konklusionen der beiden Halbbrüder – in beiden Fällen geht es darum, in
einem jeweiligen Akt von mort au monde der Welt zu entsagen – Lösungen dar, die
unter dem Girardschen Aspekt der Konklusionen als Tempel der romanesken
Wahrheit eine Analyse geradezu herausfordern. Ob eine Erzählung einer mythischen
oder einer romanesken Sequenz gehorcht, ob sie sich dem mimetischen Taumel
hingibt oder ihn durchschaut, entscheidet sich nach Girards narrativer Grammatik
nicht in der Weite des erzählerischen Vorfelds, welches der konklusionären
Erhebung vorgelagert ist. Dort, auf dem erzählerischen Schau- und Turnierplatz
werden mit dem nötigen Aufgebot an begehrendem und rivalisierendem Personal
sowie an per Konkurrenzlogik knapp gehaltenen Wunschobjekten die
Begehrensdreiecke aufgebaut und die Begehrensvermittler verschoben, werden
Konversionsstrategien angedeutet und die Erfahrungen von Außenstehenden
eingeholt, wird geprüft, gewogen und verworfen. Ob das ganze Erzählprojekt letztlich
ein Beitrag zur Enthüllung der vérité romanesque, oder aber zur Perpetuierung des
mensonge romantique ist, zeigt sich nicht vor dem Fallen des letzten Vorhangs – am
Beispiel des Don Quixote ist dies die Stunde seines Todes und seiner Konversion im
Sinn einer Absage an die Welt der Illusionen und mimetischen Begierden. Dabei ist
zu erinnern, dass in der Analyse von Girard eine vérité romanesque nicht zu denken
ist ohne die – soziodramatische, nicht dogmatische - Analogie zu einer vérité
évangélique und vérité religieuse und dass das literarkritische Attribut romantique in
Resonanz zu mythique und moderne, prometheisch, napoleonisch, faustisch zu
verstehen ist.
Bereits beim kindlichen und jugendlichen Michel fällt auf, dass sein überragendes
Wissen nicht als Konkurrenzvorteil gegenüber den Kameraden und Mitschülern
eingesetzt wird. Im Institut, wo er mit vierzig Jahren das Sabbatjahr beantragt ohne
Vorhaben, ohne Ziel, ohne eine Spur von Rechtfertigung (20) schlägt er mit seiner
Entscheidung die besten Karriere-und Profitchancen aus. Erfolgsstreben im
Wettbewerb mit anderen ist das, womit sich sein Halbbruder im Wettlauf um
Sinnengenuss, im Theater der körperlichen Liebe 714 (163) verzehrt. Er aber will nicht
die Kreatur seiner Rivalen sein und sich nicht dem Sog der Wunschobjekte
aussetzen; schon als Jugendlicher ist er abgestoßen von Nietzsches moralischem
Defätismus und fasziniert von Kant, dessen Lektüre das bestätigt, was er an den
Indianer-, Wikinger und Kalifenhelden von Pif bewundert hat, dass nämlich die reine
Moral nicht determiniert ist, sondern ihrerseits determiniert: Sie ist nicht bedingt, aber
sie bedingt (38).
In bewusster Anlehnung an den biblischen Wortsinn gibt Michel zu verstehen, dass
mit dem Sabbatjahr das Ende der ersten Schöpfung begonnen hat und die Genesis
der zweiten Ordnung ihr Werk aufnehmen kann. Er selbst wird sich in diesem Jahr
der inneren Einkehr im Klaren darüber, dass mit den gentechnischen Möglichkeiten
eine neue Epoche der Menschheit heraufzieht und dass Wissenschaftler von seinem
Rang deren Wegbereiter sind. Seit der Entdeckung, im Sommer seines Sabbatjahrs,
von Spuren fossilen Lebens auf dem Mars, das sich selbst repliziert haben muss,
steht für Michel fest: Die Koppelung von Leben an die geschlechtliche Fortpflanzung
714
comédie de l´amour physique (181)
278
kann aufgebrochen werden, und mit der Entbindung der Biogenese vom sexuellen
Verlangen entfällt nicht nur das Theater der körperlichen Liebe, sondern auch die UrSache und der Prototyp für alles erobernde, konkurrierende, Besitz ergreifende
Begehren im zwischenmenschlichen, sozialen und globalen Bereich. Erfolgt die
Replikation ohne Zeugung und Empfängnis, wird sie zu einem technischen Vorgang
am Beginn des Lebens. Erreicht sie den Status einer vollkommenen Replikation
(187), wo jede Zelle mit einer unendlichen Kapazität von aufeinanderfolgen
Replikationen ausgestattet (348) wird, verwandelt sich die herkömmliche Schwelle
des Todes zum Ort der Lebens- und Unsterblichkeitsvergewisserung. Die
Konsequenzen dieser Entdeckung wären in der Tat schwindelerregend (348). Jedes
Lebewesen, und sei es noch so hoch entwickelt, könnte durch kopiergenaue
Replikation in ein verwandtes Exemplar verwandelt werden, welches sich wiederum
durch Klonen, also durch die unveränderte Weitergabe der genetischen Information
fortpflanzen ließe und somit unsterblich wäre. Da diese Entdeckung aber noch
hypothetischen Charakter hat, wendet sich Michel wieder der Forschung zu und
sucht dringend die entsprechenden Arbeitsbedingungen, um seine Intuition auf eine
empirische Grundlage zu stellen: Ich bräuchte eine Stelle am Institut für genetische
Forschung von Galway in Irland. Ich muss schnell eine einfache Versuchsreihe
aufbauen können, und zwar unter möglichst genauen Temperatur- und
Druckverhältnissen und mit einer großen Auswahl radioaktiver Marker. Vor allem
brauche ich große Rechnerkapazitäten… (306).
Michel erhält von seinem Pariser Institut die Freigabe und erklärt Annabelle ohne
Umschweife, auf logische, präzise Art, warum er nach Irland gehen müsse. Das
Programm, das ihn erwartete, war jetzt genau abgesteckt (309). Die ersten
Zuchterfolge mit artenverbesserten Kühen bestärken ihn in der Annahme,
Lebewesen ganz allgemein als selbstreproduzierfähige Systeme (309) zu betrachten,
den Durchbruch seiner Forschungen sollte er jedoch nicht erleben. In der Art eines
Mose, der das gelobte Land erschaut, aber nicht betritt, bleibt Michel in einer Art
Selbstopfer an der Schwelle zur neuen Ordnung zurück, so dass seine Nachfolger
die vom ihm durchgeführten Berechnungen und Aufzeichnungen auswerten und
einer staunenden Öffentlichkeit als ein neues umfassendes Erklärungssystem des
Menschen und der Welt (8) präsentieren. Diese Clifden-Notes (336) sind benannt
nach der gleichnamigen Halbinsel, der westlichsten Spitze Europas, am äußersten
Zipfel der westlichen Welt. Vor ihm breitete sich der Atlantische Ozean aus,
viertausend Kilometer trennten ihn von Amerika (331). In diesen anspielungsreich als
äußerste go-west- Botschaft des alten Europa an die neue Welt und an das neue
Zeitalter fomulierten Aufzeichnungen, die in der Zeit von 2000 bis 2009 entstanden
sind, verbindet Michel eine auf einer Reise nach Dublin gegen Ende 2005 entdeckte
Handschrift aus dem Jahr 1185, dem Book of Kells (340), in dem eine EvangelienKonkordanz irischer Mönche aus dem 7. Jahrhundert kommentiert wird, mit seinen
Berechnungen. Indem er sein eigenes, biogenetisches Testament, das mit Hilfe der
zwei Cray-Parallelrechner (306) des irischen Instituts erstellt wird, in die Genealogie
der westeuropäischen Zivilisation einfügt – die Evangelisierung Englands und des
europäischen Festlands erfolgte ab dem 6. Jahrhundert durch irische Missionare -,
erhebt er mit seiner Arbeit keinen geringeren Anspruch als den, inmitten des
Selbstmords der westlichen Welt (269) – in Girards Diktion: des unaufhaltsamen Allegegen-alle -, eine neue ‚Frohe Botschaft’ zu verkünden und die Basis für ein neues
Erlösungs-und Friedenswerk zu legen.
279
Die mit hymnischem Pathos besungene metaphysische Revolution (334), deren
epochale Wirkung – in Resonanz auf die Stadienlehre des Auguste Comte - mit der
Ablösung des römischen Reichs durch das Christentum und wiederum dessen
Überwindung durch die moderne Wissenschaft verglichen wird: Diesem Bedürfnis
nach rationaler Gewissheit hat die westliche Welt schließlich alles geopfert: ihre
Religion, ihr Glück, ihre Hoffnungen und letztlich ihr Leben (304), wälzt mit der
Abschaffung der geschlechtlichen Fortpflanzung mehr als nur einen spezifischen
Lebensbereich um. Gleichgültig und völlig mühelos haben wir ihre Welt des Todes
zurückgewiesen (335), heißt es im Schlusskapitel von Emotionale Unbegrenztheit,
welches die anthropologischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen der
vollkommenen Replikation reflektiert. Dadurch dass Michel Djerzinski der Menschheit
die körperliche Unsterblichkeit schenkt, verändert sich der Begriff der Zeit und der
Zahl grundlegend. Leben und Altern ist nicht mehr der Prozess des körperlichen
Verfalls. Mit der Angst vor dem Tod und vor der Krankheit verlieren die Menschen
auch die Angst vor dem leeren Raum und vor der Trennung. Trennung ist ein
anderer Name für für das Böse; sie ist auch ein anderer Name für die Lüge, schreibt
Djerzinski, und nach der endgültigen Überwindung der Trennung gibt es nur eine
herrliche, riesige gegenseitige Verflechtung (341). Nach Meinung des Herausgebers
von Michels Schriften besteht dessen größtes Verdienst darin, dass er nach der
Aufgabe der individuellen Freiheit und der genetischen Individualität, der Quelle fast
aller unserer Leiden (353), einen Weg aufgezeigt hat, durch eine – wenn auch etwas
gewagte – Interpretation der Quantenmechanik die Bedingungen zur Möglichkeit der
Liebe wiederherzustellen (342), wie sie Michel in dem von sexuellen Interessen
losgelösten Wiedersehen mit Annabelle kennengelernt hat. Auch bedeutet das Ende
der Sexualität als Fortpflanzungsmodus nicht das Ende der sexuellen Lust. Mit der
Identifizierung der kodierenden Sequenzen, die bei der Embryogenese die Bildung
der Krause-Endkolben programmieren, wird es der Gentechnik in Zukunft gelingen,
diese bei den ‚vorrevolutionären’ Menschen nur spärlich auf der Oberfläche der
Klitoris und der Eichel verteilten Zellen über die gesamte Oberfläche der Haut zu
verteilen und somit auf dem Gebiet der Sinnesfreuden geradezu unglaubliche, nie
dagewesene erotische Empfindungen hervorzurufen (352).
Michel sieht voraus, dass seine radikale Idee, die Menschheit müsse einer neuen
geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben schenken, die die Individualität,
die Trennung und das Werden überwunden hat (348), auf großen Widerstand,
besonders der Offenbarungsreligionen, der jüdischen, der christlichen, der
islamischen, stoßen würde, deren Schöpfungstheologien und ontologische
Gottesbegriffe mit der Idee einer autopoietischen Menschheit nicht vereinbar sind.
Neben den Naturschützern und den Wortführern der ökologischen Bewegung, die
noch an den überholten Trennungen und Hierarchisierungen festhalten: Sie haben
hier (im Hinterland von Nizza, d. Verf.) mit der Parole „Jagd – Fischfang – Natur –
Tradition“ […] Wölfe wieder eingeführt, Horden von Wölfen, und die fressen die
Schafe… (287), sind es die traditionellen Anhänger des Humanismus mit ihren
Begriffen von Menschenwürde, individueller Freiheit und Fortschritt sowie die
gebildeten oder halbgebildeten Schichten (349), die die Entfaltung dieser Ideen
zunächst behindern. Aber nach und nach setzt sich, so der Djerzinski-Nachfolger
Hubczejak, weltweit und vorangetrieben durch die UNO, die großen Verlage und die
Universitäten der Gedanke durch, dass die Menschheit in dem Stadium, in dem sie
angelangt war, die gesamte Entwicklung 715 der Welt – und insbesondere ihre
715
évolution (387)
280
eigene bilogische Entwicklung – steuern konnte und musste (350). Im Bewusstsein,
dass keine Gesellschaft ohne die kohäsive Funktion einer Religion überleben kann
(351), schafft es Hubczejak mit Unterstützung einflussreicher Wissenschaftler (351),
die New-Age-Bewegung, die zu ihrer Zeit einen Bruch mit dem 20. Jahrhundert und
seiner Unmoral, seinem Individualismus und seinem libertären, antisozialen
Charakter (351) vorbereitet hat, widerzubeleben und zu erneuern. Er ruft nicht nur
zur Bildung einer einer Weltregierung auf, deren Denk- und Handlungsmaxime die
rationale Gewissheit ist, sondern versteht es, diesem im Vergleich zur alten Ordnung
unerhörten Paradigmenwechsel, der von der 2011 gegründeten Bewegung für das
menschliche
Potenzial
(351)
ausgeht,
die
Durchsetzungskraft
und
Begeisterungsfähigkeit einer alle Lebensbereiche erfassenden religiösen Bewegung
zu verleihen.
„Christus ist nicht auferstanden; er hat seinen Kampf gegen den Tod verloren“ (293),
bemerkt Bruno, als er sich ein letztes Mal mit Michel am Sterbebett ihrer Mutter trifft,
die am Ende ihrer Glückssuche durch sufistische Mystk inspiriert zum Islam
übergetreten (286) war. In der neuen Ordnung ist dieser Kampf nun gewonnen. Der
Tod hat keinen Stachel mehr. Von den große Religionen, in denen der Wert des
Menschen auf einer einzigartigen, persönlichen Beziehung zum Schöpfer beruht
(348), wäre nur der Buddhismus imstande, das Prinzip einer technischen Erlösung zu
würdigen, da Buddha seine Lehre entwickelt hat, nachdem ihm bewusst geworden
war, welches Hindernis Alter, Krankheit und Tod darstellen (348 -349).
Spätestens seit 2013 ist der weltweite Meinungsumschwung erreicht, und Hubczejak
findet keinen Widerspruch mehr mit seinem berühmten Slogan: „DIE WANDLUNG
FINDET NICHT IM GEIST STATT, SONDERN IN DEN GENEN“ (355). Die
Menschheit kann sich sechzig Jahre nach den ersten Schritten eines Menschen auf
dem Mond eines größeren, tatsächlich metaphysischen Entwicklungsschritts rühmen,
nämlich die erste Spezies der bekannten Welt zu sein, die die Bedingungen
geschaffen hat, sich selbst zu ersetzen (356).
Die von Michel Djerzinski erdachte, von seinen Nachfolgern propagierte, von der
Weltregierung vollzogene und von dem universellen Glauben an den Neuen Bund
(351) getragene Wandlung ist nicht die Konversion eines Menschen. Der Konvertit ist
die Menschheit; sie hat durch die vollkommene Replikation und mithin die
Ausschaltung des Todes die Spirale des mimetischen Begehrens endgültig außer
Kraft gesetzt. Die Akte des Zeugens und Gebärens sind nicht mehr die ebenso
lebensnotwendigen wie ohnmächtigen Gesten eines Aufbegehrens gegen den Tod,
sie sind nicht mehr der verzweifelte menschliche Triumph des ekstatischen
Augenblicks. Die ökonomischen, künstlerischen, philosophischen Anstrengungen
sind nicht mehr als Bemühungen um eine Garantie von Unsterblichkeit zu verstehen;
es gibt keine Notwendigkeit mehr, das Überleben zu sichern beziehungsweise ein
materielles oder ideelles Gut auf Dauer zu stellen und in Konkurrenz zu Dritten in
seinen Besitz zu bringen. Ehe und Familie, Verwandtschaft, Erbschaft und
Generationenverträge in jeglicher Hinsicht sind auf einmal Begriffe ohne Inhalt. Die
Wissenschaft und die Kunst bestehen zwar weiter, aber die Suche nach dem Wahren
und Schönen besitzt, da sie nicht mehr so stark durch den Stachel der individuellen
Eitelkeit angespornt wird, einen weniger dringlichen Charakter (356). Wenn alle
Individuen denselben genetischen Code besitzen, bedeutet dies nicht das Ende der
menschlichen Persönlichkeit; vielmehr verschwindet mit der genetischen
Individualität, auf die wir aufgrund eines tragischen Irrtums so lächerlich stolz waren,
die Quelle fast aller unserer Leiden (353), und die Menschen sind verbunden in einer
281
neuen Brüderlichkeit, die […] das wichtigste Element für die Wiedererstellung einer
ausgesöhnten Menschheit (353) ist.
Da die Wandlung nicht im Geist stattfindet, also weder in der asketischen
Abwendung von der Welt der Illusionen noch im heldenhaften Hinschlachten eines
Opfers beziehungsweise im gewollten katastrophischen Untergang des Täters mit
seinem Opfer, ist die Elementarteilchen-Konklusion mit der Dichotomie der
romanesken Konversion und der mythischen violence-et-sacré-Lösung nicht mit
hinreichender Genauigkeit zu erfassen. Diese Konklusion ist auch deswegen nicht
ausschließlich nach den Girardschen Kategorien von romanesk oder mythisch zu
deuten, weil sie sich nicht auf Entscheidungen und Willensakte zurückführen lässt,
sondern als Mutation eine evolutionäre Verlaufsform aufweist, in der die Position der
Akteure und der Betroffenen sich nicht eindeutig bestimmen lässt. Wenn sich
dennoch in der genetischen Wandlung, die sich als Eingang in ein Paradies (356)
versteht und daher nicht mehr dem mythischen Wiederholungszwang verpflichtet ist,
opferlogische Elemente finden lassen, kann dies nur dahingehend gedeutet werden,
dass das in dieser Wandlung gebrachte Opfer ein allerletztes Opfer ist, welches nicht
mehr real oder rituell erneuert werden muss. Damit erhält diese Wandlung das
Gewicht einer Zeitenwende und bestätigt den – in theologischer Diktion:
soteriologischen - Anspruch, eine metaphysische Revolution zu sein, nach welcher
nichts mehr so ist wie vorher.
Nach einem Zitat von Auguste Comte aus dem Aufruf an die Konservativen werden
die Zeitgenossen einer Epoche, in der sich grundlegende Veränderungen vollziehen,
als geopferte Generationen 716 (175) bezeichnet. Und in den letzten Zeilen des
Epilogs, in dem ein Erzähler zweiten Grades – aus der Distanz der siebziger Jahre
des 21. Jahrhunderts - die im Buch erzählte Geschichte reflektiert, kommt
unmissverständlich zum Ausdruck, dass Elementarteilchen eine Opfergeschichte ist,
die eindeutig den Standpunkt des dargebrachten Opfers teilt, welches zwar nicht
sakralisiert wird, für das man aber dieser geopferten Generation zu Dankbarkeit
verpflichtet ist. Der Nachredner blickt anerkennend zurück auf jene leidgeprüfte,
mutige Spezies, die uns geschaffen hat, […]. Jene gequälte, widersprüchliche,
individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal
zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und
an die Liebe zu glauben. Und auch jene Spezies, die es zum erstenmal in der
Geschichte der Welt verstanden hat, die Möglichkeit ihres eigenen Überwindens 717
zu erwägen; und die es einige Jahre später verstanden hat, dieses Überwinden in die
Tat umzusetzen (357).
Die Wandlung ist ein Opfer ohne kollektive oder individuelle Gewaltanwendung, ohne
Schuldspruch,
ohne
Selbstanklage
eines
Sündenbocks
und
ohne
Rechtfertigungsdruck eines Opferherrn; sie gleicht einem schmerzfreien, gleitenden
Absterben ohne agonistisches Aufbäumen. Mensch-Sein nach der alten Ordnung ist
überholt, hat sich überlebt. Schon ein halbes Jahrhundert nach Michels Entdeckung
der vollkommenen Replikation gibt es nur noch wenige kulturelle Enklaven, in denen
sich traditionelle religiöse Vorstellungen erhalten haben und die Menschen sich noch
geschlechtlich fortpflanzen. Aber auch dort ist der in Elementarteilchen erzählte
Prozess der Auflösung der alten Ordnung nicht aufzuhalten: Ihre Fortpflanzungsrate
verringert sich jedoch von Jahr zu Jahr, und ihr Aussterben scheint heute
716
717
générations sacrifiées (193)
dépassement (394)
282
unabwendbar zu sein. Entgegen allen pessimistischen Voraussagen vollzieht sich
dieses Aussterben bis auf einzelne gewalttätige Handlungen, deren Zahl Immer mehr
abnimmt, sehr friedlich. Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher
Ruhe, welcher Resignation und vielleicht sogar insgeheimer Erleichterung die
Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben (356).
In dem nun erreichten Stadium der emotionalen Unbegrenztheit ist die Schwelle
überschritten, die aus dem materialistischen Zeitalter herausführt. Und die
Entfernung ist bereits so groß, dass man sich die Geschichte dieser Ära erzählen
kann, ohne dass die Zuhörer davon emotional berührt werden. Wenn darin von
Sünde und Gnade die Rede ist, von Begierden und Zugehörigkeit, von Freuden und
Leid, lässt das die Menschen der neuen Ordnung gleichgültig, für sie ist die alte
Ordnung eine schon unvorstellbar gewordene Welt des Todes (335).
Die Girardsche Leitunterscheidung zwischen einer Erzählung, die als mensonge
romantique das mimetische Begehren lediglich reflektiert, und einer solchen, die,
erleuchtet von einer vérité romanesque, dieses Begehren durchschaut und sowohl
seinen Gewaltkern als auch seine soziale Brisanz enthüllt, ist angesichts der
konversiven Konklusion durchaus zu Gunsten der letzteren zu treffen. In der
Perspektive diese Konklusion sind dann alle Personen der Erzählung als Akteure zu
betrachten, deren Reden, Handeln und Nachdenken als Beitrag zu dieser Lösung zu
begreifen ist. Sie wären dann alle, da sie – und Michel machte da keine Ausnahme –
aus den Jahrhunderten des Schmerzes (335) stammen, Vertreter der geopferten
Generation, deren Opfer in den unterschiedlichsten Rollen das Lösegeld für die neue
Zivilisation ist. Sie wären dann als Märtyrer zu ehren, die, ohne es zu wissen, einer
guten Sache gedient haben. Als Märtyrer allerdings, denen jede Vorbildfunktion für
die jetzt Lebenden abgeht, die von sich sagen: …wir haben das Recht, unser Leben
zu führen (335). Sie verlieren ihre Vorbildfunktion, weil mit diesen Personen der alten
menschlichen Geschichte auch das Zeitalter jeglicher Mimesis zu Ende gegangen ist
und für die vergangenen Helden im ‚Neuen Bund’ kein Platz mehr ist, wo es nichts zu
verteidigen und nichts zu erstreben gilt, weil es aufgrund der genetischen
Brüderlichkeit niemanden gibt, der einem das eine oder das andere streitig machen
könnte. Nach der letzten Wandlung, in der mit Hilfe der Wissenschaft die göttliche
Imitation erreicht wurde, ist das mimetische Begehren mit dem friedlichen Untergang
der alten Welt sanft eingeschlafen. Das theatre of envy ist versiegelt, die trianguläre
Provokation verstummt, weder in der Ferne noch in der Nähe ein Vermittler in Sicht.
Nicht einmal mehr ein Denkmal oder ein Grab zeugt von dem letzten Akt der
Schöpfung, weil keinerlei Gewalt im Spiel war, die eine sakrale Verhüllung und
divinisierende Umwertung hätte erforderlich machen können. Die soziodramatisch
strukturierte erzählerische Sequenz ist über das präliminare verlorene Reich (13 –
104) und die mimetische Kampfzone der seltsamen Augenblicke (107 – 298) zur
para-viktimären Konklusion der emotionalen Unbegrenztheit (301 – 344) mit ihrer
universalen Konversion gelangt und ist einer – auch von den Riten
nachgezeichneten - Trajektorie gefolgt, deren Startpunkt eine bereits mit den Keimen
ihrer Zersetzung infizierte Ordnung war, an deren kritischem Scheitelpunkt die
latenten suizidalen Risiken freigelegt wurden und an deren Endpunkt eine neue
Ordnung, eine neue Basis der sozialen Synthese gewonnen wurde. Da die neue
Elementarteilchen- Ordnung den anthropologischen Umbau vollendet und die
Mimesis als Ur-Sache alles Menschlichen für immer ausgeschaltet hat, spricht nichts
dagegen, dass diese Ordnung sich als historisch haltbar erweist. Sie erfüllt in ihrer
Perfektion die optimistischen Visionen eines Gabriel Tarde am Ende des 19.
283
Jahrhunderts, dessen durch den technischen Fortschritt erlöste Republik die Solidität
eines traité de paix final besitzt und alle Widersprüche in einem simple et puissant
unisson auflöst.
René Girard, davon kann mit Sicherheit ausgegangen werden, würde einen solchen,
sich auf die technische Konversion stützenden Optimismus nicht teilen.
3. Der Himmelblaue Speck von Vladimir Sorokin (1999)
Der Handlungsrahmen
Über Sydney gelangt der Biophilologe Boris Gloger zu einer von der ostsibirischen
Stadt Ačinsk sechs Propellerschlitten-Stunden entfernten, ehemaligen sowjetischen
Raketenstation, in deren Bunker das GENLAB-18 untergebracht ist, wo Experimente
zur Züchtung von Menschen aus der in ihrem Knochenmaterial gespeicherten
Information gemacht (215 – 216) werden. Das auf sieben Monate veranschlagte
Projekt steht unter militärischer Leitung, wobei der sonstige militärische Einsatz, das
Nashorn anzumalen (30) jenseits eines jeden nur dankbaren Kampfeinsatzes
angesiedelt ist. Ein Oberst ist verantwortlich für das Team, dem neben 32
Bediensteten, den Weiß-Buttons, drei
Leutnants als Maschinenführer, vier
Genetiker, darunter ein Deutscher und ein Chinese, zwei Mediziner, ein
Thermodynamiker und Boris als Logostimulator angehören. Boris schreibt dort
vierzehn Briefe an seinen Geliebten, den Herrn F., den er seit drei Jahren kennt und
der in Sankt Petersburg tätig ist. Dort arbeitet dieser in der GERO-Kunst, die sich mit
der Herstellung von Vibropräparaten mit reaktiver Wirkung (438) befasst. In der
ebenfalls dort ansässigen Gen-Kunst werden die so genannten Erregen-Objekte
hergestellt, die für biophilologische Experimente benötigt werden. Boris Glogers
schwuler Freund ist von der chinesichen Filmschauspielerin Fei Tan fasziniert ist,
deren Filme ihn immer wieder im Sensor-Kino in höchste Erregung versetzen. Der
Roman beginnt mit dem ersten, am 2. Januar 2068 aus Jakutien datierten Brief: Grüß
Dich, mon petit (7); er endet mit eben diesem Brief, den der GERO-Künstler per
Brieftaube erhält und gelangweilt wegwirft, bevor er sich im Beisein des auf Zeitreise
befindlichen Stalin von seinem Spiegelbild bestätigen lässt, dass er dank des aus
himmelblauem Speck gemachten Umhangs diesem Filmstar wie ein Ei dem anderen
(434) ähnlich sieht.
In den vierzehn Briefen, deren letzter auf den 8. April datiert ist, wird von den
biophilologischen Versuchen berichtet, in denen es darum geht, aus sieben
literarischen Objekten, die in Biotreibhäusern einem Stimulator ausgesetzt werden,
eine möglichst große Menge an himmelblauem Speck zu gewinnen; von diesem
verspricht man sich die Lösung der letzten energetischen und damit politischen
Probleme des 21. Jahrhunderts: … sie bauen einen Reaktor auf dem Mond, einen
Reaktor für konstante Energie […] und damit kann man das Problem der ewigen
Energie lösen (163 – 164). Der technologische Vorsprung Europas und Amerikas
gegenüber China ist geschrumpft, die globale Massenkultur, von der High-TechProduktion über die Gastronomie und Musik bis zur Filmindustrie – die
284
Vorrangstellung chinesischer Blockbuster (12) ist unbetreitbar -, steht eindeutig unter
chinesischer Dominanz. Die Einheitswährung ist der Neue Yuan (17). Daher ist dem
Buch ein chinesisches Glossar (435 – 437) mit einzelnen Vokabeln und
Redewendungen beigegeben, damit der Leser nachschlagen und erfahren kann,
dass etwa die primäre Kontaktformel nin hao für grüß dich, hallo, guten Tag steht. In
einem Anhang für Fachausdrücke (437 – 439) wird ‚erklärt’, dass ADAR ein
Anhänger der bioenergetischen Unabhängigkeit Kolcovs ist und Rapid ein Mensch
mit Veranlagung zum Multisex. Die Welt wird so sehr aus chinesischer Sicht
betrachtet, dass der Fremdling, Außenseiter, auch Ausländer mit lao wai bezeichnet
wird, die lange Zeit kursierende internationale Konversationsmünze O. K. nun chang
tai (35) heißt und die Krankheiten mit tibetischen Ausdrücken bezeichnet werden.
Nur wenige wissen noch, dass der international geläufige Kraft- und Fluchausdruck
rips erst nach der Atomkatastrophe von Oklahoma im Jahre 2028 in der
euroasiatischen Umgangssprache heimisch geworden ist, wo ein Sergeant der USMarineinfanterie namens Jonathan Rips freiwillig in der strahlenverseuchten Zone
blieb und über sein fünfundzwanzigtägiges Sterben eine detaillierte Radioreportage
gab (439). Da jedoch das Glossar nicht erschöpfend ist, werden beim Leser
entweder basale Chinesisch-Kenntnisse vorausgesetzt oder die Bereitschaft, sich in
situativer Deutung auf eigene, kontextuelle Übersetzungs-Entwürfe einzulassen.
Die sieben Experimente werden protokolliert und liefern sieben Skripts, in denen
jeweils eine Geschichte nach Art der jeweiligen Objekte erzählt wird, die mit
Dostoevskij-2, Achmatova-2, Platonov-3, Čechov-3, Nabokov-7, Pasternak-1 und
Tolstoj-4 bezeichnet werden. Man hat zufällig entdeckt, dass sogenannte Skriptoren,
also Leute, die ihre Phantasie auf Papier schreiben (163), einen solchen Stoff
produzieren und somit der wissenschaftlichen Avantgarde auf dem Gebiet der
Innovation überlegen sind. Mit den sieben Texten sind nicht nur die jeweiligen
gesellschaftlichen und ideologischen Entstehungsbedingungen innerhalb des
Kanons der russichen Erzähltradition gemeint; jeder dieser Texte kann als eine
eigene erzähltheoretische Etüde und damit auch als eine spezifische
soziodramatische Sequenz gedeutet werden, mithin und in Girardscher Lesart als ein
an den Autor gebundener Entwurf zur Inszenierung der mimetischer Krise und ihrer
Konklusion. Die Serie der typischen Erzähl-Sequenzen, die auch recht
unterschiedlich sind in Bezug auf die biophilologische Speckproduktion, wird jäh
unterbrochen. Das GENLAB wird von einem feindlichen Kommando unter Führung
eines Ivan überfallen, die Besatzung umgebracht und der erbeutete himmelblaue
Speck in das in einem ehemaligen Bergwerk untergebrachte Laboratorium einer
ordensähnlichen Gemeinschaft geschafft, deren Kult der Feuchten Mutter Erde (167)
gilt, von der 12.690.505 Proben russi

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