Suizidbeihilfe – eine ärztliche Tätigkeit?
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Suizidbeihilfe – eine ärztliche Tätigkeit?
Aus dem Institut für Medizingeschichte Universität Bern Direktor: Prof. Dr. med. Urs Boschung Arbeit unter der Leitung von Prof. Dr. med. Urs Boschung Suizidbeihilfe – eine ärztliche Tätigkeit? Die Diskussion in der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1995-2004 Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Humanmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Bern vorgelegt von Haller Eleonore Hedi Ruth von Beinwil am See, Aargau 10.01.2011 Originaldokument gespeichert auf dem Webserver der Universitätsbibliothek Bern Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung 2.5 Schweiz Lizenzvertrag lizenziert. 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Die Diskussion in der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1995-2004 I II III ZUSAMMENFASSUNG ABBILDUNGSVERZEICHNIS ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 6 8 8 DIE ÄRZTLICHE HALTUNG IN BEZUG AUF DIE BEIHILFE ZUM SUIZID 9 1 EINFÜHRUNG 9 1.1 FRAGESTELLUNG UND ZIELSETZUNG DIESER ARBEIT 1.2 QUELLEN UND METHODEN 11 12 2 GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK DER EUTHANASIE UND STERBEHILFE 13 2.1 „EUTHANASIE“ UND VERWANDTE THEMEN IN DER ANTIKE (GRIECHENLAND UND ROM) 13 2.2 BEITRÄGE ZUM THEMA „EUTHANASIE“ UND STERBEHILFE VOM 16. JAHRHUNDERT BIS ZUR ERSTEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS. 20 2.3 DER DISKURS ÜBER DIE „AUSSCHEIDUNG DER SCHWACHEN“ IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS 28 2.4 TÖTUNG AUF VERLANGEN, STERBEHILFE SOWIE DIE ANFÄNGE DER DISKUSSION ZUR „VERNICHTUNG LEBENSUNWERTEN LEBENS“ IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM (CA. 18951933) 32 2.5 ZUR DISKUSSION UM „EUTHANASIE“ UND STERBEHILFE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM (1945 BIS CA. 1980) 38 3 DIE SUIZIDBEIHILFE – EINE ÄRZTLICHE TÄTIGKEIT? DIE DISKUSSION DER SCHWEIZERISCHEN AKADEMIE DER MEDIZINISCHEN WISSENSCHAFTEN VON 1995-2004 3.1 WER IST DIE SAMW UND WAS TUT SIE? 3.2 DIE AKTUELLE SITUATION DER SUIZIDBEIHILFE IN DER SCHWEIZ (NOVEMBER 2010) 3.3 GRUNDGEDANKEN ZUR DISKUSSION IN DER SCHWEIZ FÜR DIE ÜBERARBEITUNG DER STERBEHILFERICHTLINIE DER SAMW VON 1995 3.4 DIE ÄRZTLICHEN AUFGABEN 3.5 POLITISCHE VORSTÖSSE ZUM THEMA DER STERBEHILFE 3.6 DER NEUE RICHTLINIENENTWURF 3.7 PARALLELEN MIT DER RICHTLINIE „BEHANDLUNG UND BETREUUNG VON ÄLTEREN, PFLEGEBEDÜRFTIGEN MENSCHEN“ 3.8 AUSGEWÄHLTE PUBLIKATIONEN ALS WEITERE DISKUSSIONSGRUNDLAGE 3.9 KLÄRUNG DER VERWENDETEN BEGRIFFLICHKEITEN 3.10 PSYCHIATRISCHE ERKRANKUNG UND SUIZIDWUNSCH 3.11 DIE RECHTSLAGE IN DER SCHWEIZ 3.12 DER VERNEHMLASSUNGSTEXT 3.13 DIE VERNEHMLASSUNGSPHASE 3.14 DIE WEITERE ÜBERARBEITUNG BIS ZUR DEFINITIVEN RICHTLINIE 3.15 PERSONELLE INFORMATIONEN ZU DER RICHTLINIE 42 42 47 49 50 51 55 63 66 68 68 70 84 91 96 98 4 4 DIE DISKUSSION IN DER SCHWEIZ NACH 2004 100 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 100 102 103 113 116 DIE NATIONALE ETHIKKOMMISSION NIMMT STELLUNG ERFAHRUNGEN IM UNIVERSITÄTSSPITAL LAUSANNE MIT DER SUIZIDBEGLEITUNG WEITERE VORSTÖSSE AUF POLITISCHER EBENE WIE DENKT DIE BEVÖLKERUNG ÜBER SUIZIDBEIHILFE? DIE ÄRZTLICHE HALTUNG GEGENÜBER DER STERBEHILFE 5 FAZIT UND PERSÖNLICHE STELLUNGNAHME 119 6 ANHANG 122 6.1 6.2 6.3 6.4 DAS ETHISCHE DILEMMA DER SUIZIDBEIHILFE 122 DER SOGENANNTE „HIPPOKRATISCHE EID“ 124 GESETZESTEXTE 125 ENDFASSUNG DER SAMW-RICHTLINIE „BETREUUNG VON PATIENTINNEN UND PATIENTEN AM LEBENSENDE“ VON 2004 126 6.5 RECHTLICHE LAGE DER STERBEHILFE IN DEN EUROPÄISCHEN LÄNDERN 136 6.6 EMPFEHLUNGEN ZUM THEMA SUIZIDBEIHILFE (NEK) 138 6.7 SORGFALTSKRITERIEN IM UMGANG MIT SUIZIDBEIHILFE 145 7 LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS 151 5 I Zusammenfassung Die Suizidbeihilfe ist seit den 1980er Jahren in der Schweiz ein rege und kontrovers diskutiertes Thema. Dies jedoch ist keineswegs neu und in der Literatur bis in die Antike zurückzuverfolgen. Die Ärzteschaft hielt sich lange aus dieser Thematik heraus, da ihr grundlegendes Prinzip jenes der Lebenserhaltung „um jeden Preis“ war. Mit einer zunehmenden Gewichtung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten wurden vermehrt Rufe nach einer ärztlich assistierten Suizidhilfe in bestimmten Notsituationen laut. Mit der liberalen Gesetzgebung in der Schweiz ist es zudem jeder natürlichen Person erlaubt, im Falle von nicht-selbstsüchtigen Beweggründen Suizidbeihilfe zu leisten. Der Arzt gerät hiermit in ein Spannungsfeld zwischen Berufsethos und rechtlicher Situation als Privatperson. Wie kann dieser Widerspruch aufgelöst werden? Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ging dieser Problematik in ihren Diskussionen zur Überarbeitung der Richtlinie von „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ nach, welche 2004 vom Senat genehmigt wurde. Argumente der Befürworter wie der Gegner einer Liberalisierung der Suizidbeihilfe wurden in diese Diskussion miteinbezogen. Gesucht wurde nach einer Lösung, welche die moralischen Grundwerte sowie die gegebenen rechtlichen Bedingungen für die Ärzteschaft integriert. Gefunden wurde diese Lösung, indem die Suizidbeihilfe grundsätzlich als nicht-ärztliche Tätigkeit eingestuft wurde, jedoch im Rahmen einer Gewissensentscheidung jedes einzelnen Arztes in Einzelfällen ein ärztlich assistierter Suizid vertretbar sein kann. Diese Kompromissfindung löste im Verlauf weitere Debatten aus, wobei nach 2004 vor allem die Frage um den „Sterbetourismus“ in den Blickpunkt rückte und zahlreiche politische Vorstösse provozierte. Der Bundesrat nahm die Thematik auf und schickte Ende Oktober 2009 zwei Varianten des überarbeiteten Gesetzesartikels Art.115 StGB in die Vernehmlassung. Die erste Variante schlug eine Suizidbeihilfe-Regelung mit diversen Auflagen, die zweite ein Totalverbot derselben vor. Die Reaktionen blieben nicht aus. Während die zweite Variante mit deutlicher Mehrheit eine Ablehnung erfuhr, wurde die Stossrichtung der ersten begrüsst, jedoch teilweise stark kritisiert. Die SAMW sprach sich für eine Ablehnung beider Varianten aus, da die vorgegebenen Auflagen zu einer zunehmenden Medikalisierung und einer ungewollten Einbindung der Ärzteschaft in die Suizidbeihilfe auch bei nicht-terminal Kranken führen, ein Totalverbot jedoch nicht der aktuellen gesellschaftlichen Haltung und Akzeptanz entsprechen würde. Der Bundesrat hat nach Abschluss der Vernehmlassungsphase geäussert, einen abschliessenden Bericht bis Ende 2010 vorzulegen. Dieser Bericht dürfte mit Spannung erwartet werden. 6 Anhand der Protokolle der Subkommission „Sterbehilfe“ der SAMW, politischer Vorstösse und Studien zur Thematik der Suizidbeihilfe, zeigt diese Arbeit den Prozess auf, wie die Ärzteschaft sich in der Schweiz im Umfeld des politischen Kontextes (vorerst) positioniert. Zur Vervollständigung des Bildes erfolgt erst ein geschichtlicher Überblick zur Thematik der Beihilfe zum Suizid von der Antike bis ins 20. Jahrhundert und, im Anschluss an die Genehmigung der Richtlinie, der weitere Verlauf bis 2010. 7 II Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Organisation der SAMW Abbildung 2: Geltungsbereich der Richtlinie für Patienten am Lebensende Abbildung 3: Vergleich der Suizidstatistik der Schweiz von 2003 mit 2007 Abbildung 4: Übersicht der politischen Aktivitäten betreffend die Suizidbeihilfe, in chronologischer Reihenfolge, entsprechend der Zitierung in dieser Arbeit Abbildung 5: Das ethische Dilemma der Suizidbeihilfe Abbildung 6: Rechtliche Lage der Sterbehilfe in den europäischen Ländern III Abkürzungsverzeichnis BJ Bundesamt für Justiz EACME European Association of Centres of Medical Ethics EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement FAMH Foederatio Analyticorum Medicinalium Helveticorum (Schweizerischer Verband der Leiter Medizinisch-Analytischer Laboratorien) MD-Ph-D Dr. med. und Dr. phil. NEK Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NVAE Non-voluntary active euthanasia PEG Perkutane endoskopische Gastrostomie RRMA Recherche et réalisation en médecine appliquée SAMW Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SSMBS Schweizerische Stiftung für Medizinisch-Biologische Stipendien SSW Schwangerschaftswoche StGB Strafgesetzbuch VAE voluntary active euthanasia WHO World Health Organization ZEK Zentrale Ethikkommission 8 Die ärztliche Haltung in Bezug auf die Beihilfe zum Suizid 1 Einführung Zur geschichtlichen Entwicklung der „ärztlichen Haltung gegenüber der Beihilfe zum Suizid“ lohnt es sich, etwas weiter in der Geschichte zurückzublicken als nur in die 1980er Jahre, wo die Diskussion in der Schweiz in der breiten Öffentlichkeit aufkam. Verfolgt man die Debatten zurück, stellt man fest, dass das Gebiet „Sterben“ und Sterbehilfe stets ein kontrovers diskutiertes Thema war. Auffallend dabei ist, dass sich die Ärzteschaft aus der Diskussion bis auf wenige Ausnahmen lange fern hielt. Diskutiert wurde insbesondere unter Politikern und Juristen. In Büchern und Artikeln zur „Sterbehilfe“ wird explizit auf die Komplexität und die Brisanz der Thematik hingewiesen. Problematisch sind dabei bereits die im deutschen Sprachgebrauch häufig verwendeten Begrifflichkeiten wie „Euthanasie“ und eben „Sterbehilfe“. „Euthanatos“ stammt aus dem Griechischen und wurde in der Antike geprägt. Zum Begriff „Euthanasie“ können unter den Dichtern und Philosophen der Antike verschiedene, zum Teil nicht strikt voneinander abtrennbare Bedeutungsgeschichten gefunden werden1: 1. Der leichte Tod ohne vorhergehende Krankheit nach Kratinos (um 500- um 420 v.Chr.), Poseidippos (um 310- 240 v.Chr.) und Philo von Alexandria (um 20 v.Chr.um 50 n.Chr.) 2. Der schnelle Tod: leicht und schmerzlos, wie Kaiser Augustus laut Sueton (um 70um130/140 n.Chr.); durch Feindeshand, nach Josephus (37/38- ca. 100 n.Chr.) 3. Der rechtzeitige Tod im Sinne eines frühzeitigen Todes, eines Todes in der Jugend nach Menandros (342/342- um293/292 v. Chr., im Rahmen einer Komödie geäussert) 4. Der Tod im übervollen Lebensgenuss: ironisch in der Komödie „Der Fischer“, nach Menandros 5. Der würdige Tod „nach tugendhafter Art“, stoisches Idealkonzept des Todes eines Weisen; bzw. ein ehrenvoller Tod im Kampf bzw. bewaffneten Aufstand, nach Polybios (um 200- um 115 v.Chr.) Wörtlich übersetzt heisst es „guter Tod“. Dieser Begriff ist insofern ambivalent, als dass er sowohl das Eintreten wie auch das Herbeiführen des „guten Todes“ bezeichnet. Ein 1 Nach Benzenhöfer 2009, S. 18 9 vegleichbarer Denkansatz findet sich beim Begriff „Sterbehilfe“. Damit kann Hilfe beim Sterben oder Hilfe zum Sterben gemeint sein. Untersucht man den Stoff, der unter diesen beiden Stichworten behandelt wird, offenbart sich erneut die Breite des Problemfeldes. Es umfasst die Tötung Schwerkranker (aktive „Euthanasie“), über die Tötung behinderter oder schwerkranker Säuglinge („Früheuthanasie“), hin zu ärztlich assistiertem Suizid, Abbruch bzw. Nichtaufnahme einer lebensverlängernden Behandlung bei nichteinwilligungsfähigen Kranken bzw. Sterbenden („passive Sterbehilfe“), Beschleunigung des Todeseintritts als „unbeabsichtigter Nebeneffekt“ bei Schwerkranken durch die Gabe von schmerzlindernden oder beruhigenden Medikamenten („indirekte Sterbehilfe“) bis hin zur Sterbehilfe im Sinne der eigentlichen Palliativmedizin. 10 1.1 Fragestellung und Zielsetzung dieser Arbeit Um dieses in der Einführung beschriebene, weit reichende Gebiet einzugrenzen, beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die ärztliche Haltung in der Schweiz gegenüber der Beihilfe zum Suizid. Zentrales Anliegen dieses Berichtes ist es, den Prozess aufzuzeigen, der zu dem 3. Kapitel „Grenzen des ärztlichen Handelns“ der Richtlinien „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) geführt hat. Die Rückverfolgung dieses Prozesses stützt sich auf die Protokolle und den Emailverkehr der Subkommissionsmitglieder „Sterbehilfe“, welche zwischen 2001 und 2004 verfasst wurden und das Ziel hatten, die bestehende „Medizinisch-ethische Richtlinie für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten2“ von 1995 zu überarbeiten. Weitere Richtlinien, die die Thematik „Euthanasie“ und „Sterbehilfe“ genauso beinhalten, wie zum Beispiel „Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten“ (2003), „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“ (2004), „Grenzfragen der Intensivmedizin“ (1999), „Empfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit (22-26 SSW)“ sowie „Palliative Care“ (2006) werden in dieser Arbeit nicht behandelt, teilweise jedoch zur Verdeutlichung der Situation zugezogen. Die Entstehungszeit der Richtlinie macht deutlich, dass die Thematik der Sterbehilfe omnipräsent und kontrovers ist und sich bei den heutigen technischen Möglichkeiten mehr denn je die Frage nach den Grenzen des ärztlichen Handelns und damit auch des Lebens stellt. Eine Richtlinie hilft – wie der Name impliziert – eine Richtung aufzuzeigen. Die Diskussion, welche die dieser Arbeit zugrunde liegenden Richtlinie angeregt hat, wird vermutlich weitergeführt solange es die Menschheit gibt. Auf die politische Situation nach Publikation der Richtlinie 2004 wird daher ebenfalls kurz eingegangen. Vergleiche mit anderen westlichen Ländern erfolgen nur insofern, als dass sie Einfluss auf die Diskussion der Subkommissionsmitglieder genommen haben. Ein Parallelvergleich der Gegebenheiten vergleichbarer westlicher/ europäischer Länder wäre durchaus wünschenswert, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb darauf verzichtet wurde. Im Anhang findet sich hierzu jedoch einen tabellarischen Überblick, über die aktuellen gesetzlichen Grundlagen in den anderen europäischen Ländern. 2 Es gilt grundsätzlich für alle Funktionen natürlicher Personen die absolute Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der besseren Lesbarkeit halber wird jedoch nur die männliche Form verwendet. 11 1.2 Quellen und Methoden Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil (Kapitel 2) wird ein Überblick über „Euthanasie“ und Sterbehilfe gegeben, welcher sich am Buch „Der gute Tod?“ von Benzenhöfer anlehnt. Der Fokus liegt dabei vor allem auf ärztlichen Bezeugnissen und Haltungen zur Thematik, kann jedoch, um den Entwicklungsprozess aufzuzeigen, nicht allein darauf beschränkt werden. Im zweiten und zentralen Teil (Kapitel 3) wird die SAMW als Institution kurz vorgestellt und schliesslich der Prozess beleuchtet, welcher zum Punkt 4.1 „Beihilfe zum Suizid“ der Richtlinie „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ geführt hat. Hierzu diente ein intensives Aktenstudium der im Zeitraum von rund 3 Jahren erstellten Protokolle der Subkommission „Sterbehilfe“, welche eindrücklich die Brisanz der Thematik aufzeigen. Gegner wie Befürworter der Sterbehilfe hatten Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Der gefundene Konsens bemüht sich, dem gesetzlichen Rahmen, der zusehends stärker gewichteten Patientenautonomie und dem ärztlichen Ethos Rechnung zu tragen. In Anbetracht der Komplexität der Thematik verwundert es nicht, dass die Richtlinien schliesslich nicht nur Beifall ernteten. Um die Diskussion in den gesellschaftlichen Kontext einzuordnen, wurde eine Auswahl zeitlich passender Artikel und Studien aus den Printmedien und dem Internet zugezogen. Die Fülle an Artikeln erforderte eine strenge Auswahl. Eingang fanden die Berichte, welche die Subkommission „Sterbehilfe“ selbst ihrer Diskussion zugrunde legten. Ergänzt wurden diese mit zusätzlichen Dokumenten, ebenfalls von Befürwortern und Gegnern der „Sterbehilfe“, welche mit ihren Argumenten die eine oder andere Position (in der Regel emotionsgeladen) verdeutlichten. Im dritten Teil (Kapitel 4) wird die Zeit nach Genehmigung der definitiven Fassung der Richtlinie, also ab November 2004 bis heute (Dezember 2010) umrissen, wobei vor allem die politischen Aktivitäten ins Zentrum gestellt werden. Im Rahmen der Diskussion der Thematik in der Schweizerischen Ärztezeitung kann ein gewisser Konsens oder zumindest die Tendenz zu einer Mehrheitsmeinung beobachtet werden. Den Abschluss (Kapitel 5) bildet eine kurze persönliche Stellungnahme, worin ich die im Rahmen der Dissertation erworbenen Kenntnisse für meine eigene Meinungsbildung und ärztliche Haltung in dieser heiklen und schwierigen Frage synthetisiere. 12 2 Geschichtlicher Überblick der Euthanasie und Sterbehilfe In diesem Kapitel wird ein geschichtlicher Überblick über die Euthanasie und Sterbehilfe von der Antike bis zur heutigen Zeit aufgezeigt. Der Überblick orientiert sich am Buch „Der gute Tod?“ von Udo Benzenhöfer 2009 und beschränkt sich – zur Einschränkung der sehr weiten Thematik – hauptsächlich auf mündige Erwachsene. Sämtliche Zitate stammen aus Benzenhöfer. 2.1 „Euthanasie“ und verwandte Themen in der Antike (Griechenland und Rom) Primär ist festzuhalten, dass in der Antike für Ärzte keine Behandlungspflicht existierte und die Ärzteschaft an sich auch keiner staatlichen Lizenzierung oder Kontrolle unterstand. Ein Arzt war in seiner Entscheidung, eine Behandlung durchzuführen oder nicht, nur sich selbst und seinem Patienten bzw. dessen Angehörigen verpflichtet. Dies führte dazu, dass unheilbar Kranke „aufgegeben“ werden konnten. Wie häufig dies geschah, ist nicht bekannt. Es gibt Hinweise, dass es vorkam, dass Ärzte Kranke auf Verlangen töteten bzw. Beihilfe zum Suizid leisteten. Allein die Überlieferung des „hippokratischen Eids“ (siehe unten) legt nahe, dass es entsprechende Anfragen an Ärzte tatsächlich gab. Aber auch hier fehlen verlässliche Berichte, inwiefern Ärzte solche Handlungen durchführten. Aus juristischer Sicht ist festzuhalten, dass es einen Tatbestand „Euthanasie“ bzw. „Sterbehilfe“ im antiken Recht nicht gab. Wichtig für die weiteren ethischen Überlegung bezüglich „Euthanasie“ und Sterbehilfe waren philosophische Denker wie Platon (428/27-348/47 v. Chr.) und Sokrates (469-399 v. Chr.), welche die Seele des Menschen für unsterblich und von den Göttern gegeben hielten. Dennoch gelang es ihnen nicht, eine eindeutige Haltung gegenüber der Selbsttötung zu vertreten, obwohl sie sich an dieser Thematik versuchten (z.B. Bestrafung durch die Götter bei Selbsttötung Selbsttötung erlaubt, wenn Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verfügt hat). Klar gegen die Selbsttötung sprach sich Aristoteles (384-322 v. Chr.) aus: „Wer sich nun im Zorn selbst umbringt, tut freiwillig gegen die rechte Einsicht, was das Gesetz nicht gestattet. Er begeht also ein Unrecht […]. Darum straft ihn auch der 13 Staat, und es hängt über dem, der sich selbst tötet, eine Ehrlosigkeit als auf einem Menschen, der sich gegen den Staat vergangen hat.“ 3 Im Weiteren schliesst Aristoteles nicht nur Affekt, sondern auch Krankheit explizit als ethisch akzeptabler Grund für die Selbsttötung aus und begründet dies folgendermassen: „Wie gesagt also, ist die Tapferkeit eine Mitte im Bezug auf Zuversicht und Furcht in den genannten Bereichen; sie entscheidet sich und harrt aus, weil es edel ist oder weil das Gegenteil schimpflich ist. Dagegen zu sterben, um der Armut oder einer Liebe oder irgendeinem Schmerze zu entgehen, zeigt nicht Tapferkeit, sonder eher Feigheit.“4 Wegweisend und zentral in der griechischen Medizin war das „Corpus Hippocraticum“, eine „Sammlung“ von ca. 60 Schriften aus allen Bereichen der Medizin, die dem damals legendären Arzt Hippokrates (460/459-399/370 v. Chr.) zugeschrieben wurden, in der mit grosser Wahrscheinlichkeit aber nur die wenigsten Texte wirklich von ihm selbst verfasst sind. In diesem Werk gibt es nur wenige Textstellen, die zur Frage der Behandlung bzw. Nichtbehandlung unheilbar Kranker Stellung nehmen. So findet sich in der Schrift „Über die ärztliche Kunst“ („De arte“) von einem unbekannten Autor, der selbst wohl kein Arzt war, folgenden Passus: „Es gibt aber auch Leute, die wegen der Ärzte, die Patienten mit zu weit fortgeschrittenen Krankheiten nicht behandeln wollen, die Heilkunst schelten […]. “5 Es ist daher anzunehmen, dass gewisse Ärzte im antiken Griechenland Patienten nicht behandelten, bei denen keine Heilungsaussicht mehr bestand. In der gleichen Schrift wurde diese therapieabstinente Haltung so begründet, dass man nicht von der „Kunst“ verlangen dürfe, was sie nicht leisten könne. Gleichzeitig ist festzustellen, dass es Menschen gab, die die Ärzte deswegen tadelten. Die Aufgabe der Heilkunst wurde folgendermassen definiert: „Die Kranken gänzlich von ihrem Leiden befreien, die Heftigkeit der Krankheiten abstumpfen und bewusst keine Behandlung versuchen bei denen, die von der Krankheit überwältigt sind.“6 3 Aristoteles, Nikomachische Ethik, [1986] Aristoteles, Nikomachische Ethik, [1986] 5 Hippokrates [1962], S. 192, unbekannter Autor, ca. 400 v. Chr. 6 Hippokrates [1962], S.190, „Über die ärztliche Kunst“ 4 14 Die hier angebrachten epistemologischen Gründe relativieren sich an mehreren anderen Stellen im „Corpus Hippocraticum“, wo dem Arzt aus Rücksicht auf seine Reputation, die Schaden nehmen könnte, von der Behandlung Schwerkranker abgeraten wird. Exemplarisch angeführt sei hier ein Ausschnitt aus der Schrift „Über die Brüche“ („De fracturis“) eines chirurgisch tätigen Arztes: „Der Behandlung derartiger Fälle [komplizierte Arm- bzw. Beinbrüche] muss man sich so gut wie möglich zu entziehen suchen, falls man eine gute Ausflucht hat; denn der Hoffnungen sind da nur wenige, der Gefahren aber viele; und wenn man die Einrichtung nicht vornimmt, wird man den Anschein erwecken, als verstünde man nichts von der Kunst, während man andererseits, wenn man die Einrichtung vornimmt, den Patienten eher dem Tode als der Heilung entgegenführt.“7 Hingegen gibt es im „Corpus Hippocraticum“ auch zahlreiche Hinweise, dass antike Ärzte unheilbar Kranke behandelten. Vermutet wird hierbei häufig eine Ehr- bzw. Ruhmsucht des Arztes (höheres Ansehen durch Heilung eines „unheilbar Kranken“), aber auch der Wunsch nach vertieften, verbesserten Kenntnissen („Nil nocere“). So wird in der Schrift „Über die Krankheiten“ („De morbis“) angeführt: „Fachgerecht ist es, bei der Behandlung diejenigen Krankheiten, die heilbar sind, bis zur Heilung zu behandeln, von den unheilbaren aber zu wissen, warum sie unheilbar sind, und bei der Behandlung der Patienten, die an derartigen Krankheiten leiden, zu nützen, indem man die Behandlung nach der Heilbarkeit ausrichtet.“8 Ein wichtiger Text in der Diskussion um die „Euthanasie“ ist der „Hippokratische Eid“, der vermutlich im 4. Jahrhundert v. Chr. abgefasst worden ist und mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht von Hippokrates selbst stammt. Wer diesen Eid verfasst hat, ist bis heute nicht geklärt. Interessanterweise wird der Eid an keiner Stelle im „Corpus Hippocraticum“ erwähnt. Mit dem Eid verpflichtete sich der „Schüler der medizinischen Kunst“, sich als Familienmitglied in die Sippe seines Lehrers einzugeben und seinen Lehrvertrag einzuhalten. Im Folgenden einige Ausschnitte aus dem Eid: „Ich will diätetische Massnahmen zum Vorteil des Kranken anwenden nach meinem Können und Urteil; ich will sie vor Schaden und Unrecht bewahren. Ich will weder irgend jemandem ein tödliches Medikament geben, wenn ich darum gebeten werde, noch will ich in dieser Hinsicht einen Rat erteilen. Ebenso will ich kei7 8 Wittern 1979, S. 732, Corpus Hippocraticum „Über die Brüche“ Wittern 1979, S. 733, Corpus Hippocraticum „Über die Krankheiten“ 15 ner Frau ein abtreibendes Mittel geben. In Reinheit und Heiligkeit will ich mein Leben und meine Kunst bewahren. […] In alle Häuser, die ich besuche, will ich zum Vorteil der Kranken kommen, mich frei halten von allem vorsätzlichen Unrecht, von aller Schädigung und insbesondere von sexuellen Beziehungen sowohl mit weiblichen wie mit männlichen Personen, seien sie frei oder Sklaven. […] Wenn ich diesen Eid erfülle und ihn nicht verletze, sei es mir vergönnt, mich des Lebens und der Kunst zu erfreuen, geehrt durch Ruhm bei allen Menschen auf alle künftige Zeit; wenn ich ihn übertrete und falsch schwöre, sei das Gegenteil von all diesem mein Los.“9 Anhand der Ausführung „Ich will weder irgend jemandem ein tödliches Medikament geben, wenn ich darum gebeten werde, noch will ich in dieser Hinsicht einen Rat erteilen“ muss davon ausgegangen werden, dass es Fälle gab, in denen man den Arzt um Beihilfe zur Selbsttötung bzw. Tötung auf Verlangen bat, sonst wäre die Verpflichtung sinnlos gewesen. L. Edelstein (und auch andere Autoren) verfolgte die Frage der philosophischen Grundanschauung, welche eine solche Verpflichtung implizieren würde. Dabei stiess er auf die Überzeugung von der „Heiligkeit des Lebens“ der Pythagoreer, die sowohl gegen die Beihilfe zur Selbsttötung als auch gegen die Abtreibung argumentierten10. Zum Eid abschliessend ist zu vermerken, dass er sich in seinem „ethischen Teil“ als durchaus konsistenter Text erweist mit einer enormen Wirkkraft bis in die Gegenwart. 2.1.1 Christliche Grundeinstellung zur Problematik der Sterbehilfe und Euthanasie Verfolgt man die Geschichte des Christentums zurück, findet man keine einheitliche Position zum Thema „Euthanasie“ bzw. Sterbehilfe. Dennoch lässt sich eine Art „Grundeinstellung“ zu dieser Frage erkennen, indem man Begriffe aufgreift wie „Verfügungsgewalt über das menschliche Leben“, Erlaubtheit der Fremd- bzw. Selbsttötung oder Umgang mit Schwerkranken. Nach der Bibel wurde der Mensch von Gott erschaffen. Verschiedentlich wurde daraus abgeleitet, dass das menschliche Leben Gottes alleiniger „Verfügungsgewalt“ unterliege. Exemplarisch wird hier Thomas von Aquin (~1225-1274) zitiert, für den Mord eine Sünde war: „Gott besitzt die Herrschaft über Tod und Leben; durch seine Anordnung nämlich sterben sowohl die Sünder als auch die Gerechten“11, oder auch: 9 Nach der Übersetzung von Edelstein 1969, S. 7f. Edelstein 1969, S. 21 11 Thomas von Aquin [1985], S. 308, Übersetzung aus der „Summa Theologiae“ 10 16 „[…] gerade wie, wer den fremden Sklaven umbringt, gegen den Herrn sündigt, dem der Sklave gehört.“12 In Bezug auf die Haltung gegenüber der Fremdtötung kann das 5. Gebot des Alten Testamentes angeführt werden: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2. Mose 20,13; 21,12) ‚Du sollst nicht töten’. Wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig […].“13 Dieses Gebot könnte allenfalls auch in Bezug auf die Selbsttötung Anwendung finden. Es gibt jedoch im Alten Testament keine direkten Verbote, die Legitimität der Selbsttötung betreffend. In der Bibel beschriebene Selbsttötungen fanden entweder unter Ausnahmebedingungen statt oder wurden indirekt als „angemessener“ Abschluss eines sündhaften Lebens verurteilt.14 Christliche Autoritäten (Augustinus, Thomas von Aquin) verboten später explizit die Selbsttötung. Diese wurde als Sünde angesehen und gar damit bestraft, dass einem Selbstmörder ein „christliches“ Begräbnis vorenthalten wurde. Benzenhöfer fasst zusammen: „Aus dem Dargelegten lässt sich nun ‚idealtypisch‘ folgende christliche ‚Grundeinstellung‘ zum Thema ‚Euthanasie/Sterbehilfe‘ rekonstruieren: Das Fremdtötungsverbot untersagt die ‚aktive Euthanasie‘. Mit dem Verdikt über die Selbsttötung ist auch die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung ausgeschlossen.“ 15 Ein weiterer wichtiger Aspekt, der wiederholt in der Sterbehilfe-Diskussion angeführt wird, ist der Begriff der „Heiligkeit des Lebens“. Dieser Terminus wurde geprägt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Moralhistoriker W.E.H. Lecky (1838-1903): „Das Christenthum präsentirte sich der Welt zunächst als eine Erklärung der Verbrüderung der Menschen in Christo und machte es dem Christen zur ersten Pflicht, seine Mitmenschen als heilige Wesen zu betrachten, woraus der wichtige Begriff von der Heiligkeit alles menschlichen Lebens entstand.“16 12 Thomas von Aquin [1985], S. 306 (= Band 3, 64. Untersuchung, 5. Artikel) Altes Testament, Bergpredigt, Matthäus 5, 22f. 14 Beispielsweise Matthäus-Evangelium, Kapitel 27: Judas erhängte sich nachdem durch seinen Verrat Jesus zum Tode verurteilt worden ist. 15 Benzenhöfer 2009, S. 46 16 Deutschen Übersetzung Lecky 1871, S. 14 13 17 Es gibt keine Belege dafür, dass dieser Begriff schon im frühen Christentum entstanden wäre. Im 20. Jahrhundert bezogen sich mehrere christliche Theologen bei der Auseinandersetzung mit der Euthanasie-Frage auf diesen Begriff (z.B. Franz Walter, Moraltheologe: „Die Euthanasie und die Heiligkeit des Lebens“, München 1935). Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die „Tötung unheilbar Kranker“ von christlichen Theologen detaillierter analysiert. Es wird angenommen, dass die Thematik besonders durch die ab ca. 1920 öffentlich geführte Diskussion über „lebensunwertes Leben“ ins Zentrum rückte. So wurden schwerwiegende Bedenken gegenüber der Argumentation in der Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1920) geäussert und die Aufgabe der Kirche als Hüterin der Armen, Elenden und Kranken betont.17 Eine deutliche Stellungsnahme lieferte 1931 die „Fachkonferenz für Eugenik“, der übrigens viele Ärzte angehörten, die sich dafür aussprach, „dass die neuerdings erhobene Forderung auf Freigabe der Vernichtung so genannten ‚lebensunwerten Lebens‘ mit allem Nachdruck sowohl vom religiösen als auch vom volkspädagogischen und ärztlichen Standpunkt abzulehnen ist […].“18 Es gab unter den Theologen aber auch Stimmen, die die Zulässigkeit der Tötung Geisteskranker davon abhängig machten, ob Seelenleben vorhanden sei. Ausführungen bezüglich eines Seelenlebens lieferte der Religionspädagoge Karl Ernst Thrändorf: Zu einem Seelenwesen gehöre das Gehirn, die Erhaltung gehirnloser, also seelenloser Wesen sei „Raub an den Gesunden“19. Eine gewichtige Stimme und eine Ausnahme von der ansonsten öffentlichen Haltung der „Euthanasie-Ablehnung“ bildete die Monographie „Erbpflege und Christentum“ von Theologe Wolfgang Stroothenke (1913-1945), welche 1940 erschien. Der Autor argumentierte, „dass der Tod nicht in den Bereich der ‚sittlichen‘, sondern der ‚natürlichen‘ Wertungen gehöre. Er habe mit Sünde nichts zu tun. Aufgrund ‚natürlicher‘ (diesfalls ‚erbpflegerischer‘) Wertung sei deshalb die ‚Tötung missgestalteter Kinder auf Wunsch der Eltern‘ erlaubt. Aufgrund ‚natürlicher Wertung‘ sei auch die Tötung auf Verlangen von Schwerkranken zulässig.“20 17 Pastor Martin Ulbrich 1921, Magdeburg-Cracau Nowak 1977, S. 61 19 Benzenhöfer 2009, S. 49 20 Nowak 1977, S. 124f. 18 18 Den oben aufgeführten Beispielen liessen sich noch zahlreiche andere, die Grundeinstellung bestätigende, vereinzelt aber auch davon abweichende Argumentationen von Geistlichen anfügen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der Regel die „aktive Euthanasie“ und die ärztliche Beihilfe zum Suizid auf christlicher Seite abgelehnt wurden und immer noch werden. Zwei weitere Beispiele verdeutlichen diese Haltung: 1980 wurde eine vom Papst Johannes Paul II. gebilligte, für Katholiken verbindliche, Stellungnahme zum Thema „Euthanasie“ von der Kongregation für die Glaubenslehre formuliert und publiziert. Darin wurde auf den „Wert des menschlichen Lebens“ hingewiesen, indem betont wurde, dass die „meisten Menschen das Leben als etwas Heiliges betrachten und zugeben, dass niemand darüber nach Willkür verfügen darf.“21 Es wurde zudem darauf verwiesen, dass das Leben als „Geschenk der Liebe Gottes“ zu betrachten sei, welches „bewahrt und fruchtbar gemacht werden müsse“22. Daraus wurde gefolgert: „1.) Niemand könne das Leben eines unschuldigen Menschen angreifen, ohne damit der Liebe Gottes zu ihm zu widersprechen. 2.) Jeder Mensch müsse sein Leben nach dem Ratschluss Gottes Führen; es sei ihm als Gut anvertraut. 3.) Der Freitod oder Selbstmord sei daher ebenso wie der Mord nicht zu rechtfertigen, er bedeute die ‚Zurückweisung der Oberherrschaft Gottes und seiner liebenden Vorsehung.“23 Die Definition der Kongregation für „Euthanasie“ lautete folgendermassen: „Unter Euthanasie wird hier eine Handlung oder Unterlassung verstanden, die ihrer Natur nach oder aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um so jeden Schmerz zu beenden. Euthanasie wird also auf der Ebene der Intentionen wie auch der angewandten Methoden betrachtet.“24 Die Euthanasie wird in den weiteren Ausführungen als „Verletzung eines göttlichen Gesetze“ angesehen, als eine „Beleidigung der Würde der menschlichen Person“, als „Verbrechen gegen das Leben“ und „Anschlag gegen das Menschengeschlecht.“25 Im Abschnitt über das „richtige Mass in der Verwendung therapeutischer Mittel“ wurde ergänzt, dass die Anwendung „unverhältnismässiger Mittel“ zur Lebensverlängerung bei Schwerkranken nicht „verpflichtend“ sei.26 „Wenn der Tod näher kommt und durch keine Therapie mehr verhindert werden kann, darf man sich im Gewissen entschliessen, auf weitere Heilversuche zu ver- 21 Erklärung 1980, S. 7 Erklärung 1980, S. 7 23 Erklärung 1980, S. 7 24 Erklärung 1980, S. 8 25 Erklärung 1980, S. 8 26 Benzenhöfer 2009, S. 51 22 19 zichten, die nur eine schwache oder schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten, ohne dass man jedoch die normalen Hilfen unterlässt, die man in solchen Fällen einem Kranken schuldet.“27 Als zweites Beispiel sei die 1989 erschienene „Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz“ mit dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“ erwähnt. In diesem Dokument wird darauf hingewiesen, dass eine „Unverfügbarkeit“ des andern Menschen bestehe, welche die „Einräumung eines unbedingten Lebensrechts“ und die „prinzipielle Respektierung seines Eigenrechts, seines Selbstbestimmungsrechts“ bedeute. Kein Mensch habe über „den Wert oder Unwert eines anderen menschlichen Lebens zu beschliessen, selbst nicht über das eigene. Das Töten eines anderen „kann unter keinen Umständen eine Tat der Liebe, des Mitleids sein, denn es vernichtet die Basis der Liebe.“28 Im Weiteren wird die Situation des unheilbar Kranken angeführt, dem der Tod besser zu sein scheint, und der allenfalls verlangt, getötet zu werden: „Doch müsste ihm dann nicht – schonend, aber klar, gesagt werden, warum dies Verlangen von einem anderen nicht übernehmbar ist? Ein Verzweifelter braucht intensive Zuwendung, um die Wahrheit zu erfahren, dass auch sein Leben nicht sinnlos ist.“29 Und weiter: „Käme ein Arzt einem solchen Verlangen nach, so zöge er sich einen zerreissenden Konflikt zu zwischen seiner ärztlichen Berufspflicht, Anwalt des Lebens zu sein, und der ganz anderen Rolle, einen Menschen zu töten. Täte er es aus Mitleid – liesse sich dann vermeiden, dass man ihm auch noch andere Motive zu unterstellen beginnt? Das wäre das Ende jedes Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient.“30 2.2 Beiträge zum Thema „Euthanasie“ und Sterbehilfe vom 16. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit war im Abendland die aktive Tötung eines Schwerkranken – sei es durch einen Arzt oder Nichtarzt – nach Massgabe der christlichen Lehre untersagt. Im Folgenden wird auf einige Persönlichkeiten eingegangen, die sich zu der oben genannten Fragestellung öffentlichkeitswirksam geäussert hatten. 27 Erklärung 1980, S. 12 Benzenhöfer 2009, S. 53 29 Benzenhöfer 2009, S. 53 30 Benzenhöfer 2009, S. 53 28 20 2.2.1 Thomas Morus (1477/78-1535), England, Jurist, Katholik Das Werk, auf welches im Folgenden Bezug genommen wird, trägt den Titel “De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia, libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus“ (Erstausgabe: Löwen 1516). Die Übersetzung gemäss U. Benzenhöfer lautet: „Ein wahrhaft herrliches, nicht weniger heilsames denn kurzweiliges Büchlein von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“, im Weiteren einfach „Utopia“ genannt. Inwieweit die in der „Utopia“ geäusserten Gedanken dem damaligen Konsens zu diesem Thema entsprechen, ist umstritten. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass der Autor ein Gedankenspiel betreibt, dabei aber die Thematik einer „besseren Welt“ aufnimmt und damit das Werk von einem gesellschaftskritischen Standpunkt aus gesehen durchaus reale Ideen vertrete. Inwieweit der Autor hinter seinen geäusserten Ideen wirklich stand, ist schwer einzuschätzen. Dass „Utopia“ nicht dem Idealstaat von Thomas Morus entsprach, kann mit einer gewissen Sicherheit festgehalten werden. Was für Gedanken bezüglich der Euthanasie werden in der „Utopia“ nun beschrieben? Um die entsprechenden Textstellen besser einordnen zu können, wird erst auf die Tugend- und Gesundheitslehre der „Utopier“ eingegangen. Beschrieben wird ein von der Natur vorgegebenes angenehmes und lustvolles Leben. Es sei erstrebenswert, sich Lust und Genuss zu verschaffen, wenn andere dadurch nicht beeinträchtigt werden. Die körperliche Gesundheit wurde als Grundbedingung für ein lustvolles Leben eingeschätzt: „Sie allein macht […] das Leben angenehm und lebenswert, und wo sie fehlt, bleibt nirgends mehr ein Platz für irgendein Vergnügen.“31 In den Textabschnitten „De aegrotis“ („Über die Kranken“) und „Mors spontanea“ („Freiwilliger Tod“) wird beschrieben, was mit den Kranken passieren soll: Beschrieben wird eine Pflege der Kranken „mit grosser Hingabe“, wobei nichts versäumt werden soll, „wodurch sie ihre Gesundheit wiederherstellen können, sei es durch Arzneimittel oder durch sorgfältige Diät.“32 Bei unheilbar Kranken wird eine hingebungsvolle Sterbebegleitung angestrebt: „Sogar unheilbar Kranken erleichtern sie ihr Los, indem sie sich zu ihnen setzen, ihnen Trost zusprechen und überhaupt alle möglichen Erleichterungen verschaffen.“33 Ist die Krankheit „dauernd qualvoll und schmerzhaft“ (hier erfolgt der Übergang zum Abschnitt „freiwilliger Tod“), dann würden „Priester und Behörden“ tätig34. Ärzte werden als Berufsgruppe in diesem Abschnitt nicht explizit erwähnt, doch sind sie insofern beteiligt, als dass sie die Diagnose ‚unheilbar’ stellen. Morus schreibt zu der „dauernd qualvoll und schmerzhaften“ Situation: 31 Morus [1991], S. 75 Morus [1991], S. 81 33 Morus [1991], S. 81 34 Benzenhöfer 2009, S. 56 32 21 „[…] reden Priester und Vertreter der ‚Behörden’ dem Kranken zu, er solle ‚nicht darauf bestehen, die unheilvolle Seuche noch länger zu nähren, und nicht zögern zu sterben, zumal das Leben doch nur eine Qual für ihn sei.“35 Aus dem Text geht hervor, dass die Vertreter der Behörde/der Kirche nicht am tatsächlichen Willen des Kranken interessiert sind, sondern dessen Leben in diesem Zustand als für die Gesellschaft wertlos einschätzen und daher der Tod die einzige Option darstelle. Dies wird insofern deutlich, als dem Kranken gegenüber folgende Argumente angeführt werden, dass er 1.) „allen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen“ sei; 2.) er „den Mitmenschen zur Last“ falle und dass er 3.) „sich selber unerträglich“ sei, da das Leben nur „eine Qual“ für ihn darstelle („seinen eigenen Tod bereits überlebe).“ 36 Die Unterstützung dieser „Behörde“ durch Priester soll deutlich machen, dass der „freiwillige Tod“ kein widergöttlicher Akt ist. Ein weiteres Zitat aus dem Text sei hier angeführt: „[…] Der Kranke werde ‚fromm und gottesfürchtig handeln, da er damit dem Rat der Priester, das heisst der Deuter des göttlichen Willens gehorche.“37 Im Weiteren wird jedoch diese ehrenvolle Handlung des Kranken vom ungebilligten Suizid abgegrenzt: „Sonst aber wird keiner, der sich selbst das Leben nimmt, ohne Billigung des Grundes durch Priester und Senat, der Beerdigung oder der Verbrennung gewürdigt; statt ihn zu begraben, werfen sie ihn schmächlich in einen Sumpf.“38 Ein „freiwilliger Tod“ ist unter solchen Umständen in Frage gestellt. Wie schliesslich der „freiwillige Tod“ erfolgen soll, wird im Text folgendermassen beschrieben: „Wen sie damit überzeugt haben, der endigt sein Leben entweder freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und findet Erlösung, ohne vom Tod etwas zu merken.“39 35 Benzenhöfer 2009, S. 56 Morus [1991], S. 81 37 Morus [1991], S. 81 38 Morus [1991], S. 81 39 Morus [1991], S. 81 36 22 Die Methode des „Einschläferns“ wird nicht näher beschrieben. Einige Interpreten von Morus’ Texten gehen von der Gabe eines Mandragora- oder Schierlingstrank aus. 2.2.2 Francis Bacon (1561-1926), England, Jurist und Philosoph Auf die dieser Arbeit zugrunde liegende Thematik stiess Francis Bacon im Rahmen einer Neuordnung der Wissenschaften in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts. Er interessierte sich unter anderem für den Entwicklungsstand und die Entwicklungsmöglichkeiten der Medizin. Zwangsläufig stiess er dabei auf das Problem der unheilbaren Krankheiten und der „Euthanasie“. So findet sich in seinem Werk von 1605 “Of the Proficience and Advancement of Learning Divine and Humane” („Über den Stand und den Fortschritt des Wissens von Gott und den Menschen”) folgende Aussage: „Nay, further I esteem it the office of a physician not only to restore health, but to mitigate pain and dolors; and not only when such mitigation may conduce to recovery, but when it may serve to make a fair and easy passage: for it is no small felicity which Augustus Caesar was wont to wish to himself, that same Euthanasia […].”40 In seinem späteren Werk „De dignitate et augmentis scientiarum“ von 1623 („Über die Würde und die Vermehrung der Wissenschaften“) nimmt er diesen Gedanken erneut auf und führt ihn weiter aus: Zum Thema Heilung der Krankheiten bemerkte Bacon, dass dies ein Gebiet sei, in dem vieles noch „vermisst“ werde. Er reklamierte, dass die Ärzte zu viele Krankheiten als generell unheilbar oder als unheilbar zum Zeitpunkt der Übernahme der Behandlung taxierten und sich so jeder Verantwortung entziehen würden. Er schloss daraus einen dringenden Forschungsbedarf in diesem Gebiet. Zum Thema „Euthanasie“ hielt er folgendes fest: „Ferner halte ich es der Pflicht eines Arztes gemäss, dass er nicht nur die Gesundheit wieder herstelle, sondern dass er auch die Schmerzen und Qualen der Krankheit lindere: und das nicht nur, wenn jene Linderung der Schmerzen zufällig zur Wiederherstellung der Gesundheit dient und beiträgt, sondern auch dann, wenn ganz und gar keine Hoffnung mehr vorhanden ist, durch die Linderung der Qualen aber ein sanfterer und ruhigerer Übergang aus diesem in jenes Leben verschafft werden kann. […] In unserer Zeit aber gehört es gleichsam zur Religion der Ärzte, bei den für verloren gehaltenen Kranken zu bleiben und sie zu beklagen, wo sie doch meines Erachtens, entsprechend ihrer Pflicht und sogar der Menschlichkeit selbst, ihre Kunst und ihren Fleiss dahingehend verwenden sollten, dass die Sterbenden leichter und sanfter aus dem Leben gehen. Diesen Teil aber nennen wir eine Untersuchung über die äussere 40 Bacon [1859], S. 375 23 Euthanasie [Euthanasia exterior] (im Unterschied zu jener Euthanasie, die die Vorbereitung der Seele erfordert). Eine Untersuchung über die äussere Euthanasie aber gibt es zur Zeit noch nicht.“41 Konkret wurde in dieser Aussage die Aufforderung zur Gabe von schmerzstillenden und betäubenden Medikamenten bei unheilbar Kranken gesehen. Dabei bestand die Gefahr, dass die Ärzte sich allein mit dem pharmakologischen Aspekt eines Sterbenden beschäftigten, die erweiterte Sterbebegleitung (in Form von Palliativpflege) jedoch anderen (z.B. Seelsorgern, Pflegern) überliessen oder delegierten. 2.2.3 Weitere Beiträge des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Der Forschung von Benzenhöfer verdanken wir weitere Informationen aus dem 18. Jahrhundert zur Thematik der Suizidbeihilfe. 1735 verfasste Zacharias Philippus Schulz unter dem Präsidiat von Michael Alberti in Halle eine Dissertation mit dem Titel „De Euthanasia Medica, Vom Leichten Todt“42. Die Dissertation knüpfte an die im vorangehenden Abschnitt besprochene Passage über „Euthanasia exterior“ in „De dignitate“ von Francis Bacon an. Eine pharmakologische Euthanasie, wie sie Bacon vertrat, lehnte Schulz ab. Seine Ablehnung fusste unter anderem auf dem Werk „Gotthold’s Siech- und Siegesbett“ (1687) von Christian Sciver (Theologe und Erbauungsschriftsteller), wovon er folgendes Zitat anführte: „Wir lassen es dahin gestellt seyn, ob dieser Fürschlag bey denen Herren Aerzten ein Nachsinnen erwecket hat: ich habe aber wenig Gottesfürchtiger Seelen Abscheiden gesehen, da man solcher natürlicher Mittel bedürft hätte.“43 Für Schulz war die „Euthanasia Medica“ der „sanfte, ruhige und schnelle Verlauf des natürlichen Todes“.44 Seine Definition bezog er auf eine Übereinstimmung zahlreicher anderer Autoren der Frühen Neuzeit. Schulz hielt fest, dass der „sanfte Tod“ sowohl bei Säuglingen als auch bei Greisen auftreten könne, dass der Tod im Alter jedoch eher sanfter sei und dass Menschen eher einen „leichten Tod“ sterben würden, wenn sie lange krank gewesen seien und viele Kuren über sich hätten ergehen lassen müssen. Er beschreibt zudem Zeichen, die auf einen nahen „leichten Tod“ hinweisen würden, zum Beispiel eine gewisse Stille und Gelassenheit der Seele und in körperlicher Hinsicht die „Facies Hippocratica“ (im „Corpus Hippocraticum“ beschriebenes „Antlitz des nahen Todes“ mit spitzer Nase, hohlen Augen, einge41 Bacon 1623, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Potthoff 1982, S. 25 Benzenhöfer 2009, S. 62 43 Schulz 1735, S. 10 44 Schulz 1735, S. 11 42 24 fallenen Wangen und bleichem Gesicht). In Bezug auf den Umgang mit Todkranken vertrat Schulz die Auffassung, dass keine Medikamente (erregende wie sedierende) gegeben werden sollten, welche den Tod beeinträchtigen oder aber beschleunigen könnten, denn dies schien aus christlich bestimmter Sicht des Verfassers als „frivol“45. Nur pflegerische Massnahmen wie die Benetzung der trockenen Zunge und des Rachens sollen durch den Arzt zur Erleichterung des Sterbeprozesses durchgeführt werden. Schulz vertrat also wie Bacon die Auffassung, dass in der Regel die Tötung unheilbar Kranker abgelehnt werden soll. Am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde jedoch das Ansinnen Bacons, wonach der Arzt pharmakologische Mittel zur Beruhigung des Todkranken einsetzen soll, breiter akzeptiert. Ein Befürworter der pharmakologisch gestützten Sterbebegleitung war der Niederländer Nicolaus Paradys (1740-1812). Eine von ihm 1748 gehaltene Abschiedsrede beim Rücktritt vom Prorektorat als Medizinprofessor in Leiden zum Thema „Euthanasia naturalis“ wurde 1796 ins Deutsche übersetzt und im „Neuen Magazin für Aerzte“ abgedruckt. Den Begriff „natürliche Euthanasie“ definierte Paradys als „die Kunst, den Tod so leicht, so erträglich als möglich zu machen, soweit dieses nämlich in unserer Gewalt steht und von natürlichen Ursachen abhänget.“46 Um dies zu ermöglichen sprach er sich dafür aus, dass Ärzte Sterbenskranken den Tod durch medikamentöse Mittel erleichtern sollten. Ebenso enthielt das Schreiben einen Appell, die Prognostik zu fördern, denn wisse man „einmal das unvermeidliche Schicksal des Kranken gewiss“, dann könne man „oft alle Arzneyen aussetzen“ und die ganze Aufmerksamkeit darauf lenken, dem Kranken „den Tod zu erleichtern.“47 Er beschrieb anhand einer Einschätzung der Lebenskräfte der betroffenen Patienten eine Rechtfertigung für den Einsatz von stärkeren oder schwächeren Medikamenten. Für ärztliche Kollegen erwähnte er insbesondere: „Gehen Sie an die Betten der Sterbenden. Es ist eine traurige aber doch schöne Pflicht. Sammeln Sie Ideen zu einer künftigen Geschichte des Todes […]. Lernen Sie dort Menschlichkeit!“48 Ein weiterer Arzt, der das Thema der Euthanasie aufgriff, war Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836). Hufeland war ab 1801 königlicher Leibarzt in Berlin und einer der angesehensten Ärzte seiner Zeit. Es ist anzunehmen, dass er durch den Artikel im „Neuen Magazin für Aerzte“ dazu inspiriert wurde. 1806 publizierte er im „Neuen Journal der practischen Arznei- 45 Schulz 1735, S. 44 Paradys 1796, S. 561 47 Paradys 1796, S. 564 48 Paradys 1796, S. 571 46 25 kunde und Wundarzneiwissenschaft“ einen Aufsatz mit dem Titel „Die Verhältnisse des Arztes“. Die Aufgabe des Arztes stellte er dort nicht allein mit „heilen“ dar, sondern betonte die Wichtigkeit der Lebenserhaltung oder Linderung von Leiden bei unheilbaren Krankheiten: „Selbst im Tode soll der Arzt den Kranken nicht verlassen; noch da kann er sein grosser Wohltäter werden, und wenn er ihn nicht retten kann, wenigstens das Sterben erleichtern.“49 In welcher Form diese Erleichterung vonstattengehen sollte, wurde nicht erwähnt. Hufeland legte jedoch grosses Gewicht auf den „Hippokratischen Eid“: „Das Leben des Menschen zu erhalten und wo möglich zu verlängern, ist das höchste Ziel der Heilkunst, und jeder Arzt hat geschworen, nichts zu thun, wodurch das Leben eines Menschen verkürzt werden könne.“50 Im Weiteren seiner Ausführungen skizzierte er den „idealen Arzt“, der ein „reiner moralischer Mensch“ sein müsse: „Er soll und darf nichts anders thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder Unglück sey, ob es Werth habe oder nicht, dies geht ihn nichts an, und masst er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft mit aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate; denn ist einmal die Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Nothwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht es nur stufenweise Progressionen, um den Unwerth, und folglich die Unmöglichkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.“51 Die Wichtigkeit, sich um unheilbar Kranke zu kümmern, betonte etwas später ebenfalls der Medizinprofessor Johann Christian Reil (1759-1813). Er griff in seinen Aufzeichnungen das Wort „Euthanasie“ auf, welches Hufeland in seinen Abhandlungen nie verwendet hatte. Reil setzt den Euthanasie-Begriff gleich mit „der Kunst des Aus-dem-Leben-Hinaushelfen“ und widmete diesem Thema das letzte Kapitel in seinem Werk „Entwurf einer allgemeinen Therapie“ (1816). In der Einleitung des Kapitels „Euthanasie, oder von den Hülfen, erträglich zu sterben“ spricht er von mangelndem Wissen in Bezug auf die Begleitung eines „Aus-demLeben-Scheidenden“. Auf Bacon beziehend hält er fest: 49 Hufeland 1806, S. 14 Hufeland 1806, S. 14 51 Hufeland 1806, S. 15/16 50 26 „Diese Kunst, dem Tod sein Schreckhaftes zu nehmen und seine Bitterkeit zu mindern, empfiehlt Bacon den Aerzten, und meint, die Heilkunde habe dann erst ihre Vollkommenheit erreicht, wenn sie neben der Kunst, den Tod zurückzuhalten, sich auch darauf verstehe, den unvermeidlichen Tod so sanft als möglich zu machen.“52 Er verweist auf die grundsätzlichen Massnahmen, die ein Arzt anzugehen habe, und sollte eine tödliche Krankheit dennoch eingetreten sein, habe der Arzt die Aufgabe, „Euthanasie zu bewirken, die Plagen der Krankheiten zu mildern, die Seele zu stählen, dass sie mit kraftvoller Resignation den Tod duldet, oder das Bewusstseyn desselben verdunkeln.“53 Zwischen 1820 und 1850 erschienen zahlreiche Dissertationen, die den Begriff „Euthanasie“ in irgendeiner Form im Titel trugen. Den Arbeiten mehrheitlich gemeinsam war die Haltung, dass es eine wichtige ärztliche Aufgabe sei, sich den Sterbenden zuzuwenden. Die Frage wurde diskutiert, wann eine Therapie begrenzt werden dürfe und wiederholt wurde festgehalten, dass eine Therapiebegrenzung nicht zu früh erfolgen dürfe, denn es gebe oft überraschende Heilungen. Benzenhöfer kommt zum Schluss54: „Sterbebegleitung wurde in Schriften des 18. Jahrhunderts vereinzelt, in Schriften des beginnenden 19. Jahrhunderts dann häufiger als ärztliche Aufgabe thematisiert. Dabei bediente man sich vielfach des ‚Euthanasie‘-Begriffs zur Bezeichnung der gestellten Aufgabe. Nahezu durchgängig (Ausnahmen bestätigen die Regel) lehnte man eine bewusste Beschleunigung des Sterbens durch den Arzt ab. Man erkannte durchaus, dass die schon von Bacon im 17. Jahrhundert geforderte medikamentöse Schmerzbzw. Leidenslinderung bei Moribunden zu einer ‚unbeabsichtigten‘ Lebensverkürzung führen könne. Doch scheint sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Ärzten die Auffassung durchgesetzt haben, dass man (vorsichtig, um eine Beschleunigung des Sterbens zu vermeiden) ‚Beruhigungsmittel‘ geben dürfe. Man erkannte auch das Problem der ‚Leidensverlängerung‘ durch ärztliche Massnahmen bei Moribunden. Diesbezüglich gab es Stimmen, die darauf hinwiesen, dass man die aktive Therapie begrenzen dürfe. Eine einheitliche Auffassung hierzu bildete sich jedoch nicht heraus.“ 52 Reil 1816, S. 565 Reil 1816, S. 573 54 Benzenhöfer 2009, S. 67f. 53 27 2.3 Der Diskurs über die „Ausscheidung der Schwachen“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bis hierher ist festzuhalten, dass Ärzte, bis auf vereinzelte Ausnahmen, in Veröffentlichungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gezielte Lebensverkürzung bei Schwerkranken ablehnten. Diese Grundhaltung änderte sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich. So findet sich unter dem Stichwort „Euthanasie“ in der „Realencyclopädie der gesamten Heilkunde“ von 1886 die Aussage, dass „bei irgend welchem berechtigten Hoffnungsfunken“, das Leben eines Schwerkranken zu erhalten sei, alles medizinisch Mögliche getan werden müsse, und zwar energisch, „ohne alle Rücksicht auf Euthanasie“, d.h. auf ruhiges Sterben.55 Sollte aber keine Hoffnung mehr sein, dann käme es darauf an, dem Sterbenden einen „möglichst menschenwürdigen Ausgang zu bereiten“. Der Arzt sei aber „bei allem Streben nach Euthanasie nicht berechtigt […], das Geringste zu thun, was zur Verkürzung des Lebens beitragen kann“. Trotz dieser „ärztlichen“ Grundhaltung entwickelte sich der Diskurs zum Thema Euthanasie zunehmend in die Richtung Freigabe der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Grundlegend hierfür waren das Gedankengut des Sozialdarwinismus und der Rassenhygiene bzw. Eugenik. Diese beiden Themen werden in dieser Übersicht nur kurz abgehandelt, da es sich hierbei nicht im engeren Sinn um die Thematik der Beihilfe zum Suizid, sondern um gezielte Tötungen handelt. Das Gedankengut ist jedoch wichtig, um die Entwicklung der ärztlichen Haltung aufzeigen zu können. 2.3.1 Von Charles Darwin zur Rassenhygiene 1859 erschien von Charles Darwin (1809-1882) das Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life”. Durch dieses Werk wurden die Begriffe der „natürlichen Auslese“ und des „Überlebens des Stärkeren im Kampf ums Dasein“ verbreitet. Obwohl das Werk sich auf die Tierwelt bezog, erforderte es keine grosse Gedankenanstrengung zu erkennen, dass diese „natürliche“ Entwicklungslehre ebenfalls auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu beziehen war. Darwin selbst war zunächst sehr zurückhaltend, was die Anwendung seiner Theorie auf den Menschen anging. Begründet wurde diese Zurückhaltung mit wissenschaftlicher Vorsicht, aber auch aus diplomatischen Gründen, da seine Lehre kaum mit der biblischen Schöpfungslehre in Einklang zu bringen war. Seine Gedanken zur menschlichen Spezies kamen explizit im 1871 erschienen Werk „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“ zum Ausdruck. Im Rahmen der Gedanken zum Widerstreit der „natürlichen“ und „künstlichen Zuchtwahl“ beim zivilisierten Menschen, prägte er den Begriff „Ausscheidung des Schwachen“. Während in einer „natürlichen Auslese“ die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert würden, verhindere der zivilisierte Mensch diese „Ausscheidung“: 55 Benzenhöfer 2009, S. 69 28 „Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf, um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten“.56 Wegen dieser „kontraselektorischen“ Tätigkeit des Menschen könnten die „schwachen“ Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, so Darwin, der etwas von der Zucht von Haustieren verstehe, werde daran zweifeln, dass dies „äusserst nachteilig“ für die Rasse sei.57 Darwin tat aufkeimendes Mitgefühl für die Schwachen als „nicht vernünftig“ ab und argumentierte: „Die Hilfe, die wir dem Hilflosen schuldig zu sein glauben, entspringt hauptsächlich dem Instinkt der Sympathie, die ursprünglich als Nebenform des sozialen Instinkts auftrat, aber in der schon früher angedeuteten Weise allmählich feiner und weitherziger wurde“. Weiter führt er aus: „Wir können diese Sympathie jetzt nicht mehr unterdrücken, selbst wenn unsere Überlegung es verlangte, ohne dass dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre.“58 Als Gegenüberstellung wird ein ebenfalls englischer Sozialdarwinist angefügt, Thomas Henry Huxley (1825-1895): „Es drängt sich mir […] die Überzeugung auf, dass diejenigen, die da gewöhnt sind, sich mit der unmittelbaren oder mittelbaren Austilgung der schwachen, unglücklichen und überflüssigen [Menschen] zu beschäftigen, die dieses Verhalten mit dem Grunde rechtfertigen, das Naturwalten heilige es und sei das einzige Mittel zur Sicherung des Rassenfortschrittes, die, wenn folgerichtig, die Medizin unter die schwarzen Künste rechnen und den Arzt als den unheilvollen Erhalter der untauglichen [Menschen] betrachten müssten, […] und die ihr ganzes Leben der Ausbildung der edlen Kunst der Unterdrückung natürlicher Neigung und Teilnahme widmen, - dass gerade sie nicht einen besonderen Vorrat an diesen Gütern übrig behalten werden. Aber ohne diese 56 Darwin [1982], S. 171 Benzenhöfer 2009, S. 71 58 Darwin [1982], S. 172 57 29 Eigenschaften giebt es kein Gewissen und auch keinen Hemmschuh für das Verhalten der Menschen“.59 Ein entschiedener Anhänger von Darwin war Ernst Haeckel (1834-1919), der dessen Theorie aufnahm und daraus eine „Einheitstheorie“ des Lebens, den so genannten Monismus entwickelte. Er legte dem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der unbelebten Materie über die Tiere bis hin zum Menschen – anlehnend an Darwin – als kausales Prinzip den Kampf ums Dasein zugrunde. War er in seinen ersten Werken noch zurückhaltender, so akzentuierte er seine Theorie mit deutlicher Bezogenheit auf die Menschheit im 1870 erschienen Werk „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, wo sich unter anderem folgender Abschnitt findet: „Ein ausgezeichnetes Beispiel von künstlicher Züchtung der Menschen in grossem Massstab liefern die alten Spartaner, bei denen auf Grund eines besonderen Gesetzes schon die neugeborenen Kinder einer sorgfältigen Musterung und Auslese unterworfen werden mussten. Alle schwächlichen, kränklichen oder mit irgendeinem körperlichen Gebrechen behafteten Kinder wurden getödtet. Nur die vollkommen gesunden und kräftigen Kinder durften am Leben bleiben, und sie allein gelangten später zur Fortpflanzung. Dadurch wurde die spartanische Rasse nicht allein beständig in auserlesener Kraft und Tüchtigkeit erhalten, sondern mit jeder Generation wurde ihre körperliche Vollkommenheit gesteigert […] Auch manche Stämme unter den rothen Indianern Nordamerika’s, die gegenwärtig im Kampfe um’s Dasein den übermächtigen Eindringlingen der weissen Rasse trotz heldenmüthigster Gegenwehr erliegen, verdanken ihren besonderen Grad von Körperstärke und kriegerischer Tapferkeit einer ähnlichen sorgfältigen Auslese der neugeborenen Kinder.“60 Seine Tendenz zur Ausscheidung der Schwachen wurde in zahlreichen anderen Textstellen ebenfalls ersichtlich. So äusserte sich Haeckel kritisch gegenüber der modernen Medizin, die Kranke und Schwache am Leben erhalte und ihnen so die Möglichkeit zur Fortpflanzung und zur Vererbung ihrer Krankheiten biete. Haeckel war mit seinen Äusserungen zum Thema „Ausscheidung der Schwachen“ durchaus nicht alleine. Erwähnt wird daher noch Alexander Tille (1866-1912), Germanist und Philosoph, der ein radikaler Verfechter der „künstlichen Züchtung“ war. Er stützt sich im Wesentlichen auf Haeckel, formulierte aber seinen eigenen Standpunkt unmissverständlich: 59 60 Thomas H. Huxley: Soziale Essays. Weimar 1897, S.249f., zitiert nach Schungel 1980, S. 49 Haeckel 1870, S. 152f. 30 „Man hat die Notwendigkeit des Fortschritts schon früh empfunden und wo die natürliche Auslese versagte, eine künstliche geschaffen. Künstliche Züchtung tüchtiger Menschen gab es bereits im alten Sparta. Jedes untüchtige gebrechliche Kind ward ausgesetzt. Allein die Tüchtigen hinterliessen Nachkommen. So veredelte das Volk bewusst schon damals seine Kinder, und unter den Indianern Nordamerikas ist noch heute derselbe Brauch üblich.“61 1895 bekräftige er seine Position im Buch „Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik“: „Wer die Hebung der Rasse zu seinem Ideal macht und dieses Ideal verwirklichen will, wird wohl oder übel zur Auslese greifen müssen. Eine direkte Austilgung der Schwachen, Unglücklichen und Überflüssigen ist meines Wissens noch von keinem ernsten Menschen vorgeschlagen worden. Aber warum sollte keine indirekte möglich sein. Unsere sozialen Einrichtungen, unsere Heilkunst, erhalten tausende flackernde Lebensflämmchen – soll die Gesellschaft, die diese Menschen dem sicheren Tod entreisst, dafür nicht das Recht haben, ihnen die Verpflichtung aufzuerlegen, nicht zu heiraten, ihnen mindestens die Schliessung einer rechtgültigen Ehe vorzuenthalten?“62 Auf der Basis dieses Gedankenguts entwickelte sich am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rassenhygiene bzw. Eugenik, in deren Anfängen von den entsprechenden Autoren (vgl. W. Greg, A.R. Wallace, F. Galton, W. Schallmayer, A. Ploetz) eine direkte Aufforderung zur „Ausscheidung der Schwachen“ meist vermieden wurde. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist auch Friedrich Nietzsche, der mit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sympathisierte und bezüglich Kranker folgende Aussage machte: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn.“63 Bezüglich der Aufgabe der Ärzte äusserte sich Nietzsche wie folgt: 61 [Tille] 1893, anonym erschienene Ausgabe, S. 138 Tille 1895, S. 140 63 Nietzsche [1988], Bd. 6, S. 134 62 31 „Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu sein, für das Recht, zu leben.“64 Auf diesem Boden gedieh das Gedankengut der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, welches seinen Höhepunkt in der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus fand. 2.4 Tötung auf Verlangen, Sterbehilfe sowie die Anfänge der Diskussion zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im deutschsprachigen Raum (ca. 1895-1933) Zentral und umstritten für die Diskussion der oben genannten Thematik war §216 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871: „Ist jemand durch das ausdrückliche und bestimmte Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nicht unter drei Jahren zu erkennen.“ In Folge sei auf einige wichtige Figuren in dieser Diskussion eingegangen: Adolf Jost (1875- unbekannt), Student der Philosophie, Mathematik und Physik in Göttingen, veröffentlichte 1895 eine Schrift mit dem Titel „Das Recht auf den Tod“. Zu Beginn dieser Schrift stellte Jost die Frage, ob es ein Recht auf den Tod gäbe und in welchen Fällen der Tod sowohl für das Individuum als auch für die menschliche Gesellschaft wünschenswert sei. Die „sowohl-als-auch-Formulierung“ von Jost wurde von Benzenhöfer im Werk „Der gute Tod“ in erster Linie als Gewichtung der Problematik der unheilbar geistig oder körperlich Kranken interpretiert und nicht als Legitimierung des Suizids.65 Zentral in der Argumentation von Jost wurde der Begriff „Wert des Lebens“. Er schrieb: „Der Werth jedes Gegenstandes […] liegt in seiner Beziehung zur Freude oder zum Leide jedes Menschen.“66 Der Wert eines Menschen liesse sich aus zwei Faktoren ableiten: „Der erste Factor ist der Werth des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freude und Schmerz, die er zu erfahren hat. Der zweite Factor ist die Summe von Nutzen oder Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. Die Fragestellung für das Recht auf den Tod ist jetzt identisch mit der Frage: ‚Giebt es Fälle, in welchen beide Factoren negativ werden?’“67 64 Nietzsche [1988], Bd. 6, S. 134 Benzenhöfer 2009, S. 82f. 66 Jost 1895, S. 12 67 Jost 1895, S. 13 65 32 Jost untersuchte dann den „Wert des Lebens“ eines unheilbar Kranken, wobei er vor allem der Gesellschaft Rechnung trug: „Der Kranke consumiert eine beträchtliche Menge materieller Werthe, mehr als der gesunde Mensch. Einer von ihnen, oder wenigstens mehrere zusammen absorbieren die Arbeitskraft mehrerer Leute, die sie zu pflegen und zu warten haben, sie verbrauchen Nahrung und Arzneien etc.“68 Doch auch die „psychischen Einflüsse, die jeder Kranke, insbesondere der Unheilbare auf seine Umgebung ausübt“, hielt Jost in der Regel für „unheilvolle“.69 Schliesslich kommt er zum Schluss: „Im Falle der unheilbar Kranken […] trifft beides zusammen, das Mitleid und das Interesse der Gesellschaft fordern den Tod“ und weiter: „Es kann nach dem Vorhergehenden keinem Zweifel unterliegen, dass es thatsächlich Fälle giebt, in welchen mathematisch gesprochen, der Werth eines Menschenlebens negativ wird.“70 Zur Umsetzung seines Gedankenguts sah Jost die Lösung darin, dass der Staat den Ärzten die „gesetzliche Tötung“ der Unheilbaren „gestatte“, sofern der Patient die Tötung verlange. Zur Absicherung des Verfahrens sei eine rechtskräftige Dokumentation mit Diagnosestellung des Arztes sowie der Willensäusserung des Patienten vor Zeugen zu erstellen. Ernst Haeckel nahm 1904 in seinem Werk „Die Lebenswunder“ seine bereits 1870 noch zurückhaltend formulierten Ideen zur „Kindereuthanasie“ wieder auf: Die Tötung behinderter Kinder wurde ausdrücklich gelobt. Argumentiert wurde damit, dass ein kindliches Gehirn keinem „menschlichen Geiste“ entspreche und daher nicht in den juristischen Bereich der Tötungsdelikte falle. Haeckel forderte nun auch konkret die Freigabe der Tötung unrettbar Kranker „auf Verlangen“: „Viele Kranke gehen dem sicheren Tode unter namenlosen Qualen entgegen. Sehr viele von diesen armen Elenden warten mit Sehnsucht auf ihre ‚Erlösung vom Übel’ und sehnen sich das Ende ihres qualvollen Lebens herbei; da erhebt sich die wichtige 68 Jost 1895, S. 17 Jost 1895, S. 17 70 Jost 1895, S. 18 69 33 Frage, ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zu erfüllen und ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen.“71 Bejaht wurde diese Frage mit dem Hinweis auf den Gnadenstoss schwerkranker Tiere, wozu wir das Recht, ja geradezu die Pflicht hätten. Auf die Gedanken Haeckels bezüglich Zulässigkeit der Tötung unheilbar Kranker ohne deren Einwilligung wird in dieser Arbeit nicht eingegangen. Wichtig festzuhalten ist jedoch, dass er diese Aufgabe einer „Commission von zuverlässigen und gewissenhaften Ärzten“ auferlegen wollte. Haeckel wurde zum Propagandisten der Freigabe der „Kindereuthanasie“, der Tötung auf Verlangen und der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Aufbauend auf den Schriften Haeckels wurde 1906 der „Deutsche Monistenbund“ gegründet, dem zahlreiche Akademiker angehörten. Haeckel selbst hatte den Ehrenvorsitz inne. In der von diesem Bund herausgegebenen Zeitschrift „Das monistische Jahrhundert“ erschien im Mai 1913 ein Brief, den das Bundesmitglied Roland Gerkan eingesandt hatte und welcher den Ausgangspunkt der monistischen „Euthanasie“-Debatte bildete: Gerkan, ein junger Mann, der schwer lungenkrank war, stellte in diesem Brief einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe zur Diskussion […]72: „§1: Wer unheilbar krank ist, hat das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie). §2: Die Feststellung des Rechtes auf Sterbehilfe wird durch ein Gesuch des Kranken an die zuständige Gerichtsbehörde veranlasst. §3: Auf Grund des Gesuches verfügt das Gericht eine Untersuchung des Kranken durch den Gerichtsarzt im Verein mit zwei zuständigen Spezialisten. An der Untersuchung können auf Wunsch des Kranken auch weitere Ärzte teilnehmen. Diese Untersuchung hat nicht später als eine Woche nach Einreichung des Gesuchs zu erfolgen. §4: Bei der Protokollierung des Untersuchungsbefundes ist anzugeben, ob nach der wissenschaftlichen Überzeugung der untersuchenden Ärzten ein tödlicher Ausgang der Krankheit wahrscheinlicher ist, als die Wiedererlangung dauernder Arbeitsfähigkeit. §5: Wenn die Untersuchung die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs ergibt, dann spricht das Gericht dem Kranken das Recht auf Sterbehilfe zu. Im entgegengesetzten Fall wird das Gesuch des Kranken abschlägig beschieden. §6: Wer einen Kranken auf dessen ausdrücklichen und unzweideutig kundgegebenen Wunsch schmerzlos tötet, bleibt straflos, wenn dem Kranken nach §5 das Recht auf 71 72 Haeckel 1904, S. 131 Benzenhöfer 2009, S. 86 34 Sterbehilfe zugesprochen worden ist, oder wenn die nachträgliche Untersuchung ergibt, dass er unheilbar krank war. §7: Wer einen Kranken tötet, ohne dass dieser es ausdrücklich und unzweideutig gewünscht hat, wird mit Zuchthaus bestraft. §8: Die §§1-7 finden auch auf Sieche und Verkrüppelte sinngemässe Anwendung.“73 Auf diesen Vorschlag Gerkans folgte eine lebhafte Diskussion bezüglich Sterbehilfe, die nicht allein auf den „Monistenbund“ beschränkt blieb. Im Rahmen der Debatte erhielt der Brief Zustimmung wie auch Kritik. Insbesondere wies der Arzt Max Beer aus Barmen auf die Gefahr eines „Dammbruchs“ hin: „Dass das der erste Schritt sein würde, glaube ich auch, ob aber der letzte, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Ist einmal die Scheu vor der Heiligkeit des Lebens vermindert, die freiwillige Sterbehilfe für die geistig gesunden Unheilbaren und die unfreiwillige für die Geisteskranken eingeführt, wer steht dann dafür, dass man dabei Halt macht?“74 Trotz der intensiv geführten Diskussion blieb §216 des RStGB von 1871 erhalten. Zwei zentrale Figuren, die den Weg zu den Tötungspraktiken zur Zeit des Nationalsozialismus ebneten, waren Karl Binding (1841-1920, Professor des öffentlichen Rechts in Leipzig) und Alfred Hoche (1865-1943, Ordinarius für Psychiatrie in Freiburg). Im Folgenden wird auf die Inhalte ihres gemeinsamen Werks „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1920), die die zugrunde liegende Thematik dieser Arbeit streifen, eingegangen. Binding äusserte sich im ersten Teil des Werks unter anderem zum Selbstmord wie folgt: „Der so genannte Selbstmord war nach seiner [Bindings] Auffassung weder eine deliktische noch eine rechtmässige, sondern ‚eine rechtlich unverbotene Handlung‘ […], die der Mensch als ‚Souverän über sein Dasein und die Art desselben‘ […] unverboten ausübe. Daraus ergebe sich aber, dass diese ‚Anerkennung‘ nur für den ‚Lebensträger‘ selbst gelte. Deshalb falle auch die Teilnahme am Selbstmord (Beihilfe) nach geltendem Recht unter die Tötungsnorm und sei widerrechtlich, könne bzw. müsse also unter Umständen bestraft werden. Deshalb sei auch die Tötung auf Verlangen nach geltendem Recht ‚mit allerbestem Grunde‘ ein Delikt.“75 73 Gerkan 1913, S. 170/171 Beer 1914, S. 9 75 Benzenhöfer 2009, S. 89f. 74 35 Ganz anders sehe die Situation unheilbar Kranker aus, denen der Tod von der Krankheit sicher und zwar bald bevor stehe. So falle „der Zeitunterschied zwischen dem infolge der Krankheit vorauszusehenden und dem durch das unterschobene Mittel verursachten Tode nicht in Betracht“.76 Der als „Euthanasie“ verstandene Vorgang sei rechtlich wie folgt anzusiedeln: „Durch die ‚reine Heilhandlung‘[!] des Arztes werde an der ‚toddrohenden‘ Lage nichts geändert ‚als die Vertauschung dieser vorhandenen Todesursache durch eine andere von der gleichen Wirkung‘ […]. Dies war für Binding ‚keine Tötungshandlung im Rechtssinne’. Demnach sei die Handlung ‚unverboten‘, auch wenn sie im Gesetz (§216) nicht explizit als freigegeben erwähnt werde. Dabei komme es auf die Einwilligung des Verlangenden nicht an, auch momentan Bewusstlose könnten ‚Gegenstand dieses heilenden Eingriffes sein‘.“77 Anhand von Bindings Ausführungen zerfielen die für die Freigabe der Tötung in Betracht kommenden Menschen in drei Gruppen. Benzenhöfer fasst zusammen: 1. „Die erste Gruppe bestehe aus Menschen, ‚die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben‘ […] In diesem Fall werde die Tat also sowohl durch die Einwilligung des Verlangenden als auch durch das Motiv des Mitleids ‚privilegiert‘, weshalb es – so Binding – keinen Grund gebe, die Tötung für diese Gruppe nicht freizugeben. Er hielt die Freigabe für eine ‚Pflicht gesetzlichen Mitleids‘ […]. Unbedingt notwendig sei allerdings die Ernstlichkeit der Einwilligung und die richtige Erkenntnis des Einwilligenden und des Tötenden. Binding wollte also eine Revision des §216. 2. Die zweite Gruppe bestehe ‚aus unheilbar Blödsinnigen – einerlei ob sie so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind‘ […]. ‚Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stösst diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste‘ […]. Er [Binding] sah nur Menschen, ‚die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet‘ […]. Für ihn war also die Tötung dieser Menschen ebenfalls freizugeben, zwar nicht für jedermann, aber doch auf jeden Fall für die Angehörigen. 76 77 Binding 1920, S. 17 Benzenhöfer 2009, S. 90 36 3. Es gebe dann noch eine ‚Mittelgruppe‘, die der ‚geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis, etwa sehr schwere, zweifellos tödliche Verwundung, bewusstlos geworden sind, und die, wenn sie aus ihrer Bewusstlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden‘ […]. Binding plädierte auch diesfalls für die Freigabe der Tötung, auch wenn eine Einwilligung nicht vorliege. Eine Regelbehandlung für solche Fälle liesse sich jedoch nicht aufstellen. Im schlimmsten Falle, wenn sich herausstellen würde, dass der Täter übereilt gehandelt habe, könne er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden.“78 Im zweiten Teil des Werkes fanden sich „Ärztliche Bemerkungen“ von Hoche, worin er festhielt, dass die Ärzte es „z.B. zweifellos als eine Entlastung ihres Gewissens empfinden [würden], wenn sie in ihrem Handeln am Sterbebett nicht mehr von dem kategorischen Gebote der unbedingten Lebensverängerung eingeengt und bedrückt würden.“79 Hoche bejahte „mit Bestimmtheit“ die Frage, ob es Menschenleben gebe, die so stark die Eigenschaft eines Rechtsgutes eingebüsst hätten, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren habe. Er sah vor allem in Bindings zweiter Gruppe jene Menschen, die die Kriterien des „Wertverlustes“ erfüllten. Insbesondere die Gruppe der „Frühverblödeten“ schlug Hoche zur Vernichtung vor und schuf den Begriff „Kategorie der Ballastexistenzen“: „Die Frage, ob der für diese ‚Kategorien der Ballastexistenzen‘ nötige Aufwand gerechtfertigt sei, habe sich in den ‚verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend gestellt‘ […]. Doch jetzt sei die Lage ‚wie die der Teilnehmer einer schwierigen Expedition, bei welcher die grösste Leistungsfähigkeit aller die unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet […]‘. Im letzten Abschnitt seiner Ausführungen wurde Hoche dann noch prophetisch: ‚Eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen‘.“80 Die durch diese Schrift ausgelöste Kontroverse brachte erneut Zustimmung wie auch Kritik ein. Die deutschen Ärzte wandten sich mehrheitlich gegen die Freigabe der „Vernichtung 78 Benzenhöfer 2009, S. 91f. Hoche 1920, S. 50 80 Benzenhöfer 2009, S. 93 79 37 lebensunwerten Lebens“. Am „Deutschen Ärztetag“ 1921 in Karlsruhe wurde ein entsprechender Antrag zur „gesetzlichen Freigabe“ der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ nahezu einstimmig abgelehnt. Eugen Wauschkuhn (Berlin-Buch) schrieb 1922 in der „Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift“ mit Bezug auf das Buch von Binding/Hoche und auf den Gesetzesentwurf von Borchardts von 1922: „Man sieht, die Synthese von Arzt und Henker, die den Professoren schwante und die der deutschen Kultur auf die Beine helfen soll, ist dem praktischen Borchardt spielend geglückt […]. Vielleicht ist es erlaubt zu fragen, wie lange unsere Menschheitsbeglücker ihre Hinrichtungen mit ärztlichem Henker nur auf Geisteskranke beschränken werden? Wann werden sie entdecken, dass Kriegsbeschädigte, Arbeitsinvalide, Blinde, Taubstumme, Tuberkulöse und Krebskranke nicht produktiv genug sind?“81 Auf die Euthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus wird in dieser Arbeit nicht eingegangen, da sie die Thematik der Beihilfe zum Suizid nicht beinhaltet. Vielmehr ging es in jener Zeit darum, die gezielten Tötungen unter dem Begriff „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im juristischen Rahmen zu legitimieren. Von einer „Tötung auf Verlangen“ geschweige denn einer „Beihilfe zum Suizid“ kann keine Rede sein. 2.5 Zur Diskussion um „Euthanasie“ und Sterbehilfe im deutschsprachigen Raum (1945 bis ca. 1980) Dominierend nach 1945 war die Aufarbeitung der „NS-Euthanasie“, auf die aus oben genannten Gründen nur punktuell eingegangen wird. Erwähnenswert ist die Ärztin Alice PlatenHallermund (1910-2008), welche 1948 das Buch „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ herausgab, gestützt auf Beobachtungen aus den Prozessen der Angeklagten der „NSEuthanasie“-Verbrechen. Platen-Hallermund hielt darin fest, dass der Arzt nur die Aufgabe habe, Krankheiten zu heilen oder Leiden zu lindern, jedoch nicht die, Richter über Leben und Tod zu sein. Sie lehnte entsprechend entschieden Forderungen nach „Euthanasie mit Einwilligung“ ab, wie sie ca. 1947 von amerikanischen Ärzten gestellt worden waren. „Diese freiwillige Euthanasie, die als so human gepriesen wird, kann nur dort vertreten werden, wo ein flacher Eudaimonismus82 die wirklichen Grundlagen des Menschseins erschüttert hat und der Mensch von Tod und Leiden nichts wissen will.“83 81 Wauschkuhn 1922/23, S. 217 Der Eudaimonismus ist eine philosophische Lehre oder Haltung aus dem Bereich der Ethik, welche die Eudaimonie, d. h. das Glück, das gelingende oder das schöne Leben als Ziel allen Strebens betrachtet (aus Wikipedia, Eudämonismus). 83 Platen-Hallermund 1993, S. 10 82 38 Die weitere Diskussion um „Euthanasie“ und Sterbehilfe wurde in den 50er und 60er Jahren durch die Entwicklung der Intensivmedizin geprägt. Die zentrale Errungenschaft der Intensivmedizin war die optimierte Reanimationstechnik mit Mund-zu-Mund-Beatmung, extrathorakaler Herzmassage und elektrischer Defibrillation. Bereits bestehende Behandlungsmethoden wurden verfeinert und verbessert (Infusion von Blutersatzmitteln; Beatmungsgeräte, welche eine Langzeitbeatmung ermöglichten). Einhergehend mit diesen medizinischen Neuerungen nahm seit Ende der 50er Jahre die Zahl der Publikationen zu ethischen Fragen der Reanimation und Lebensverlängerung inklusive Sterbehilfe stetig zu. Im deutschsprachigen Raum bildete sich einen Konsens heraus, dahingehend, dass die Nichtaufnahme bzw. der Abbruch einer Intensivtherapie unter bestimmten Umständen zulässig sei. Jedoch wurde bis in die 70er Jahre kaum für eine „aktive Sterbehilfe“ argumentiert. Diese Diskussion entzündete sich erst an einem Prozess, der 1973 in den Niederlanden geführt wurde: „Im Februar 1973 musste sich die Ärztin G. Postma-van Boven aus Noordwolde vor einem Gericht in Leeuwarden verantworten. Sie hatte im Oktober 1971 ihre 78-jährige Mutter, die nach einem Schlaganfall teilweise gelähmt war und in einem Heim gepflegt wurde, auf deren Bitte durch die Injektion von 200mg Morphin getötet. Die Ärztin wurde zu einer eher symbolischen Strafe von einer Woche Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt. […] Einflussreiche deutsche Journalisten, offenkundig durchweg mit Sympathien für die ‚aktive Sterbehilfe‘, versuchten, im Zuge ihrer Berichterstattung über diesen Fall, die ‚Euthanasie‘-Diskussion in Deutschland zu ‚enttabuisieren‘ und eine ‚neue Euthanasie-Debatte‘ einzuleiten. […] Zunächst erschien am 5.2.1973 ein (namentlich nicht gezeichneter) kurzer Artikel im ‚Spiegel‘84. Im ‚Aufmacher‘ hiess es, dass die holländische Ärztin ‚ihre todkranke [...] Mutter mit Morphium erlöste [...]‘. Im Artikel wurde pflichtschuldig darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik diesbezüglich die Rechtslage eindeutig sei, ‚Sterbehilfe‘ dieser Art sei vorsätzliche Tötung. In einer seltsamen Denkbewegung fuhr der Verfasser dann fort: ‚Für deutsche Nachkriegsmediziner ist das Thema Euthanasie wegen der grausamen Verzerrung des Begriffs vom guten Tod durch NS-Ärzte ohnedies [...] tabu, obwohl Krankenhausärzte auch hierzulande täglich mindestens mit dem Problem des indirekten oder passiven Gnadentods konfrontiert sind.‘ Als einer der wenigen deutschen Ärzte, die ‚das beim Namen nennen‘, wurde der Bonner Neurochirurg Peter Röttgen genannt, der für Patienten, die ‚ohne Bewusstsein unrettbar 84 [Anonym] 1973, S. 74. Alle Zitate im laufenden Text wurden dieser Seite des „Spiegels“ entnommen. 39 dahindämmern [...]‘, das ‚Recht zu sterben‘ fordere. Was Röttgen genau darunter verstand, wurde nicht geklärt. […] Im ‚Stern‘ vom 15.2.1973 erschien ein Bericht von Peter Grubbe mit dem reisserischen Titel ‚Sterbehilfe. 200 Milligramm Morphium in die Vene.‘85 […] Seit die moderne Medizin aber nicht nur das Leben, sondern auch das Leiden der Menschen verlängern könne, würden sich Ärzte und Patienten fragen, ‚ob das richtig ist‘ […]. In Deutschland sei ‚eine offene Diskussion dieser Frage durch Erinnerungen [...] an die Nazis belastet, die viele Tausend Menschen ermorden liessen [...], weil sie ihnen nicht ‚lebenswert’ erschienen‘ […]. Der aus diesem Artikel zu gewinnende Eindruck, dass der ‚Stern‘ im Hinblick auf die ‚aktive Sterbehilfe‘ durchaus permissiv eingestellt war, wurde noch verstärkt durch einen Kommentar von Sebastian Haffner mit dem Titel ‚Ein Recht auf den Tod‘.86 Der Publizist plädierte, auch wenn er auf Gegenargumente hinwies, letztlich doch für die Freigabe der ‚aktiven Sterbehilfe‘ auf Verlangen: ‚[…] wenn ein für allemal ganz klargemacht wird, dass die Entscheidung bei ihm [dem Patienten] liegt und nicht beim Arzt – warum dann eigentlich nicht Euthanasie? Mir scheint, das Recht auf einen leichten Tod ist ein Menschenrecht.‘87 […] Ob es die Wirkung dieser Veröffentlichungen von ‚Avantgardisten‘ war oder ob sich einfach der ‚Zeitgeist‘ verändert hatte (und die zitierten Veröffentlichungen nur den veränderten ‚Zeitgeist‘ widerspiegelten), ist unklar, doch laut einer EMNID-Umfrage stimmten im Mai 1973 52% der befragten Erwachsenen in Deutschland für den ‚Gnadentod auf Wunsch’.“ 88 2.5.1 „Ärztliche Richtlinien“ mit Ausblick Ende Januar 1976 tagte in Strassburg die Parlamentarische Versammlung des Europarates, welche sich mit dem Thema der „Rechte der Kranken und Sterbenden“ auseinandersetzte89. In der von der Versammlung ausgearbeiteten Empfehlung wurde festgehalten, „dass seit einiger Zeit allgemeine Übereinstimmung darüber herrsche, dass die Ärzte in erster Linie den Willen der kranken Menschen respektieren sollten. Die Verlängerung des Lebens ‚als solches‘ dürfe nicht ausschliessliches Ziel der medizinischen Praxis sein. Der Arzt habe aber ‚kein Recht, den natürlichen Verlauf des Sterbens absichtlich zu beschleunigen‘.“90 85 Grubbe 1973, S. 126-128 Haffner 1973, S. 128 87 Haffner 1973, S. 128 88 Benzenhöfer 2009, S. 126-128 89 Verhandlungen des Deutschen Bundestages [1976], S. 27-29 und S. 31f. 90 Benzenhöfer 2009, S. 129 86 40 Die Regierungen der einzelnen Ländern wurden aufgefordert, sich zu diesem Thema Gedanken zu machen und Kommissionen zu bilden, welche „ethische Grundsätze für die Behandlung von Sterbenden“ und „ärztliche Richtlinien für die Anwendung von aussergewöhnlichen Massnahmen zur Verlängerung des Lebens“ diskutieren und festlegen sollten. Diese Empfehlung wurde zunächst in der Schweiz von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) umgesetzt. 1976 wurde die „Richtlinie für die Sterbehilfe“ veröffentlicht. Es handelt sich um die von der SAMW veröffentlichte 3. Richtlinie überhaupt (nach „Definition und die Diagnose des Todes“ 1969 und „Forschungsuntersuchungen am Menschen“ 1970). „Darin [Richtlinie für die Sterbehilfe 1976] hiess es, dass der Arzt den Willen des urteilsfähigen Patienten zu respektieren habe. Beim bewusstlosen oder sonst urteilsunfähigen Patienten sei nach ‚medizinischen Indikationen‘ im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag vorzugehen. Hinweise auf den mutmasslichen Willen des Patienten seien zu berücksichtigen. Wichtig war der folgende Passus: ‚Beim Sterbenden, auf den Tod Kranken oder lebensgefährlich Verletzten – bei dem das Grundleiden mit infauster Prognose einen irreversiblen Verlauf genommen hat und – der kein bewusstes und umweltbezogenes Leben mit eigener Persönlichkeitsgestaltung wird führen können lindert der Arzt die Beschwerden. Er ist aber nicht verpflichtet, alle der Lebensverlängerung dienenden therapeutischen Möglichkeiten einzusetzen.‘ Damit war die ‚passive Sterbehilfe‘ bei bestimmten Patienten zulässig. Auf die Strafbarkeit der ‚aktiven Sterbehilfe‘ wurde ausdrücklich hingewiesen.“91 Drei Jahre später, im April 1979 wurde von der deutschen Bundesärztekammer ebenfalls eine „Richtlinie für die Sterbehilfe“ verabschiedet, welche sich eng an jene Richtlinie der SAMW anlehnte. 91 Benzenhöfer 2009, S. 129 41 3 Die Suizidbeihilfe – eine ärztliche Tätigkeit? Die Diskussion der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften von 1995-2004 3.1 Wer ist die SAMW und was tut sie? Im Jahre 1943 gründeten die fünf Medizinischen und die zwei Veterinärmedizinischen Fakultäten zusammen mit der Verbindung der Schweizer Ärzte FMH die Stiftung Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) mit folgenden Zielen und Schwerpunkten92: - die Klärung ethischer Fragen im Zusammenhang mit medizinischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft; - eine umfassende Reflexion über die Zukunft der Medizin; - Engagement in der Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungspolitik, verbunden mit einer Experten- bzw. Beratungstätigkeit zuhanden von Politik und Behörden; - Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, insbesondere in der klinischen Forschung; - Die Unterstützung der hohen Forschungsqualität in der biomedizinischen und klinischen Forschung; - Die Verbindung der wissenschaftlichen Medizin mit der Praxis. Gemäss ihrem Leitbild strebt die SAMW nach einem Dialog zwischen Medizin und gesellschaftlichem Umfeld mit entsprechender Würdigung neuer Entwicklungen. Die zentrale Aktivität der medizinischen Fachpersonen beinhaltet die Versorgung der gesundheitlichen Bedürfnisse der Patienten nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, reflektiertem Erfahrungswissen und ethischen Prinzipien. Die Forschung wird als unerlässlicher Bestandteil einer fortgeschrittenen, wissenschaftlich fundierten Medizin angesehen. Die SAMW hat sich entsprechend ihren Leitgedanken zur Aufgabe gemacht, eine hohe Qualität in der Medizin zu unterstützen, den Nachwuchs insbesondere in der klinischen Forschung zu fördern, die Früherkennung neuer wissenschaftlicher Entwicklungen voranzutreiben und sich für eine rasche Umsetzung gesicherter Erkenntnisse in die Praxis einzusetzen. Als oberstes Organ der Akademie fungiert der Senat, der sich aus Ehren-, Einzel- und korrespondierenden Mitgliedern, den Vertretern der Gründerfakultäten, der Verbindung Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, der Medizinischen Fachgesellschaften sowie weiteren Organisationen zusammensetzt. 92 www.samw.ch; Auftrag und Organisation 42 Zweimal im Jahr tritt der Senat zusammen. Die aktuellen Geschäfte sowie die Durchführung der vom Senat gefassten Beschlüsse werden vom Vorstand kontrolliert und betreut. Ebenfalls obliegt dem Vorstand die Aufgabe der Ausarbeitung und Genehmigung von Stellungsnahmen und Positionspapieren. Der Vorstand bildet sich aus dem Stiftungspräsidenten, zwei Vizepräsidenten, dem Quästor, dem Präsidenten FMH, dem Präsidenten der ZEK und zwei bis sieben Beisitzenden. Er trifft sich mindestens viermal jährlich. Das Generalsekretariat, bestehend aus dem Generalsekretär, ist direkt dem Präsidenten unterstellt und kümmert sich vor allem um die administrativen Arbeiten. Die Kontrollstelle besteht aus zwei ordentlichen Rechnungsrevisoren und zwei Suppleanten. Sie überprüfen das gesamte Rechnungswesen der Akademie und ihrer Kommissionen. Im Rahmen des Forschungsgesetzes wird die SAMW vom Bund subventioniert. Weitere finanzielle Mittel kommen aus Fondserträgen und durch Zuwendungen Dritter. Weitere Stiftungsorgane sind die Kommissionen und deren Subkommissionen. Kommissionen werden zur Ausführung bestimmter Aufgaben vom Senat zusammengestellt und eingesetzt, bearbeiten ihre Aufgabe jedoch selbständig. Sie müssen einmal jährlich über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegen. Sämtliche Kommissionsberichte werden im Jahresbericht der Akademie veröffentlicht. Aktuell unterhält die SAMW folgende 12 Kommissionen93: - Beratende Kommission für die Umsetzung der Richtlinien „Zusammenarbeit Ärzteschaft-Industrie“ - Begutachtungskommission des Bing-Preises, des Ott-Fonds und des Alzheimer-& Depressions-Fonds - Biomedizinische Bibliotheken - Begleitkommission Qualitätsempfehlungen - Ethikkommission für Tierversuche - Fluor- und Jodkommission - Käthe-Zingg-Schwichtenberg-Fonds - Expertenkommission des Dr. med. – und Dr. phil.-Programm - Expertenkommission RRMA94 - Schweizerische Stiftung für Medizinisch-Biologische Stipendien (SSMBS) - Zentrale Ethikkommission (ZEK) Für die vorliegende Arbeit ist die Arbeit der ZEK relevant, weshalb diese Kommission etwas genauer vorgestellt wird. Die ZEK antizipiert und diskutiert ethische Probleme der Medizin, verfasst Stellungnahmen zu entsprechenden Themen, fördert den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit verwandten Institutionen und erarbeitet ethische Richtlinien und Empfehlungen als Hilfestel93 94 www.samw.ch/de/Portraet/Kommissionen; November 2010 Commission „Recherche et réalisation en médecine appliquée“ 43 lung für die medizinische Praxis oder die biomedizinische Forschung. Diese Richtlinien werden in der Regel in die Standesordnung der FMH aufgenommen und dadurch für FMH-Mitglieder verbindlich. Die Empfehlungen werden in regelmässigen Abständen überprüft und revidiert. Hierzu werden Subkommissionen gebildet, in denen Vertreter aller entsprechenden Fach- und Meinungsrichtungen ausgewogen einbezogen werden. So existieren in der Schweiz nicht nur diese bereits erwähnten ersten drei Richtlinien („Definition und die Diagnose des Todes“ 1969; „Forschungsuntersuchungen am Menschen“ 1970; „Richtlinie für die Sterbehilfe“ 1976). Im Rahmen der technischen Fortschritte, insbesondere der Intensivmedizin, wurden spezifische Richtlinien betreffend einzelner Patientengruppen ausgearbeitet, die sich alle in gewisser Weise mit der Selbstbestimmung des Patienten oder mit Grenzsituationen am Ende des Lebens befassen. Die aktuell gültigen Richtlinien der SAMW (Stand November 2010), welche die Thematik der Sterbehilfe beinhalten oder streifen, sind95: Patientenverfügungen (2009) Reanimationsentscheidungen (2008) Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung (2008) Palliative Care (2006) Recht der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung (2005) Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende (2004) Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten (2003) Grenzfragen der Intensivmedizin (1999) Die „Richtlinie für die Sterbehilfe“ von 1976 wurde bereits mehreren Überarbeitungen unterzogen: 1981 erfolgte eine komplett überarbeitete Auflage, 1989 eine Neuauflage mit kleinen Änderungen. Aufgrund der hohen Komplexität und anhaltenden Kontroversen wurde die Thematik in der Folge konkreter eingegrenzt: „Ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten“ 1995, welche 2003 abgelöst wurde durch „Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten“ und ergänzend 2004 „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“. So hiess es in den ärztlichen Ausführungen der „Richtlinie für die Sterbehilfe“ 1976 der SAMW noch: „[…] Er [der Patient] ist ein in Todesgefahr Schwebender, und es versteht sich von selbst, dass stets die Lebenserhaltung und wenn möglich die Heilung anzustreben ist. 95 Sämtliche aktuelle medizinisch-ethische Richtlinien finden sich auf: www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Aktuell-gueltige-Richtlinien.html 44 In solchen Fällen hat der Arzt diejenigen Hilfsmittel einzusetzen, die ihm zur Verfügung stehen und geboten erscheinen. Diesen Patienten zu behandeln, ist Lebenshilfe und keine Sterbehilfe.“96 Wie oben bereits erwähnt, wurde – auch bei bestehendem Wunsch des Patienten – auf die Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe hingewiesen. Dieses Gedankengut wurde in der Überarbeitung der Richtlinie 1981 grundsätzlich übernommen. Neu war 1981, dass das Pflegepersonal, d.h. also nicht-ärztliche Personen, in die Richtlinie mit einbezogen wurde. Ebenfalls wurde in der neuen Richtlinie der Wille des Patienten stärker gewichtet. So wurde darauf hingewiesen, dass der Wille des urteilsfähigen Patienten, nach dessen umfassender Aufklärung, zu respektieren sei, auch wenn er sich nicht mit der medizinischen Indikation decke. In der erneuten Überarbeitung von 2004 „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ wurde die Respektierung des Willens des urteilsfähigen Patienten als zentral für das ärztliche Handeln dargestellt. So lautet einer der ersten Punkte „Recht auf Selbstbestimmung“. Die Aufgabe des Arztes und des Pflegepersonals wurde definiert als das Lindern von Leiden und den Erhalt einer bestmöglichen Lebensqualität. Als 4. Punkt wurde die Thematik „Grenzen des ärztlichen Handelns“ aufgenommen. Unter diesem Punkt findet sich ein Abschnitt „Beihilfe zum Suizid“, dessen Entstehung und Kontroverse das Kernstück dieser vorliegenden Arbeit ausmachen. 96 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1976, S. 3 45 Abbildung 1: Organisation der SAMW 46 3.2 Die aktuelle Situation der Suizidbeihilfe in der Schweiz (November 2010) 2004 wurde in der heute noch gültigen Richtlinie „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ festgehalten: „Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt für alle Personen. Die Rolle des Arztes besteht bei Patienten am Lebensende darin, Symptome zu lindern und den Patienten zu begleiten. Es ist nicht seine Aufgabe, von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern er ist im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrunde liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern. Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und dauerhaft bestehen bleiben. In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Konflikt entstehen. Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. Entschliesst er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen: – Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist. – Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. – Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss. Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall durch den Patienten selbst durchgeführt werden.“97 In der Schweiz ist Beihilfe zum Suizid (dies gilt für Ärzte und nicht-ärztliches Personal) straflos, wenn sie nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen geschieht. Gesundheitliche Probleme des Sterbewilligen sind laut Gesetz (Strafgesetzbuch Art. 115) keine zwingend notwendige 97 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende 2004, S. 6 47 Voraussetzungen, ebenso wenig der Einbezug eines Arztes. Zentrale Themen waren entsprechend in den letzten Jahren nicht nur der ärztlich-assistierte Suizid, sondern auch die wiederholt in die Schlagzeilen geratenen Sterbehilforganisationen „Exit“ und „Dignitas“. 3.2.1 Die beiden Sterbehilfeorganisationen der Schweiz: EXIT und DIGNITAS „Exit“ wirbt auf seiner Webseite mit dem Titel: „Exit – Selbstbestimmung im Leben und im Sterben“ 98. Die Gründung erfolgte am 3. April 1982 in Form eines Vereins. Der Mitgliederbeitrag beträgt 45 sFr. jährlich oder 900 sFr. als Mitglied auf Lebenszeit. Um eine kostenlose Freitodbegleitung in Anspruch nehmen zu können, ist mindestens eine 3-jährige Mitgliedschaft notwendig, ansonsten werden Kosten im Rahmen des Mitgliederbeitrags auf Lebenszeit erhoben. „Exit“ bietet zudem Dienstleistungen im Rahmen der Unterstützung zur Durchsetzung einer Patientenverfügung, Schutz in medizinischen Grenzsituationen und diverse Beratungen an. Des Weiteren setzt sich der Verein politisch für eine liberalere Gesetzgebung im Bereich der Freitodhilfe ein. Obwohl das Gesetz für den Freitod einzig die Urteils99- und Handlungsfähigkeit voraussetzt, sowie die Wohlerwogenheit und Konstanz des Sterbewunsches ohne Beeinflussung durch Dritte, begleitet „Exit“, gemäss Statuten, nur Menschen mit hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbarer Behinderung. Die Sterbewilligen müssen „Exit“-Vereinsmitglied, mindestens 18 Jahre alt sein und ihren Wohnsitz in der Schweiz haben. Unter speziellen Bedingungen und strengen Auflagen ist auch eine Freitodbegleitung für Menschen mit psychischen Leiden möglich. „Dignitas“ wurde am 17. Mai 1998 von Ludwig A. Minelli gegründet, ist ebenfalls als Verein organisiert und hat in seiner Webseite das Ziel „Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“ formuliert100. Mit einer einmaligen Eintrittsgebühr von 200 sFr. und einem jährlichem Mitgliederbeitrag von mindestens 80 sFr. wird das Mitglied in der Durchsetzung seines Willens unterstützt. Die Unterstützung beschränkt sich – wie bei „Exit“ – nicht nur auf die Sterbebegleitung. „Dignitas“ gelangte wiederholt negativ in die Schlagzeilen, da die Sterbebegleitungen in eigens dafür gemieteten Wohnungen stattfanden und auch für ausländische Klienten zu erlangen waren, was zu einer Art „Sterbetourismus“ führt(e). 98 www.exit.ch (Stand Oktober 2010) Urteilsfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes ist ein jeder, dem nicht wegen seines Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Art. 16. 100 www.dignitas.ch (Stand Oktober 2010) 99 48 3.3 Grundgedanken zur Diskussion in der Schweiz für die Überarbeitung der Sterbehilferichtlinie der SAMW von 1995 In der „Medizinisch-ethischen Richtlinie für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten“ von 1995 unter Abschnitt 2.2 „Urteilsfähiger Patient“ ist zu lesen: „Beihilfe zum Suizid ist keine ärztliche Tätigkeit. Der Arzt bemüht sich die körperlichen und seelischen Leiden, die einen Patienten zu Suizidabsichten führen können, zu lindern und zu ihrer Heilung beizutragen.“ 101 Entsprechend der Richtlinie von 1995 beinhaltete die Grundsatzdiskussion für die neue Richtlinie denn auch die zentrale Frage: Ist Beihilfe zum Suizid mit dem ärztlichen Ethos zu vereinbaren? Weiter wurde die Frage aufgeworfen, ob prinzipielle ethische Überlegungen zur Entscheidung dieser Frage reichten oder ob nicht von der Praxis ausgegangen und eine realistische Regelung innerhalb strenger Grenzen gesucht werden muss und ob überhaupt eine Notwendigkeit bestehe, ein bestehendes Gesetz (StGB Art. 115) für Ärzte zu „kommentieren“. Die Richtlinie wurde im Rahmen einer Subkommission der ZEK von interdisziplinär zusammengesetzten Mitgliedern in einem zweieinhalbjährigen Prozess erarbeitet. Dabei war die Ärzteschaft durch sieben Experten unterschiedlicher Fachdisziplinen vertreten, zwei Personen der Pflege sowie je eine Person aus den Disziplinen Recht, Psychologie, Seelsorge und Ethik. Ausgangspunkt für die Diskussion war StGB Art. 115: „Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord: Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.“ Der Gesetzesartikel lässt offen, wer hilft und aus welchen Motiven geholfen wird (einziger Ausschluss: selbstsüchtige Beweggründe). Entsprechend darf auch ein Arzt Suizidbeihilfe leisten. Über die moralische Bewertung wird damit nichts ausgesagt. Die Notwendigkeit dieses Gesetz zu „kommentieren“ wurde darum gesehen, weil es zu weit gefasst sei. Hingewiesen wurde insbesondere auf den Unterschied zwischen einem moralisch-richtigen Verhalten und einem nicht-strafbaren Verhalten, was für jeden Arzt zur Folge habe, für sich das grobmaschige Gesetz zu interpretieren. Unterschieden werden musste zudem, ob die Interpretation im Rahmen einer spezifischen Standesethik erfolgen sollte oder ob ärztliches Handeln in 101 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1995, S. 2 49 einem gesamtgesellschaftlichen Kontext richtig sein muss. Aufgrund eines Gerichtsfalles im Tessin (Missbrauch einer Patientin), welcher mit einem Freispruch endete, kam die Subkommission „Sterbehilfe“ zum Schluss, dass die aufgeworfenen Fragen im Rahmen des beruflichen Ethos beantwortet werden müssen. „Das (allgemein) als gut und richtig Erkannte muss für Ärzte ausformuliert werden in denjenigen Bereichen, welche ihre Arbeit betreffen (also z.B. Vertrauensverhältnis Arzt-Patientin).“102 3.4 Die ärztlichen Aufgaben Die generellen ärztlichen Hauptaufgaben wurden wie folgt festgehalten: Prävention, Heilung, Linderung und Begleitung. Die Suizidbeihilfe wurde eindeutig nicht als Teil des ärztlichen Handelns im Sinne der erwähnten vier Hauptaufgaben gesehen. Jedoch wurde festgehalten, dass Suizidbeihilfe aufgrund eines Gewissensentscheids eine menschliche Handlung sein kann, die auch von einem Arzt ausgeführt werden kann. Rasch wurde klar, dass bei einer Bejahung der Suizidbeihilfe durch Ärzte auf verschiedene Gefahren wie die der „Monopolisierung“ („Medikalisierung des Todes“), der Konfliktentstehung mit den ärztlichen Bemühungen um die Suizidprävention und einer negativen Ausweitung in der Interpretation von „unerträglichem Leiden/Schmerz“ bis zum „existentiellen Leiden“ hingewiesen werden muss. Die Aufgabe der SAMW wurde in der Übernahme einer „Barriere-Funktion“ gesehen. Eine gewisse Lockerung der ursprünglich vertretenen SAMWPosition (Suizidbeihilfe ist keine ärztliche Tätigkeit), jedoch unter strengsten Bedingungen, wurde somit denkbar: „Beihilfe zum Suizid kann unter bestimmten Bedingungen nachvollziehbar sein, es ist aber nicht Teil der ärztlichen Kernaufgaben (Ziele), sondern die Beihilfe erfolgt aus menschlicher Empathie […].“103 Ebenfalls wurde darauf hingewiesen, dass die Beihilfe zum Suizid nur in Einzelfällen moralisch zu rechtfertigen sei, jedoch nicht als allgemein anerkannte Praxis in Heimen, Spitälern und bei Hausärzten. Anhand der Schwierigkeit der Beurteilung von existentiellem Leiden wurde gezeigt, dass es sich hier wesentlich um ein gesellschaftliches und nicht (allein) medizinisches Problem handelt und daher auch von der Gesellschaft „gelöst“ werden muss. 102 103 Protokoll der 4. Sitzung der Subkommission ‚Sterbehilfe’; 05.11.2002, S. 2 Protokoll der 4. Sitzung der Subkommission ‚Sterbehilfe’; 05.11.2002, S. 2 50 Im August 2002 konnte in Bezug auf die ärztliche (ethische) Haltung zur Suizidbeihilfe eine Bandbreite zwischen ablehnender und Kompromissposition der Subkommission „Sterbehilfe“ beobachtet werden, wobei sich zwei „Grundströmungen“ zeigten: Für einen Teil der Mitglieder war die Notwendigkeit einer „Regelung“ in den Richtlinien zwingend, damit die Suizidbeihilfe der Halbillegalität enthoben und damit besser „kontrollierbar“ wird; andere befürchteten, dass eine „Regelung“ als Aufforderung missverstanden werden könnte. Einstimmigkeit bestand soweit, dass eine Formulierung gefunden werden müsse, die dem Dilemma dieser beiden „Grundströmungen“ Rechnung trage, sowie dass eine Suizidbeihilfe ohne vertrautes Arzt-Patientenverhältnis und ohne umfassende Abklärung der Urteilsfähigkeit auf keinen Fall erfolgen dürfe. Ebenfalls klar war, dass kein Arzt auf Wunsch des Betroffenen zur Suizidbeihilfe gezwungen werden kann, was unter dem Kapitel „Autonomie des Patienten“ diskutiert wurde: „[…] ein Arzt kann nicht gezwungen werden, gegen seinen Willen eine aus seiner Sicht unsinnige Intervention zu unternehmen, die Verpflichtung jedoch, auf Wunsch des Betroffenen auf eine aus seiner Sicht sinnvolle Intervention zu verzichten, ist verbindlich […].“104 3.5 Politische Vorstösse zum Thema der Sterbehilfe Auf politischer Ebene in der Schweiz wurde 1994 vom Nationalrat Victor Ruffy eine Motion eingereicht, die eine Änderung von Art. 115 (Beihilfe zum Suizid) forderte, welche die aktive Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen straflos erklären sollte. In der Folge wurde vom Bundesrat 1997 eine „Expertengruppe Sterbehilfe“ (präsidiert von Alt-Ständeratspräsidentin Josy Meier, Luzern) eingesetzt, die 1999 in einem Bericht drei Forderungen veröffentlichte: 1) Förderung der Palliativpflege in der Schweiz 2) Gesetzliche Regelung der passiven und der indirekt aktiven Sterbehilfe (palliative Massnahmen, v.a. Analgesie, bei denen als Nebenwirkung ein rascheres Eintreten des Todes in Kauf genommen wird) 3) Ergänzung von Art. 114 (Tötung auf Verlangen): auf eine Strafverfolgung kann verzichtet werden, wenn der Täter eine todkranke Person auf ihren dringlichen Wunsch hin tötet (Mehrheitsmeinung; eine Minderheit war gegen die aktive Sterbehilfe). Der Bundesrat übernahm in seiner Antwort vom 5. Juli 2000 die Minderheitsmeinung. Im September des gleichen Jahres reichte Nationalrat Franco Cavalli eine parlamentarische Initiative ein, die vom Bundesrat die Regelung der aktiven Sterbehilfe gemäss dem Mehrheitsvorschlag der Expertengruppe unter Einbezug der neu konstituierten nationalen Ethikkommission forderte. Im März 2001 verlangte Nationalrätin Dorle Vallender in einer parla- 104 Protokoll der 4. Sitzung der Subkommission ‚Sterbehilfe’; 05.11.2002, S. 3 51 mentarischen Initiative105 ebenfalls die Strafloserklärung der aktiven Sterbehilfe, während Nationalrat Guido Zäch in seiner Motion106 vom 3. Oktober 2001 die Vorschläge der Minderheit der Expertengruppe aufnahm. Der Nationalrat lehnte am 11. Dezember 2001 die Begehren Cavalli und Vallender ab, die Motion Zäch wurden in der Form eines Postulats überwiesen. Damit hatte sich das Parlament zu Aufgabe gemacht, die passive und indirekt aktive Sterbehilfe gesetzlich zu regeln. Ende September 2002 reichte Dorle Vallender erneut eine Motion107 „Sterbehilfe und ‚Sterbetourismus’“ ein. Darin verlangte sie, Suizidbeihilfe nur für in der Schweiz wohnhafte Personen zu erlauben, sowie die Sterbehilfeorganisationen einer Bewilligungspflicht zu unterstellen. Die Stellungnahme des Bundesrates vom 29. November 2002 verwies auf den im Juni 2000 erschienen Bericht der Arbeitsgruppe „Sterbehilfe“, welche eine Änderung der gesetzlichen Regelung der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord als nicht notwendig erachtete. Die Tätigkeiten von Vereinen wie „Exit“ und „Dignitas“ wurden im Bereich des legalen Rahmens („aus uneigennützigen Beweggründen“) beurteilt. In der Stellungnahme wurde zudem die Richtlinie der SAMW von 1995 zitiert, worin stand, dass die Suizidbeihilfe „kein Teil der ärztlichen Tätigkeit“ darstelle. Bezüglich „Sterbetourismus“ wurde jedoch durchaus Handlungsbedarf gesehen, insbesondere darum, weil das schweizerische Strafgesetz liberaler als das geltende Recht der anderen europäischen Staaten sei und man Konfliktpotential mit den Nachbarländern minimieren wollte. Am 11. April 2003 wurde eine weitere Motion (03.3180) der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates eingereicht, die Handlungsbedarf zur Thematik der Sterbehilfe und Palliativmedizin sah. Dieser Vorstoss wurde im Juni 2003 vom Ständerat und im März 2004 vom Nationalrat angenommen. Im Europarat wurde die Thematik der Suizidbeihilfe aufgrund einer „Proposition de résolution“108, vorgebracht von M. Monfils, ab Juli 2001 intensiv diskutiert. In der Resolution wurde festgehalten, dass es durchaus Ärzte gebe, die bei Patienten in terminalen Phasen oder bei andauernden und unerträglichen Leiden ohne Hoffnung auf Besserung bereit seien, auf Wunsch des Patienten Suizidbeihilfe zu leisten. Des Weiteren wurde festgestellt, dass solche Praktiken bereits Realität seien, in den meisten Ländern jedoch illegal, aber in vereinzelten Staaten unter gewissen Bedingungen toleriert würden. Gerade weil einzelne Staaten (Niederlande, Belgien) eine entsprechende Gesetzgebung vorsehen würden, sei es notwendig, 105 Parlamentarische Initiative Vallender (01.407) 14.03.2001, Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord. Neufassung von Artikel 115 StGB 106 Guido Zäch, Motion (01.3523) 03.10.2001, Sterbehilfe. Gesetzeslücken schliessen statt Tötung erlauben (Regelung der passiven Sterbehilfe und der indirekt aktiven Sterbehilfe, Förderung der Palliativmedizin). 107 Dorle Vallender, Motion (02.3500), Sterbehilfe und „Sterbetourismus” (Änderung von Art. 115 StGB, Schaffung eines Rahmengesetzes), 30.09.2002 108 Conseil de l’Europe, Assemblée parlementaire, Euthanasie, Doc. 9170, Proposition de resolution présentées par Ph. Monfils et plusieurs de ses collègues 52 im Rahmen der bestehenden moralischen und spirituellen Werte der gesamten Organisation diese Fragen zu diskutieren und eine Empfehlung oder Konvention zu verabschieden, in welcher definiert wird, unter welchen Bedingungen Ärzte und Pflegepersonal („[…] les médecins et le personnel qui les assiste […].“109) in solchen Fällen intervenieren können, ohne eine Verurteilung fürchten zu müssen. Die Befürworter argumentierten mit der bereits bestehenden Realität, dass Suizidbeihilfe durchgeführt werde und bei legaler Regelung nicht in den Bereich obskurer, undurchsichtiger Praktiken („derrière des portes closes“) abgeschoben würde. Die Patientenautonomie war ein weiteres wichtiges Argument: Verlange der Patient nichts, geschehe nichts. Kein Arzt könne die Euthanasie als „Behandlung“ empfehlen. Zudem bestehe ein enormer Rückhalt der Suizidbeihilfe in der Gesellschaft aller europäischen Länder. Aufgezeigt wurden ergänzend die Grenzen der Palliativmedizin, die in Einzelfällen eine Suizidbeihilfe rechtfertigen können. Die Gegner argumentierten mit der Missbrauchsgefahr eines solchen Gesetzes sowie dem für die betroffenen Patienten entstehenden Druck, diesen Weg zu wählen. Die Schwierigkeit in diesem Umfeld ein entsprechendes Vertrauensverhältnis Arzt-Patient aufzubauen, wurde aufgezeigt. Eine wichtige Rolle auf Seiten der Gegner einer Liberalisierung von passiver Sterbehilfe und aktiver Euthanasie, spielte das Buch von Keown: „Euthanasia, Ethics and Public Policy, an Argument against Legalisation“110. Als besonders bedenkenswert daraus wurde das „catch-22-argument“ gesehen, welches im Dezember 2002 ebenfalls in die Diskussion der Subkommission der SAMW-Arbeitsgruppe zur Suizidbeihilfe Eingang fand. Darin argumentierte Keown wie folgt: „Wird die moralische Relevanz zwischen bloss Zulassen und Beabsichtigen aufgegeben (und das tun die Mehrzahl der Ethiker heute, indem sie die Direkt-IndirektUnterscheidung als irrelevant und heuchlerisch zurückweisen), dann wird auch der Widerstand gegen die von allen problematisierte nicht-freiwillige aktive Euthanasie […] unmöglich! Denn wenn diese Unterscheidung aufgegeben wird, lassen sich alle die Situationen, in denen ein Arzt/eine Ärztin heute einen Eingriff mit lebensverkürzender Wirkung unternimmt [aktives Handeln wie Verabreichung von möglicherweise lebensverkürzend wirkenden Schmerzmitteln/ ‚passive‘ Unterlassung von lebenserhaltenden Massnahmen wie künstliche Ernährung, Beatmung, Antibiose], nur noch als Fälle von aktiver Sterbehilfe beschreiben; da aber der aktuelle Wille des Betroffenen häufig nicht mehr zu erfragen ist, wäre dafür die einzig korrekte Beschreibung die LAWER-Definition [Life Termination Acts Without Explicit Request]. In der Konse109 Conseil de l’Europe, Assemblée parlementaire, Euthanasie, Doc. 9170, Proposition de resolution présentées par M. Monfils et plusieurs de ses collègues 110 John Keown 2002, Cambridge University Press 53 quenz heisst dies, dass man nicht gleichzeitig für die Abschaffung der Direkt-IndirektUnterscheidung plädieren und sich gegen die nicht-freiwillige aktive Sterbehilfe einsetzen kann, weil dies widersprüchlich ist.“111 Zur Verdeutlichung wird der Orignialtext von Keown zitiert: „Finally, the third definition of euthanasia112 – as embracing both intended and forseen life-shortening – creates a particulary embarrassing problem for those many supporters of VAE [voluntary active euthanasia] who adopt it and who oppose NVAE [non-voluntary active euthanasia]. For if: 1 they equate intended death with foreseen death, and 2 they support the administration of palliative drugs to those who are dying in pain but incapable of asking for those drugs, and 3 if those drugs foreseeably shorten life, why does this not count, on their own definition, as NVAE? In short, supporters of VAE who equate intended and foreseen death surely trap themselves in an intellecutal ‚catch-22‘. Either they must drop their opposition to NVAE or they must object to any palliative care which foreseeably shortens the lives of incompetent patients. There is, of course, a third and more sensible alternative : to drop their equation of intention and foresight.“ 113 Keown plädiert klar für eine Unterscheidung von einer (aktiven) Handlung, die den Tod eines Patienten beabsichtigt (z.B. Kaliumchlorid-Injektion) und einer (passiven) Unterlassung einer solchen Handlung, die genauso den Tod in Kauf nimmt oder beabsichtigt (keine Reanimation, keine Antibiose, keine künstliche Ernährung), sowie der eigentlichen palliativen Therapie mit gewissen Medikamenten, die als Nebeneffekt allenfalls eine Lebensverkürzung zur Folge haben können. Als zentralen Punkt in der „Euthanasie“-Debatte sieht Keown die Problematik, dass die Begrifflichkeiten nicht einheitlich und eindeutig definiert sind. Dies sei aber eine Voraussetzung, um eine fruchtbare Diskussion überhaupt führen zu können. 111 Deutsche Übersetzung aus dem Protokoll der 5. Sitzung der Subkommission ‚Sterbehilfe’, S. 1, SAMW, 13.12.2002, Bern. 112 Keown beschreibt drei mögliche Begriffsdefinitionen von Euthanasie. Die erste beschreibt die rein aktive Sterbehilfe (‚Euthanasia‘ as the active, intentional termination of life; S. 10), die zweite weiter gefasste und vom Autor bevorzugte Definition beinhaltet zusätzlich die Unterlassung einer Handlung, die somit auch zum Tod eines Patienten führt (‚Euthanasia‘ as the intentional termination of life by act or by omission; S. 12). Die dritte hier angesprochene Variante ist noch weiter gefasst und umfasst sämtliche Handlungen, bei denen ein möglicher Tod absehbar ist (‚Euthanasia‘ as intentional or foreseen life-shortening; S. 15). Keown 2002. 113 Keown 2002, S.29/30. 54 In einer abschliessenden Bemerkung 2002 zur Thematik der Euthanasie schrieb Dick Marty in seinem Bericht an den Europarat: „Ce débat est important, et à l’heure actuelle, il s’impose. L’euthanasie est un sujet qui soulève manifestement passions et émotions, mais elle appelle aussi des réponses claires. Ce n’est pas parce qu’on décrète que l’euthanasie est interdite, qu’elle disparaîtra. […]“ 114 In seiner weiteren Stellungsnahme wies er auf den vollzogenen Wechsel der gesellschaftlichen und juristischen Haltung gegenüber einem Suizidenden hin: Wurden früher Personen nach missglücktem Suizidversuch wie Kriminelle verfolgt, würde heute deren individueller Wunsch, ihr Leben zu beenden, respektiert. Schliesslich endete der Bericht mit der Feststellung, dass diese Diskussion keineswegs abgeschlossen sei und dass die 1999 vom Europarat getroffene Ablehnung der Euthanasie nicht eine unverrückbare Haltung beinhalte. Auf die Wichtigkeit einer Transparenz im Bereich der Sterbehilfe wurde hingewiesen und die in diesem Bereich fortschrittlichen Länder (Niederlande und Belgien) gelobt. Im internationalen Vergleich ist die Schweizer Rechtspraxis in zwei Beziehungen ein Sonderfall. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern, welche vorrangig über die Straffreiheit der aktiven Sterbehilfe debattieren, fokussiert die Schweizer Rechtspraxis auf die Suizidbeihilfe. Zudem sind in der Schweiz im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten ungleich mehr Nicht-Mediziner in die Suizidbeihilfe involviert. 3.6 Der neue Richtlinienentwurf Die Subkommission „Sterbehilfe“ der SAMW verfolgte im Rahmen ihrer Diskussionen eng die politische Debatte zum Thema. Da politisch wie innerhalb der Subkommission kein einheitlicher Konsens bestand, wurden für die weitere Diskussion Fallbeispiele zugezogen. Die zwei ersten Fälle betrafen die Sterbebegleitung zweier Patientinnen in einer Zürcher Geriatrieklinik, die im Rahmen der Facharztprüfung für Geriatrie anhand einer vorgegebenen schriftlichen Arbeit erfasst worden waren. In der Auseinandersetzung mit den Falltexten zeigte sich in erster Linie, dass zuwenig über die Lebensgeschichte der betroffenen Personen bekannt ist und daher ebenso wenig eine einheitliche Meinung über die passende „Sterbehilfe“ gebildet werden kann. Hinweise, die jedoch thematisiert wurden, waren die Wichtigkeit der Arzt-Patienten-Beziehung, das rasche In-Frage-Stellen der Urteilsfähigkeit der Betroffenen durch das professionelle Helfernetz sowie die Assoziation Morphin = Sterben, welche in 114 Conseil de l’Europe, Assemblée parlementaire, Dick Marty 2002, rapporteur sur l’euthanasie, pour un rapport de la Commission des questions sociales, de la santé et de la famille, Remarques finales 55 der Öffentlichkeit scheinbar stark verbreitet und daher unbedingt in den Richtlinien zu thematisieren sei. Im Februar 2003 wurde von der Subkommission festgestellt, dass die Debatte über die Suizidbeihilfe zunehmend in der Öffentlichkeit stattfindet. Entsprechend diesem Hintergrund stiegen die Erwartungen an die Richtlinie der SAMW merklich. Ein erster überarbeiteter Entwurf lag zu diesem Zeitpunkt bereits vor. Im Unterschied zur „Medizinisch-ethischen Richtlinie für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten“ von 1995 wurde der neuen Richtlinie eine Präambel vorangestellt. Diese enthielt die Begründung der Notwendigkeit der Richtlinie, Hinweise auf den politischen Kontext, Hervorhebung der der Subkommission wichtig erscheinenden Punkte (Patientenautonomie, Suizidbeihilfe) und endete schliesslich mit einem kurzen Abschnitt über „Menschlichkeit“. Der Geltungsbereich wurde auf die ärztliche Betreuung eingeschränkt, beim Patientengut Neugeborene, Kinder und Jugendliche eingeschlossen. Unter dem Kapitel „Patientenrechte“ fand sich ein Unterkapitel „Lebensbeendigung auf Verlangen“. Darunter wurde die aktive Sterbehilfe gemäss Art. 114 des Strafgesetzbuches als strafbar aufgeführt, jedoch mit folgendem Text ergänzt: „Auch wenn diese grundlegende Norm des Tötungsverbots nicht mehr von allen anerkannt wird, bleibt die entscheidende Bedeutung hervorzuheben, welche die Einhaltung des ärztlichen und pflegerischen Tötungsverbots insbesondere angesichts von Missbrauchs- und Ausweitungsgefahren für die Gesellschaft hat. Eine Lockerung des Tötungsverbots und eine mögliche Ausweitung des ärztlichen und pflegerischen Auftrags auf die aktive Sterbehilfe hätte eine Ausweitung der ärztlichen und pflegerischen Entscheidungs- und Handlungsbefugnis zur Folge, die weder aus gesellschaftlicher noch aus ärztlicher und pflegerischer Sicht zu wünschen ist.“115 In der Endfassung 2004 wurde der Untertitel „Lebensbeendigung auf Verlangen“ in „Tötung auf Verlangen“ umformuliert und eine klare Ablehnung der aktiven Sterbehilfe vertreten: „Die Tötung eines Patienten ist vom Arzt auch bei ernsthaftem und eindringlichem Verlangen abzulehnen. Tötung auf Verlangen ist nach Art. 114 Strafgesetzbuch strafbar.“116 115 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Medizinisch-ethische Richtlinien für die Betreuung sterbender Patienten, 2. Entwurf, Februar 2003, S. 2 116 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, 25. November 2004 56 Die Verdeutlichung dieses Punktes ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Richtlinie eine Empfehlung an medizinisch tätiges Personal darstellt und nicht politisch orientiert sein soll. Der politische Kontext blieb trotzdem nicht unberücksichtigt. Ein zentraler Punkt für den Wegfall des Kommentars sowie die deutliche Ablehnung der „Tötung auf Verlangen“ bestand in einer vom Bundesrat abgelehnten Erweiterung des entsprechenden Gesetzes mit einer Sonderklausel, wie sie die Arbeitsgruppe „Sterbehilfe“ des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements 1999 erwogen hatte. Die vorgeschlagene Formulierung dieses neuen Absatzes 2 von Art. 114 StGB lautete: „Hat der Täter eine in ihrer Gesundheit unheilbar beeinträchtigte, kurz vor dem Tod stehende Person getötet, um sie von unerträglichen und nicht behebbaren Leiden zu erlösen, so sieht die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung ab.“117 Die im ersten Entwurf beschriebene Gefahr des Missbrauchs konnte nach erfolgter Stellungnahme, nämlich die einer Ablehnung bei klarer gesetzlicher Vorgabe, vollständig gebannt werden. Deutlich schwieriger gestaltete sich die Ausarbeitung der Passage über die „Beihilfe zum Suizid“. So lagen im 2. Entwurf hierzu zwei zu diskutierende Varianten vor: „Version A: Aufgabe der Ärzte und des gesamten Betreuungsteams ist es, unter Achtung der Selbstbestimmung des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und nach Möglichkeit wiederherzustellen, Leiden zu lindern und sterbenden Patienten bis zum Tod beizustehen. Die Beihilfe zum Suizid, welche nach Art. 115 des Strafgesetzbuches nur bei Vorliegen selbstsüchtiger Beweggründe strafbar ist, ist hingegen kein spezifischer Teil des ärztlichen, pflegerischen oder therapeutischen Auftrags. Dagegen kann die Beihilfe zum Suizid aufgrund eines Gewissensentscheids eine menschliche Haltung sein, die auch Ärzte und andere Betreuende ausführen; damit wird sie allerdings nicht Teil ihres beruflichen Auftrags. Angesichts dessen, dass Ärzte aufgrund der Verschreibungspflichtigkeit einiger todbringender Mittel trotzdem in die Praxis der Suizidbegleitung involviert sind, ist es notwendig, in diesem Zusammenhang auf einige Gefahren aufmerksam zu machen. Zum einen könnte der Eindruck entstehen, Ärzte oder andere Angehörige des Betreuungsteams hätten eine besondere Aufgabe und Verantwortung darin, sterbende Patienten oder auch sterbewillige Menschen in Bezug auf den Suizid zu beraten, sie 117 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartament, Arbeitsgruppe Sterbehilfe 1999, S. 48 57 dabei zu unterstützen und zu begleiten. Diese Sicht entspräche jedoch einer Förderung der allgemein wahrzunehmenden Tendenz zur „Medikalisierung des Todes“. Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen kommt es vielmehr darauf an, auf die Grenzen des medizinischen Auftrags angesichts des Sterbens hinzuweisen und diese auch anzuerkennen. Die Suizidbeihilfe gehört daher nicht zum Aufgabenbereich von Ärzten und anderen Angehörigen des Betreuungsteams, sie kann im Einzelfall den Bemühungen um Linderung von Leiden und Depressionen, der Suizidprävention und der Lebenserhaltung sogar zuwider laufen. Zum anderen bestünde bei der ärztlichen oder pflegerischen Suizidbeihilfe eine der wesentlichen Aufgaben des Betreuungsteams – in erster Linie der behandelnden Ärzte – darin, darüber zu entscheiden, welche Patienten die Hilfeleistung in Anspruch nehmen dürften, welche hingegen nicht. Dabei geht es um die schwierige, weil massgeblich subjektiv geprägte Bestimmung dessen, was eine unerträgliche Leidenssituation kennzeichnet. Auch angesichts dieser möglichen Aufgabe wird deutlich, inwieweit die Behandelnden in ein Geschehen einbezogen würden, das ihren beruflichen Aufgaben entgegenläuft: Während sie für die menschliche und fachliche Begleitung der sterbenden Patienten zuständig sind – zu denken ist vorrangig an das Eingehen auf unbefriedigte Bedürfnisse, Schmerzen, soziale Isolation und Angst – führt die Praxis der Suizidbeihilfe zu einem abrupten Abbruch der Betreuung. Stellt die menschliche und fachliche Betreuung eines sterbenden Patienten nicht selten eine grosse Herausforderung dar, die den Angehörigen des Betreuungsteams einige Anstrengungen abfordert (…), ist die Gefahr relativ gross, dass eine etablierte Praxis der ärztlichen oder pflegerischen Suizidbegleitung zu einer Vernachlässigung dieser zentralen Aufgaben führen könnte. Version B: Der grösste Teil aller Suizide und Suizidversuche ist die Folge von persönlichen Krisen, Sucht oder psychischer Krankheit. Andererseits bestehen kaum Zweifel, dass in seltenen Fällen eine Selbsttötung wohlüberlegt, aufgrund einer realistischen Einschätzung der eigenen Situation erfolgen kann – als Bilanzsuizid resp. Freitod. In ersterer Situation ist entschlossene Hilfe zum Leben, allenfalls sogar gegen den momentanen Willen des Suizidalen, geboten. In letzterer Situation verlangt die Respektierung der Freiheit des zum Sterben Entschlossenen, dass dieser nicht an seinem Vorhaben gehindert wird. Auch gibt es in diesem Fall keine zwingenden moralischen Gründe, warum man diesem Menschen dabei nicht behilflich sein sollte. Der Wunsch nach ärztlicher Freitodhilfe erscheint ganz überwiegend im Kontext schwerster, unheilbarer Krankheitszustände. Der Adressat dieses Wunsches ist deshalb oftmals der behandelnde Arzt. Dieser verfügt kraft seines Berufes auch über das 58 Wissen, die Fertigkeiten und über den Zugang zu sicher tödlich wirkenden Substanzen. Wird an den Arzt ein solcher Wunsch herangetragen, kann dies ein Vertrauensbeweis von Seiten des Patienten und der Ausgangspunkt einer offenen Besprechung der Situation sein. Je nach Einschätzung des Sterbewunsches durch den Arzt wird eine eingehendere psychosoziale Exploration, gegebenenfalls eine antidepressive Behandlung oder sogar eine psychiatrische Einweisung nötig sein. Oftmals aber kann ein solcher Sterbewunsch im Rahmen der medizinischen Gesamtsituation verhandelt werden, und konkrete Massnahmen zur deren Verbesserung lassen den Patienten von seinem Wunsch wieder Abstand gewinnen. Es wird aber wohl nicht in jedem Fall zu vermeiden sein, dass ein Patient seine Situation anhaltend derart beurteilt, dass er eine Selbsttötung einem als unerträglich empfundenen Weiterleben vorzieht. Dann steht der Arzt vor der Entscheidung, ob er das Vorhaben des Patienten unterstützen soll. Lehnt der Arzt eine Beihilfe aus seiner persönlichen Gewissenshaltung heraus ab, soll er dies dem Patienten rechtzeitig mitteilen. Wenn er sich aber grundsätzlich dazu bereit erklärt, hat er sich nochmals zu versichern, dass keine Therapieoption verpasst wurde und dass der Sterbewunsch des Patienten anhaltend und wohlerwogen ist. Auch soll er in jedem Fall den Rat einer kompetenten Drittperson einholen. Der Entscheidungsprozess muss in der Krankengeschichte festgehalten werden. Wird der Freitod ausgeführt, verlangt das Gesetz, dass dieser als ein nicht-natürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet wird.“118 Primär wurde eine Kürzung beider Versionen gewünscht. Insbesondere gehöre Hintergrundsinformation aus edukativen Gründen in den Kommentar, jedoch nicht in den Richtlinientext selbst. Der Kommentar hingegen soll Begründungen und nicht Interpretationen liefern. Nach diesen eher strukturellen Hinweisen wurden schliesslich Fragen aufgeworfen wie, was sind eigentlich „Sterbende“, was „Sterbewillige“? Ist dies auf irgendeine Art objektivierbar? In der daraufhin geführten Diskussion wurde das Fehlen von moralisch neutralen Begriffen („terminal“/ „unheilbar“/ „sterbend“) sehr deutlich. Einigkeit bestand darin, dass der Übergang zwischen Leben und Sterben fliessend, d.h. eine Definition ohne interpretativen Eigenanteil nicht möglich sei. Aufgrund einer Beurteilung des Gesamtzustandes anhand klinischer Anzeichen sei jedoch eine gewisse Objektivierung möglich. Zur Verdeutlichung der Begrifflichkeiten wurde eine einfache graphische Darstellung herangezogen: 118 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Medizinisch-ethische Richtlinien für die Betreuung sterbender Patienten, 2. Entwurf, Februar 2003, S. 2/3 59 Geltungsbereich Richtlinie für Patienten am Lebensende Sterbewillige (die noch nicht am Lebensende sind, sondern aufgrund ihrer Situation ihrem Leben ein Ende setzen möchten) Terminal Kranke Patienten am Lebensende (die nur noch Stunden, Tage oder wenige Wochen zu leben haben), Sterbeprozess hat eingesetzt (klinische Anzeichen) Abbildung 2: Geltungsbereich RL für Patienten am Lebensende. Die Zusammenfassung der drei Untergruppen (Sterbewillige, terminal Kranke und Patienten am Lebensende) entspräche dem Geltungs119 bereich der Richtlinie für Palliativmedizin und -pflege. Die Subkommission einigte sich darauf, die Begriffe „terminal“, „sterbend“ und „irreversibel“ aus oben erwähnten Gründen nicht zu verwenden, sondern von „Patienten am Lebensende“ zu sprechen. Anhand der Abbildung 2 eröffnete sich ein weiteres Problemfeld: Mit der Festlegung des Geltungsbereiches auf Patienten am Lebensende äussert sich die Richtlinie nur über „ein Segment der Exit-Fälle“.120 Gerade in Bezug auf die Beihilfe zum Suizid stelle sich die Frage, ob die Subkommission sich um eine Stellungnahme in den anderen Bereich drücken dürfe (z. B. neurologische Erkrankungen wie Lateralsklerosen). Problematisch diesbezüglich sei, dass die meisten „Exit-Patienten“ gerade nicht in die Sterbephase kommen und daher vorher Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen möchten. Dem entgegengehalten wurde die Meinung, dass die Richtlinie sich nicht zu sehr auf die Beihilfe zum Suizid konzentrieren sollte, die damit eine unerwünschte Gewichtung erhalten würde. Das Dilemma, dass Suizidbeihilfe weiter gefasst ist als der Sterbeprozess an sich, bestehe schon in den alten Richtlinien. Entsprechend diesem „Vakuum“ sei es wichtig, dass die Richtlinie klar und verständlich formuliert werde, damit sie auch im Sinne der „terminal“ Kranken gelesen werden könne. Sie solle auf die gesetzliche Lage der Schweiz hinweisen und betonen, dass dies für alle Personen so gelte. In einer kurzen Ausführung im Anschluss soll auf die Sonderrolle des Arztes hingewiesen werden, der nicht nur Rezepte ausfülle, sondern Alternativen zum Suizid und Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen habe. 119 120 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 4 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 4 60 Die Subkommission diskutierte die oben vorliegenden Varianten zur Suizidbeihilfe aus. Präferenzen und Kritik erfolgten für beide Versionen. So wurde die Problematik der Variante B darin gesehen, dass diese eine „Handlungsanweisung“ im Sinne eines Kriterienkatalogs für den Arzt enthalte. Solche „safety guards“ dienten primär den Juristen und seien für den Arzt realitätsfremd. Für Laien, die ebenfalls Suizidbeihilfe leisten können, gäbe es jedoch keine solchen Anweisungen. Letztendlich gehe es in der klinischen Praxis darum, zu bestimmen, „was als unerträgliche Leidenssituation gelten darf und was nicht – eine Aufgabe, die dann den Ärzten zufällt und diese Macht/Entscheidungsbefugnis vergrössert.“ zusätzlich belastet bzw. ihre 121 Ein zentraler Punkt der Problematik sei die Verschreibungsmacht der Ärzte. Wolle man eine Monopolisierung dahingehend verhindern, müssten Barbiturate ohne Rezept erhältlich sein. Die Gefahr der Medikalisierung bestehe ohnehin, da Suizidbeihilfe bisher nur im Kontext mit Krankheit diskutiert werde. Die Ärzte hätten damit unausweichlich eine Sonderrolle, da sie es sind, die Depressionen behandeln, Schmerzen lindern, etc. können. Falle es dem Arzt zu, die Plausibilität eines Sterbewunsches zu beurteilen, führe dies unausweichlich zum „Arzt als Machtfaktor“122. Gewisse Diagnosen erschwerten zudem die Beurteilung massiv: Darf eine „Lebensmüdigkeit“, welche sicher auch beeinflusst ist von der Angst vor langwieriger Behandlung und (Rehabilitations-) Therapien, mit Antidepressiva behandelt werden? Wie sieht es aus, wenn der Sterbewunsch auf eine Depression zurückzuführen ist? Gerade bei Hochbetagten stellen sich erhebliche Probleme bezüglich der diagnostischen Kriterien einer Depression. Anhand mehrerer Fallvignetten rang die Subkommission um einen gemeinsamen Nenner. Festgehalten wurde, „dass im Spitalalltag teilweise zu lange in Teamsitzungen über einen Patienten gesprochen wird, anstatt das Gespräch mit dem Patienten zu suchen (zuzuhören).“123 Eine Mehrheit wünschte eine neutrale Aussage im Sinne von: „[…] jeder kann das machen wie er will, ABER: Ein Arzt solle sich besonders schwer tun, Suizidbeihilfe zu leisten, weil er die Möglichkeit dazu hat.“124 121 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 6 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 7 123 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 8 124 SAMW, Protokoll der Klausursitzung der Subkommission „Sterbehilfe“ Februar 2003, S. 6 122 61 Andere Stimmen vermissten eine klar normative Aussage, noch andere sprachen sich für eine aus ethischen Überlegungen heraus begründete deutliche Ablehnung der Suizidbeihilfe aus. Die komplette Ablehnung der Beihilfe zum Suizid fand in der Subkommission keine Mehrheit. Vielmehr wurde diskutiert, in welchem Umfang die legal gegebene Möglichkeit als Mensch Suizidbeihilfe zu leisten mit dem ethischen Rollenverständnis des Arztes zu vereinbaren sei. In der überarbeiteten 4. Fassung der Richtlinie vom März 2003 erschien die Thematik „Beihilfe zum Suizid“ weiterhin unter dem Kapitel „Patientenrechte“, jedoch im neu benannten Unterkapitel „Grenzen“. Darin wurde auf die Grenzen hingewiesen, welche die Respektierung des Patientenwillens mit sich bringen kann, falls „ein Patient Handlungen verlangt, welche, mit der persönlichen Gewissenshaltung des Arztes nicht vereinbar sind oder gegen den medizinischen Auftrag/ Regeln/ Regeln der ärztlichen Kunst respektive geltendes Recht verstossen.“125 Als Unterkapitel wurde die bereits erwähnte „Beihilfe zum Suizid“ und „Tötung auf Verlangen“ angefügt. Während letzteres mit Hinweis auf den Art. 114 StGB eindeutig abgelehnt wurde, im Kommentarteil aber noch Ergänzungen enthielt, wurde der Text zur Suizidbeihilfe kompakter und konkreter: Als Einleitung erfolgte ein Verweis auf die für alle Personen gültige gesetzliche Grundlage (Art. 115 StGB). Weiter dann: „Für Ärzte sieht die SAMW die Hauptaufgabe in diesem Bereich, das Entstehen einer solchen Situation mit allen möglichen Massnahmen zu vermeiden, insbesondere indem sie dem Patienten Alternativen und sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten und Perspektiven aufzeigen, erläutern und auch anbieten. Sollte trotz Anbieten und Ausschöpfen aller palliativer Möglichkeiten in hoffnungsloser/ aussichtsloser/ unerträglicher Situation am Lebensende, der Wunsch nach Suizidbeihilfe bestehen bleiben, so ist eine ärztliche Beihilfe zum Suizid einfühlbar/ nicht ausgeschlossen/ akzeptabel.“126 Im Kommentarteil fand die Version B Einzug (siehe Seite 57). 125 SAMW, Medizinisch-ethische Richtlinie für die Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 4, März 2003, S. 2. Die unterstrichenen Begriffe wurden im Originalprotokoll zur weiteren Diskussion hervorgehoben (noch unklare Formulierungen/Varianten). 126 SAMW, Medizinisch-ethische Richtlinie für die Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 4, März 2003, S. 2. Die unterstrichenen Begriffe wurden im Originalprotokoll zur weiteren Diskussion hervorgehoben (noch unklare Formulierungen/Varianten). 62 3.7 Parallelen mit der Richtlinie „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“ Einige Fragen zur Richtlinie wurden im Zusammenhang mit der zeitlich parallel ausgearbeiteten Richtlinie der Subkommission „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ in Bezug auf Institutionen aufgeworfen. Die SAMW war sich insofern einig, dass die verschiedenen Richtlinien sich in grundlegenden Fragen nicht widersprechen sollten. Es fand daher ein Queraustausch der beiden Subkommissionen statt. Im Entwurf der Stammversion „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ fand sich unter dem Kapitel „Behandlung und Betreuung“ das Unterkapitel „Suizidwunsch“: „Bei pflegebedürftigen älteren Personen ist ein Suizidwunsch oft verbunden mit dem Gefühl, eine Last bzw. ein unwertes, teures Leben zu sein. Äussert eine ältere pflegebedürftige Person den Wunsch nach Selbsttötung, suchen Arzt und Pflegepersonal in jedem Fall das Gespräch mit der betreffenden Person. Dabei werden die Lebenssituation sowie mögliche Verbesserung der Therapie-, Pflege- und Betreuungssituation angesprochen. Der Arzt und das Pflegepersonal stellen sicher, dass die erforderlichen therapeutischen, psychiatrischen und/oder palliativen Massnahmen vorgeschlagen bzw. durchgeführt werden.“127 Im Kapitel „Suizid unter Beihilfe eines Dritten“ wurde für ältere pflegebedürftige Personen folgendes angeführt: „[…] Falls eine Institution den Suizid unter Beihilfe eines Dritten in ihren Satzungen nicht zulässt, hat sie dies der pflegebedürftigen älteren Person vor einem allfälligen Eintritt mitzuteilen. Entschliesst sich eine urteilsfähige ältere Person zur Selbsttötung unter Beihilfe eines Dritten, so muss dieser Entscheid zwar grundsätzlich respektiert werden; die Institution hat jedoch besondere Schutzpflichten. Ein Suizidwunsch kann Folge einer psychischen Erkrankung, das Resultat von äusserem Druck oder ganz einfach ein Hilferuf sein. Gerade bei älteren Personen in Abhängigkeitssituationen verdient dieser letztgenannte Aspekt besondere Beachtung. Aufgaben der Institution Die Institution zieht einen externen, unabhängigen, in diesen Fragen speziell kompetenten Arzt bei, welcher beauftragt ist sicherzustellen, dass die ältere Person urteilsfähig ist und der Entscheid zum Suizid nicht auf Druck Dritter, auf eine mangelhafte 127 SAMW, Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen zur Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen, Stammversion März 2003, S. 11 63 diagnostische Abklärung, auf eine psychische Erkrankung oder auf eine nicht adäquate Behandlung oder Betreuung zurückzuführen ist. Insbesondere überprüft dieser Arzt die Institution auf ihre Praxis der palliativen Betreuung […]. Rolle des Personals Dem Personal in der Institution ist es untersagt, an der Vorbereitung oder Durchführung eines Suizids unter Beihilfe eines Dritten aktiv mitzuwirken. Die Begleitung der Sterbewilligen bzw. die Anwesenheit beim Suizid ist dem Personal freigestellt. Es kann dazu jedoch nicht verpflichtet werden.“128 Die Informationspflicht der Institutionen bei Ablehnung der Suizidbeihilfe wurde einerseits begrüsst, andererseits damit eine unnötige Gewichtung dieser Thematik befürchtet. Eine Festhaltung in den „Haus-Statuten“ der einzelnen Institutionen wurde als genügend erachtet. Die Frage der Beurteilung der Urteilsfähigkeit eines Sterbewilligen wurde erneut aufgeworfen: Sollte dies tatsächlich als ärztliche Aufgabe definiert werden, dann würde die Ärzteschaft „auf neue Weise und weitaus stärker als bisher in die Praxis der Suizidbeihilfe einbezogen werden“129. Diese teilweise so in der Politik geforderte Vorgehensweise (Motion Vallender) stiess unter Ärzten eher auf Skepsis und Ablehnung. Eine psychisch belastete Person könne in juristischem Sinne durchaus urteilsfähig sein. Stelle ein Arzt jedoch „im Zuge einer gewünschten Suizidbeihilfe diese Urteilsfähigkeit fest, so wird er im Falle später auftretender Probleme haftbar, das heisst: er ist zu einem gewissen Grad juristisch mitverantwortlich für das gesamte Geschehen der Suizidbeihilfe“130. Das Untersagen der Suizidbeihilfe ausschliesslich für Personal in Langzeitpflegeeinrichtungen aufgrund besonderer Abhängigkeitsverhältnisse, wurde ebenfalls aufgegriffen, da es Schnittpunkte zur allgemein formulierten Richtlinie betreffend Patienten am Lebensende beinhaltete. Es stellte sich die bereits vielfach diskutierte Grundsatzfrage, ob nicht dem ärztlichen Personal (egal welcher Einrichtung) aus genau dieser Abhängigkeit heraus, die Suizidbeihilfe verboten werden sollte. Was aber geschähe im Falle einer Zuwiderhandlung, da strafrechtlich kein Verbot besteht? Die sprachliche Formulierung eines „Verbotes“ in den Richtlinien erschien ungünstig. Ebenso erschien die Handlungsanweisung zur Vorgehensweise im Falle einer Bitte zur Suizidbeihilfe, wie schon weiter oben beschrieben, problematisch. In der ersten Publikation der Richtlinie „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ zur Vernehmlassung wurden die aus Sicht der Subkommission 128 SAMW, Medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen zur Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen, Stammversion März 2003, S. 21 129 Emailverkehr der beiden Subkommissionsleitenden, 24. März 2003 130 Emailverkehr der beiden Subkommissionsleitenden, 24. März 2003 64 „Sterbehilfe“ erachteten heiklen Punkte überarbeitet dargelegt. Die Thematik des „Suizidwunsches“ wurde leicht umformuliert und beibehalten. Im Kapitel G. „Suizid“ wurde die Formulierung des Verbots für Suizidbeihilfe für Langzeitpflegeeinrichtungen in eine Empfehlung umgewandelt: „[…] und aus Rücksichtnahme auf die übrigen Bewohner der Institution soll das Personal einer Institution der Langzeitpflege nicht an der Vorbereitung oder Durchführung eines Suizids mitwirken“131, und mit einer Fussnote ergänzt: Nach einem kurzen Verweis auf den entsprechenden Gesetzesartikel (Art. 115 StGB) folgte ein Zusatz zur Informationspflicht: „Falls eine Institution den Suizid unter Beihilfe eines Dritten in ihren Satzungen nicht zulässt, hat sie dies der pflegebedürftigen älteren Person vor einem allfälligen Eintritt mitzuteilen.“132 In der im Mai 2004 veröffentlichten definitiven Version der Richtlinie zur „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ ist im Unterkapitel 5.1. „Begleitung von Sterbenden“ des Kapitels 5. „Sterben und Tod“, einzig der Verweis auf die Richtlinie „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ zu finden.133 Im zweiten Unterkapitel 5.2. „Umgang mit dem Wunsch nach Suizid“ wird anlehnend an die Stammversion präzisiert: „Äussert eine ältere, pflegebedürftige Person den Wunsch nach Selbsttötung, sucht das betreuende Team das Gespräch mit der betreffenden Person. In jedem Fall leiten der Arzt und das Pflegepersonal Massnahmen zum bestmöglichen Schutz und zur Unterstützung der betreffenden Person ein. Insbesondere klären sie mögliche Verbesserungen der Therapie-, Pflege- und Betreuungssituation. Dabei sind auch die vielfältigen Abhängigkeiten der älteren, pflegebedürftigen Person, die das Risiko einer Suizidalität erhöhen können, zu beachten. Das betreuende Team stellt sicher, dass die erforderlichen Massnahmen vorgeschlagen bzw. durchgeführt werden, ebenso, dass ein seelsorgerlicher Beistand vorgeschlagen und, falls gewünscht, vermittelt wird.“134 131 SAMW 2003, Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen, 1. Publikation zur Vernehmlassung, S. 13 132 SAMW 2003, Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen, 1. Publikation zur Vernehmlassung, S. 13 133 SAMW 2004, Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, S. 12 134 SAMW 2004, Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, S. 12 65 Unter „Empfehlungen“ findet sich dann noch folgender Absatz mit dem Titel „Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid“: „Eine besondere Situation liegt dann vor, wenn eine ältere, pflegebedürftige Person in einer Institution der Langzeitpflege einen Suizid unter Beihilfe von Dritten (z.B. einer Sterbehilfeorganisation) plant. […] Es gibt Institutionen, die auf dieser Grundlage die Beihilfe zum Suizid zulassen. In solchen Situationen ist zu beachten, dass eine Institution der Langzeitpflege besondere Schutzpflichten hat und daher folgendes beachten muss: a. Es muss sichergestellt sein, dass die betreffende Person urteilsfähig ist. b. Es muss sichergestellt sein, dass der Entscheid zum Suizid nicht auf äusseren Druck oder auf eine nicht adäquate Abklärung, Behandlung oder Betreuung zurückzuführen ist. c. Es muss sichergestellt sein, dass die Gefühle der Mitbewohner und Mitarbeiter respektiert werden. Ältere, pflegebedürftige Personen stehen in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Personal der Institution; dieses Verhältnis kann beim Personal zu Interessenkonflikten führen. Aus diesem Grund und aus Rücksichtnahme auf die übrigen Bewohner der Institution soll das Personal einer Institution der Langzeitpflege zu keinem Zeitpunkt an der Durchführung eines Suizids mitwirken.“135 Auf weitere, die Suizidbeihilfe betreffende Ausführungen, wurde verzichtet. 3.8 3.8.1 Ausgewählte Publikationen als weitere Diskussionsgrundlage European Association of Centres of Medical Ethics Als Diskussionsgrundlage im Jahr 2002/2003 standen zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen zum Thema des Suizids und der Suizidbeihilfe zur Verfügung. Die EACME136 stellte im September 2002 ihre jährliche Konferenz unter den Titel „End of life decisions“. Wegweisend war die Legalisierung der Suizidbeihilfe in den Niederlanden und Belgien, was europaweit für Diskussionsstoff sorgte. Zentral behandelt wurden nicht allein der assistierte Suizid, sondern auch die Patientenrechte im Allgemeinen und die Palliativmedizin. Am Beispiel der Niederlande konnte beobachtet werden, dass nach erfolgter Legalisierung der Suizidbeihilfe automatisch die Palliativmedizin in den Blickpunkt rückte. Ein weiterer Punkt war die Interdisziplinarität betreffend Entscheidungen am Lebensende. So wurde im EACME eine Studie „Euthanasia and Care – Involvement of Nurses in Euthanasia“ 135 136 SAMW 2004, Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen, S. 21 European Association of Centres of Medical Ethics 66 angekündigt, welche die zentrale Rolle der Pflegefachpersonen untersuchen und aufzeigen sollte: „The nurse’s involvement in the euthanasia process is defined as the function fulfilled by the nurse during the course of the euthanasia process. This involvement can refer to the nurse’s role in notifying the request for euthanasia, the nurse’s participation in decision-making, and/or the nurse’s presence or assistance during and after the life terminating action.” 3.8.2 Resultate der EURELD/ MELS-Studie Auch in der Schweizerischen Ärztezeitung wurde die Thematik angeregt diskutiert. So präsentierte die SAMW in der Ausgabe 2003; 84: Nr.32/33 erste Ergebnisse der internationalen Studie „Medizinische Entscheidungen am Lebensende in sechs europäischen Ländern“137, die so genannte EURELD/MELS-Studie138, deren Resultate im Juni 2003 in „The Lancet“ veröffentlicht worden waren. Im Rahmen dieser Studie waren über 20'000 Ärzte, welche zwischen Juni 2001 und Februar 2002 einen Totenschein ausgestellt hatten, zu den dem Todeseintritt vorangegangenen medizinischen Entscheidungen schriftlich befragt worden. „Dank der Ergebnisse der MELS-Studie, welche insbesondere auch zeigen, dass in der Schweiz bei rund der Hälfte aller (bzw. bei zwei Dritteln aller erwarteten) Todesfälle medizinische Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen, liegen nun endlich Daten vor, wie sie für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik entscheidend sind. Die hohe Rücklaufquote der Fragebogen (zwei Drittel wurden retourniert) erlaubt schlüssige, wenn auch nicht leicht interpretierbare Aussagen und weist darauf hin, dass die Ärzteschaft die Relevanz dieser Umfrage erkannt hat.“139 Die Studienergebnisse wurden von einigen „schlagzeilengierigen Journalisten und Moralapostel[n]“140 so dargestellt, als ob die Sterbehilfe mit Tötung auf Verlangen gleichzusetzen wäre. Titel wie „Sterbehilfe in der Schweiz verbreitet“141 und „Brisante Zahlen zur aktiven Sterbehilfe in der Schweiz“142 tauchten in den Medien auf. Problematisch und uneinheitlich gestaltete sich in sämtlichen Berichten die Verwendung der Terminologie aktive, passive, indirekte Sterbehilfe sowie Suizidbeihilfe. Ein Mitglied der Subkommission „Sterbehilfe“ hielt dazu fest: 137 SAMW, Schweizerische Ärztezeitung 2003; 84: Nr. 32/33, S. 1676-1678 Medical End-of-Life Decisions in Six European Countries, 362: 345-50, Lancet Juni 2003 139 Schweizer Ärztezeitung 2003; 84: Nr.32/33, 1651 140 SAMW September 2003, Email-Verkehr zwischen Subkommissionsmitgliedern 141 NZZ Online, 18. Juni 2003 142 Michael Meier, Tagesanzeiger vom 19.06.2003 138 67 „Allein der Gebrauch der Begriffe ‚Euthanasie‘ und ‚Sterbehilfe‘ im deutschen Sprachraum ist so interessant und kontrovers, dass darüber einige Dissertationen geschrieben werden könnten.“143 3.9 Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten Was für Konsequenzen hatte dies nur für die Ausformulierung der Richtlinie? Diskutiert wurde, ob diese „alten“ Begrifflichkeiten in der Richtlinie verwendet und im Kommentar entsprechend definiert werden sollten, oder, ob man eher auf neuere internationale Terminologie (aus dem Englischen) setzt, wobei dann gewisse Übersetzungsschwierigkeiten zu bewältigen wären. In der 8. Fassung der Richtlinie, welche Mitgliedern der Zentralen Ethikkommission und ausgewählten Experten zur Vorvernehmlassung zugestellt wurde, einigte man sich darauf, die Handlungsmöglichkeiten jeweils inhaltlich zu beschreiben und die von der Arbeitsgruppe EJPD verwendeten Begriffe zu erwähnen: „Die Tötung eines Patienten durch den Arzt (auch ‚aktive Sterbehilfe genannt’) […]“144; „Der Arzt ist verpflichtet, Schmerzen und Leiden zu lindern, auch wenn dies in einzelnen Fällen zu einer Beeinflussung der Lebensdauer führen sollte (die so genannte ‚indirekte aktive Sterbehilfe’)“145; „In bestimmten Situationen kann der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen oder deren Abbruch gerechtfertigt sein (auch ‚passive Sterbehilfe’ genannt)“146. In der definitiven Endfassung wurden sie schliesslich weggelassen. 3.10 Psychiatrische Erkrankung und Suizidwunsch Im Rahmen von Fallbeispielen wurde der Umgang mit Sterbewünschen in der Schweizerischen Ärztezeitung diskutiert. Mit dem Titel „Ethik im Gesundheitswesen – Fall einer psychisch Kranken mit einer unheilbaren körperlichen Krankheit und Sterbewunsch“147 wurde ein speziell brisantes Thema aufgegriffen. Darin schilderte G. Ebner den Fall einer älteren Patientin mit langjährig rezidivierend depressiver Störung, welche mehrere psychiatrische Hospitalisationen und eine ambulante Betreuung bedingte. Aufgrund eines fortgeschrittenen Karzinoms wurde die Patientin schliesslich zunehmend pflegebedürftig und äusserte den Wunsch nach assistiertem Suizid. Dieser Suizidwunsch wurde als reflektiert und nicht im 143 SAMW September 2003, Email-Verkehr zwischen Subkommissionsmitgliedern SAMW September 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 8a, S. 4 145 SAMW September 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 8a, S. 4 146 SAMW September 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 8a, S. 5 147 G. Ebner 2003 144 68 Rahmen der depressiven Symptomatik beurteilt, die Patientin somit für vollständig urteilsfähig erkannt. Die Patientin liess sich zu jener Zeit aufgrund ihres guten und engen Vertrauensverhältnisses in der psychiatrischen Klinik betreuen. Die psychiatrische Institution stand damit vor dem Konflikt, ihre institutionellen Aufgaben wahrzunehmen und gleichzeitig die Selbstbestimmung der Patienten zu achten. Schliesslich führten das Ernstnehmen und die offene Diskussion über den Suizidwunsch, sowie die Intensivierung/ Verbesserung der palliativen Therapie dazu, dass die Patientin von ihrem Suizidwunsch Abstand gewinnen konnte und schliesslich ihrer Erkrankung auf „natürliche Weise“ erlag. In den durch diesen Fall angeregten Überlegungen fanden ethische Konzepte zur Entscheidungsabwägung genauso Eingang wie persönliche Stellungnahmen und Gedanken zu institutionellen Aufgaben. Einheitlich positiv bewertet wurden die offenen Gespräche sowie die Optimierung der palliativen Behandlung, welche dazu führten, dass die Patientin ihren Wunsch nach assistiertem Suizid nicht mehr anbrachte. Problematisch wurde erachtet, dass trotz ausführlicher Fallbeschreibung viele wichtig erscheinende Fragen unbeantwortet blieben. Einigkeit bestand darin, dass eine psychiatrische Institution, deren Hauptaufgabe unter anderen das Verhindern von Suiziden beinhaltet, selbst keine Suizidbeihilfe leisten solle. In Form eines Leserbriefs reagierte W. Zimmerli auf die Fallvignette. Er befürwortete die prinzipiell in allen drei Repliken dargelegte Ablehnung der „aktiven Sterbehilfe“ in psychiatrischen Institutionen, vermisste jedoch eine komplette Ablehnung der Suizidbeihilfe überhaupt. Mit Bezugnahme auf die Bibel und die Regeln der Standesethik formulierte er folgendermassen: „Jede Art von aktiver Sterbehilfe oder Beihilfe ist uns verboten, und ich wage zu sagen: Wenn wir davon abweichen, sind wir verloren. […] durch die zunehmend öffentliche Billigung [verliert] die Option der Suizidbeihilfe den privaten Charakter […].“148 Eine weitere Stellungnahme, ebenfalls in Form eines Leserbriefs, lieferte L. Ciompi. Nach erfolgter Lektüre kam er zum Schluss, dass letztendlich „alle Votanten von unterschiedlichen sachlichen Perspektiven her eine Art von Nutzen- und Kostenabwägung [versuchen]. Ausgespart bleibt jedoch die Frage, ob solch rationales Abwägen angesichts von Existenzialien wie Sinn und Wert von Schmerz und Krankheit, Sterben und Tod überhaupt zulässig sei, und wenn ja, wem sie denn zustände und mit welcher Begründung.“149 148 149 W. Zimmerli 2003 L. Ciompi 2004 69 Innerhalb der geführten Diskussion vermisse er eine gewisse „Ehrfurcht vor dem Leben“, eine Akzeptanz, dass nicht nur Aufbau und Entfaltung sondern eben auch Abbau und Einengung (z.B. Alzheimer-Patienten) zum Leben dazu gehören. Diesem Gedankengang folgend führt er aus, dass „auch das viel diskutierte Dilemma persönliche Autonomie vs. soziale Abhängigkeit aus solcher Sicht ein Scheinproblem [ist]. Denn zutiefst abhängig von anderen Menschen – selbst auf der Höhe des Lebens zumindest von der Achtung und Zuneigung anderer – ist jeder Mensch vom ersten bis zum letzten Lebenstag. Was der Mensch heute ist, ist er, evolutionär betrachtet, primär dank seiner ausserordentlichen Fähigkeit zur Kommunikation und Kollaboration, d.h. zu gegenseitiger Abhängigkeit.“150 Bezüglich Suizid schlussfolgert er: „Zutiefst verzerrt bzw. übersehen wird im Licht eines überrissenen Autonomiebegriffs ebenfalls die Tatsache, dass kein Selbstmord, und sei er noch so ‚verständlich‘, je Sache des Betroffenen allein ist.“151 3.11 Die Rechtslage in der Schweiz Ebenfalls 2003 erschien ein Buch „Suizid und Sterbehilfe“152, welches eine Sammlung von Texten verschiedener Autoren zur Thematik enthielt. Auf einen Beitrag, den die Subkommission „Sterbehilfe“ als Diskussionsgrundlage für ihre Arbeit beigezogen hatte und als „von besonderem Interesse“153 wertete, wird in der Folge genauer eingegangen. Es handelt sich dabei um einen Bericht von Kurt Seelmann mit dem Titel „Sterbehilfe: Die Rechtslage in der Schweiz“. Der Autor verglich darin die Rechtslage der Schweiz mit jener von Deutschland.154 Er hält fest, dass es „bisher keine Spezialregelung zur Problemstellung der Sterbehilfe [gibt], auch wenn eine Verlautbarung der Regierung [in der Schweiz] Schritte zu einer solchen Gesetzgebung demnächst erwarten lassen.“155 Er verweist auf die in beiden Ländern gleich verwendeten Einteilungskriterien der Sterbehilfe in passive, direkt und indirekt aktive Sterbehilfe, die gesondert zu interpretieren seien. Ein 150 L. Ciompi 2004 L. Ciompi 2004 152 Hrsg. Brudermüller G., Marx W., Schüttauf K.: Suizid und Sterbehilfe, Würzburg 2003 153 SAMW 20. Mai 2003, Kurz-Protokoll der Sitzung der Subkommission „Sterbehilfe“, S. 2 154 Aufgrund der besseren Übersicht der vorliegenden Arbeit und dem hauptsächlichen Interesse an der Situation in der Schweiz, werden die deutschen Verhältnisse nur bedingt dargestellt. 155 Seelmann 2003, S. 136 151 70 deutlicher Unterschied finde sich in Bezug auf die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) – vergleichbar in ihrer rechtlichen Bedeutung den Richtlinien der Bundesärztekammer in Deutschland: „Diese Richtlinien [der SAMW] legen die ärztliche Standesethik fest, beschreiben aber auch den weitgehend unumstrittenen Meinungsstand in der Schweizer Literatur, und auch die ärztliche Praxis orientiert sich an diesen Richtlinien. Einige Kantone haben sie auf der Ebene des kantonalen Gesundheitsrecht sogar für verbindliches Recht erklärt.“156 In der angefügten Fussnote folgen entsprechende Beispiele: „So z.B. Zürich in §21 Abs. 4 der Patientenverordnung (LS 813.13) (‚Ergänzend finden die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften Anwendung.‘) oder in Basel-Landschaft in §1 Abs. 3 der Patientenverordnung (SGS 930.15) (‚In medizinischer Hinsicht gelten die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften.‘)“157 Zur direkt aktiven Sterbehilfe, die also auf den Eintritt des Todes zielende Massnahmen beinhaltet, hält Seelmann fest, dass sie derzeit strafbar sei. Dazu beruft er sich auf die SAMWRichtlinien: „Auch gegenüber Sterbenden […] sind aktive Massnahmen zum Zwecke der Lebensbeendigung gesetzlich verboten.“158 Von dieser gesetzlichen Grundlage wurde im Bericht von 1999 der Arbeitsgruppe „Sterbehilfe“ des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, wie bereits oben (S. 50) beschrieben, Versuche zur Auflockerung der Praxis erwogen. Eine Kommissionsminderheit hielt an der ausnahmslosen Strafbarkeit der direkt aktiven Sterbehilfe fest, wofür sich der Bundesrat schliesslich ebenfalls entschied. Die Rechtsordnung und damit die Strafbarkeit für die direkt aktive Sterbehilfe blieben somit unverändert. Zur „indirekt aktiven Sterbehilfe“ fand Seelmann grundsätzlich keine Unterschiede zu Deutschland: „Er [der Arzt] darf palliativ-medizinische Techniken anwenden, auch wenn sie in einzelnen Fällen mit dem Risiko einer Lebensverkürzung verbunden sein sollten.“159 156 Seelmann 2003, S. 136 Seelmann 2003, S. 136 Fussnotentext 158 SAMW 1995, Medizinisch-ethische Richtlinie für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschädigter Patienten, S. 2 159 Seelmann 2003, S.137/ 138 157 71 Interessanter, da unterschiedlich, gestalteten sich nun die Ausführungen zur passiven Sterbehilfe. Seelmann beginnt mit dem urteilsfähigen160 Patienten: „Dessen gegen lebenserhaltende ärztliche Massnahmen gerichteter Wille ist zu respektieren, da der Eingriff sonst seinerseits eine strafbare Körperverletzung wäre.“161 In der Schweiz bestehe jedoch die Möglichkeit vom Patientenwillen zugunsten der Lebenserhaltung abzuweichen: „Ein Abweichen vom Patientenwillen kommt ausnahmsweise dort in Betracht, wo sich nicht entscheiden lässt, ob der aktuell geäusserte dem längerfristig zu vermutenden Patientenwillen entspricht. Eine solche Situation liegt z.B. dann vor, wenn ein Patient nach einem Suizidversuch in intensivmedizinische Behandlung gelangt und bei Bewusstsein an seinem Todeswunsch festhält oder bei fehlendem Bewusstsein in einem schriftlichen Dokument eine Behandlung ablehnt oder wenn ihn entsprechende Zeugen seines Willens begleiten. […]“162 Seelmann schliesst daraus: „Dogmatisch gesehen ist dies das Postulieren eines Rechtfertigungsgrundes für Körperverletzung, strukturell eines rechtfertigenden Notstands mit Höherbewertung des voraussichtlichen künftigen Interesses.“163 Mit anderen Worten: „Der urteilsfähige Patient darf in der Schweiz gegen seinen ausdrücklichen Willen behandelt werden, wenn ein künftiges Interesse am Leben gemutmasst werden kann.“164 Wie sieht das nun bei urteilsunfähigen Personen aus? Seelmann zitiert die SAMW wie folgt: 160 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (Stand am 01.01.2011), Art. 16: Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist ein jeder, dem nicht wegen seines Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. 161 Seelmann 2003, S. 138 162 Seelmann 2003 S. 138, Fussnotentext 163 Seelmann 2003, S. 138 164 Seelmann 2003, S. 145 72 „Bei unbestimmter Prognose, die grundsätzlich voneinander abweichende Vorgehensweisen zulässt, orientiert sich der Arzt am mutmasslichen Willen des Patienten: wenn dieser Lebenszeichen äussert, die auf einen gegenwärtigen Lebenswillen schliessen lassen, sind diese entscheidend. Fehlt es an solchen Zeichen, so dienen frühere Äusserungen des Patienten, Angaben von Angehörigen und eine allenfalls vorhandene schriftliche Erklärung des Patienten selber […] als Orientierungshilfen.“165 Und: „[…] Beim nicht oder nicht voll-urteilsfähigen Patienten kommt es auf seinen mutmasslichen Willen an. Dazu sind Patientenverfügungen und Auskünfte von Angehörigen und Vertrauenspersonen sowie von vorbehandelnden Ärzten zu berücksichtigen.“166 Damit entstehe in der Schweiz ein Dilemma zwischen dem Gedanken der mutmasslichen Einwilligung einerseits und ‚notstandsähnlichen’ Abwägungen andererseits. „Die Richtlinien zur Sterbehilfe von 1995 stellen nämlich bei der passiven Sterbehilfe im Fall des urteilsunfähigen Patienten primär auf die Prognose und die zu erwartenden Lebensumstände des Patienten ab, lassen in zweiter Linie ‚Intensität und Schwere der dem Patienten zugemuteten Eingriffe und Anstrengungen‘ gegen den ‚mutmasslichen Behandlungserfolg‘ abwägen und argumentieren erst bei unbestimmter Prognose mit dem ‚mutmasslichen Willen des Patienten‘.“167 Seelmann richtet dann den Blick auf Überschneidungen der beiden zitierten Richtlinien „Betreuung Sterbender“ und „Grenzfragen der Intensivmedizin“ und zeigt einen Gesinnungswandel auf: „Diese neuen Richtlinien zur Intensivmedizin nun rücken die mutmassliche Einwilligung des Patienten im Fall des Abbruchs intensivmedizinischer Massnahmen an die erste Stelle und lassen ‚ferner’ Faktoren wie Alter, Lebensgeschichte und Lebensqualitätsprognose, an die zweite Stelle treten[..]. Mutmassliche Einwilligung und Abwägungsgesichtspunkte jenseits der mutmasslichen Einwilligung haben also hier ihre Reihenfolge vertauscht.“168 165 Seelmann 2003, S. 139, Fussnotentext Seelmann 2003, S. 139, Fussnotentext 167 Seelmann 2003, S. 139/ 140 168 Seelmann 2003, S. 140 166 73 In seiner Interpretation kommt er zu folgendem Schluss: „[…] Sucht man den roten Faden in den Unterschieden zwischen beiden Rechtsordnungen, so könnte man ihn deshalb sogar primär in der Objektivierung der Kriterien sowohl für die passive Sterbehilfe als auch für die aufgezwungene Behandlung und in einer geringeren Achtung der Autonomie des Patienten im schweizerischen Recht sehen. Selbst wo die Gesetzgebungskommission, ganz beschränkt, direkt aktive Sterbehilfe für nicht strafbar erklären will, orientiert sie sich weniger an der Autonomie des Patienten, der insoweit keinerlei Rechte erhält, als an der Ausweitung von Optionen für den Arzt. Darin liegt in der Tat eine durchgehende Linie: Es gibt in der Schweiz eine grössere Entscheidungsbefugnis des behandelnden Arztes, dem vom Gesetz, von der Dogmatik und auch von den Akademie-Richtlinien, ja sogar vom neuen Kommissionsentwurf weit grössere Entscheidungsspielräume belassen werden als dem Arzt in Deutschland. Dazu passt auch, dass eine Kontrolle des Arztes durch das Betreuungsrecht so gut wie nicht existiert. Auch die Rechtsdogmatik erscheint weniger streng, beschränkt sich eher auf allgemeine Zielvorgaben und fordert eine konsensorientierte pragmatische Haltung. […] Insgesamt lässt sich wohl sagen, dass die besondere historische Erfahrung in Deutschland ein Mass an Schutz von Patientenautonomie und Kontrolle von Medizinpersonen geschaffen hat, das der insoweit lascheren Schweizer Rechtswissenschaft und Rechtspraxis nicht bekannt ist. Im Inhalt und in der Konstruktion überwiegen in der Schweiz deshalb eher ‚pragmatische‘ Wege für die Lösung des Problems der Sterbehilfe mit einem grossen Vertrauensvorschuss in ärztliche Entscheidungen sowie konstruktiv eine Orientierung an objektiven Notstandserwägungen.“169 3.11.1 Vereinbarkeit der rechtlichen Grundlage mit den Empfehlungen der Richtlinie Diese ausführliche Beschäftigung mit der rechtlichen Grundlage in der Schweiz soll verstehen helfen, warum in der Subkommission „Sterbehilfe“ gegen eine weitere Einbindung des Arztes in die Suizidbeihilfe-Praxis argumentiert wurde. Die Entscheidungsbefugnisse und damit Machtverhältnisse waren schon vor bestehender Richtlinie gewichtig. Sie sollten nicht ausgebaut werden. Deutlich mehr Gewicht wurde den Patientenrechten, ganz im Sinne des bereits 1999 erfolgten Wandels, eingeräumt, in gewissem Masse zum Schutz des Arztes. Verdeutlicht sei dies an der Endfassung der Richtlinie „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“: Das Kapitel „Patientenrechte“ wurde in „Recht auf Selbstbestimmung“ umbenannt und direkt der Umschreibung des Geltungsbereichs nachgestellt. Die Respektierung des Willens des urteilsfähigen bzw. des mutmasslichen Willens des urteilsun169 Seelmann 2003, S. 145 74 fähigen Patienten wurde als zentral angesehen. Um Hinweise auf den mutmasslichen Willen zu erhalten, seien alle möglichen Informationsquellen auszuschöpfen (Patientenverfügung, Angehörige, Vertrauensperson, rechtliche Vertretung, Hausarzt). Die Rechtskraft der Patientenverfügung selbst wurde ebenfalls gestärkt: „Patientenverfügungen sind zu befolgen, soweit sie auf die konkrete Situation zutreffen und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie dem derzeitigen Willen des Patienten nicht mehr entsprechen.“170 Abweichungen vom mutmasslichen Willen können nicht (mehr) „selbstverständlich“ vom Arzt beschlossen werden: „Verweigern die Vertreter (gesetzliche Vertreter oder die Vertrauensperson) eine aus ärztlicher Sicht unbedingt im Interesse des urteilsunfähigen Patienten stehende Massnahme, sollen alle Möglichkeiten der Vermittlung, z.B. auch über Ethikkonsilien, ausgeschöpft werden. Bei fehlender Einigung ist die Vormundschaftsbehörde einzubeziehen. Falls in einer Notfallsituation für diese Schritte keine Zeit bleibt, ist eine Massnahme auch gegen den Willen der Vertreter durchzuführen.“171 Entsprechend der Gewichtung des Willens des Patienten erfolgte im Kapitel „Beihilfe zum Suizid“ folgende Umformulierung: „[…] Unter gewissen Umständen ist dann die ärztliche Beihilfe zum Suizid vereinbar mit der ärztlichen Ethik.“172 Der Kommentarteil bestand weiterhin aus der unveränderten Version B (S. 57). Dieser Richtlinienentwurf (5. Fassung) wurde in einer Art „Vorvernehmlassung“ zwei ausgewählten Experten vorgelegt, die folgende Gedanken anregten: Als Quantensprung wurde die neu ausgelegte Vereinbarkeit des ärztlichen Ethos mit der Suizidbeihilfe erkannt, was an sich begrüsst wurde. Als fehlend wurde eine Umschreibung dieser „gewissen Umstände“ bemängelt. Heisst das nun, dass der Arzt „unter gewissen Umständen“ Suizidbeihilfe leisten solle? Was könnten das für „Umstände“ sein? Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Ausdruck „vereinbar“? Um einem Missverständnis vorzubeugen, wurde vorgeschlagen zu betonen, dass es sich in solchen Situationen um eine Gewissensentscheidung des einzelnen Arztes handle. Entsprechend bedürfte auch diese Formulierung im Kommentarteil weitere Ausführungen, die aufzeigten, dass es in solchen Extremsituationen keine klaren Gebote der ärztlichen Ethik gäbe, was der Arzt tun soll. Die Formulie- 170 SAMW 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, S. 4 SAMW 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, S. 5 172 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S.3 171 75 rung sollte darauf abzielen, sowohl die Verweigerung der Beihilfe als auch die Beihilfe mit dem ärztlichen Ethos zu vereinbaren. Im Zentrum des ärztlichen Ethos sollte ein „verantwortungsvolles Vorgehen“ stehen, was in beiden Fällen gegeben sein könne. Aufgrund des fehlenden Konsens, politisch wie in der Subkommission, wurde ebenfalls die Möglichkeit einer Antwortverweigerung bezüglich der Vereinbarkeitsfrage überlegt: „Derzeit wissen wir noch nicht, ob Beihilfe zum Suizid vereinbar oder unvereinbar ist mit dem ärztlichen Ethos. Wir verzichten daher vorläufig auf die frühere Formulierung, dass hier eine Unvereinbarkeit besteht, sagen aber noch nichts über eine mögliche Vereinbarkeit.“173 Der Hinweis auf die Zulässigkeit einer Gewissensentscheidung wäre damit nicht gegeben, die Beihilfe zum Suizid würde – im Sinne eines in dubio pro libertate – stillschweigend geduldet, dies jedoch unter dem Vorbehalt einer eventuellen künftigen Einigung der Ärzteschaft auf die Vereinbarkeits- oder Unvereinbarkeitsthese. Weiter bedacht wurde, dass das Schreiben eines Rezepts immer eine ärztliche Tätigkeit ist, da nur Ärzte Rezepte ausstellen dürfen. Dies warf folgende Frage auf: „Kann ein Arzt als Arzt ein Mittel verschreiben, für welches es keine Indikation gibt, sondern welches eindeutig vom Patienten dazu benutzt werden wird, sich selbst zu töten?“174 Die beiden möglichen Antworten lauteten: „Entweder ist es mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar, dies zu tun (Position der alten Richtlinie) oder es ist eine Gewissensentscheidung, die dem Arzt vorbehalten bleibt. Im ersten Fall liegt die Beihilfe zum Suizid ausserhalb des Hags [Zaun] des ärztlichen Ethos, im zweiten Falle – ähnlich dem Schwangerschaftsabbruch – innerhalb. Keineswegs kann man aber sagen, dass der Arzt in solchen Situationen als Mensch und nicht als Arzt handelt.“175 Zu den Bedingungen, unter welchen eine Suizidbeihilfe mit dem ärztlichen Ethos zu vereinen sei, wurden ebenfalls Präzisierungswünsche geäussert. So lautete der Entwurfstext: 173 SAMW Subkommission „Sterbehilfe“, Expertenkommentar zur 5. Fassung, Mai 2003, S. 2 SAMW Subkommission „Sterbehilfe“, Expertenkommentar zur 5. Fassung, Mai 2003, S. 2 175 SAMW Subkommission „Sterbehilfe“, Expertenkommentar zur 5. Fassung, Mai 2003, S. 2 174 76 „Trotz Ausschöpfen von therapeutischen, psychiatrischen und palliativen Möglichkeiten kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation, der Wunsch nach Suizidhilfe bestehen bleiben.“176 Bemängelt wurde dabei das gesonderte Aufführen der „psychiatrischen“ Möglichkeiten, welche als medizinische Disziplin in den therapeutischen sowie auch den palliativen Möglichkeiten bereits enthalten sei. Die Erwähnung der psychiatrischen Möglichkeiten befremdete ebenfalls im Zusammenhang mit der Textstelle im Kommentar: „[…] Je nach Einschätzung des Sterbewunsches durch den Arzt wird eine eingehendere psychosoziale Exploration, gegebenenfalls eine antidepressive Behandlung oder sogar eine psychiatrische Einweisung nötig sein.“177 Problematisch erschien hier der Bezug zum Geltungsbereich: Sollten Sterbende in die Psychiatrie eingewiesen werden? Zur Klärung wurde vorgeschlagen, im Kommentarteil darauf hinzuweisen, ob allgemein Aussagen zum Suizid oder Aussagen zu Suizidwünschen am Lebensende gemacht werden. Die Formulierung „trotz Ausschöpfen palliativer Möglichkeiten…“178 erschien missverständlich: Bedeutet dies „wenn alle palliativen Möglichkeiten ausgeschöpft sind“, oder eher „obzwar versucht wird, alle palliativen Möglichkeiten auszuschöpfen“? Die erste Leseart wurde verworfen, da palliative Möglichkeiten niemals ausgeschöpft sein können. Als sinnvoller wurde die zweite Version erachtet, wo der Respekt gegenüber dem Patienten es ab einem bestimmten Punkt verbiete, diesen zu weiteren palliativen Massnahmen ‚zu drängen’. Entsprechend diesem Gedankengang erschien die im Kommentarteil erwähnte Überprüfung, dass die palliativen Massnahmen ausgeschöpft sind („[…] Wenn er sich aber grundsätzlich dazu bereit erklärt, hat er sich nochmals zu versichern, dass keine Therapieoption verpasst wurde […]179) als ‚Akt der Unmöglichkeit’. Vielmehr sollte auch hier die Aufklärungspflicht des Arztes gegenüber dem Patienten (Angebote/Möglichkeiten) herangezogen werden, aufgrund dessen sich der Betroffene im Rahmen des ‚informed consent’ entscheiden kann – was allenfalls bedeutet, dass er an seinem Suizidwunsch festhält. Ebenfalls als missverständlich wurde der Satz „auch gibt es in diesem Fall keine zwingenden moralischen Gründe, warum man diesem Menschen dabei nicht behilflich sein sollte“180 aus dem Kommentarteil angesehen. Sehr wohl können Ärzte aufgrund ihrer religiösen oder sonstigen Bindung zwingend moralische Gründe haben, keine Suizidbeihilfe zu leisten. Dass 176 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S. 3 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S. 8 178 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S. 3 179 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S. 8 180 Subkomm. „Sterbehilfe“, 20.5.2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, 5. Fassung, S. 8 177 77 ihnen diese Gründe von den Richtlinien der SAMW abgesprochen werden, kann nicht gemeint sein. Ein weiterer Diskussionspunkt war, warum von „ärztlicher Beihilfe“ und nicht allgemein von „Beihilfe zum Suizid“ gesprochen wird. Sollte da eine Abgrenzung zu Sterbehilfeorganisationen und Laien vorgenommen werden? Was umfasst dann genau die ärztliche Tätigkeit, das Feststellen der Urteilsfähigkeit, das Ausstellen des Rezepts, das Reichen des Bechers? Von der Subkommission wurde die Option, die Suizidbeihilfe von der ärztlichen auf die persönliche Ebene „zurückzuführen“ zwar als guter „Ausweg aus dem Dilemma“ des fehlenden Konsens gesehen, jedoch die unterlassene Stellungnahme als ungünstig erachtet. Die Verantwortung würde auf die individuelle Ebene des Arztes gelegt, was den Eindruck entstehen lassen könnte, dass es zwei Kategorien von Ärzten gäbe. Der Vorschlag, wonach ein Gewissensentscheid des Arztes beide Varianten (Beihilfe und Verweigerung) mit dem ärztlichen Ethos vereinen lasse, fand mehrheitlich Zustimmung. Die Dilemma-Struktur müsse jedoch präzisiert sowie eine Art Rahmenbedingungen für die Durchführung definiert werden, um den Patienten besser zu schützen. Einig war man sich dahingehend, dass sich sämtliche Aussagen der Richtlinie einzig auf die im Geltungsbereich beschriebene Personengruppe zu beziehen haben. Im Juni 2003 wurde das Kapitel „Beihilfe zum Suizid“ mit 3 möglichen Versionen (inkl. Kommentare der verschiedenen Subkommissions-Mitgliedern) präsentiert: „[Gemeinsamer Text] Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt für alle Personen. Für Ärzte besteht die Hauptaufgabe darin, das Entstehen einer solchen Situation mit allen möglichen Massnahmen zu vermeiden, insbesondere indem sie dem Patienten Alternativen und sinnvolle Behandlungsmöglichkeiten und –perspektiven (insbesondere auch palliativer Art) aufzeigen, erläutern und auch anbieten. Trotz Angebot und Einsatz [statt: Ausschöpfen] von therapeutischen, psychiatrischen < Vorschlag: psychiatrisch zu streichen> und palliativen Möglichkeiten kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe dauerhaft [neu eingefügt] bestehen bleiben. [unterschiedliche Fortsetzungsvorschläge und Kommentartexte] Version 1 Der Arzt hat die technische Berechtigung und auch das Wissen, todbringende Mittel in der passenden Dosis zu verschreiben. Ein entsprechender Wunsch des Patienten lässt ein Spannungsfeld zwischen den moralisch-ethischen Werten des Patienten und 78 des Arztes entstehen. In diesem höchst persönlichen, die ärztliche Kunst nur am Rande berührenden Spannungsfeld lassen sich keine allgemeingültigen Richtlinien der medizinischen Ethik definieren. Aus diesem Grund kann aus Sicht der SAMW (zum heutigen Zeitpunkt?) die Frage nach der Vereinbarkeit der Suizidbeihilfe mit dem ärztlichen Ethos nicht beantwortet werden. Es muss dem Gewissensentscheid des einzelnen Arztes in der konkreten Lage überlassen werden, ob er Beihilfe zum Suizid leisten will. (Eine Pflicht dazu kann aus der ärztlichen Ethik jedenfalls nicht abgeleitet werden?) Kommentar 1. Arzt kommt erst durch das Verschreiben in eine besondere Lage – Spannungsfeld zwischen Individuen mit unterschiedlichen Werten betont 2. Betonen, dass die ärztliche Kunst (Dosis etc.) und die ärztliche Grundaufgabe (heilen, begleiten, lindern) kaum berührt werden und darum keine allgemeinen Leitlinien verfasst werden können 3. Forderung eines Gewissensentscheids, ohne eine Pflicht zur Beihilfe ableiten zu können. Beihilfe ist damit nur eine „Exklave“ der ars medici, auf welche die ursprünglichen Regeln und Intentionen der ars medici nicht anwendbar sind. Der Arzt ist in erster Linie Individuum mit eigenem moralisch-ethischen Standpunkt und der ärztliche Teil kommt sowohl logisch als auch technisch erst nach dem nicht-ärztlichen Entscheid zur Beihilfe (im Bild: Arzt zieht den weissen Kittel aus, um die Entscheidung zu fällen, und zieht ihn wieder an, um das Rezept korrekt zu schreiben). Version 2 Die ärztliche Suizidbeihilfe widerspricht dem traditionellen ärztlichen Ethos. Sie gehört nicht zu den im eigentlichen Sinne medizinischen Anwendungen der ärztlichen Kompetenzen, welche in der Heilung, Linderung und Begleitung von Patienten bestehen. Insofern ist die Beihilfe zum Suizid kein Teil der ärztlichen Tätigkeit. Da derzeit in der Ärzteschaft kein Konsens darüber zu erreichen ist, ob die Beihilfe mit der ärztlichen Ethik vereinbar ist oder nicht, kann sich für den Arzt in diesem Fall eine Grenzsituation ergeben, in der er die Entscheidung zugunsten der Beihilfe zum Suizid wie auch zu ihrer Verweigerung vor seinem Gewissen verantworten muss. Diese Entscheidung lässt sich nicht unabhängig von der einzelnen Situation regeln und fällt in die persönliche Verantwortung des handelnden Arztes. Kommentar 4. Es muss zwischen einer ärztlichen und einer nicht-ärztlichen Anwendung medizinischen Wissens unterschieden werden […]. Die Beihilfe zum Suizid gehört eindeutig nicht zu den ärztlichen Anwendungen medizinischen Wissens, 79 insofern diese durch die Hauptziele der Medizin, nämlich Heilung, Linderung und Begleitung der Patienten charakterisiert sind. 5. Was die Beihilfe zum Suizid betrifft, so gilt zu respektieren, dass diese nicht nur in der Bevölkerung insgesamt, sondern auch unter Ärzten in moralischer Hinsicht unterschiedlich bewertet wird und bewertet werden kann. Dabei spielen insbesondere unterschiedliche Interpretationen des ärztlichen und pflegerischen Fürsorgeprinzips eine Rolle, Bedenken in Hinblick auf eine mögliche Ausweitung bzw. Gewöhnung, aber auch unterschiedliche Welt- und Menschenbilder bzw. weltanschauliche Hintergründe. 6. Zurzeit besteht kein Konsens darüber, ob die Beihilfe mit der ärztlichen Ethik vereinbar ist oder nicht. Mit dem Verweis auf die Gewissensentscheidung des Arztes tragen die Richtlinien dieser Situation Rechnung. 7. Auch wenn die Entscheidung in die persönliche Verantwortung des handelnden Arztes fällt, müssen bei einer Entscheidung zugunsten der Beihilfe gewisse Minimalbedingungen eingehalten werden wie die Urteilsfähigkeit des Patienten, die Dauerhaftigkeit seines Wunsches, das Einholen einer unabhängigen Zweitmeinung eines anderen Arztes, der Ausschluss einer Depression beim sterbewilligen Patienten bzw. das strikte Einhalten der Bedingung, dass die Handlung vom suizidwilligen Sterbenden selbst ausgeführt wird, also kein Hilfsmittel wie Infusionen, PEG- oder Magensonden zur Verabreichung des todbringenden Mittels eingesetzt werden. Der Entscheidungsprozess muss in der Krankengeschichte festgehalten werden. Wird der Freitod ausgeführt, verlangt das Gesetz, dass dieser als ein nicht-natürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet wird. Version 3 Diese Grenzsituationen stellen den Arzt vor die Gewissensentscheidung, ob er Beihilfe zum Suizid leistet oder nicht. Es obliegt der Verantwortung des Arztes, wie er entscheidet. Dies bleibt jedoch immer eine Gewissensentscheidung. Beide Optionen sind mit dem ärztlichen Ethos vereinbar. Entscheidet sich ein Arzt dazu, Beihilfe zum Suizid zu leisten, hat er insbesondere folgende Bedingungen einzuhalten: Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist dauerhaft, die unabhängige Zweitmeinung eines Arztes liegt vor und alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. Kommentar 8. In einer solchen Grenzsituation gibt es kein klares Gebot der ärztlichen Ethik. Es ist daher ein Gewissensentscheid des Arztes, ob er Beihilfe zum Suizid leistet oder nicht. In diesem Sinne sind in der beschriebenen Situation sowohl 80 die Verweigerung der Beihilfe wie die Beihilfe mit dem ärztlichen Ethos vereinbar. In jedem Fall hat der Arzt verantwortungsvoll vorzugehen. 9. Lehnt der Arzt eine Beihilfe aus seiner persönlichen Gewissenshaltung heraus ab, soll er dies dem Patienten rechtzeitig mitteilen. 10. Wenn er sich aber grundsätzlich dazu bereit erklärt, hat er sich nochmals zu versichern, dass keine Therapieoption verpasst wurde und dass der Sterbewunsch des Patienten wohlerwogen ist. Auch soll er in jedem Fall den Rat einer kompetenten Drittperson einholen. Der Entscheidungsprozess muss in der Krankengeschichte festgehalten werden. Wird der Freitod ausgeführt, verlangt das Gesetz, dass dieser als ein nicht-natürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet wird. “181 Reaktionen der Subkommissionsmitglieder auf die 3 vorgeschlagenen Versionen kamen zahlreich und teilweise auch vehement: Variante 1 schied insbesondere wegen der fehlenden Stellungnahme aus. Da die SAMW in rechtlichem Sinne wie auch auf politischer Ebene einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt, war der Wunsch nach Definition einer klaren Haltung bezüglich der Suizidbeihilfe gegeben. Zudem erschien die Ansicht unvollständig, dass der Arzt erst durch die Verschreibungsmacht in eine besondere Lage gerate. Vielmehr sei es so, dass die Suizidbeihilfe bisher ausschliesslich im Kontext schwerster, unheilbarer Erkrankungen diskutiert und praktiziert würde. Favorisiert wurde in mehreren Rückmeldungen eine Kombination der Variante 2 und 3, wobei betont werden sollte, dass die Suizidbeihilfe nicht zu den primär medizinischen Anwendungen ärztlicher Kompetenzen gehöre. Ein spezifischer Nachsatz wurde gewünscht, der hervorhebe, dass die Einnahme des todbringenden Mittels durch den Patienten selbst erfolgen müsse. Die Aufzählung, wie sie in Kommentar 7 erfolgt, wurde der allgemein gehaltenen aus Kommentar 10 („dass keine Therapieoption verpasst wurde“, „Rat einer kompetenten Drittperson einholen“) vorgezogen. Bemängelt an Kommentar 10 wurde, dass er nicht alle klinisch wichtigen Aspekte abdecke und zu wenig auf Missbrauchsgefahren hinweise (z.B. via PEG). Die Bedingungen, welche für eine Suizidbeihilfe erfüllt sein müssen, sollten möglichst prägnant und konkret ausformuliert werden. Dem entgegengesetzt bestand der Wunsch, bezüglich dieser „Checkliste“ nicht zu „technisch“ zu werden. Die Kommentierungen 4, 6 und 8 wurden als Doppelung des Haupttextes und damit als überflüssig erachtet. Wegweisend für den Kommentarteil wurden die Kommentare 5, 7 und 9 angesehen. 181 SAMW Juni 2003, 2.3.1 Beihilfe zum Suizid – Varianten 81 An der Version 2 (und auch an Kommentar 7) wurde die Ächtung der Suizidbeihilfe mittels Infusionen und Sonden gerügt und angefügt, dass auch bei Einsatz solcher Mittel der Sterbewillige durchaus den letzten Akt der zum Tode führenden Handlung selber ausführen könne. Bei Ausschluss dieser Optionen würde man also gerade „diejenigen Patienten von der Möglichkeit ausschliessen, sich beim Suizid helfen zu lassen, bei denen wir im Allgemeinen der Ansicht sind, dass Suizidbeihilfe am ehesten zu vertreten ist: Die terminal Kachektischen (ausgeprägter Brechreiz), diejenigen mit ausgeprägtem ‚pain and symptoms‘ (i.d.R. ausgeprägte zentralnervöse Adaptation an Sedativa), diejenigen mit Krebs in besonders belastenden Lokalisationen (Schluckunfähigkeit) […]“182. Ebenfalls eckte die Formulierung „traditionelles ärztliches Ethos“ an. Die Ethik sei „interUND intrakulturellen Änderungen“183 unterworfen und daher im Fluss. Ein anderer Erweiterungsvorschlag bei Präferenz der Version 2 war: „Grundsätzlich ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit. Kommt es im Einzelfall trotzdem dazu, dass ein Arzt aufgrund eines Gewissensentscheids Beihilfe zum Suizid leistet, so hat er folgende Bedingungen einzuhalten: …“184 Dabei wurde die Aussage, „im Einzelfall vereinbar mit dem ärztliche Ethos“185 umgangen, was sonst de facto einer gesellschaftlichen Akzeptanz der ärztlichen Suizidbeihilfe massgeblich beitragen würde. Denn: Der Einzelfall kann nicht ohne Einbettung in die gesellschaftliche Praxis bewertet werden. Im Einzelfall kann tatsächlich eine Vereinbarkeit bestehen, nicht aber für die allgemein gesellschaftlich etablierte Praxis. Die Einzelfall-Formulierung entstand durch den Wunsch, die Ultima-ratio-Situation einer solchen Entscheidung zu betonen. Weiter angemerkt zu oben genanntem Vorschlag wurde, dass das Ethos 182 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 183 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 184 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 185 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003, dessen Vorschlag lautete: „Grundsätzlich ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit. Trotzdem kann im Einzelfall eine Gewissensentscheidung, aus Respekt vor der Patientenautonomie diese Beihilfe zu leisten, mit dem ärztlichen Ethos vereinbar sein.“ 82 „die Verantwortung für unser Handeln oder auch für den Verzicht auf unser Handeln nicht übernehmen [soll/kann], sondern das individuelle Gewissen, das der Güterabwägung (d.h. dem ethischen Dilemma) ‚no harm‘ gegen Autonomie beiwohnt.“186 Wichtige Anregungen zur Sterbehilfe-Debatte kamen auch aus Richtung der Palliativmedizin: „Die Palliativmedizin stellt nicht die Heilung, sondern die Erhaltung der Lebensqualität in den Mittelpunkt ihres Bemühens. […] Laut Definition der WHO hat die Palliativmedizin vor allem auch eine präventive Aufgabe, das heisst eine Verhinderung von einschränkenden Symptomen. Oft wird daraus abgeleitet, dass sie dadurch auch eine Prävention des Sterbewunsches macht. Dies ist aber laut Definition ausdrücklich nicht ein Ziel, sondern allenfalls ein ‚Nebeneffekt’. In der Tat kann eine qualitätsstandardisierte Palliativmedizin wahrscheinlich einen wichtigen Teil der Sterbewünsche unterdrücken, aber nicht alle. […] Die moderne Medizin richtet ihr Augenmerk in erster Linie auf eine Quantitätsausweitung des Lebens [(…)]. Dadurch kommt es immer häufiger zu einer Umwandlung einer akuten in eine chronische Krankheit. Der ‚moderne Palliativpatient’ ist deshalb ein Produkt moderner Medizin. […] Leider wird in der heutigen Debatte oft die Palliativmedizin als Alternative zur Sterbehilfe ausgespielt. Das ist sie weder historisch noch konzeptuell. […].“187 Die folgende Umformulierung wurde vorgeschlagen: „In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein unlösbarer Konflikt zwischen der allgemeinen Pflicht, seine medizinische Kompetenzen ausschliesslich zur Heilung, Linderung und Begleitung einzusetzen, und der Aufforderung, in diesem Fall der unerträglichen Situation seines Patienten wirksam und im Respekt für dessen autonome Entscheidung zu begegnen. Grundsätzlich ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit. Trotzdem kann im Einzelfall eine Gewissensentscheidung aus Fürsorge und Respekt vor der Patientenautonomie, Beihilfe zu leisten mit dem ärztlichen Ethos vereinbar sein. Die Verantwortung dafür obliegt dem einzelnen Arzt, der auch für die Einhaltung folgender Bedingungen zu sorgen hat: Der Wunsch des Patienten ist wohlerwogen und dauerhaft. Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist. 186 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 187 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 83 Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. Eine übereinstimmende ärztliche Zweitmeinung liegt vor. Die Einnahme des todbringenden Mittels muss durch den Patienten selbst, ohne medizinische Hilfsmittel erfolgen.“188 An dieser Variante wurde die „Gewissensentscheidung aus Fürsorge“ als nicht mit dem ärztlichen Ethos vereinbar gesehen. Die Achtung der Patientenautonomie könne einziger Grund sein, aus dem heraus ein Arzt einem Sterbenden beim Suizid im Einzelfall helfen sollte. Ansonsten fand dieser Vorschlag relativ breite Zustimmung. 3.12 Der Vernehmlassungstext Der für August 2003 erstellte Entwurf der Richtlinie (Fassung 6), nahm sämtliche Anregungen der Subkommissions-Mitglieder auf und stellte diese zur Diskussion. In einer ausführlichen Sitzung wurden die Vorschläge diskutiert und im Abstimmungsverfahren nach dem Mehrheitsprinzip entschieden. Anhand der Reaktionen auf die im Mai 2004 erschienene Richtlinie „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“, leitete die Subkommission „Sterbehilfe“ ab, dass ihre eigene Richtlinie möglichst wenig Interpretationsspielraum offen lassen und gut kommuniziert werden sollte. So kam es in Deutschland zu einer verzerrten Darstellung mit falsch wiedergegebenen Inhalt der oben erwähnten Richtlinie, zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung mit dem reisserischen Titel „Stilles Töten in der Schweiz – Ärzte sollen Sterbehilfe leisten, um Kosten zu sparen“189 oder in einem ARDBeitrag („Titel, Thesen, Temperamente“). Die SAMW nahm in einem Schreiben an die Deutsche Bundesärztekammer zu diesen Beiträgen Stellung. Entsprechend diesem Hintergrund wurde für die Richtlinie „Betreuung von Patienten am Lebensende“ in sämtlichen Kapiteln nach klaren und prägnanten Formulierungen gesucht. In diese Phase fiel die bereits erwähnte Streichung des Abschnittes im Kommentarteil bezüglich der Tötung auf Verlangen. Die Richtlinie dahingehend („Die Tötung … ist abzulehnen“190) sei selbstredend, es brauche keine Begründung oder Rechtfertigung des Tötungsverbotes. Die definitive Formulierung des Abschnittes „Suizidbeihilfe“ orientierte sich bei deutlicher Präferenz der Subkommissionsmitglieder an der Version 3 (S.79). Anstelle von „mit dem ärztlichen Ethos vereinbar“ entschied man sich für die offenere Formulierung „ethisch vertretbar“, welche 188 SAMW August 2003, Email-Kommentar eines Subkommissions-Mitglieds zu den Versionen der Suizidbeihilfe von Juni 2003 189 Süddeutsche Zeitung, 06.02.2004 190 SAMW 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, S. 7 84 „die allgemeine ethische Begründbarkeit einer solchen Handlung [bezeichnet], unabhängig davon, ob der Handelnde ein Arzt ist oder nicht. Mit dieser Formulierung wird betont, dass die Suizidbegleitung im Prinzip nicht Teil des ärztlichen Ethos ist, dass es aber trotzdem im Einzelfall dazu kommen kann, dass ein Arzt in die Entscheidung involviert wird.“191 Zur Abgrenzung der Äusserungen in der Richtlinie für die „Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen“ sowie Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten, sollte der Geltungsbereich nochmals speziell hervorgehoben und die eigentliche Aufgabe der Ärzte beschrieben werden: „Für Ärzte besteht bei Patienten am Lebensende die Aufgabe darin, zu lindern und zu begleiten, insbesondere auch palliative Massnahmen zu erläutern und anzubieten.“192 Die folgende Beschreibung des Prozesses wurde verdichtet: „Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und dauerhaft bestehen bleiben.“193 Im Weiteren erfolgte die Beschreibung dieser Grenzsituation mit dem Hinweis auf die persönliche Gewissensentscheidung des Arztes, die dann in beiden Fällen (Suizidbeihilfe leisten oder nicht) ethisch vertretbar ist. Deutlich festgehalten wurde, dass „grundsätzlich die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit ist.“194 Bei den Rahmenbedingungen wurde aufgenommen, dass die Überprüfung der Wohlerwogenheit des Sterbewunsches sowie das Fehlen von äusserem Druck von einer Drittperson erfolgen soll, „welche nicht zwingend ärztlicher Herkunft sein muss“195. Betont werden sollte ebenfalls, dass die zum Tode führende Handlung in jedem Fall durch den Patienten selbst zu erfolgen habe. Der Kommentarabschnitt wurde gänzlich überarbeitet: „Im Gespräch über den Suizidwunsch eines Patienten hat der Arzt seine persönliche Gewissenshaltung transparent zu machen. Der Entscheidungsprozess muss in der Krankengeschichte festgehalten werden. Wird ein Freitod ausgeführt, verlangt das Gesetz, dass dieser als ein nicht-natürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet wird. 191 SAMW August 2003, Protokoll der Sitzung der Subkommission „Sterbehilfe“, S. 2 SAMW August 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 7a, S. 4 193 SAMW August 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 7a, S. 5 194 SAMW August 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 7a, S. 5 195 SAMW August 2003, Protokoll der Sitzung der Subkommission „Sterbehilfe“, S. 2 192 85 In einem Abhängigkeitsverhältnis, wie es beispielsweise aufgrund der eingeschränkten Arztwahl eines Patienten besteht, kann die Freiheit des Arztes, bei einer Beihilfe zum Suizid mitzuwirken, eingeschränkt sein […].“196 In der ordentlichen Sitzung des Senats der SAMW wurde am 27. November 2003 beschlossen, dass die generelle Ausrichtung der Richtlinie „Betreuung von Patienten am Lebensende“ zu befürworten sei. Zum Geltungsbereich wurde ausgeführt, dass bewusst die anhand klinischen Zeichen erkennbare Sterbephase gewählt wurde, um die eigentlichen ‚Exit’Situationen auszuschliessen. Zur Suizidbeihilfe wurde die neu erfolgte Differenzierung hervorgehoben: Im Einzelfall und unter gewissen Bedingungen kann ärztliche Suizidbeihilfe als persönliche Gewissensentscheidung ethisch vertretbar sein. Moniert wurde, dass die dafür in Frage kommende einzige Begründung, das Autonomieprinzip, nicht erwähnt sei. Gewünscht wurde ebenfalls eine Klärung, wofür die Richtlinie nicht stehe und den Hinweis darauf, dass Suizidbeihilfe eine Freiheit, jedoch kein Recht sei. Nach einer engagierten Diskussion stimmte der Senat einstimmig, mit zwei Enthaltungen, dem Inhalt zu und ermächtigte den Vorstand zur Veröffentlichung des Vernehmlassungstextes. Der definitive Vernehmlassungstext wurde bezüglich der oben erwähnten Punkte überarbeitet. So einigte man sich bezüglich der Suizidbeihilfe auf folgende Formulierung: „In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Konflikt entstehen. Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, denn der Arzt ist verpflichtet, seine ärztlichen Kompetenzen zur Heilung, Linderung und Begleitung einzusetzen. Auf der anderen Seite hat er den Willen des Patienten zu achten. Das kann auch bedeuten, dass eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, zu respektieren ist. Der einzelne Arzt trägt dann die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Mindestanforderungen: […]“197. Begründet wurde diese Formulierung anhand folgender Überlegungen: „Der SAMW ist in der Formulierung des Passus über die Beihilfe zum Suizid der Einzelfall wichtig. Der Einzelfall ist etwas anderes als ein Typus von Fällen, der mit allgemeinen Regeln beschreibbar ist. Die Einzelfallentscheidung kann sich daher nicht auf allgemeine Regeln stützen, sondern sie hat ein nicht-eliminierbares intuitives Element, das nicht in Regeln ausbuchstabierbar ist. […] Mit der Formulierung ‚…ist 196 SAMW August 2003, Betreuung von Patienten am Lebensende, Fassung 7a, S. 11 SAMW, Betreuung von Patienten am Lebensende, Stammversion, S. 5. Veröffentlichung zur Vernehmlassung, Januar 2004 197 86 ethisch vertretbar…’ wäre hingegen ein objektiver Geltungsanspruch verbunden. Die grosse Gefahr läge dann darin, dass in diesem Fall die Vertretbarkeit der Beihilfe zum Suizid gar nicht mehr aus der Anschauung des Einzelfalls abgeleitet werden würde, sondern aus den Richtlinien der SAMW. Das ist das falsche politische Signal, das damit in dieser heiklen und gesellschaftlich umstrittenen Angelegenheit gegeben wird. Dann wird das auf längere Sicht keine Einzelfallentscheidung mehr sein, sondern eine Regelentscheidung aufgrund der Richtlinien der SAMW.“198 Präzisiert wurde zudem der Absatz „Geltungsbereich“ im Kommentar: „Gemäss dieser Definition sind Patienten am Lebensende zu unterscheiden von Patienten in der Terminalphase, insofern sich die Terminalphase nicht selten bis zu einem Jahr oder auch länger erstrecken kann. Mit den klinischen Anzeichen ist in erster Linie gemeint, dass beim Patienten die Vitalfunktionen insuffizient werden. Es ist allerdings hervorzuheben, dass der Eintritt der hier zugrunde gelegten Sterbephase nicht selten mit ärztlichen Entscheidungen zum Behandlungsabbruch oder –verzicht im Zusammenhang stehen, so dass eine Abgrenzung stets mit gewissen Unschärfen verbunden bleibt.“199 Der Vernehmlassungstext wurde im Februar 2004 in der Schweizerischen Ärztezeitung publiziert.200 3.12.1 Medienmitteilung zum Vernehmlassungstext Um eine zu starke Verzerrung des Inhalts des Vernehmlassungstextes zu vermeiden, erfolgte gleichzeitig zur Veröffentlichung eine Medienmitteilung, worin der Kontext, in dem die Richtlinien entstanden, erläutert wurde. Darin wurde auf die Diskussionsdynamik in der Politik in Europa und spezifisch in der Schweiz hingewiesen. „Anlässlich der nationalrätlichen Debatte zur Sterbehilfe in der Wintersession 2001 hat die SAMW in einer Medienmitteilung ihre Ablehnung der aktiven Sterbehilfe bekräftigt und gleichzeitig signalisiert, dass sie ihre bisherige Position zur Beihilfe zum Suizid überprüfen werde.“201 198 SAMW, Begleitbrief an die Subkommissionsmitglieder „Sterbehilfe“ zur Vernehmlassungsvariante der Richtlinie „Betreuung von Patienten am Lebensende“, 30. Januar 2004 199 SAMW, Begleitbrief an die Subkommissionsmitglieder „Sterbehilfe“ zur Vernehmlassungsvariante der Richtlinie „Betreuung von Patienten am Lebensende“, 30. Januar 2004 200 Schweizerische Ärztezeitung 2004; 85: Nr. 6, S. 288-291 201 SAMW, Medienmitteilung, S. 1, 5. Februar 2004 87 Resultate der MELS-Studie wurden herangezogen, um die Häufigkeit von Sterbehilfemassnahmen zu demonstrieren: „So zeigte die europaweit durchgeführte Studie über medizinische Entscheidungen am Lebensende (MELS-Studie 2003), dass in der Schweiz der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen (passive Sterbehilfe) und die Beihilfe zum Suizid wesentlich häufiger sind als in anderen Ländern: In sieben von zehn erwarteten Todesfällen spielen medizinische Entscheidungen am Lebensende eine Rolle, und 200 Menschen (0.36% der Todesfälle) scheiden jährlich durch begleiteten Suizid aus dem Leben.“202 Der Geltungsbereich der Richtlinie wurde besonders hervorgehoben, ebenso die Betonung des primären Anliegens der Ärzte auf Linderung von Leiden und Erhaltung der bestmöglichen Lebensqualität der Betroffenen. Zur Suizidbeihilfe wurde ausgeführt: „Die zunehmend höhere Gewichtung der Patientenautonomie hat die SAMW aber auch bewogen, die ärztliche Beihilfe zum Suizid neu zu betrachten. […], dass die Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Tätigkeit ist, […]. Andererseits anerkennen sie, dass Umstände und die Respektierung des Patientenwillens einen Arzt veranlassen können, im Einzelfall einem sterbenden Patienten Beihilfe zum Suizid zu leisten.“203 Im letzten Abschnitt wurde auf den schwierigen Entstehungsprozess hingewiesen: „Die SAMW hat sich die Festlegung der Grenzen in diesem Bereich nicht leicht gemacht. Zentraler Inhalt der ärztlichen Tätigkeit bleibt nach wie vor eine fachlich kompetente, einfühlsame Unterstützung und Begleitung hin zum Ende des Lebens. Wenn der Sterbende den Schritt vom Leben in den Tod selbstverantwortlich aktiv zu tun wünscht, kann er die Ausführung nicht delegieren. Sein Arzt soll ihn aber deshalb nicht im Stich lassen müssen.“204 Dieser Erklärungsversuch und insbesondere der Hinweis auf die menschliche Haltung gegenüber Sterbenden, gründete in den beobachteten Reaktionen der Vernehmlassung der Richtlinie „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“, wo die Ausführungen der SAMW als „taktlos und technokratisch“ sowie „zutiefst unethisch und unärztlich“205 bezichtigt wurden. 202 SAMW, Medienmitteilung, S. 1, 5. Februar 2004 SAMW, Medienmitteilung, S. 2, 5. Februar 2004 204 SAMW, Medienmitteilung, S. 2, 5. Februar 2004 205 Schriftliche Stellungnahme zum Vernehmlassungstext der Richtlinien „Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen“, Juli 2003 203 88 Zu möglichen Fragen in Bezug auf die Richtlinie wurden im Vorfeld der Vernehmlassungsphase entsprechende Antworten der SAMW formuliert. Ziel war eine Erklärung der Haltung der SAMW aber auch eine Abgrenzung zum politischen Rahmen. „Warum ist die SAMW gerade heute bereit zu einer offeneren Regelung der Suizidbeihilfe? Werden damit nicht die Resultate aktueller Studien zur heute verbreiteten Praxis der Sterbehilfe (Exit-Studie, MELS-Studie) ethisch legitimiert, resp. anerkennt die SAMW nicht einfach, dass eine Medikalisierung bereits stattgefunden hat und Sterbehilfe zum ärztlichen Alltag gehört? Die Ergebnisse dieser Studien werden ernst genommen, insofern die verbreitete Praxis von medizinischen Entscheidungen am Lebensende überdacht und für die einzelnen Handlungen klare Leitlinien und Grenzen gesetzt werden. Aufgrund zunehmender Möglichkeiten der Medizin besteht tatsächlich eine Tendenz zur Medikalisierung der letzten Lebensphase. Das Anliegen der RL [Richtlinie] besteht darin, Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen in der Betreuung Sterbender aufzuzeigen, wie sie aus Sicht des Behandlungsteams sinnvoll und begründet sind. Die Beihilfe zum Suizid ist eine Praxis, die aufgrund der strafrechtlichen Regelung nicht verboten ist, quantitativ jedoch eine untergeordnete Rolle spielt (0.36% aller Todesfälle) und in der Regel unter der Anleitung von Sterbehilfegesellschaften durchgeführt wird. Die offenere Regelung ist in erster Linie mit der Berücksichtigung der Patientenautonomie begründet; daneben besteht ein Ziel darin, in Bezug auf die bestehende Praxis klare Bedingungen und Grenzen zu setzen. Bewirkt die Öffnung im Bereich der Suizidbeihilfe einen Dammbruch oder eine unerwünschte Ausweitung (slippery slope-Effekt)? Nein, insofern die Grenzen des ärztlichen Handlungsspielraums klar abgesteckt sind. Entscheidungen zum Behandlungsabbruch und –verzicht wie auch die indirekte Sterbehilfe werden geregelt, die Beihilfe zum Suizid wird nur in Einzelfällen und unter Einhaltung eindeutig formulierter Minimalbedingungen respektiert, die aktive Sterbehilfe ist verboten. Eine unerwünschte Ausweitung der bestehenden Praktiken wäre nur dann zu befürchten, wenn die Beihilfe zum Suizid Teil des ärztlichen Auftrags und die Selbsttötung quasi zu einem Handlungsmodell im Sinne eines ‚Auswegs aus schwierigen Lebenssituationen‘ würde. Angesichts der aufgestellten Bedingungen, insbesondere der Forderungen, dass das Lebensende nahe sein muss und bestehende palliative Behandlungsmöglichkeiten erörtert wurden, ist auch aufgrund der Erfahrungen in anderen Ländern eine unerwünschte Ausweitung nicht zu erwarten. […] 89 Lässt die SAMW den einzelnen Arzt nicht im Stich, wenn sie keine Regeln mit objektivem Geltungsanspruch formuliert, sondern angesichts dieses Dilemmas „nur“ eine persönliche Einzelfallentscheidung des Arztes anerkennt? Nein, denn die Beihilfe zum Suizid stellt keine spezifische ärztliche Handlung dar und sollte auch in Zukunft nicht dazu werden. Darum sollte ein Arzt nur im Einzelfall und unter Einhaltung klarer Minimalbedingungen soweit gehen, einen Patienten im Suizid zu begleiten. Die Meinungen über die Beurteilung der Beihilfe zum Suizid gehen sowohl in der Ärzteschaft als auch in der Gesellschaft weit auseinander. Die SAMW kann diese weit reichenden Überzeugungskonflikte nicht lösen. Sie ist mit der vorliegenden Regelung darum bemüht, die Selbstbestimmung der Patienten zu respektieren, in Hinblick auf die bestehende Praxis der Beihilfe zum Suizid klare Minimalbedingungen einzufordern und die dabei von Ärzten eingenommene Rolle von den ärztlichen Aufgaben (zu heilen, zu lindern und zu begleiten) abzugrenzen. Im Rahmen dieser Bedingungen fällt die Beihilfe in die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen. […] Welche Haltung hat die SAMW gegenüber den Sterbehilfeorganisationen? Es ist grundsätzlich Sache von Gesellschaft und Politik, die Aktivitäten der Sterbehilfegesellschaften zu beurteilen und in angemessener Weise zu kontrollieren. Insofern mit dem Lebensschutz ein hohes gesellschaftliches und individuelles Gut auf dem Spiel steht – zu denken ist insbesondere an den Schutz von behinderten, schwer leidenden und pflegebedürftigen alten Menschen – bestehen heute gemäss unserer Ansicht in diesem Bereich wichtige Aufgaben. Dazu kommt, dass durch den zunehmenden ‚Sterbehilfe-Tourismus‘ und dadurch, dass eine kürzlich gegründete Sterbehilfegesellschaft206 kommerzielle Ziele verfolgt und insbesondere psychisch schwer leidenden Menschen Beihilfe zum Suizid anbietet, die Gefahr besteht, dass der Suizid zu einer Art Modellhandlung in schwierigen Lebenssituationen zu werden droht. Diese Tendenz beobachtet die SAMW mit Sorge und unterstützt Massnahmen im Bereich der Suizidprävention und der angemessenen Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen oder körperlichen Einschränkungen oder Krankheiten. […] Drückt sich die SAMW mit der engen Festlegung des Geltungsbereichs nicht vor einer Stellungnahme zum Umgang mit sterbewilligen Patienten mit tödlichen Krankheiten? 206 Verein SuizidHilfe, gegründet am 17.01.2002 durch Peter Baumann. Aufgrund von juristischen Problemen musste der Verein inzwischen seine Aktivitäten einstellen. Vgl. www.suizidhilfe.ch (Stand Dezember 2010) 90 Die SAMW ist grundsätzlich der Meinung, dass es keine Aufgabe der Ärzte ist oder sein sollte, den Sterbewillen von schwer kranken, leidenden oder schwer behinderten Menschen zu erfüllen. Der Sterbewille eines Patienten auch bei mit Sicherheit tödlich endenden Krankheiten kann kein hinreichender Grund für Ärzte und Angehörige des Behandlungsteams sein, einen Menschen bei der Beendigung seines Lebens zu unterstützen.“207 3.13 Die Vernehmlassungsphase Die Reaktionen blieben nicht aus. Sie reichten von Anerkennung der geleisteten Arbeit bis hin zu massivster Empörung, über die Landesgrenze hinaus. So titelte die Süddeutsche Zeitung am 06. Februar 2004 „Sterben nach Schweizer Art“ und kommentierte die veröffentlichten Richtlinien wie folgt: „Europaweit waren die Schockwellen zu spüren, die im vergangenen Sommer die ‚Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften‘ (SAMW) ausgelöst hatte. Nun, so hiess es, begriffen die Schweizer Ärzte das Töten als ihre vornehmste Pflicht. Die Richtlinien zur ‚Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen‘ nahmen erstmals die – seit 1942 straffreie – ‚Beihilfe zum Suizid‘ in den ärztlichen Leistungskatalog auf. Der Grund für diesen Sinneswandel wurde in der Präambel ausgesprochen: ‚steigende Gesundheitskosten‘ wegen steigender Lebenserwartung. Gestern hat die SAMW nachgelegt. Eine neue Richtlinie erweitert das Feld der Betroffenen. ‚Patienten am Lebensende‘ sind jetzt in den Fokus gerückt, alte wie junge gleichermassen. Die neue ‚Guideline‘ vermeidet jeden Hinweis auf das Motiv der Geldknappheit. Stattdessen wird, streng humanistisch, gleich im ersten Satz die Schutzbedürftigkeit der Sterbenden betont. Der Präsident der SAMW spricht in seinem Begleitwort von den ‚spirituellen und psychischen Dimensionen‘, die das medizinische Personal erkennen und respektieren müsse; gemeint ist vor allem das ‚Recht auf die Gestaltung des Schicksals‘. Folgerichtig wiederholen die Autoren das Plädoyer für die Sterbehilfe. Die Plastiktüte reichen oder die Spritze besorgen dürfen Ärzte, sofern ihnen ihr Gewissen diesen Schritt nicht verbietet. ‚Der letzte Akt‘ aber ‚muss in jedem Fall durch den Patienten selbst ausgeführt werden.‘ Insofern ist die neue Richtlinie eindeutiger, benennt sie doch im Gegensatz zum letztjährigen Papier eine für absolut deklarierte Grenze. Andererseits sinken die regulatorischen Einschränkungen drastisch: Kein 207 SAMW, Medizinisch-ethische Richtlinien „Betreuung von Patienten am Lebensende“, Mögliche Fragen – Antworten der SAMW, (Februar) 2004 91 ‚speziell kompetenter‘, auswärtiger Arzt muss mehr hinzugezogen werden. Es genügt eine beliebige ‚Drittperson‘, deren Votum es vor der Tat einzuholen gilt. Nach einer Erhebung vom Juni 2003 sind immerhin 0.4 Prozent aller Schweizer Todesfälle auf Suizidbeihilfe zurückzuführen. Die neuen Empfehlungen werden diesen Anteil eher ansteigen als zurückgehen lassen. Indem die Mit-Verantwortung von einem Mediziner auf eine ‚Drittperson‘ übertragen wird, ist eine wesentliche Hemmschwelle beseitigt. Der assistierte Suizid zählt nun endgültig zum Standardrepertoire helvetischer Heilkunst.“208 Neben diesen vor allem schlagzeilengierigen, journalistischen Ausschlachtungen fanden sich zahlreiche differenzierte Rückmeldungen von Ärztevereinigungen, anderen Berufsverbänden, kirchlichen Vereinigungen, sozialen Institutionen aber auch von Einzelpersonen. Insgesamt gingen über 150 Stellungnahmen ein.209 Einerseits wurde Bestürzung über den Gesinnungswandel und die „Freigabe“ der Suizidbeihilfe geäussert, andererseits wurde die liberale Haltung und die Stossrichtung der Richtlinien begrüsst. Während die kantonalen Ärztegesellschaften, medizinische Fachgesellschaften und kantonale Behörden inklusive der Kantonsärzte die bedingte Öffnung mehrheitlich befürworteten, kamen kritische Stimmen insbesondere von einzelnen Ärztinnen und Ärzten, anderen Einzelpersonen und religiösen Kreisen. Im Rahmen des Diskussionsforums der Schweizerischen Ärztezeitung schrieb P. Aebersold am 08. Februar 2004: „[…] Soll jetzt die früher wegen ihrer hohen ethischen Kompetenz europaweit anerkannte Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Speerspitze der Euthanasie-Befürworter werden? Zwar geht die Richtlinienänderung ‚Betreuung von Patienten am Lebensende‘ der SAMW (letzte Revision erst 1995!) erst in die Vernehmlassung, doch weiss man aus der katastrophalen Entwicklung in Holland, dass schon die kleinste Lockerung des Tötungsverbotes zu einem Dammbruch führen muss. […] Allerdings will die SAMW die Beihilfe zum Suizid weiterhin nicht als Teil der ärztlichen Tätigkeit ansehen. Auch der hippokratische Eid verbietet dem Arzt jede Tötung kategorisch. Nur schon die Diskussion des Tötungsverbotes ist jedoch ein Angriff auf den ersten und wichtigsten Menschenrechtsartikel, das ‚Recht auf Leben‘, dass das Leben jedes Menschen vor Willkür schützt. Wenn dabei noch Begriffe wie ‚Sterbehilfe‘ oder ‚unheilbar krank‘ verwendet werden, wird es gefährlich, weil diese irreführend und verfänglich sind. […] Rechte schützen nur, wenn sie eingefordert werden.“210 208 Süddeutsche Zeitung, 06.02.2004 Schweizerische Ärztezeitung 2005; 86, Nr. 3, S. 171 210 Aebersold 2004, Diskussionsforum 209 92 In seinem Leserbrief „Der Rückfall in die Barbarei“, ebenfalls in der Schweizerischen Ärztezeitung, führte er aus: „Die Vernehmlassung des Richtlinienentwurfs der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ist zu Ende gegangen, ohne dass es in der Schweiz zu einem Aufschrei gekommen wäre. […] Erst der Vergleich mit den noch gültigen Richtlinien von 1995 zeigt den totalen Paradigmenwechsel, den radikalen Bruch mit der tausendjährigen abendländischen Tradition des Humanismus und der Menschenrechte. […] Die Worte ‚Leben‘ und ‚Pflicht‘ kommen im ganzen Entwurf nicht mehr vor. […] Die bisherige Pflicht des Arztes auf Lebenserhaltung wird aufgegeben, der Focus liegt nun – diametral entgegengesetzt – auf der ‚selbstbestimmten, autonomen‘ Lebensbeendigung. Die grösste Errungenschaft der europäischen Zivilisation, der erste und wichtigste Menschenrechtsartikel, ‚das Recht auf Leben‘ für alle Menschen, wird damit aufgegeben!“211 Andere Stellungnahmen, die die Stossrichtung begrüssten, vermissten eine klare Botschaft, wie die Richtlinie umzusetzen sei. Wie ist die Rolle des Arztes definiert, wie der Ablauf der Suizidbeihilfe? Die Legitimierung der Beihilfe zum Suizid wurde in Anbetracht der fehlenden gesetzlichen Regelung auf Bundesebene (mit Ausnahme des Hinweises auf selbstsüchtige Motive) als problematisch erachtet. Befürchtet wurde dabei eine unkontrollierte Entwicklung der Beihilfe, wenn jeder Arzt individuell entscheiden könne. Verlangt sei eine klare Regelung (Zweitmeinung, systematische Erfassung oder Evaluation der Fälle), um die Betroffenen vor Missbrauch besser schützen zu können. Diese Sicherungsmassnahmen seien im vorliegenden Text ungenügend. Zwingend zur Aufrechterhaltung des Vertrauensverhältnisses müsse die Formulierung, dass die Suizidbeihilfe nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit sei, speziell herausgehoben und stärker betont werden. Vorgeschlagen wurde eine Formulierung wie „Kraft seiner Funktion ist der Arzt nicht befugt, dem Patienten Beihilfe zum Suizid anzubieten“212 und eine Ergänzung mit der Verweigerungsmöglichkeit seitens des Arztes, Suizidbeihilfe auszuüben. Zahlreiche Gedanken kamen auch zum Thema „medizinische Entscheidungen am Lebensende“: „Nicht formuliert ist, dass meines Erachtens der endgültige Therapie-Entscheid vom Arzt gefällt wird und auch von ihm zu tragen ist. Dies ist alles andere als überheblich, 211 Aebersold 2004, Leserbriefe Stellungnahme Rat Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK) zum Vernehmlassungstext, Mai 2004, S. 3/4 212 93 sondern eine schwere Last, die wir den Angehörigen nicht zumuten dürfen. Aber der Konsens der Angehörigen muss da sein. Interessant ist auch eine Umfrage, die kürzlich in Zürich in diversen Betreuungsinstitutionen durchgeführt wurde mit der Frage, wer am Lebensende Therapieentscheide treffen soll: Angehörige oder der Arzt? Über 80% entschieden sich für den Arzt. Der Auftrag ist wohl klar und wir können uns nicht hinter einer pseudodemokratischen Verantwortungsdiversifikation verstecken.“213 Die Einschränkung des Geltungsbereichs wurde nicht von allen Seiten begrüsst. „Die relevante Problematik oder ethische Herausforderung sind die Aktivitäten von Exit und Dignitas. Diese richten sich nur selten an Personen am Lebensende. Richtlinien der Akademie sollten nicht Einzelaspekte, sondern die ganze Problematik von Exit und Dignitas insgesamt angehen.“214 Die Sterbehilfeorganisationen ihrerseits bemängelten – in einem zwar deutlich später erschienenen Bericht des Gründers von Dignitas – ebenfalls die Einschränkung des Geltungsbereichs: „Die Richtlinie äussert sich zwar in Artikel 4.1 zur Frage des assistierten Suizids, doch gilt dies gemäss Artikel 1 eben nur für Kranke, bei denen der Tod nahe ist. Der Arzt kommt selbstverständlich zum Schluss, dass diese Richtlinie demzufolge auf gesunde Personen nicht anwendbar ist. Ergebnis: Offensichtlich ist in den «anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften» keine diesbezügliche Norm zu finden.“215 Und weiter unten im Vortragsbericht ist zu lesen: „Der Zürcher Strafrechtsprofessor Dr. Christian Schwarzenegger hat nach dem Ergehen des erwähnten Bundesgerichtsurteils216 in der Schweizer Ärztezeitung die SAMW 213 Schaefer 2004 SAMW, Persönliche Stellungnahme zur Richtlinie Lebensende, Emailverkehr, 16. Februar 2004 215 A. Minelli, Oktober 2009 216 „Im Urteil 2A.48/2006 vom 3. November 2006 hatte sich die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Möglichkeit bestehe, die Rezeptpflicht für Natrium-Pentobarbital für den Fall eines assistierten Suizids von Psychischkranken aufzuheben. Das Bundesgericht hat – unter Berufung auch auf die bundesrechtlichen Gesetzesgrundlagen – die in diesem Punkt klar ablehnende Haltung der zuständigen kantonalen Behörden bestätigt. In seinen Erwägungen hat sich das Bundesgericht ausführlich mit der Problematik der Suizidbeihilfe bei Psychischkranken auseinandergesetzt. Es hat festgestellt, dass für den Sterbewilligen kein Anspruch auf Beihilfe bei der Selbsttötung bestehe. Es hat im Weiteren festgestellt, dass der Staat grundsätzlich das Recht auf Leben zu schützen habe, diese Pflicht aber regelmässig nicht so weit gehe, dass er dies auch gegen den ausdrücklichen Willen des urteilsfähigen Betroffenen tun müsse. 214 94 aufgefordert, Regeln aufzustellen, die auch für nicht todkranke Personen gelten. Diese hat dazu jedoch erklärt, Ärztinnen und Ärzte seien keine Experten für den freiwilligen Tod.“217 In die Vernehmlassungsphase fiel ebenfalls die Veröffentlichung des Expertenberichts „Suizidbeihilfe bei Menschen mit psychischen Störungen – Unter besonderer Berücksichtigung der Urteilsfähigkeit“ (18.04.2004). Dieser von EXIT-Deutsche Schweiz angeforderte Bericht sollte den Problemkreis von „Urteilsfähigkeit und Geisteskrankheit (ZGB Art 16)“ im Kontext der Suizidbegleitung besser beleuchten: „Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist ein jeder, dem nicht wegen seines Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.“218 Die Expertengruppe bestand aus Vertretern der Rechtsmedizin, Psychiatrie, Philosophie (ethik im diskurs) und der Rechtswissenschaften. Nach ausführlicher Darlegung der Ausgangslage in der Schweiz, strafrechtlichen Aspekten und grundsätzlichen Überlegungen zur Suizidbegleitung bei Menschen mit psychischen Störungen kam die Expertengruppe zu folgendem Schluss: Während das Bundesgericht durchaus anerkennt, dass zum Selbstbestimmungsrecht im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK auch das Recht gehört, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden (soweit der Betroffene in der Lage ist, seinen entsprechenden Willen frei zu bilden und danach zu handeln), sei es doch Aufgabe des Staates, «durch ein geeignetes Verfahren sicherzustellen, dass ein allfälliger Entscheid über die Beendigung des Lebens tatsächlich dem freien Willen des Betroffenen entspricht». Dazu gehöre aber auch, die Zulässigkeit der Suizidhilfe an die «Erkenntnis des Gesundheitszustands des Betroffenen» und die Abgabe eines gefährlichen Stoffes zur Suizidbegehung an die Voraussetzung seiner Rezeptierung im Rahmen der «anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften und Erkenntnis des Gesundheitszustands des Betroffenen» zu knüpfen. Auch wenn eine Suizidbeihilfe bzw. die Verordnung von NatriumPentobarbital bei Menschen mit einer unheilbaren, dauerhaften und schweren psychischen Beeinträchtigung «nicht mehr notwendigerweise kontraindiziert und generell als Verletzung der medizinischen Sorgfaltspflicht ausgeschlossen» sei, sei dabei «äusserste Zurückhaltung geboten: Es gilt, zwischen dem Sterbewunsch zu unterscheiden, der Ausdruck einer therapierbaren psychischen Störung ist und nach Behandlung ruft, und jenem, der auf einem selbstbestimmten, wohlerwogenen und dauerhaften Entscheid einer urteilsfähigen Person beruht […], den es gegebenenfalls zu respektieren gilt. Basiert der Sterbewunsch auf einem autonomen, die Gesamtsituation erfassenden Entscheid, darf unter Umständen auch Psychischkranken […] Suizidbeihilfe gewährt werden». Eine entsprechende Einschätzung setzt nach Auffassung des Bundesgerichtes «notwendigerweise das Vorliegen eines vertieften psychiatrischen Fachgutachtens voraus». Ein solches Fachgutachten könne nur auf einer eingehenden, sorgfältigen psychiatrischen Untersuchung und Diagnosestellung basieren und verlange «eine länger dauernde ärztliche Begleitung durch einen Spezialisten, der gestützt hierauf gegebenenfalls ein entsprechendes ärztliches Rezept auszustellen bereit ist».“ Kiesewetter 2007. 217 A. Minelli, Oktober 2009 218 Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Artikel 16 95 „Urteilsfähigkeit hinsichtlich des eigenen Sterbewunsches bei Menschen mit psychischen Störungen ist nicht generell verneinbar. Deshalb ist strafrechtlich Suizidbeihilfe bei Menschen mit psychischen Störungen nicht generell strafbar. […] Psychische Störungen gehen oftmals mit Sterbewünschen (Suizidalität) einher. Die meisten dieser Störungen sind prognostisch günstig und sprechen auf adäquate Therapie gut an. Deshalb ist in diesen Fällen der Sterbewunsch in erster Linie als Ausdruck der psychischen Störung zu interpretieren und behandeln. Aber auch bei Menschen mit psychischen Störungen können autonome, dauerhafte und wohlerwogene Suizidwünsche vorkommen. Diese sind nicht direkt im krankheitsbedingten Geschehen verwurzelt, sondern beziehen sich indirekt – als Reflexion ihrer Störung, ihres Leidens, ihrer Prognose und ihrer Gesamtsituation – auf diese psychische Störung. Die Unterscheidung dieser beiden Situationen ist schwierig. Sie kann nicht ohne psychiatrisches Expertenwissen getroffen werden. Deshalb ist in Fällen, bei welchen ein Mensch wegen einer psychischen Störung um Suizidbeihilfe ersucht, ein psychiatrisches Gutachten unumgänglich. Dieses ist auch erforderlich, um im Falle einer Suizidbeihilfe den rezeptierenden Arzt vor straf-, zivil- und gesundheitsrechtlichen Konsequenzen zu schützen.“219 In der Schweizerischen Ärztezeitung wurde anhand einer Fallvignette aus der Allgemeinpraxis von B. Wälti die Sterbebegleitung einer Patientin mit fortgeschrittenem Bronchuskarzinom aufgezeigt. Die Patientin hatte ihren Arzt zu Beginn der Diagnosestellung und ein zweites Mal in der terminalen Phase mit ihrem aktiven Sterbewunsch konfrontiert. Aufgezeigt wurde, wie mit einfühlsamen Gesprächen, aber einer klaren Ablehnung der aktiven Sterbehilfe und Offenlegung derselben, die Patientin im Rahmen intensivierter Palliativpflege in den Tod begleitet werden konnte, zur Zufriedenheit der Patientin selbst, der Angehörigen und auch des Arztes.220 3.14 Die weitere Überarbeitung bis zur definitiven Richtlinie Unter Anregung der während der Vernehmlassung eingegangenen Stellungnahmen wurde die Richtlinie überarbeitet. Bezüglich der Terminologie wurden die Begriffe „indirekt aktive“, „aktive“ und „passive Sterbehilfe“ wegen Uneinheitlichkeit im allgemeinen Sprachgebrauch als Verwirrung-stiftend wahrgenommen. Erschwerend kam bei der Übersetzung ins Französische und Italienische dazu, dass kein Pendant zum Ausdruck „Sterbehilfe“ in den entsprechenden Sprachen existiert. Die Begriffe wurden in der Endfassung ersatzlos gestrichen. 219 Bosshard 2004, Suizidbeihilfe bei Menschen mit psychischen Störungen – Unter besonderer Berücksichtigung der Urteilsfähigkeit, S. 33 220 B. Wälti 2004 96 Im Kapitel „Beihilfe zum Suizid“ wurde die Rolle des Arztes verdeutlicht: „Sie [die Ärzte] sind nicht befugt, von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrunde liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern.“221 Des Weiteren wurde die Schwierigkeit der Vereinbarkeit mit dem ärztlichen Ethos verdeutlicht: „Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Respektierung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patientenbeziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes.“222 Die Richtlinie wurde zudem bezüglich der Vorgehensweise konkretisiert: „Er [der Arzt] hat dabei stets das Recht, die Beihilfe zum Suizid abzulehnen. Entschliesst er sich zur Suizidbeihilfe, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen: […]“223. Ergänzt wurde die Richtlinie mit zwei weiteren Regeln: „Der Arzt, der Beihilfe zum Suizid leistet, darf nicht den Totenschein ausstellen.“ Und: „Ärzte in Vorgesetztenfunktionen können ihren Mitarbeitern die Beihilfe zum Suizid verbieten, sie aber nicht von ihnen verlangen.“224 Der Kommentarteil lautete nach der Überarbeitung folgendermassen: „Im Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid in Pflegeheimen sind zudem die Richtlinien und Empfehlungen zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen zu beachten. Der Entscheidungsprozess muss dokumentiert werden. Ein Todeseintritt nach Beihilfe zum Suizid muss als ein nicht-natürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet werden. Ein Arzt, welcher Beihilfe zum Suizid leistet, darf für diese Tätigkeit kein Honorar verlangen.“225 221 SAMW Juni 2004, Betreuung von Patienten und Patientinnen am Lebensende, Version 8, S. 5 SAMW Juni 2004, Betreuung von Patienten und Patientinnen am Lebensende, Version 8, S. 5 223 SAMW Juni 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, Version 8, S. 6 224 SAMW Juni 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, Version 8, S. 6 225 SAMW Juni 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, Version 8, S. 8f. 222 97 Von diesem Formulierungsvorschlag wurde in der Endfassung nur noch minimal abgewichen, grundlegende Änderungen fanden keine mehr statt. So fanden die beiden ergänzten Regeln zum Ausfüllen des Totenscheins und dem Verbieten der Suizidbeihilfe durch einen vorgesetzten Arzt, Eingang in den Kommentarteil. Das Recht eines Arztes, Suizidbeihilfe abzulehnen wurde zudem deutlicher betont: „In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen.“226 Für die definitiv genehmigte Endfassung relevante Korrektur war einzig eine veränderte Gewichtung des Gewissensentscheids und eine zusätzliche Betonung dieses spezifischen Einzelfalles. War vorher bloss in einem Nebensatz erwähnt „[...] Gewissensentscheidung […], die als solche zu achten ist“227, wurde nun ausformuliert: „Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren.“228 Die Richtlinie wurde am 1. November 2004 vom Vorstand und am 25. November 2004 vom Senat der SAMW genehmigt. In der Schweizerischen Ärztezeitung erfolgte anfangs 2005 eine Mitteilung mit Hinweisen zu den anhand der Stellungnahmen überarbeiteten Punkten der Richtlinie229. 3.15 Personelle Informationen zu der Richtlinie230 3.15.1 Verantwortliche Subkommission Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern, Präsident PD Dr. phil. Jürg Bernhard, Bern Dr. med. Georg Bosshard, Zürich Pfrn. Ulrike Büchs, Winterthur Pflegefachfrau Christine Champion, Moudon Dr. med. Daniel Grob, Zürich Prof. Dr. med. Christian Kind, St. Gallen Dr. med. Hans Neuenschwander, Lugano Prof. Dr. med. Rudolf Ritz, Basel Lic. iur. Michelle Salathé, Basel (ex officio) Pflegefachfrau Elisabeth Spichiger, Bern Dr. med. Philipp Weiss, Basel Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Genf, Präs. ZEK (ex officio) 226 SAMW Juli 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, Version 9, S. 5 SAMW Juli 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, Version 9, S. 5 228 SAMW November 2004, Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, S. 7 229 Schweizerische Ärztezeitung 2005; 86: Nr. 3, 171 230 SAMW November 2004, Betreuung von Patienten und Patientinnen am Lebensende, S. 12 227 98 3.15.2 Beigezogene Experten Dr. med. Klaus Bally, Basel Prof. Dr. med. Verena Briner, Luzern Prof. Dr. theol. Johannes Fischer, Zürich Fürsprecher Hanspeter Kuhn, Bern Lic. theol. Settimio Monteverde, Basel Catherine Panchaud, M. Sc., Puidoux PD Dr. phil. Klaus Peter Rippe, Zürich Prof. Dr. iur. Et Dr. h.c. Kurt Seelmann, Basel Prof. Dr. med. Frédéric Stiefel, Lausanne 99 4 Die Diskussion in der Schweiz nach 2004 4.1 Die nationale Ethikkommission nimmt Stellung Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) ist eine beratende, unabhängige, ausserparlamentarische Fachkommission. Sie wurde am 3. Juli 2001 vom Bundesrat eingesetzt. Die Kommission ist bestrebt, durch Klärung der ethischen Aspekte im Hinblick auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten zu einer sorgfältigen und umfassenden ethischen Urteilsbildung zu gelangen, die zu einem fairen und an Argumenten orientierten Meinungsbildungsprozess und schliesslich zum Wohl der betroffenen Menschen und der Gesellschaft beiträgt231. Im April 2005 veröffentlichte die NEK ein ausführliches Papier mit einer Stellungnahme zur „Beihilfe zum Suizid“. Darin wurden der Stand der Diskussion, die rechtlichen Grundlagen und die sich dadurch eröffnenden Fragen dargestellt und schliesslich 12 Empfehlungen formuliert: 1. „Zwei Pole: Die ethischen Fragen, welche die Suizidbeihilfe aufwirft, ergeben sich aus dem Spannungsfeld zwischen der gebotenen Fürsorge für suizidgefährdete Menschen einerseits und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines Suizidwilligen andererseits. Empfehlungen, Richtlinien und rechtliche Regelungen müssen beiden Polen in diesem Spannungsfeld Rechnung tragen. 2. Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen: Die Mitwirkung bei der Selbsttötung sollte aus ethischer Sicht unterschieden werden von der Tötung auf Verlangen. 3. Straflosigkeit bei der Beihilfe zur Selbsttötung: Die Beihilfe zum Suizid bleibt nach Auffassung der NEK-CEN aus ethischen Gründen zu Recht straflos, sofern sie nicht aus eigennützigen Motiven durchgeführt wird. Die Kommission empfiehlt, am geltenden Art. 115 StGB keine Änderungen vorzunehmen. 4. An der Person orientierte Entscheidungen: Eine Entscheidung zur Suizidbeihilfe muss sich an der Person und an der Situation des Suizidwilligen orientieren und darf nicht zu einer bloss an Regeln abgeleiteten Entscheidung werden. 5. Sterbehilfeorganisationen: Art. 115 StGB schützt de facto die Selbstbestimmung der am Suizid Beteiligten, indem er diese straffrei lässt. Diese grundsätzlich liberale Haltung soll nicht in Frage gestellt werden. Im Hinblick auf die herrschende 231 www.bag.admin.ch/nek-cne; Stand November 2010 100 Praxis der Suizidbeihilfe bedarf es aber bei den Sterbehilfeorganisationen der Ergänzung [staatliche Aufsicht]. 6. Psychische Krankheiten: Bei psychisch kranken Menschen sind Todes- und Suizidwünsche häufig Ausdruck oder Symptom ihrer Erkrankung. Deshalb bedürfen Suizidwillige, die unter psychischen Krankheiten leiden – alleine oder in Kombination mit somatischen Krankheiten – in erster Linie einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Wenn der Suizidwunsch Ausdruck oder Symptom einer psychischen Krankheit ist, soll keine Beihilfe zum Suizid geleistet werden. 7. Kinder und Jugendliche: Bei Kindern und Jugendlichen kommen die in der Gesundheitspflege generell geltenden rechtlichen und ethischen Regeln zur Anwendung. Den in Empfehlung 4 formulierten Überlegungen ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken [Mehrheitsposition]. / Bei Kindern und Jugendlichen soll keine Beihilfe zum Suizid geleistet werden [Minderheitsposition]. 8. Spitäler und Heime: A. Institutionen der Langzeitpflege: Wenn ein Bewohner den assistierten Suizid wünscht und er über keinen anderen Lebensort verfügt als diese Institution, sollte er nach Möglichkeit den Akt auch an diesem Ort durchführen können. B. Akutspitäler: Jede Institution soll klar festlegen, ob sie für ihre Patienten die Möglichkeit des assistierten Suizids zulassen will oder nicht. Die Institution soll ihren Entscheid den Patientinnen und Patienten gegenüber erklären können. C. Bezüglich des Suizids in psychiatrischen Institutionen wird auf Empfehlung 6 verwiesen. Der wohl erwogene persönliche Entschluss zum Suizid soll nicht an Regeln einer Institution, dem persönlichen Gewissensentscheid eines Arztes oder einer einzelnen Betreuungsgruppe scheitern müssen. Es sollte die Möglichkeit gewährt werden, auf Wunsch einem anderen Arzt zugewiesen oder in eine andere Institution verlegt zu werden. 9. Angehörige von Heilberufen: Für Ärztinnen und Ärzte, sowie für Pflegende entsteht vor dem Hintergrund des medizinischen Ethos ein Konflikt, weil medizinischer Beistand Fürsorge zum Leben bedeutet und nicht Beistand zu dessen Beendigung. Aus diesem Grund kann Suizidbeihilfe nicht als etwas begriffen werden, was zum Auftrag der Angehörigen von Heilberufen gehört. Wo Ärztinnen und Ärzte dennoch Suizidbeihilfe leisten, fällt dies in ihre persönliche Entscheidung. 10. Suizidwillige aus dem Ausland: Es gibt keinen ethischen Grund, Suizidwillige aus dem Ausland generell vom assistierten Suizid in der Schweiz auszuschliessen. 101 Ein besonderes ethisches Problem bei dieser Personengruppe besteht jedoch in der Sicherstellung einer ausreichenden Abklärung und der diesbezüglichen Sorgfaltspflichten. Für Suizidwillige aus dem Ausland sollte genauso wie für Suizidwillige aus der Schweiz sichergestellt werden, dass die in Empfehlung 4 formulierten Bedingungen erfüllt sind. 11. Gesellschaftliche Tendenzen und Risiken: Der Suizidprävention soll künftig grosse Aufmerksamkeit geschenkt werden, besonders angesichts von gesellschaftlichen Entwicklungen, die das Risiko bergen, Menschen in Grenzsituationen zur Annahme eines organisierten Angebotes der Suizidbeihilfe zu veranlassen. 12. Rechtlicher Regelungsbedarf: Die heutige Rechtslage bedarf der Ergänzung durch Bestimmungen, die sicherstellen, dass a) vor der Entscheidung zum assistierten Suizid für jeden Einzelfall hinreichende Abklärungen vorgenommen werden; b) niemand verpflichtet werden kann, Suizidbeihilfe zu leisten; c) keine Beihilfe zum Suizid geleistet wird, wenn der Suizidwunsch Ausdruck oder Symptom einer psychischen Erkrankung ist; d) im Falle von Empfehlung 7, Minderheitsposition: bei Kindern und Jugendlichen keine Beihilfe zum Suizid geleistet wird; e) die Sterbehilfeorganisationen einer staatlichen Aufsicht unterstellt werden.“232 Ein kurzer Übersichtsartikel mit einem Verweis auf den vollständigen Text wurde in der Schweizerischen Ärztezeitung 2005; 86: Nr. 29/30 publiziert. 233 Bemängelt an den oben aufgeführten Punkten wurde, dass keine Voraussetzung bezüglich Vorhandensein einer schweren, zum Tode führenden Krankheit (mehr) festgehalten wurde, sowie eine Unklarheit der Kriterien bezüglich der Aufsichtsregelung. 4.2 Erfahrungen im Universitätsspital Lausanne mit der Suizidbegleitung Im Januar 2006 berichtete das Lausanner Universitätsspital CHUV über ihre 18-monatigen Erfahrungen seit der Einführung einer Regelung über Suizidbegleitung.234 Die Daten zeigten, dass die Patienten in einem Akutspital sehr selten auf die Dienste von Suizidhilfeorganisationen zurückgreifen. Insgesamt seien in der untersuchten Zeit bei 54’000 Spitalaufnahmen sechs Gesuche gestellt worden, wobei alle in den Zeitraum der ersten sieben Monate nach der Einführung und Publikmachung der Zulassungsregelung fielen. Nur in einem Fall sei es zu einem begleiteten Suizid gekommen, der allerdings nicht im Spital selbst, sondern in ei232 NEK, Stellungnahme 09/2005, Beihilfe zum Suizid; 27.04.2005, S. 66–77 NEK, Empfehlungen zur Regelung der Suizidbeihilfe, Schweizerische Ärztezeitung 2005; 86: Nr. 29/30, 1796 234 J.-B. Wasserfallen 2006 233 102 nem dazu gehörenden Altersheim begangen wurde. Die zeitliche Verteilung der Gesuche wurde von den Verfassern der Studie auf die Mediatisierung der Einführung der neuen Regelung zurückgeführt. 4.3 Weitere Vorstösse auf politischer Ebene Am 31. Mai 2006 nahm der Bundesrat den Bericht "Sterbehilfe und Palliativmedizin – Handlungsbedarf für den Bund?" zur Kenntnis. Der Bericht war aus einer Motion235 der Rechtskommission des Ständerates zur Klärung der gesetzlichen Regelung der indirekt aktiven und passiven Sterbehilfe sowie der Palliativmedizin entstanden. Darin kamen die Autoren zum Schluss, dass mögliche Missbräuche in der Suizidhilfe durch die konsequente Anwendung und Durchsetzung des geltenden Rechts insbesondere von Seiten der Strafverfolgungsbehörden verhindert werden können. Im Bereich der Sterbehilfe seien somit prinzipiell keine weiteren gesetzlichen Regelungen notwendig. Argumentiert wurde – wie schon die SAMW während der Entwicklung der Richtlinie zur „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ – damit, dass eine allgemeingültige gesetzliche Regelung gerade die kritischen Fragen, die sich in jedem Einzelfall stellten, nicht erfasst würden und daher von einer neuen Gesetzgebung aus kein praktischer Nutzen gezogen werden könnte. Gestützt auf den Bericht des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) empfahl der Bundesrat daraufhin dem Parlament, auf eine Revision der einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Art. 115) sowie auf den Erlass eines Gesetzes über die Zulassung und Beaufsichtigung von Suizidhilfeorganisationen zu verzichten. Am 7. Juni 2006 äusserte die SAMW in einem Schreiben an den Bundesrat die Meinung, dass dem Bund im Bereich der Sterbehilfeorganisationen eine Aufsichtspflicht obliege. Am 23. Juni 2006 wurde die parlamentarische Initiative Egerszegi-Obrist (06.453) zur „Regelung der Sterbehilfe auf Gesetzesebene“ eingereicht. Am 6. Oktober des gleichen Jahres folgte die Interpellation Aeschbacher (06.3606) mit dem Titel „Kein Handlungsbedarf des Bundes beim Sterbehilfetourismus“. In ihrer Stellungnahme vom 27. Oktober 2006 veröffentlichte die Nationale Ethikkommission mögliche „Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidhilfe“236, als Ergänzung ihrer Empfehlungen vom April 2004. Darin wurden die Minimalanforderungen präzisiert, die überprüft, erfüllt und dokumentiert sein müssen. Dazu zählen die Urteilsfähigkeit des Suizidwilligen, die Entstehung des Suizidwunsches aus einem schweren, krankheitsbedingten Leiden hinaus (wobei dies auch im Rahmen eines Unfalles oder einer schweren Behinderung auftreten kann) 235 Kommission für Rechtsfragen des Ständerates, Motion (03.3180) „Sterbehilfe und Palliativmedizin“, April 2003 236 Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, Schweizerische Ärztezeitung 2006; 87: Nr. 48, 2077-80 103 frei von äusserem Druck, sowie die Konstanz und Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches. Eine unabhängige Zweitmeinung müsse vorliegen, alternative Optionen müssen abgeklärt, erwogen und nach Wunsch des Suizidwilligen ausgeschöpft sein. Es seien mit dem Suizidbegleiter mehrere persönliche Gespräche nachzuweisen. Im letzten Kapitel wurden Hinweise zur Vorbeugung vor Missbrauch angebracht. Darunter aufgezählt wurden finanzielle Vorteile, das Ausnützen einer Notlage, die Befriedigung am Tod (Thanatophilie) oder auch ideologische Gründe. Auf mögliche Überforderungssituationen für Suizidbegleiter wurde ebenso hingewiesen wie auf mangelnde Transparenz von Organisation und Management von Sterbehilfeorganisationen. Im Februar 2007 erfolgte eine dringliche Anfrage „Rechtslage und Massnahmen bezüglich Eingrenzung der Sterbehilfe im Kanton Zürich“ mit der Forderung nach einer Bundesregelung zur Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen. Die Motion Stadler (07.3163) vom 22.3.2007 forderte eine „Gesetzliche Grundlage für die Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen“. Diese Motion wurde vom Ständerat als Erstrat am 21. Juni 2007 gegen den Antrag des Bundesrates mit 17 gegen 9 Stimmen angenommen. Am 29. August 2007 nahm der Bundesrat den Ergänzungsbericht über Sterbehilfe zur Kenntnis. Dieser Text beinhaltete erneut Gedanken zu bereits getroffenen oder geplanten Massnahmen der Palliativmedizin sowie Aussagen zu Möglichkeiten und Einschränkungen der Verschreibung und Abgabe des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital (NAP) und kam zum Schluss: „Die Verschreibung und die Abgabe des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital (NAP) sind ausreichend geregelt. Um mögliche Missbräuche bei der Suizidhilfe zu verhindern, sind keine strengeren Vorschriften im Betäubungsmittelrecht erforderlich.“237 Im Oktober 2007 wurden die Motion Glanzmann (07.3626) „Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen“ und die parlamentarische Initiative Aeschbacher (07.480) „Stopp dem unwürdigen Sterbetourismus in unserem Land“ eingereicht. Im Dezember des gleichen Jahres folgte eine weitere Motion zum Thema: Motion Flückiger-Bäni (07.3866), „Kostenübertragung an Sterbehilfeorganisationen“. Am 2. Juli 2008 beauftragte der Bundesrat das EJPD erneut, vertieft abzuklären, ob im Bereich der organisierten Suizidhilfe spezifische gesetzliche Regelungen erforderlich seien, 237 EJPD, 29.08.2007, Medienmitteilung: Ergänzungsbericht über Sterbehilfe 104 obwohl er in seinen beiden Berichten über die Sterbehilfe von 2006 und 2007 zum Schluss gekommen war, dass das geltende Recht genügend vor Missbräuchen schützen würde. Trotz dieser Stellungnahme blieb die öffentliche Diskussion kontrovers und es wurden von verschiedenen Seiten minimale Sorgfalts- und Beratungspflichten für Suizidhilfeorganisationen gefordert. Insbesondere in der von gewissen Sterbeorganisationen zum Einsatz gekommenen „Helium-Methode“238 wurde eine Tendenz zur Umgehung der ärztlichen Kontrolle durch die nicht mehr notwendige Verschreibung von Natrium-Pentobarbital beobachtet. Wird diese Kontrolle umgangen, entstehe dadurch „ein Freiraum, der einen würdevollen Suizid in Frage stellen und Missbrauchsgefahren bei der organisierten Suizidhilfe erhöhen könnte.“239 Im Januar und März 2008 kamen erneut zwei Vorstösse aus dem vom Suizidtourismus stark belasteten Kanton Zürich, erst eine Interpellation mit dem Titel „Missstände bei der Suizidbegleitung“, gefolgt von einem Postulat „Schluss mit den Aktivitäten von Dignitas“. Im Juni 2008 erfolgten wiederum drei Vorstösse zur Thematik der Sterbehilfe. Die Motionen Aeschbacher (08.3300) „Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe stellen“ und Flückiger-Bäni (08.3427) „Befristetes Verbot für Sterbehilfe“ sowie die Einreichung einer Standesinitiative durch den Kanton Aargau, der Massnahmen gegen die gewerbsmässige Suizidbeihilfe und eine gesamtschweizerische verbindliche Regelung der medizinischen Suizidbegleitung verlangte. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und –direktoren kam in ihrer Stellungnahme „Sterbehilfeorganisationen“ 2008 zum Ergebnis, dass es auf Bundesebene keine neue gesetzliche Regelung brauche. Vielmehr würde eine solche zur Aufblähung der Bürokratie und nicht zu einer wirksamen Qualitätskontrolle führen. 4.3.1 Der Bericht des EJPDs zur „organisierten Suizidhilfe“ Im Mai 2009 erschien der vom Bundesrat beim EJPD in Auftrag gegebene Bericht: „Organisierte Suizidhilfe: Vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und –bedarf des Bundesgesetzgebers“. Der Bericht nahm Stellung zur politischen und gesellschaftlichen Situation und dem Verlauf seit den beiden Sterbehilfeberichten 2006 und 2007. Aufgezeigt wurden die zahlreichen Vorstösse auf politischer Ebene, die insbesondere durch Aktivitäten der Sterbehilfeorganisationen motiviert waren. So geriet insbesondere Dignitas mehrfach in die Schlagzeilen, da sie aus Mangel an Sterbelokalitäten ihre Aktivitäten in Hotels, Autos und Wohnwa238 Bei dieser Methode wird unter Verwendung eines über den Kopf gezogenen Plastiksacks dem Suizidenden Helium (farbloses, nicht brennbares und geruchloses Gas) zugeführt, welches nach kurzer Zeit zur Verdrängung von Sauerstoff in der Lunge und zu Bewusstseinsverlust und schliesslich zum Tod durch Ersticken führt. Dabei kann es auch zu starkem Blutdruckanstieg sowie zu Zuckungen und Krämpfen kommen. 239 EJPD, 02.07.2008, Medienmitteilung 105 gen auf öffentlichen Parkplätzen verlegte, ausländische, nicht in der Schweiz wohnhafte Personen in den Tod begleitete (Sterbetourismus), die (nicht als ethisch empfundene) HeliumMethode anwendete, sowie Asche der Suizidenden heimlich im Zürichsee entsorgte. Zu reden gaben ebenfalls die finanziellen Aspekte der Sterbehilfeorganisationen, welche den Verdacht auf nicht nur „uneigennützige Beweggründe“ aufkommen liessen. Ein weiterer Anstoss waren die Werbeaktivitäten der Vereine für ihre eigenen Angebote, wie auch für themenverwandte Gebiete (z.B. Bücher zu möglichen Suizidmethoden). Ebenfalls mit Sorge beobachtet wurde eine Erweiterung des Spektrums der Suizidenden: so stieg der Anteil begleiteter Personen, die nicht an einer terminalen Erkrankung litten, deutlich an, ebenso jener der „Sterbetouristen“. Die Zunahme der Suizidfälle wurde anhand des Vergleichs der Suizidstatistik von 2003 mit jener von 2007 aufgezeigt240: Statistik für das Jahr 2003 Gesamte in % aller Schweiz Todesfälle in % aller Suizide Todesfälle 63’070 Suizide 1400 2.22 Durch Sterbehilfeorganisationen begleitete Suizide (Exit 272 0.43 19.43 91 0.14 6.5 Deutsche Schweiz, Exit ADMD Suisse romande, DIGNITAS) Durch Sterbehilfeorganisationen begleitete Suizide von Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz (DIGNITAS) Statistik für das Jahr 2007 Todesfälle 61’089 Suizide 1360 2.23 Durch Sterbehilfeorganisationen begleitete Suizide Ca. 400 0.65 29.41 Durch Sterbehilfeorganisationen begleitete Suizide von 132 0.22 9.70 Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz Abbildung 3: Vergleich der Suizidstatistik der Schweiz von 2003 mit 2007 „Betrachtet man die Entwicklung der Fallzahlen im Bereich Suizide und begleitete Suizidhilfe seit Veröffentlichung des Sterbeberichtes Ende Mai 2006, so ist hinsichtlich der absoluten Zahlen der begleiteten Suizide klar eine Erhöhung festzustellen, nämlich von insgesamt 272 Fällen im Jahr 2003 auf ca. 400 Fälle im Jahr 2007. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Anzahl Suizide in dieser Periode leicht abgenommen haben, sind die Fälle von begleiteter Suizidhilfe markant angestiegen (von 19% auf 29%, was einer Erhöhung von 52% in fünf Jahren entspricht). Diese Ent- 240 EJPD 15. Mai 2009, Organisierte Suizidhilfe: Vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und – bedarf des Bundesgesetzgebers, S. 11 106 wicklung ist für sich alleine noch kein Grund, um heute den Handlungsbedarf anders einzuschätzen als noch im Jahr 2006, aber die Fallzahlen sind insgesamt gesundheits- und gesellschaftspolitisch kein gutes Zeichen, und deren Entwicklung ist daher wachsam zu verfolgen.“241 Zwar konnte in den Jahren 2007 und 2008 ein Rückgang der Suizidbegleitungen durch Sterbehilfeorganisationen beobachtet werden, dieser Trend wurde jedoch als „schwer interpretierbar“ und möglicherweise auch nur „provisorisch“ eingestuft. Gemäss eigenen Angaben begleitete Dignitas 2006 195, 2007 138, 2008 132 und 2009 89 Personen in den Tod. Bei Exit Deutsche Schweiz waren es 2006 150, 2007 179, 2008 167 und 2009 217 Personen. Den eindrücklichen Anstieg im Jahre 2009 wurde auf das inzwischen höhere Alter langjähriger Vereinsmitglieder zurück geführt, „aber auch mit der demographischen Entwicklung, mit dem Nachrücken einer immer selbstbewusster auf ihr Selbstbestimmungsrecht pochenden Generation und möglicherweise mit der gewaltigen Medienpräsenz des Themas Sterbehilfe im Berichtsjahr“242 erklärt. Der Bericht vertiefte sich im Weiteren in die gesetzlichen Gegebenheiten und arbeitete mögliche Vorschläge für eine Minimierung der Missbrauchsgefahr aus. Dabei wurde die Ausarbeitung eines Spezialgesetzes, die Erweiterung des bestehenden Gesetzes Art. 115 StGB sowie ein komplettes Verbot für Sterbehilfeorganisationen diskutiert, und versucht, die Vorbzw. Nachteile der Varianten abzuwägen. Von der Variante Spezialgesetz wurde unter anderem wegen folgender Nachteile abgeraten: „Die Annahme einer Spezialgesetzgebung würde dem Gesetzgeber […] die heikle Verantwortung übertragen, den Gesundheitszustand zu bestimmen, in dem sich eine Person befinden muss, um eine Suizidhilfeorganisation bzw. eine ärztliche Suizidhilfe heranzuziehen. Indirekt würde dies auf den Versuch einer Definition der strafrechtlich nicht mehr schützenswerten Leben hinauslaufen. Alle Länder, die in diesem Bereich Gesetze verabschiedet hatten, mussten dieses Problem lösen und dazu auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen, deren Anwendung dem freien Ermessen der Ärzte überlassen wird. Die Lösung birgt ein hohes Risiko von Missbrauch oder zumindest von extensiven Praktiken. […] Auch in der Schweiz zeigt sich diese Ausdeh241 EJPD 15. Mai 2009, Organisierte Suizidhilfe: Vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und – bedarf des Bundesgesetzgebers, S. 11 242 Jahresbericht der Freitodbegleitung 2009, www.exit.ch 107 nung in der folgenden Entwicklung: Die Richtlinien der SAMW über die Betreuung von Patienten am Lebensende schreiben unter den 3 Mindestvoraussetzungen, damit ein Arzt Beihilfe zum Suizid leisten kann, vor, die Erkrankung des Patienten müsse die Annahme rechtfertigen, dass das Lebensende nahe sei. Die Empfehlungen der NEK erwähnen dieses Kriterium nicht mehr […]. Eine Spezialgesetzgebung würde überdies eine staatliche Legitimierung und Bürokratisierung der Tätigkeit der Suizidhilfeorganisationen bedeuten. […]“243 Der Bericht zieht schliesslich folgendes Fazit: „Keine der oben erwähnten Varianten bietet nur Vorteile. Allerdings ist sogleich festzustellen, dass die Variante ‚Spezialgesetz’ sich am wenigsten eignet, um das angestrebte Ziel zu erreichen, und die meisten Nachteile zur Folge hat. Deswegen ist auf diese Variante zu verzichten. Damit bleiben zwei hinsichtlich der erwarteten praktischen Auswirkungen und der Machbarkeit gleichwertige Lösungen übrig. Variante 2 (Verbot der Suizidhilfeorganisationen) hätte die weitestgehenden praktischen Auswirkungen und liesse sich relativ umsetzen, während Variante 1 (Verankerung der Sorgfaltspflichten der Suizidorganisationen in Art. 115 StGB) heute politisch am ehesten vertretbar ist und gleichzeitig auch ermöglicht, die Anzahl Suizidhilfefälle in der Schweiz sowie die Missbräuche zu verringern. Unabhängig davon, ob der Bundesgesetzgeber eine der gesetzgeberischen Varianten bzw. welche derselben er wählt, sollte der Bund im Rahmen seiner Möglichkeiten Suizidprävention betreiben sowie im Bereich der Palliative Care von kranken und alten Menschen das Angebot, die Ausbildung, die Forschung und die Information verbessern.“244 4.3.2 Die Situation ab Mai 2009 Ende Mai 2009 reichte die Eidgenössisch-Demokratische Union Zürich zwei kantonale Volksinitiativen gegen den Sterbetourismus und die Suizidhilfe ein. Die erste forderte das Verbot jeglicher Suizidhilfe an Personen, die seit weniger als einem Jahr im Kanton Zürich leben; die zweite wollte den Bund beauftragen, jegliche Art von Suizidhilfe unter Strafe zu stellen. Die Regierung des Kantons Zürich beantragt dem Parlament allerdings, die Initiative „Nein zum Sterbetourismus in Kanton Zürich“ als ungültig zu erklären mit der Begründung, die Initiative sei mit dem übergeordneten Bundesrecht nicht vereinbar. 243 EJPD 15. Mai 2009, Organisierte Suizidhilfe: Vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und – bedarf des Bundesgesetzgebers, S. 24/25 244 EJPD 15. Mai 2009, Organisierte Suizidhilfe: Vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und – bedarf des Bundesgesetzgebers, S. 35 108 Am 7. Juli 2009 haben die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und EXIT Deutsche Schweiz eine Vereinbarung245 über die organisierte Suizidhilfe unterzeichnet, die gewisse Standesregeln beinhaltet, mit dem Ziel, missbräuchliche Praktiken möglichst zu verhindern. Die Vereinbarung war als Zwischenschritt bis zur Einführung einer nationalen gesetzlichen Regelung gedacht. Die Einhaltung der Vereinbarung durch EXIT sollte den Strafverfolgungsbehörden die Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben erleichtern. Am 17. Juni 2009 führte der Bundesrat eine erste Aussprache zur organisierten Suizidhilfe. Zur Diskussion standen – entsprechend der Vorschläge des oben zitierten Berichts – gesetzliche Schranken oder ein Verbot der organisierten Suizidhilfe. Da der Bundesrat bezüglich dieser ethisch kontroversen Frage geteilter Meinung war, wurde eine Vernehmlassung mit mehreren Varianten angestrebt. Am 28. Oktober 2009 schickte der Bundesrat zwei Varianten eines Gesetzesentwurfs in die Vernehmlassung. Variante 1 stellte die Festlegung klarer Sorgfaltspflichten für Mitarbeiter von Suizidhilfeorganisationen ins Zentrum, Variante 2 beinhaltete ein Verbot für die organisierte Suizidhilfe: „Art. 115 StGB, Variante 1 1 Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Suizid verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Suizid ausgeführt oder versucht wird, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. 2 Wer im Rahmen einer Suizidhilfeorganisation jemandem Hilfe zum Suizid leistet (Suizidhelfer), wird, wenn der Suizid ausgeführt oder versucht wird, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, es sei denn, die folgenden Voraussetzungen sind erfüllt: a. Der Entscheid zum Suizid wird von der suizidwilligen Person frei gefasst und geäussert und ist wohlerwogen und besteht auf Dauer. b. Ein von der Suizidhilfeorganisation unabhängiger Arzt stellt fest, dass die suizidwillige Person im Hinblick auf den Suizidentscheid urteilsfähig ist. c. Ein anderer von der Suizidhilfeorganisation unabhängiger Arzt stellt fest, dass die suizidwillige Person an einer unheilbaren Krankheit mit unmittelbar bevorstehender Todesfolge leidet. d. Mit der suizidwilligen Person werden andere Hilfestellungen als der Suizid erörtert und sie werden, soweit von ihr gewünscht, ihr vermittelt und bei ihr angewandt. e. Die Suizidhandlung wird mit einem ärztlich verschriebenen Mittel ausgeführt. f. 245 Der Suizidhelfer verfolgt keinen Erwerbszweck. www.staatsanwaltschaften.zh.ch/Diverses/Aktuelles/Vereinbarung%20EXIT.pdf, November 2010 109 g. Die Suizidhilfeorganisation und der Suizidhelfer erstellen über den Suizidfall gemeinsam eine vollständige Dokumentation. 3 Die für eine Suizidhilfeorganisation verantwortliche Person wird nach Absatz 1 be- straft, wenn: 1. der Suizidhelfer im Einvernehmen mit ihr zum Suizid Hilfe leistet, obschon eine in Absatz 2 genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist, oder 2. wenn die Suizidhilfeorganisation von der suizidwilligen Person oder von ihren Angehörigen geldwerte Leistungen erhält; ausgenommen sind Mitgliederbeiträge und Zuwendungen, die mindestens ein Jahr vor dem Tod ausgerichtet oder verfügt wurden. 4 Sie wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn: a. sie vorsätzlich die erforderliche Sorgfalt bei Auswahl, Instruktion oder Kontrolle des Suizidhelfers ausser Acht lässt; und b. der Suizidhelfer ohne Wissen der verantwortlichen Person zum Suizid Hilfe leistet, obschon eine Voraussetzung nach Absatz 2 nicht erfüllt ist. 5 Handelt sie in einem Fall von Absatz 4 fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Art. 115 StGB, Variante 2 Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen oder im Rahmen einer Suizidhilfeorganisation jemanden zum Suizid verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Suizid ausgeführt oder versucht wird, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.“246 Der gleichzeitig mit der Vernehmlassung publizierte erläuternde Bericht247 orientierte sich stark an jenem vom Mai 2009. Zu den beiden Varianten wurden sämtliche Punkte im Detail erläutert sowie Vor- und Nachteile aufgezeigt. Die Präferenz des Bundesrates für die Variante 1 wurde offen gelegt. Das Vernehmlassungsverfahren, welches bis Ende März 2010 dauerte, provozierte unterschiedlichste Reaktionen. Während auf kantonaler Ebene ebenfalls mehrheitlich die Variante 1 unter Klärung gewisser Begriffe und Sachverhalte Anklang fand (zahlreiche unbestimmte und interpretationsbedürftige Rechtsbegriffe, Einschränkung des Geltungsbereichs auf „kurz vor dem Tod Stehende“), wurden von den politischen Parteien mit grosser Mehrheit beide Varianten abgelehnt. Die Ablehnung der Variante 2 gründete in der nicht zeitgemässen, der 246 Vorentwurf Schweizerisches Strafgesetzbuch, www.ejpd.admin.ch, Vernehmlassungsverfahren, Stand Oktober 2010 247 EJPD Oktober 2009, Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes betreffend die organisierte Suizidhilfe – Erläuternder Bericht 110 aktuellen liberalen Haltung entgegenlaufenden, realitätsfremden Regelung. Variante 1 wurde als zu restriktiv, als blosse Augenwischerei, oder auch als zu kompliziert und unübersichtlich eingeordnet und bei grundsätzlich fehlendem gesetzlichen Handlungsbedarf verworfen. Auch die SAMW lehnte in ihrer Stellungnahme, welche ebenfalls in der Schweizerischen Ärztezeitung publiziert wurde, beide Varianten als untauglich ab. Begründet wurde die Ablehnung wie folgt: • „Die Suizidbeihilfe wird als ärztliche Tätigkeit institutionalisiert. • Der Druck auf medizinische Institutionen, Sterbehilfeorganisationen in ihren Räumlichkeiten zuzulassen, wird erhöht. • Die Beschränkung auf das ‚unmittelbare Lebensende’ ist untauglich. • Die vorgeschlagene Regelung ist leicht zu umgehen.“248 Die SAMW hielt weiter fest, dass empirische Daten zeigten, dass die Akzeptanz der Suizidbeihilfe in der Bevölkerung weit grösser sei als in der Ärzteschaft und innerhalb dieser sogar umso geringer, je mehr Erfahrung der einzelne Arzt in der Begleitung von Sterbenden habe. Entsprechend ihrer Ausführungen sprach sich die SAMW für die Regelung der organisierten Suizidbeihilfe mittels einer Aufsichtsgesetzgebung vor. Des Weiteren empfahl sie, die Anstrengungen zur Suizidprävention zu verstärken und die Palliative Care zu fördern. Der Internetseite des EJPDs ist zum weiteren Verlauf zu entnehmen: „26 Kantone, 13 politische Parteien, 81 Organisationen und 28 Privatpersonen haben sich im Rahmen der Vernehmlassung bis zum 1. März 2010 zu den Vorschlägen des Bundesrates geäussert. Das Bundesamt für Justiz (BJ) hat diese Stellungnahmen ausgewertet und überarbeitet nun die Vorschläge. Das BJ unterzieht dabei verschiedene Aspekte (namentlich die Frage der Urteilsfähigkeit) unter Beizug externer Experten für Psychiatrie (René Raggenbass, Martigny), für Strafverfolgung (Staatsanwalt Severino Fioroni, Basel-Stadt) und für Verfassungsrecht (Regina Kiener, Universität Zürich) einer vertieften Analyse. Der Bundesrat wird noch im Sommer von den Vernehmlassungsergebnissen Kenntnis nehmen und über das weitere Vorgehen entscheiden. Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beabsichtigt bis Ende 2010 unter Berücksichtigung der Vernehmlassungsergebnisse eine Botschaft auszuarbeiten.“249 248 Stellungnahme SAMW, Schweizerische Ärztezeitung 2010; 91:3, 69/70 www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/themen/gesellschaft/ref_gesetzgebung/ref_sterbehilfe_html; Stellungnahmen des Vernehmlassungsverfahrens, Stand: Oktober 2010 249 111 Diese Botschaft kann mit Spannung erwartet werden. Zurzeit (Stand Ende Oktober 2010) kann auf der Internetseite des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements noch folgender Absatz gelesen werden: „Das Tötungsverbot gilt in der Schweiz uneingeschränkt. Die direkte aktive Sterbehilfe (gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines Menschen) ist somit verboten. Die indirekte aktive Sterbehilfe (Einsatz von Mitteln, deren Nebenwirkungen die Lebensdauer herabsetzen können) sowie die passive Sterbehilfe (Verzicht auf die Einleitung lebenserhaltender Massnahmen oder Abbruch solcher Massnahmen) sind hingegen – ohne ausdrücklich gesetzlich geregelt zu sein – unter gewissen Voraussetzungen straflos. Bezüglich dieser drei Formen von Sterbehilfe besteht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Zur Diskussion stehen hingegen gesetzliche Schranken und ein Verbot der organisierten Suizidhilfe. Sie sollen das menschliche Leben besser schützen und verhindern, dass sich die organisierte Suizidhilfe zur gewinnorientierten Tätigkeit entwickelt.“250 In der folgenden Tabelle wird nochmals eine Übersicht sämtlicher in dieser vorliegenden Arbeit erwähnten politischen Vorstösse und Aktivitäten gegeben: 250 www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/themen/gesellschaft/ref_gesetzgebung/ref_sterbehilfe_html, Stand: Oktober 2010 112 1994 Motion Victor Ruffy für die Lockerung der Strafbestimmungen über die Beihilfe zum Selbstmord 1997 Eidgenössische Arbeitsgruppe Sterbehilfe (Josy Meier) 1999 Bericht oben genannter Expertengruppe vorliegend 2000 Stellungnahme des Bundesrates 09/2000 parlamentarische Initiative Franco Cavalli „Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe. Neuregelung“ 03/2001 parlamentarische Initiative Dorle Vallender „Verleitung und Beihilfe zur Selbsttötung. Neufassung von Artikel 115 StGB“ 10/2001 Motion Guido Zäch „Sterbehilfe. Gesetzeslücken schliessen statt Tötung erlauben“ 09/2002 Motion Dorle Vallender „Sterbehilfe und Sterbetourismus“ 10/2002 Motion Baumann „Abschaffung des ‚Sterbetourismus’ in der Schweiz“ 04/2003 Motion der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates „Sterbehilfe und PalliativMedizin“ 06/2005 Motion Freissinig-demokratische Fraktion „Expertenarbeiten zum Thema Sterbehilfe“ 05/2006 Bericht „Sterbehilfe und Palliativmedizin – Handlungsbedarf für den Bund? 06/2006 Parlamentarische Initiative Egerszegi-Obrist „Regelung der Sterbehilfe auf Gesetzesebene 10/2006 Interpellation Aeschbacher „Kein Handlungsbedarf des Bundes beim Sterbehilfetourismus“ 10/2006 NEK „Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidhilfe“ 02/2007 Dringliche Anfrage „Rechtslage und Massnahmen bezüglich Eingrenzung der Sterbehilfe im Kanton Zürich“ 03/2007 Motion Stadler „Gesetzliche Grundlage für die Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen“ 10/2007 Motion Glanzmann-Hunkeler „Aufsicht über die Sterbehilfeorganisationen“ 10/2007 Parlamentarische Initiative Aeschbacher „Stopp dem unwürdigen Sterbetourismus in unserem Land“ 12/2007 Motion Flückiger-Bäni „Kostenübertragung an Sterbehilfeorganisationen“ 01/2008 Interpellation „Missstände bei der Suizidbegleitung“ 03/2008 Postulat „Schluss mit den Aktivitäten von Dignitas“ 06/2008 Motion Aeschbacher „Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe stellen“ 06/2008 Motion Flückiger-Bäni „Befristetes Verbot für Sterbehilfe“ 06/2008 Standesinitiative durch den Kanton Aargau für eine gesamtschweizerische verbindliche Regelung der medizinischen Suizidbegleitung 05/2009 Bericht EJPD „Organisierte Suizidhilfe: vertiefte Abklärungen zu Handlungsoptionen und –bedarf des Bundesgesetzgebers“ 05/2009 2 kantonale Volksinitiativen (Zürich) gegen Sterbetourismus und Suizidbeihilfe 06/2009 Bundesrat 1. Aussprache zur organisierten Suizidhilfe 10/2009 Vernehmlassungsstart Gesetzesentwurf zur Regelung der organisieriten Suizidhilfe 03/2010 Ende der Vernehmlassungsphase Abbildung 4: Übersicht der politischen Aktivitäten betreffend die Suizidbeihilfe, in chronologischer Reihenfolge, entsprechend der Zitierung in dieser Arbeit 4.4 Wie denkt die Bevölkerung über Suizidbeihilfe? Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen, mehrheitlich von Meinungsführern aus den Bereichen Politik, Ethik, Recht und Medizin geführten Debatte erschien es hilfreich, die Einstellungen der Bevölkerung zur Sterbehilfe und Suizidbeihilfe zu erfassen und zu analysieren. Dieser Aufgabe nahm sich im Mai 2010 das Kriminologische Institut der Universität Zürich an. Es führte eine Befragung von 1500 Schweizerinnen und Schweizern im Alter von 113 über 15 Jahren durch, die zufällig ausgewählt wurden. Gemäss Autoren handelt es sich um die „bisher detaillierteste Studie mit einer repräsentativen nationalen Stichprobe sowie um die erste Untersuchung, die die Zustimmung der Schweizer Wohnbevölkerung zu reellen Sterbehilfe-Situationen erfasst“251. Erfragt wurden in Telefoninterviews die persönliche Einstellung zur Sterbehilfe und Suizidbeihilfe, aber auch Hintergrundfaktoren, welche für diese Einstellungen ursächlich sein könnten. Im Weiteren wurde der Rahmen der Untersuchung durch postalische Befragung von Juristen (Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter) sowie Medizinern erweitert. Die Studie war folgendermassen aufgebaut: „Die Einstellungen zur Sterbehilfe wurden durch sechs praxisnahe oder rechtlich bedeutsame Fallbeschreibungen (sog. «Vignetten»252) erfasst, in denen Personen Entscheidungen über ihr eigenes Lebensende oder das Lebensende einer anderen Person treffen. Zu jedem Fall gaben die Befragten ihre moralische Einschätzung auf einer Zehner-Skala ab, indem sie Handlungen des Arztes oder des Sterbehelfers als «richtig» oder «falsch» zu beurteilen hatten. Darüber hinaus wurde erfasst, ob die Befragten die jeweiligen SterbehilfeHandlungen des Arztes oder eines Sterbebegleiters einer Sterbehilfeorganisation gesetzlich verbieten oder erlauben würden. Die Abgrenzung zwischen moralischer und rechtlicher Einschätzung ist deshalb von Bedeutung, weil eine moralische Ablehnung nicht zwingend auch zu einer Forderung nach einem gesetzlichen Verbot führen muss.“253 Die Resultate überraschen nicht. So bewertet die Bevölkerung insgesamt in 5 der geschilderten 6 Fälle das Handeln des Arztes als mehrheitlich moralisch „richtig“ (Ernährungsabbruch bei langjähriger Wachkomapatientin, Abstellen des Beatmungsgerät auf Wunsch des Patienten mit unheilbarer Muskelkrankheit, Schmerzbekämpfung mit unbeabsichtigter lebensverkürzender Nebenwirkung, Suizidbeihilfe). Bei den drei Suizidbeihilfefällen ist eine Rangfolge zu erkennen: So wird die Rezeptausstellung des Arztes bei einer todesnahen Krebspatientin moralisch überwiegend als „richtig“ angesehen, gefolgt von dem begleiteten Suizid eines 251 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 4 252 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 5/6 253 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 5 114 polymorbiden Hochbetagten (beinahe blind und taub, inkontinent, im Rollstuhl). Etwas geringer ist die moralische Akzeptanz dieser Handlung bei einem sterbewilligen Alzheimerpatienten. Die Studie hält zudem fest, dass interessanterweise auch direkte aktive Sterbehilfehandlungen des Arztes auf Wunsch der todesnahen Patienten mehrheitlich als moralisch „richtig“ angesehen werden. Besteht in einem solchen Fall jedoch die Möglichkeit zur Suizidbeihilfe bzw. zur indirekt aktiven Sterbehilfe, wird dies als moralisch „richtiger“ empfunden. Zur Frage der gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe ergab sich folgendes Bild: „Es lässt sich zunächst festhalten, dass sich über alle Fälle hinweg – ausser bei einer Konstellation – eine klare Mehrheit dafür aussprach, dass die beschriebenen passiven und indirekt aktiven Sterbehilfehandlungen oder die Beihilfe zum Suizid gesetzlich erlaubt sein sollten. Selbst die – nach heutiger Rechtslage in der Schweiz verbotenen – Formen der direkten aktiven Sterbehilfe bei Krebspatientinnen in der letzten Lebensphase sollten nach Ansicht der Mehrheit der Befragten gesetzlich erlaubt sein! Mit 68% (Fall 1E) und 70% (Fall 3D) ist dieses Meinungsbild sehr deutlich. Daraus lässt sich schliessen, dass eine gesetzliche Regelung der direkten aktiven Sterbehilfe, wie sie in den Niederlanden und in Belgien existiert, in der Schweiz eine breite öffentliche Zustimmung finden würde. […] In den Fällen der Suizidbeihilfe ergibt sich eine robuste Mehrheit dafür, dass die Handlungen eines Sterbehelfers, der im Rahmen einer Sterbehilfeorganisation aktiv ist, gesetzlich erlaubt sein sollen. Und zwar gilt dies sowohl für Fälle, in denen eine Person am Lebensende einen Suizid ausführen will als auch für Suizide von polymorbiden Patienten und von Sterbewilligen mit Alzheimer.“254 Vergleiche bezüglich Geschlecht, Bildungsniveau oder Sprachregion ergaben keine markanten Unterschiede in den Resultaten. Eine eindeutige Einflussnahme zeigte jedoch die Religiosität einer Person: Wer an Gott glaubt, äussert sich eher negativ gegenüber der Suizidbeihilfe. Als Grund für die Befürwortung der Suizidbeihilfe wurde am häufigsten die Selbstverantwortung und die Suizidprävention („sonst bringt er sich anders um“) genannt, für deren Ablehnung religiöse Gründe. Die Angst vor einem Dammbruch oder der gewerbsmässigen Suizidbeihilfe durch Organisationen wurde von der Bevölkerung als nicht sehr hoch eingestuft. Die organisierte Suizidbeihilfe wurde mehrheitlich als Option für ein „würdevolles Sterben im Beisein von Angehörigen“255 angesehen, jedoch fand die Suizidbeihilfe für psychisch schwer Erkrankte keine grosse Zustimmung, ebenso wenig wie für alte Menschen ohne kör254 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 8/9 255 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 11 115 perliches Leiden. Der Sterbetourismus wurde tendenziell abgelehnt (42% voll dagegen, 24% eher dagegen, 24% eher dafür, 11% voll dafür256). 88% der Befragten gaben an, dass die Suizidbeihilfe durch Ärzte erfolgen sollte. 4.5 Die ärztliche Haltung gegenüber der Sterbehilfe Zwischen November 2004 bis September 2010 erschienen in der Schweizerischen Ärztezeitung wiederholt Beiträge zur Thematik Suizidbeihilfe. In einer Fallvignette „Eine Begleitung“257 wurde der Umgang mit dem Sterbewunsch einer krebskranken Patientin aufgezeigt, ohne dass es schliesslich zu einer Suizidbeihilfe kam. Insbesondere ablehnend wurde die Aufhebung des Moratoriums von Exit für psychisch Kranke aufgenommen. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie verfasste eine Stellungnahme zum veröffentlichten Gutachten zwecks Aufhebung des Moratoriums. Unter dem Titel „Suizidbeihilfe bei Psychischkranken“258 gingen sie auf den aktuellen Stand der Dinge ein, äussern sich aber kritisch zur Ausweitung der Sterbehilfe auf Psychischkranke: „Freitodbegleitung für Psychischkranke bleibt eine Gratwanderung zwischen dem Wunsch, auch dem Psychischkranken hinsichtlich eines Sterbens in Würde Autonomie zuzugestehen, und eine Förderung des Suizids bei Krankheiten, die den Suizidwunsch sozusagen mitbeinhalten – was wohl niemand ernstlich wollen kann.“259 Unter dem rechtlichen Aspekt wurde „Das Recht auf den eigenen Tod“ ausgiebig diskutiert, dies auf der Grundlage eines Bundesgerichtsurteils vom 3. November 2006260 bezüglich einer Suizidbeihilfe bei einem psychisch kranken Patienten. Die Autoren Raggenbass und Kuhn gingen in ihrem Artikel261 der Frage nach, ob das benannte Bundesgerichtsurteil allgemein ein Recht auf ärztliche Suizidbeihilfe einräume und kommen zum Schluss, dass dies nicht so sei. Im Gegensatz zum Bundesgericht, welches unter bestimmten Voraussetzungen bei Psychischkranken die ärztliche Suizidbeihilfe als zulässig erachtet, vertreten die Autoren die Haltung des Zentralvorstandes der FMH, welche in solchen Fällen wegen noch ungenügend wissenschaftlichen Erkenntnissen diese ablehnt. Christian Schwarzenegger, Jurist, betont in seinem Artikel262, dass das „Recht auf den eigenen Tod“ nicht vom Staat eingefor- 256 Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Medienkonferenz 02.09.2010, „Was die Schweizer Bevölkerung von Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hält“, S. 14 257 Wälti 2004 258 Ebner 2005 und Rippe 2005 259 Ebner 2005 260 siehe Fussnote 216 261 Raggenbass 2007 262 Schwarzenegger 2007, SÄZ 2007 116 dert werden könne und dass somit keine Pflicht des Staates bestehe, „dem Individuum aktiv zu einem schmerzfreien Suizid mittels Natrium-Pentobarbital zu verhelfen“. Bemängelt wurde im gleichen Artikel, dass es keine Standesregel bezüglich der Suizidbeihilfe für nicht-inTodesnähe-stehende Patienten geben würde. Die SAMW reagierte hierauf mit ihrer Antwort263, dass zwar die Begleitung von Patienten am Lebensende zu den zentralen Aufgaben der Ärzteschaft zähle, nicht jedoch die Suizidbeihilfe und fügt an, dass keine Erweiterung oder Ergänzung der Standesregeln in der angeregten Richtung geplant sei. Der Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie kommt schliesslich in seiner Stellungnahme264 zum Schluss, dass der Bundesgerichtsentscheid zusammen mit den Richtlinien der SAMW und den Empfehlungen Nr. 9 der Nationalen Ethikkommission eine gute Grundlage bieten, um der Instrumentalisierung der Psychiater in diesem Bereich entgegen zu wirken. In einem Beitrag von Christoph Rehmann-Sutter wird die problematische Formulierung des „Rechts auf den eigenen Tod“ hinterfragt. Er hält fest, dass dieser Terminus inhaltlich folgendermassen präzisiert werden müsste: das Recht „über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden; dies zumindest, soweit der Betroffene in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln.“ 265 Unter den Befürwortern der Suizidbeihilfe fanden sich einige Artikel im Bereich der „Tribüne“, teilweise mit Fallbeschreibungen. Alois Geiger-Jakob beschrieb in seinem Beitrag266 die – trotz der Diskussion um Sterbehilfe – weiterhin bestehenden Vorurteile und die Tabuisierung des Selbstmordes. Der begleitete Freitod sei eine humanistische Tat und würde den Leidgeplagten ermöglichen, ihr Leben in einem würdigen Rahmen abzuschliessen. Ohne Möglichkeit zum assistierten Suizid würden solche Menschen gezwungen, einen „in Verzweiflung durchgeführten Suizid in Abkehr von den Mitmenschen“ zu begehen. Durch fehlende Optionen, über einen geplanten Suizid sprechen zu können, würden diese Menschen in ihrer Isolation gewissermassen dazu gedrängt, „unfrei“ zu handeln. Ebenfalls wird im Artikel auf die Folgen eines nicht erfolgreichen Suizidversuches hingewiesen. Peter Hirzel beschreibt eine Fallvignette267, wie er einen Patienten mit Exit in den Tod begleitete und wie der bewusste Abschiedstermin als „Chance“ für die Angehörigen genutzt werden konnte, [emotional] „aufzuräumen“. 263 Regamy 2007 Kiesewetter 2007 265 Rehmann-Sutter 2007 266 Geiger-Jakob 2008 267 Hirzel 2009 264 117 In einer Übersichtsarbeit mit dem Titel „Sterbehelfer – eine neue Rolle für Europas Ärzteschaft“ versucht Georg Bosshard die ärztlich-standesethischen Richtlinien in ausgewählten europäischen Ländern zu analysieren. Er schlussfolgert: „Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Befürwortung von Sterbehilfe in der Öffentlichkeit europäischer Länder bleibt die entscheidende Frage nach der adäquaten Rolle des Arztes in der Sterbehilfe umstritten. Eine Gesellschaft, die Sterbehilfe grundsätzlich zulassen will, sollte sich sorgfältig überlegen, welche Aufgaben in diesem Zusammenhang ausschliesslich ärztlicher Expertise überlassen werden sollten und welche Aufgaben durch den Einbezug anderer Berufsgruppen besser wahrgenommen werden könnten.“ 268 Jean Martin hält in seinem Text „Suizidbeihilfe und Lebensmüdigkeit“ abschliessend fest: „Wie immer in gesellschaftlichen Fragen ist es hier angemessen, den Spielraum der Toleranz zu umreissen, ein goldenes Mittelmass, das die Grundfreiheiten des Einzelnen ebenso berücksichtigt wie die Aufgaben des Staates, die Werte der Gemeinschaft und ihr Bestreben, ethisch und praktisch problematische Entgleisungen zu vermeiden.“ 269 Zusammenfassend kann man festhalten, dass auf eine ausgewogene Berichterstattung Wert gelegt wurde und dass in der Ärzteschaft die kritischen Stimmen bezüglich des ärztlich assistierten Suizids dominieren270. 268 Bosshard 2008 Martin 2008 270 Vgl. weitere Artikel und Leserbriefe: Hänsel 2007 / Krebs-Roubicek 2007 / Geiser 2007 / Beutler 2008 / Ryser-Düblin 2008 / Martin 2009 269 118 5 Fazit und persönliche Stellungnahme Aus heutiger Sicht gibt es markante Unterschiede zur Ärzteschaft und deren definierten Aufgaben seit der Antike. So gab es beispielsweise um 400 v. Chr. keine Behandlungspflicht für Ärzte. Ob ein Patient in Behandlung genommen wurde oder nicht, entschied der jeweilige Arzt. Die Aufgabe der Heilkunst wurde im Corpus Hippocraticum als die gänzliche Befreiung der Kranken von ihren Leiden und die Abstumpfung der Heftigkeit einer Krankheit, aber die bewusste Unterlassung eines Behandlungsversuches, bei denen, die von der Krankheit „überwältigt“ sind, beschrieben. Entsprechend gibt es Hinweise, dass „aussichtslos“ Kranke aus Angst vor Rufschädigung abgelehnt oder aufgegeben wurden, oder dass in Einzelfällen „Sterbehilfe“ geleistet wurde. Die Diskussion bezüglich Suizid und Suizidbeihilfe wurde hauptsächlich von Philosophen geführt und orientierte sich an spirituellen und religiösen Richtlinien (Seele von Gott gegeben – Gott entscheidet über den Tod – aber auch: Gott kann eine Person in den Suizid „treiben“, wenn er dies für angebracht hält). Dass die Suizidbeihilfe eine praktizierte Tätigkeit war, kann aus dem Hippokratischen Eid abgeleitet werden, worin explizit darauf verwiesen wird, dass der Arzt bei Eintritt in seinen Berufsstand schwört, den Patienten kein tödliches Mittel zu verabreichen, auch wenn sie dies verlangen und sie auch nicht dahingehend berät. Christlich gesinnte Vertreter bestärkten im 13. bis 18. Jahrhundert ebenfalls diese Ansicht und prägten unter anderem die Begriffe der „Heiligkeit des Lebens“, wie auch den der „Verfügungsgewalt über das menschliche Leben“, welche einzig Gott zustehe. Bezüglich Selbsttötung lassen sich keine direkten Aussagen in der Bibel finden, jedoch wird im Rahmen eines klaren Fremdtötungsverbotes die Suizidbeihilfe verurteilt und abgelehnt. Im 18./19. Jahrhundert lassen sich bereits mehrere stärkere Strömungen bezüglich Öffnung der Sterbehilfe, sowie Ansätze eines Gedankenguts Richtung Palliativpflege finden, wobei seitens der Ärzte eine klare Ablehnung irgendeiner Form der Lebensverkürzung beim Patienten vorherrschte. Ein zentraler Schritt Richtung Öffnung der Sterbehilfe-Thematik kann in Darwins Evolutionstheorie „Überleben des Stärkeren im Kampf ums Dasein“ gesehen werden. Mit seiner Schrift ebnete er den Weg für die Theorie der Rassenhygiene, womit die jahrzehntelang gefestigten Werte („Heiligkeit des Lebens“ u.a.m.) zunehmend in Frage gestellt wurden und schliesslich mit der „Ausscheidung des Schwachen“ während der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichte. Die darauf folgende Diskussion blieb kontrovers, verzeichnete jedoch eine Verschiebung der Gewichtung hin zu den „Rechten der Kranken und Sterbenden“. Ende 20. Jahrhundert ermöglichte diese starke Gewichtung der Patientenautonomie, dass die Suizidbeihilfe in einem gewissen Rahmen legalisiert und auch legitimiert wurde. 119 Zu Beginn der Dissertationsarbeit war ich – ganz im Rahmen der Gewichtung der Patientenautonomie – der Ansicht, dass ein Arzt bedenkenlos Suizidbeihilfe leisten kann. Patienten sollten in ihrem selbstbestimmten Sterbewunsch, ärztliche Unterstützung erhalten können. Inzwischen hat sich meine Ansicht diesbezüglich differenziert. Ich gehe mit dem Grundsatz einig, dass die Beihilfe zum Suizid prinzipiell keine ärztliche Tätigkeit ist. Die Ziele der medizinischen Therapie sind gemeinsam zwischen Patient und Arzt auszuhandeln und definieren Lebensqualität und Lebenssituation des betroffenen Patienten im Rahmen der Möglichkeiten. Sie beinhalten die Verbesserung einer eingeschränkten körperlichen Integrität sowie Förderung und – so weit möglich – Wiederherstellung der somatischen, psychischen und sozialen Funktionsfähigkeit. Weitere Ziele sind die Linderung körperlicher und seelischer Schmerzen und Leiden, Betreuung und Begleitung kranker oder/und sterbender Menschen unter Einbezug des sozialen Umfeldes sowie die Förderung und Unterstützung einer lebenslangen körperlichen und psychischen Entwicklung. Die Lebenserhaltung um jeden Preis ist um eine empathisch geleitete, angepasste palliative Therapiemöglichkeit erweitert worden. In diesem Sinne bin ich zur Überzeugung gelangt, dass bei entsprechender Anteilnahme an bestehenden Ängsten seitens des Patienten und durch Eingehen auf geäusserte Bedürfnisse in einer terminalen Situation oder bei einer chronisch progredienten Erkrankung, eine passende und adäquate Palliativtherapie angewendet werden kann, so dass ein aktiver Suizidwunsch in den Hintergrund treten mag. Da das Gesetz die Beihilfe zum Suizid erlaubt, unterstütze ich jedoch auch die Haltung der SAMW, dass die Suizidbeihilfe für medizinisches Personal nicht global verboten werden kann. Es ist für mich vorstellbar, dass in Einzelfällen Suizidbeihilfe, in Vereinbarung mit dem jeweiligen Gewissen der ausführenden ärztlichen Person, geleistet wird. Im Berufsfeld der Psychiatrie, worin ich mich bewege, stellt sich zudem die Problematik, dass Suizidwünsche und Äusserungen häufig Ausdruck und Symptom einer Krankheit sind, somit aus dieser Sicht bis zu einem gewissen Grad therapierbar. Die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient ist dabei genauso ein zentraler Faktor wie die Vermittlung von Hoffnung. Mit Unterstützung der ärztlichen Suizidbeihilfe im Bereich der Psychiatrie würde diese Hoffnung, meist zu Unrecht, untergraben. Die innere Haltung eines Therapeuten gegenüber seinem Klienten, die relevant an der Generierung dieses Hoffnungsfunkens beteiligt ist, würde, meiner Ansicht nach, leiden und einen weiteren Therapieerfolg deutlich minimieren. Zum aktuellen Zeitpunkt ist es für mich, gemäss den oben erwähnten Ausführungen, nicht mit meinem Gewissen vereinbar, Suizidbeihilfe zu leisten. Vielmehr erscheint es mir wichtig, Patienten in gesundheitlich schwierigen und belasteten Zuständen im Rahmen der Möglich120 keiten und Wünsche mit einer adäquaten palliativen Therapie zu begleiten. Ein wichtiger Aspekt dieser Begleitung sollte eine professionelle Gesprächstherapie darstellen. Eine tabellarische Übersicht der verschiedenen Argumente in der Diskussion um das ethische Dilemma in der Suizidbeihilfe findet sich im Anhang. Ebenfalls im Anhang zu finden ist eine summarische Übersicht der rechtlichen Regelung der Sterbehilfe aller europäischen Länder. 121 6 Anhang 6.1 Das ethische Dilemma der Suizidbeihilfe In der vorliegenden Tabelle wurde versucht, die in dieser Arbeit herausgearbeiteten wesentlichen Punkte betreffend das ethische Dilemma der Suizidbeihilfe darzustellen: Pro Suizidbeihilfe Gesellschaftliche Aspekte: - Lebensunwertes Leben (Binding / Hoche) - Missgestaltete Kinder (Nowak) - Seuchen nicht länger nähren/ den Aufgaben nicht mehr gewachsen sein (Morus) - Kranker als Parasit der Gesellschaft (Nietzsche) - Wert des Menschen kann negativ werden (Jost) - Ballastexistenzen (Hoche) - Enthebung aus der Halbillegalität und damit bessere Kontrolle (SAMW) - Enormer Rückhalt der Suizidbeihilfe in der Gesellschaft - Steigende Gesundheitskosten wegen steigender Lebenserwartung (kezerisch; Süddeutsche Zeitung) Rassenhygienische Überlegungen: - Natürliche Auslese (Darwin) - Natürliche Schöpfungsgeschichte (Haeckel) - Veredelung der Rasse (Tille) - Nationalsozialismus Autonomie des Patienten: - Forderung für Recht auf Sterbehilfe bei unheilbar Kranken(Gerkan) - Respektieren des Willens des Kranken (Eurparat / SAMW) - Recht auf Selbstbestimmung - Im Rahmen eines Ge- Verweis271 S. 17 S. 17 S. 21 S. 30 S. 31/32 S. 36 S. 50/52 Kontra Suizidbeihilfe Gesellschaftliche Aspekte: - Gegen Gottes Willen (Platon / Sokrates) - Ehre (Aristoteles) - Gottes alleinige Verfügungsgewalt über das menschliche Leben (von Aquin) - Heiligkeit des Lebens (Lecky) - Verletzung eines göttlichen Gesetzes (Papst J. Paul II) - Unklare Definition von ‚existentiellem Leiden’ (SAMW) - ‚Regelung’ könnte als Aufforderung verstanden werden (SAMW) - Missbrauchsgefahr - Schwierigkeit der Trennung Mensch Arzt - Sterbehilfetourismus aus weniger liberalen Ländern erschwerte Sorgfaltspflicht Verweis S. 12 S. 12/13 S. 15 S. 16 S. 18 S. 49/60 S. 50 S. 52/107 S. 78 S. 51/102 S. 52 S. 90/91 S. 27f S. 29 S. 30 S. 31 S. 33/34 S. 40 S. 44/50 Autonomie des Patienten: - Druck auf Patienten, den Weg der Suizidbeihilfe wählen zu müssen - Schwierigkeit der Einschätzung der Urteilsfähigkeit bei psychisch Kranken, Bewusstlosen oder Minderjährigen - Dilemma der persönlichen S. 52 S.63f/ 67f/ 100 271 Die Seitenzahlen verweisen exemplarisch auf die Lokalisierung der entsprechenden Argumente innerhalb dieser Arbeit. 122 wissensentscheids kann es eine menschliche Handlung sein (SAMW) Medizinische Aspekte: - Erlösung von den Qualen bei unheilbar Kranken (Schulz / Paradys, bzw. Haeckel) - Suizidbeihilfe als reine ‚Heilhandlung’ bei unheilbar Kranken (Binding) - Unfreiheit und Einschränkung des ärztlichen Handelns durch den Zwang der unbedingten Lebensverlängerung (Hoche) - Respektierung des Patientenwillen ist grundlegend für die ArztPatient-Beziehung (SAMW) - Ärztliches Ethos kann nicht dem geltenden Gesetz wiedersprechen - Unterstützung des Patienten auch im Moment einer schwierigen Entscheidung => nicht im Stich lassen müssen Autonomie vs. Soziale Abhängigkeit (Ciompi) S. 69 S. 49 S. 24 bzw. 33 S. 35 S. 36 S. 46 S. 84 S. 25/87 Medizinische Aspekte: - Hippokratischer Eid - Vertrauensverhältnis ArztPatient - Lebenserhaltung als Berufspflicht (Hufeland) - Überraschende Heilung nicht ausgeschlossen - Gefahr des Dammbruchs: Arzt als Richter über lebenswertes bzw. –unwertes Leben (Beer) - Gefahr der Synthese Arzt und Henker (Wauschkuhn) - Suizidbeihilfe nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit (SAMW) - Monopolisierung durch ‚Medikalisierung des Todes’ (SAMW) - Suizidpräventionsbemühungen - Diagnoseunsicherheiten - Möglickeiten der Palliativpflege - Besondere Abhängigkeitsverhältnisse, z.B. in Langzeitpflegeeinrichtungen - Arzt als Machtfaktor, Schutz des Arztes - Verschreibung eines Medikamentes bei fehlender Indikation Rechtliche Aspekte: - Gesetz §216 Reichsstrafgesetzbuch 1871 - Mutmassliche Einwilligung vs. notstandsähnlicher Abwägung (Seelmann) - Recht auf Leben (im Rahmen der Menschenrechte) Rechtliche Aspekte: - Art. 115 StGB: Suizidbeihilfe ist straflos, wenn nicht selbstsüchtige Beweggründe vorliegen S. 48 - In der Realität wird (bereits) Suizidbeihilfe praktiziert S. 52 - Strafbare Körperverletzung bei lebenserhaltenden Massnahmen gegen den Willen des Patienten (Seelmann) S. 71 - Aktuell gültige gesetzliche Regelungen sind genügend, um vor Missbrauch zu schützen (Bundesrat 2006) S. 102 Abbildung 5: Das ethische Dilemma der Suizidbeihilfe S. 14/15 S. 19 S. 25 S. 26 S. 34 S. 37 S. 46/49 S. 49/60 S. 49/ 57/107 S. 50/61/ 82 S. 62/63 S. 60/ 73 S. 75 S. 31 S. 72 S. 92 123 Der sogenannte „Hippokratische Eid“272 6.2 Ich schwöre bei Apollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, sie zu Zeugen anrufend, dass ich erfüllen will nach meinem Können und Urteil diesen Eid und diesen Vertrag: Den, der mich diese Kunst gelehrt hat, meinen Eltern gleich zu achten und mein Leben in Gemeinschaft mit ihm zu leben und ihm, wenn er Geld nötig hat, an meinem Anteil zu geben und seine Nachkommenschaft meinen Brüdern in männlicher Linie gleichzustellen und sie diese Kunst zu lehren – wenn sie wünschen, sie zu erlernen – ohne Honorar und Vertrag; an Regeln und mündlichem Unterricht und allem übrigen Wissen meinen Söhnen Anteil zu geben und den Söhnen dessen, der mich unterrichtet hat, und Schülern, die den Vertrag unterzeichnet und einen Eid geleistet haben nach ärztlichem Brauch, aber sonst niemandem. Ich will diätetische Massnahmen zum Vorteil der Kranken anwenden nach meinem Können und Urteil; ich will sie vor Schaden und Unrecht bewahren. Ich will weder irgend jemandem ein tödliches Medikament geben, wenn ich darum gebeten werde, noch will ich in dieser Hinsicht einen Rat erteilen. Ebenso will ich keiner Frau ein abtreibendes Mittel geben. In Reinheit und Heiligkeit will ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Ich will das Messer nicht gebrauchen, nicht einmal bei Steinleiden, sondern will davon abstehen zugunsten der Männer, die sich mit dieser Arbeit befassen. In alle Häuser, die ich besuche, will ich zum Vorteil der Kranken kommen, mich frei haltend von allem vorsätzlichen Unrecht, von aller Schädigung und insbesondere von sexuellen Beziehungen sowohl mit weiblichen wie mit männlichen Personen, seien sie frei oder Sklaven. Was ich etwa sehe oder höre im Laufe der Behandlung oder auch ausserhalb der Behandlung über das Leben von Menschen, was man auf keinen Fall verbreiten darf, will ich für mich behalten, in der Überzeugung, dass es schändlich ist, über solche Dinge zu sprechen. Wenn ich diesen Eid erfülle und ihn nicht verletze, sei es mir vergönnt, mich des Lebens und der Kunst zu erfreuen, geehrt durch Ruhm bei allen Menschen auf alle künftige Zeit; wenn ich ihn übertrete und falsch schwöre, sei das Gegenteil von all diesem mein Los. 272 Quelle: Benzenhöfer 2009, S. 201 nach Ludwig Edelstein: Der Hippokratische Eid. Zürich und Stuttgart 1969, S. 7-8. 124 6.3 Gesetzestexte273 6.3.1 Urteilsfähigkeit Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (Stand am 1. Januar 2011) Art. 16 Urteilsfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes ist ein jeder, dem nicht wegen seines Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. 6.3.2 Tötung auf Verlangen Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgerichts vom 23. Juni 1989, in Kraft seit 1. Januar 1990 (Stand am 1. Januar 2011). Art. 114 Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. 6.3.3 Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgerichts vom 23. Juni 1989, in Kraft seit 1. Januar 1990 (Stand am 1. Januar 2011). Art. 115 Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft. 273 Quelle: www.admin.ch, Stand am 10. März 2011 125 6.4 Endfassung der SAMW-Richtlinie „Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende“ von 2004274 Vom Senat der SAMW genehmigt am 25. November 2004. Die deutsche Fassung ist die Stammversion. I. Präambel II. Richtlinien 1. Geltungsbereich 2. Recht auf Selbstbestimmung 2.1. Urteilsfähiger Patient 2.2. Nicht urteilsfähiger Patient 3. Behandlung und Betreuung 3.1. Palliative Betreuung 3.2. Behandlungsverzicht oder –abbruch 4. Grenzen des ärztlichen Handelns 4.1. Beihilfe zum Suizid 4.2. Tötung auf Verlangen III. Kommentar ad 1. (Geltungsbereich) ad 2.1. (Urteilsfähiger Patient) ad 2.2. (Nicht urteilsfähiger Patient) ad 3.1. (Palliative Betreuung) ad 3.2. (Behandlungsverzicht oder -abbruch) ad 4.1. (Beihilfe zum Suizid) IV. Empfehlungen zuhanden der zuständigen Gesundheitsbehörden V. Anhang Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien I. Präambel Menschen in ihrer letzten Lebensphase sind häufig besonders schutz- und hilfsbedürftig. Sie vergegenwärtigen uns die Endlichkeit der menschlichen Existenz. Entscheidungen am Lebensende stellen grosse Anforderungen vor allem an den Patienten1 selbst, aber auch an seine Angehörigen, die Ärzte und das Betreuungsteam. Anliegen dieser Richtlinien ist es, Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der Betreuung von Patienten am Lebensende aufzuzeigen. Das grundlegende Ziel besteht darin, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten sowie eine Unterstützung der Angehörigen zu gewährleisten. Im Unterschied zur letzten Fassung der Richtlinien von 1995 wird im Folgenden 274 Quelle: www.samw.ch, Stand 10.03.2011 126 ausschliesslich auf die Situation sterbender Patienten Bezug genommen. Die Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten wurden entsprechend erstmals separat formuliert. Da sich dennoch gemeinsame Fragen und Probleme ergeben, sei die Bedeutung dieser Richtlinien für die hier im Zentrum stehenden Fragen hervorgehoben. Das Gleiche gilt auch für die Richtlinien zu Grenzfragen der Intensivmedizin und für die Richtlinien zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen. Bezüglich der speziellen Problematik der sehr unreifen Frühgeborenen sei auf die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit verwiesen.275 II. Richtlinien 1. Geltungsbereich Die Richtlinien betreffen die Betreuung von Patienten am Lebensende. Damit sind Kranke gemeint, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur Überzeugung gekommen ist, dass ein Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäss innerhalb von Tagen oder einigen Wochen zum Tod führt. Bei Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen am Lebensende gelten die gleichen Grundsätze; insoweit hier besondere Aspekte zu berücksichtigen sind, werden diese in den entsprechenden Abschnitten vermerkt. 2. Recht auf Selbstbestimmung Jeder Patient hat das Recht auf Selbstbestimmung. Die frühzeitige, umfassende und verständliche Aufklärung des Patienten oder seiner Vertreter über die medizinische Situation ist Voraussetzung für die Willensbildung und Entscheidfindung. Dies bedingt eine einfühlsame und offene Kommunikation und die Bereitschaft des Arztes, die Möglichkeiten und Grenzen sowohl der kurativen wie auch der palliativen Behandlung zu thematisieren. 2.1. Urteilsfähiger Patient Die Respektierung des Willens des urteilsfähigen Patienten ist zentral für das ärztliche Handeln. Demzufolge ist eine ärztliche Behandlung gegen den erklärten Willen des urteilsfähigen Patienten unzulässig. Dies gilt auch dann, wenn dieser Wille dessen wohlverstandenen Interessen aus der Sicht Aussenstehender zuwiderzulaufen scheint. Auch Minderjährige oder Entmündigte können bezüglich Behandlungseinwilligung urteilsfähig sein. 2.2. Nicht urteilsfähiger Patient 275 Im Interesse der leichteren Lesbarkeit des Textes wird in der Folge durchwegs die männliche Bezeichnung von Personen verwendet. Die entsprechenden Texte betreffen immer auch die weiblichen Angehörigen der genannten Personengruppen. 127 2.2.1. Handeln im mutmasslichen Willen des Patienten Ist es dem Patienten nicht mehr möglich, seinen Willen zu äussern, muss sein mutmasslicher Wille eruiert werden. Der Arzt oder das Pflegepersonal müssen deshalb abklären, ob der Patient eine Patientenverfügung verfasst, eine Vertrauensperson bevollmächtigt oder sich gegenüber seinen Angehörigen klar geäussert hat. Zudem muss abgeklärt werden, ob eine gesetzliche Vertretung besteht. Ist dies der Fall, so muss deren Einwilligung eingeholt werden. Patientenverfügung Jede Person kann im Voraus Bestimmungen darüber erlassen, welche Behandlung sie wünscht, falls sie nicht mehr urteilsfähig ist (Patientenverfügung). Patientenverfügungen sind zu befolgen, soweit sie auf die konkrete Situation zutreffen und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie dem derzeitigen Willen des Patienten nicht mehr entsprechen. Bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten Jede Person kann im Voraus schriftlich eine „bevollmächtigte Vertretungsperson in medizinischen Angelegenheiten“ (nachstehend: „Vertrauensperson“) bezeichnen, welche an ihrer Stelle die Zustimmung zu einer Behandlung erteilen soll, falls sie selbst nicht mehr urteilsfähig ist. Unter Berücksichtigung einer allfälligen Patientenverfügung muss im Einverständnis mit der bezeichneten Vertrauensperson entschieden werden. Weitere Hinweise auf den mutmasslichen Willen Nicht selten ist weder eine Patientenverfügung erstellt noch eine Vertrauensperson ernannt worden und es ist auch kein gesetzlicher Vertreter vorhanden. In dieser Situation sollen gezielt Informationen darüber eingeholt werden, wie der Patient in seinem bisherigen Leben gedacht und gehandelt hat. Dabei kommt in der Regel dem Gespräch mit Angehörigen und allfälligen weiteren Personen (z.B. Hausarzt) eine besondere Bedeutung zu. 2.2.2. Handeln im wohlverstandenen Interesse des Patienten Manchmal fehlt jegliche Möglichkeit, einen Hinweis auf den mutmasslichen Willen zu erhalten, z.B. wenn keine Angehörigen vorhanden oder wenn aus zeitlichen Gründen, etwa bei einem Notfall, Rückfragen bei Drittpersonen nicht möglich sind. In diesen Fällen soll sich der Entscheid des behandelnden Arztes an den wohlverstandenen Interessen des Patienten orientieren. Bei nicht urteilsfähigen Kindern und Jugendlichen gilt grundsätzlich der Wille des gesetzlichen Vertreters; in der Regel sind dies die Eltern. Entscheidungen über Leben und Tod sind jedoch für Eltern eine enorme, manchmal kaum zu ertragende Belastung. Sie sollten deshalb in den Entscheidungsprozess soweit miteinbezogen werden, wie das von ihnen gewünscht wird. Entscheide über die Behandlung und Betreuung sollen im wohlverstandenen Interesse des Kindes und im Einverständnis mit den Eltern bzw. gesetzlichen Vertretern getroffen werden. 128 2.2.3. Konfliktsituationen Verweigern die Vertreter (gesetzliche Vertreter oder die Vertrauensperson) eine aus ärztlicher Sicht unbedingt im Interesse des urteilsunfähigen Patienten stehende Massnahme, sollen alle Möglichkeiten der Vermittlung, z.B. auch über Ethikkonsilien, ausgeschöpft werden. Bei fehlender Einigung ist die Vormundschaftsbehörde einzubeziehen. Falls in einer Notfallsituation für diese Schritte keine Zeit bleibt, ist eine Massnahme auch gegen den Willen der Vertreter durchzuführen. 3. Behandlung und Betreuung 3.1. Palliative Betreuung Patienten in der letzten Lebensphase haben ein Anrecht auf palliative Betreuung. Diese umfasst alle medizinischen und pflegerischen Interventionen sowie die psychische, soziale und seelsorgerliche Unterstützung von Patienten und Angehörigen, welche darauf abzielen, Leiden zu lindern und die bestmögliche Lebensqualität des Patienten zu gewährleisten. Eine zentrale Aufgabe des Betreuungsteams besteht in einer wirksamen Symptomtherapie. Dazu gehören auch das Eingehen auf Nöte sowie die Verfügbarkeit und die Begleitung für den Patienten und seine Angehörigen. Alle potentiell hilfreichen technischen und personellen Ressourcen (z.B. Fachpersonen für psychische, soziale und seelsorgerliche Begleitung) sollen bei Bedarf zugezogen werden. Palliative Betreuung soll frühzeitig und überall angeboten werden, wo der Patient sich befindet (im Spital oder einer anderen Institution, zu Hause). Der Arzt ist verpflichtet, Schmerzen und Leiden zu lindern, auch wenn dies in einzelnen Fällen zu einer Beeinflussung (Verkürzung oder Verlängerung) der Lebensdauer führen sollte. Bei therapierefraktären Symptomen kann gelegentlich eine palliative Sedation notwendig werden. Hierbei ist zu beachten, dass nur soweit sediert werden soll, als dies zur Linderung der Symptome nötig ist. Entscheidungen über Behandlung und Betreuung sollen, wenn immer möglich, vom Betreuungsteam und von den Angehörigen des Patienten mitgetragen werden. Wichtig ist der Einbezug der Angehörigen unter Anerkennung ihrer Doppelrolle als Betreuende und Betreute. Wünsche nach einer persönlichen Gestaltung der letzten Lebensphase sollen unterstützt werden. Die Betreuung soll auch die Begleitung der Angehörigen, in manchen Fällen über den Tod des Patienten hinaus, umfassen. Es ist für einen respektvollen Umgang mit dem Verstorbenen zu sorgen; den kulturellen und religiösen Ritualen der Hinterbliebenen soll nach Möglichkeit Raum gewährt werden. 3.2. Behandlungsverzicht oder -abbruch Angesichts des Sterbeprozesses kann der Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen oder deren Abbruch gerechtfertigt oder geboten sein. Bei der Entscheidfindung spielen Kriterien 129 wie Prognose, voraussichtlicher Behandlungserfolg im Sinne der Lebensqualität sowie die Belastung durch die vorgeschlagene Therapie eine Rolle. Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern gelten grundsätzlich die gleichen Überlegungen. Erschwerend ist allerdings der Umstand, dass eine Orientierungsmöglichkeit am mutmasslichen Willen oder der Persönlichkeit entfällt. Der Einsatz belastender Massnahmen zur Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen muss deshalb vor allem von der Prognose abhängig gemacht werden. Dabei soll die Belastung durch die Therapie in Form von Schmerzen, Unwohlsein und Einschränkung gegen den durch sie voraussichtlich ermöglichten Gewinn an Wohlbefinden, Beziehungsmöglichkeiten und Erlebnisfähigkeit abgewogen werden. 4. Grenzen des ärztlichen Handelns Die Respektierung des Patientenwillens stösst dann an ihre Grenzen, wenn ein Patient Massnahmen verlangt, die unwirksam oder unzweckmässig sind oder die mit der persönlichen Gewissenshaltung des Arztes, mit der ärztlichen Standesordnung oder dem geltenden Recht nicht vereinbar sind. 4.1. Beihilfe zum Suizid Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt für alle Personen. Die Rolle des Arztes besteht bei Patienten am Lebensende darin, Symptome zu lindern und den Patienten zu begleiten. Es ist nicht seine Aufgabe, von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern er ist im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrunde liegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern. Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und dauerhaft bestehen bleiben. In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Konflikt entstehen. Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. Entschliesst er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen: – Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist. – Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. – Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei 130 diese nicht zwingend ein Arzt sein muss. Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall durch den Patienten selbst durchgeführt werden. 4.2. Tötung auf Verlangen Die Tötung eines Patienten ist vom Arzt auch bei ernsthaftem und eindringlichem Verlangen abzulehnen. Tötung auf Verlangen ist nach Art. 114 Strafgesetzbuch strafbar. III. Kommentar ad 1. (Geltungsbereich) Gemäss dieser Definition sind Patienten am Lebensende zu unterscheiden von Patienten mit unheilbaren, progressiv verlaufenden Krankheiten, insofern sich deren Verlauf über Monate oder Jahre erstrecken kann. Mit den klinischen Anzeichen ist die Gesamtheit der Beobachtungen, zum Beispiel sich verschlechternde Vitalfunktionen, prognostisch ungünstige objektive Befunde und die Beurteilung des Allgemeinzustandes gemeint, die den Beginn des Sterbeprozesses charakterisieren. Es ist allerdings hervorzuheben, dass der Eintritt der Sterbephase nicht selten mit ärztlichen Entscheidungen zum Behandlungsabbruch oder verzicht im Zusammenhang steht, so dass eine Abgrenzung stets mit gewissen Unschärfen verbunden bleibt. ad 2.1. (Urteilsfähiger Patient) Folgende Kriterien helfen, die Urteilsfähigkeit gemäss Art. 16 Zivilgesetzbuch festzustellen: – die Fähigkeit, Information in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen; – die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten ergeben, richtig abzuwägen; – die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational zu gewichten; – die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äussern. Die Urteilsfähigkeit wird im Hinblick auf eine bestimmte Handlung abgeschätzt (und zwar im Zusammenhang mit dem Komplexitätsgrad dieser Handlung); sie muss im Moment des Entscheides vorhanden sein. ad 2.2. (Nicht urteilsfähiger Patient) Die Behandlung der Einwilligung des urteilsunfähigen Patienten, welcher keinen gesetzlichen Vertreter hat und auch keine Vertrauensperson bezeichnet hat, ist auf eidgenössischer Ebene nicht ausdrücklich geregelt. Hingegen existieren auf kantonaler Ebene entsprechende gesetzliche Regelungen; diese sind jedoch uneinheitlich. Vgl. hierzu ausführlich: Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, medizinisch-ethische Richtlinien und Empfehlungen Fussnote 6. 131 ad 2.2.1. (Handeln im mutmasslichen Willen des Patienten) Der mutmassliche Wille entspricht dem Willen, den der Patient wahrscheinlich äussern würde, wenn er noch urteilsfähig wäre. Er ergibt sich aus der Bewertung aller feststellbaren Informationen wie Patientenverfügung, Ernennung einer Vertrauensperson, früher gemachten Äusserungen und anderen biographischen Hinweisen. Als Angehörige im Sinne dieser Richtlinien werden die dem Patienten nahe stehenden Personen, insbesondere Ehe- oder Lebenspartner, Kinder oder Eltern und Geschwister, bezeichnet. ad 2.2.2. (Handeln im wohlverstandenen Interesse des Patienten) Unter «Handeln im wohlverstandenen Interesse (best interest) des Patienten» verstehen wir die Durchführung von medizinisch oder pflegerisch indiziert erscheinenden Massnahmen, denen ein hypothetischer vernünftiger Patient in der entsprechenden Situation voraussichtlich zustimmen würde. ad 2.2.3. (Konfliktsituationen) Obwohl Angehörige kein Entscheidungsrecht haben, ist im Konfliktfall ein Konsens zu suchen. ad 3.1. (Palliative Betreuung) Grenzen der Palliativmedizin Nicht alles mit Sterben und Tod verbundene Leiden ist vermeidbar. Erkennen und Aushalten der Grenzen sind integrierender Teil der Betreuung des Patienten und seiner Angehörigen. Droht in besonders schwierigen Situationen eine Überforderung des Betreuungsteams, sollte externe professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden können. Beeinflussung der Lebensdauer Der «lebensverkürzende Effekt» zentral wirkender Substanzen ist lange Zeit überschätzt worden. Im Allgemeinen sind Schmerzmittel und Sedativa, wenn sie ausschliesslich zur Symptomkontrolle in der letzten Lebenswoche korrekt eingesetzt werden, nicht mit einer Verkürzung der Überlebenszeit assoziiert. Schmerzmittel und Sedativa können auch missbräuchlich eingesetzt werden, um den Tod herbeizuführen. Es ist aber in aller Regel bereits an der Dosierung resp. Dosissteigerung der Medikamente ein Unterschied zwischen der Schmerz- und Symptomlinderung in palliativer Absicht und der absichtlichen Lebensbeendigung erkennbar. Weiter- und Fortbildung Die Betreuung von Patienten am Lebensende setzt Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich der palliativen Medizin, Pflege und Begleitung voraus. ad 3.2. (Behandlungsverzicht oder -abbruch) Zu den lebenserhaltenden Massnahmen gehören insbesondere die künstliche Wasser- und 132 Nahrungszufuhr, die künstliche Beatmung und die kardiopulmonale Reanimation. Je nach Situation muss auch über Sauerstoffzufuhr, Medikation, Transfusion, Dialyse und operative Eingriffe entschieden werden. ad 4.1. (Beihilfe zum Suizid) Im Umgang mit dem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid in Pflegeheimen sind zudem die Richtlinien und Empfehlungen zur Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen zu beachten. Vorgesetzte können ihren Mitabeitern die Beihilfe zum Suizid verbieten, diese oder die Mitwirkung dazu aber nicht von ihnen verlangen. Der Entscheidungsprozess, der zur Suizidbeihilfe oder zu ihrer Ablehnung führt, muss dokumentiert werden. Ein Todeseintritt nach Beihilfe zum Suizid muss als ein nichtnatürlicher Todesfall den Untersuchungsbehörden zur Abklärung gemeldet werden. Der Arzt, der Beihilfe zum Suizid geleistet hat, darf nicht selber den Totenschein ausfüllen. IV. Empfehlungen zuhanden der zuständigen Gesundheitsbehörden Ressourcen Trotz beschränkter Mittel sollten die Verantwortlichen des Gesundheitswesens mit ihrer Politik gewährleisten, dass alle Patienten am Lebensende eine palliative Betreuung im Sinne der Richtlinien erhalten. Die Institutionen sollten den Auftrag und die Möglichkeit haben, die hierzu notwendigen Voraussetzungen wie Räumlichkeiten, personelle Ressourcen, Begleitung des Betreuungsteams etc. zu schaffen. Aus- und Weiterbildung Die Inhalte der Palliativmedizin und -pflege sollten in die Aus-, Weiter- und Fortbildung aller an der Betreuung von Patienten beteiligten Berufsgruppen integriert werden. V. Anhang Zitierte Richtlinien – Behandlung und Betreuung von zerebral schwerst geschädigten Langzeitpatienten, medizinisch-ethische Richtlinien (2004) – Behandlung und Betreuung von älteren, pflegebedürftigen Menschen, medizinischethische Richtlinien und Empfehlungen (2004) – Grenzfragen der Intensivmedizin, medizinisch-ethische Richtlinien (1999) – Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit (22-26 SSW) in: Paediatrica 2002; Vol. 13 (No 2): 34-41 oder Schweiz. Ärztezeitung 2002; 29/30: 1586-1602 Hinweise zur Ausarbeitung dieser Richtlinien 133 Mandat Am 8. Februar 2002 hat die Zentrale Ethikkommission der SAMW eine Subkommission mit der Ausarbeitung von Richtlinien zur Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende beauftragt. Verantwortliche Subkommission Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin, Luzern, Präsident PD Dr. phil. Jürg Bernhard, Bern Dr. med. Georg Bosshard, Zürich Pfrn. Ulrike Büchs, Winterthur Pflegefachfrau Christine Champion, Moudon Dr. med. Daniel Grob, Zürich Prof. Dr. med. Christian Kind, St. Gallen Dr. med. Hans Neuenschwander, Lugano Prof. Dr. med. Rudolf Ritz, Basel Lic. iur. Michelle Salathé, Basel (ex officio) Pflegefachfrau Elisabeth Spichiger, Bern Dr. med. Philipp Weiss, Basel Prof. Dr. med. Michel Vallotton, Genf, Präs. ZEK (ex officio) Beigezogene Experten Dr. med. Klaus Bally, Basel Prof. Dr. med. Verena Briner, Luzern Prof. Dr. theol. Johannes Fischer, Zürich Fürsprecher Hanspeter Kuhn, Bern Lic. theol. Settimio Monteverde, Basel Catherine Panchaud, M.Sc, Puidoux PD Dr. phil. Klaus Peter Rippe, Zürich Prof. Dr. iur. et Dr. h.c. Kurt Seelmann, Basel Prof. Dr. med. Frédéric Stiefel, Lausanne Prof. Dr. med. Andreas Stuck, Bern Vernehmlassung Am 27. November 2003 hat der Senat der SAMW eine erste Fassung dieser Richtlinien zur Vernehmlassung genehmigt. Genehmigung 134 Die definitive Fassung dieser Richtlinien wurde am 25. November 2004 vom Senat der SAMW genehmigt. Impressum Gestaltung vistapoint, Basel Druck Schwabe, Muttenz 1. Auflage 4000 d, 1500 f (Januar 2005) 2. Auflage 2000 d (Oktober 2007) 3. Auflage 2000 d (Januar 2009) Bestelladresse SAMW Petersplatz 13 CH-4051 Basel Tel.: +41 61 269 90 30 Fax: +41 61 269 90 39 E-mail: [email protected] Alle medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW sind auf der Website www.samw.ch verfügbar. 135 6.5 Rechtliche Lage der Sterbehilfe in den europäischen Ländern Quelle: www.cdl-rlp.de/Unsere_Arbeit/Sterbehilfe/Sterbehilfe-in-Europa.html; Stand 23.02.2011 Land Aktive Sterbehilfe Belgien Legal (seit 2002) Verboten Dänemark Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) Legal Indirekte Sterbehilfe Passive Sterbehilfe Legal Legal Verboten Keine näheren Angaben Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal Legal Keine näheren Angaben Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Keine näheren Angaben Deutschland Verboten (bis zu 5 Jahren Haft) Finnland Verboten Frankreich Verboten (gleichgesetzt mit Mord) Griechenland Verboten (gleichgesetzt mit Mord) Verboten Grossbritannien Verboten (gleichgesetzt mit Mord) Verboten Verboten Italien Prinzipiell straffrei, jedoch kann ein bei einem Suizid Anwesender wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden. Keine näheren Angaben Keine näheren Angaben, kontroverse Diskussion Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal Rechtlich unklar Keine näheren Angaben Legal, wenn Schmerzlinderung das primäre Ziel ist Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal Verboten (bis zu 14 Jahren Haft) Luxemburg Legal (seit 2009) Legal (seit 2002) Verboten Legal Legal Legal Österreich Verboten (bis zu 5 Jahren Haft) Verboten (bis zu 5 Jahren Haft) Legal, gilt als natürlicher Tod Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal Polen Verboten Verboten Norwegen Keine näheren Angaben Keine näheren Angaben, kontroverse Diskussion Verboten (bis zu 14 Jahren Haft) Irland Niederlande Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Keine näheren Angaben Verboten Legal, gilt als natürlicher Tod Rechtlich unklar Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Verboten 136 Schweden Verboten Legal, wenn Helfer eine Privatperson ist Schweiz Verboten Slowenien Verboten (mind. 5 Jahre Haft) Legal, wenn keine selbstsüchtigen Beweggründe vorliegen Verboten (6 Monate bis 5 Jahre Haft) Spanien Verboten Verboten, kontroverse Diskussion Verboten Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Legal Legal Keine näheren Angaben Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Rechtlich unklar Legal, wenn medizinisch korrekt durchgeführt wird Ungarn Verboten Legal, wenn Willensäusserung des Patienten oder gültige Patientenverfügung vorliegt. Abbildung 6: Rechtliche Lage der Sterbehilfe in den europäischen Ländern Legal Rechtlich unklar 137 6.6 Empfehlungen zum Thema Suizidbeihilfe (NEK) Verabschiedet an der Kommissionssitzung vom 27.4.2005276 1 – Zwei Pole (einstimmig) Die ethischen Fragen, welche die Suizidbeihilfe aufwirft, ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der gebotenen Fürsorge für suizidge- fährdete Menschen einerseits und dem Respekt vor der Selbstbe- stimmung eines Suizidwilligen andererseits. Empfehlungen, Richtlinien und rechtliche Regelungen müssen beiden Polen in diesem Spannungs- verhältnis Rechnung tragen. Es gibt in der Gesellschaft eine breit geteilte Überzeugung, dass suizidgefährdete Menschen Hilfe zum Leben erhalten und in bestimmten Fällen vor sich selbst geschützt werden sollen. Daher werden erhebliche Anstrengungen zur Suizid- prävention unternommen. Um Suizidwünschen vorzubeugen, die aus einer ungenü- genden Betreuung entstehen, soll beispielsweise die Palliativbetreuung ausgebaut werden. Der Suizid eines Menschen lässt die meisten Mitmenschen nicht gleichgültig: Für die nächsten Angehörigen kann eine Selbsttötung traumatische Folgen haben. Ist ein Suizid geschehen, erleben viele Angehörige in der Folge Schuld und Ohnmacht: Es ist nicht gelungen, einen Menschen am Leben zu halten. Richtlinien und Regelungen liegt deshalb die Motivation zugrunde, Verhältnisse zu schaffen und zu erhalten, in denen der Wunsch nach Suizid möglichst nicht aufkommt und in denen das Leben von Mitmenschen als höchstes Gut angesehen wird. Dem gegenüber steht der Respekt vor der Selbstbestimmung eines anderen Menschen, insbesondere der Respekt vor dem Wunsch nach einem würdigen Sterben. Dieser Respekt entspricht einem liberalen Grundverständnis, das in der Schweiz eine starke Tradition hat. Er erfährt seine Bewährungsprobe bei Handlungen eines Anderen, die wir selbst vielleicht bedauern oder für falsch halten. Und er schliesst die Bevormundung eines Anderen aufgrund eigener Moralvorstellungen aus, solange die- ser nichts tut, was mit der Gefährdung Dritter verbunden ist. Wohl die meisten Menschen legen Wert darauf, in Fragen, die Krankheit und Sterben betreffen, selbst zu bestimmen, was mit ihnen geschehen soll. Aus dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines zum Suizid entschlossenen Menschen entsteht indes kein Motiv, ihm bei der Durchführung zum Suizid zu helfen. Es braucht ein anderes, zusätzliches Motiv für die Suizidbeihilfe, das über den blossen Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen hinausgeht. Dieses Motiv kann sein, einen Menschen, der zum Suizid entschlossen ist, nicht alleine zu lassen und ihm bei- zustehen. Das Alleinelassen eines Menschen könnte das Risiko in sich bergen, dass er seinem Leben auf eine schreckliche und auch für andere Leid bringende Weise ein Ende macht. Dieses Motiv kann einen Grenzfall der Fürsorge darstellen: Fürsorge für einen Menschen in einer Grenzsituation. Bei dem Respekt vor der Selbstbestimmung geht es deshalb auch um den Respekt vor der Selbstbestimmung derer, die der sui- zidwilligen Person beistehen. Aus beiden ethischen Anliegen – der Fürsorge und dem Respekt vor der Selbstbestimmung - ergibt sich das Spannungsverhältnis für alle Regelungen und Richtlinien. Würde nur das eine berücksichtigt, liefe das auf eine erhebliche Verschiebung in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen hinaus. Die Fürsorgeverpflichtung des Staates besteht aber nicht nur individualethisch gegenüber dem suizidwilligen Individuum, sondern auch in sozialethischer Hinsicht gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen und den damit ausgelösten Folgen für andere Menschen: Die 276 Gesamtdokument siehe www.bag.admin.ch/nek-cne/04229/04232/index.html?lang=de 138 Praxis des Suizids und der Suizidbeihilfe darf nicht die Entscheidungsfreiheit anderer Menschen einschränken, indem sie z.B. zum Druck für behinderte und kranke Menschen wird, der Gesellschaft nicht zur Last fallen zu dür- fen und den Suizid oder die Suizidbeihilfe einfordern zu müssen. Der Würde- und Autonomieanspruch und damit der Anspruch auf Entscheidungsfreiheit und auf Menschenrechte gilt uneingeschränkt für alle Menschen, unabhängig von den Eigenschaften und Fähigkeiten, die sie mitbringen. 2 - Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen (einstimmig) Die Mitwirkung bei der Selbsttötung sollte in ethischer Sicht unterschieden werden von der Tötung auf Verlangen. Die Tötung auf Verlangen berührt die gesellschaftlich verbreitete Überzeugung, dass der Tod eines Menschen nicht durch Andere gezielt herbeigeführt werden darf. Beim assistierten Suizid führt der Suizidwillige selbst seinen Tod herbei. Diese Unterscheidung führt in Diskussionen um die Sterbehilfe insgesamt, insbe- sondere auch in die Diskussionen um die indirekte aktive Sterbehilfe. Dazu sind weiterführende Reflexionen notwendig, die nicht Gegenstand dieser Stellung- nahme sind. 3 - Straflosigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung (einstimmig) Die Beihilfe zum Suizid bleibt nach Auffassung der NEK-CNE aus ethi- schen Gründen zu Recht straflos, sofern sie nicht aus eigennützigen Motiven durchgeführt wird. Die Kommission empfiehlt, am geltenden Art. 115 StGB keine Änderungen vorzunehmen. Es gilt hier der liberale Grundsatz, dass die Entscheidungen sowohl des Suizid- willigen als auch dessen, der ihm beisteht, zu respektieren sind und der Staat sich darin nicht einzumischen hat. Ausgenommen davon sind Fälle, bei denen eigennützige Motive im Spiel sind. Der Respekt vor der Entscheidung der am Suizid Beteiligten ist nicht zu verwech- seln mit der moralischen Bewertung dieser Entscheidung. Hinsichtlich der morali- schen Bewertung des Suizids und der Suizidbeihilfe gibt es in der Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen. Indem der Staat die uneigennützige Suizidbeihilfe straflos lässt, wird gleichwohl die Pluralität von Moralauffassungen in der Gesellschaft bezüglich des Suizids und der Beihilfe zum Suizid anerkannt. 4 – An der Person orientierte Entscheidungen (einstimmig) Eine Entscheidung zur Suizidbeihilfe muss sich an der Person und an der Situation des Suizidwilligen orientieren und darf nicht zu einer bloss aus Regeln abgeleiteten Entscheidung werden. Kriterien können immer nur den Charakter von notwendigen Bedingungen haben, die spezifizieren, wann überhaupt Beihilfe zum Suizid in Betracht kommen kann. Derartige Kriterien sind jedoch niemals hinreichend, um die Beihilfe zum Suizid im Einzelfall zu begründen. Der Beistand, von dem die Rede ist, ist immer Beistand für eine bestimmte Einzelperson. Daher muss die Entscheidung zur Beihilfe zum Suizid immer an der individuellen Person und ihrer Situation orientiert sein. Diese Entscheidung ist mehr als nur ein Fall der Anwendung bestimmter Kriterien und Regeln. Sie erfor- dert eine eingehende Kenntnis der Person und 139 ihrer Situation, des individuellen Hintergrundes ihres Suizidwunsches, der Konstanz dieses Wunsches und sie setzt das Besprechen möglicher alternativer Perspektiven, Optionen usw. voraus. Es wäre fatal, wenn die Beihilfe zum Suizid aufgrund von Routinen erfolgen würde: Diejenigen, welche die Kriterien erfüllen, könnten sich u. U. sogar unter Rechtfertigungsdruck fühlen, wenn sie die Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollen. Das betreuende Personal könnte sich seinerseits unter Rechtfertigungsdruck sehen, wenn es auf Grund seiner persönlichen Haltung keine Suizidbeihilfe leisten will. Schwer kranke Menschen äussern sich zum eigenen Sterben oft ambivalent und inkonstant. Wenn Suizidhilfe zum normalen Angebot würde, könnte sich diese Ambivalenz eher in einen Sterbewunsch wandeln. Dennoch ist es gerade im Interesse eines solchen Beistands unabdingbar, bestimmte notwendige (nicht hinreichende) Bedingungen und Kriterien zu formu- lieren. Diese legen fest, wann überhaupt Beihilfe zum Suizid in Betracht kommen kann. In diesem Sinne sind die drei Bedingungen, welche die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in ihrem Richtlinienentwurf für die Sterbebegleitung formuliert hat, und auch die hier von der NEK-CNE for- mulierten Bedingungen zu verstehen. 5 – Sterbehilfeorganisationen (einstimmig) Art 115 StGB schützt de facto die Selbstbestimmung der am Suizid Beteiligten, indem er diese straffrei lässt. Diese grundsätzlich liberale Haltung soll nicht in Frage gestellt werden. Im Hinblick auf die herrschen- de Praxis der Suizidbeihilfe bedarf es aber bei den Sterbehilfeorgani- sationen der Ergänzung. Das geltende Recht lässt die Beihilfe zum Suizid straflos, sofern sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Es enthält keine Bestimmungen hinsichtlich des Schutzes suizidgefährdeter Menschen, deren Suizidwunsch möglicherweise nur vorübergehend ist, und für die es vielleicht noch andere Perspektiven gibt. Durch die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen, die es sich zur Aufgabe machen, Suizidwilligen zum gelingenden und schmerzlosen Suizid zu verhelfen, entsteht für Suizidgefährdete eine neue Situation. Es geht im Fall der Sterbehilfe- organisationen auch nicht um die Suizidbeihilfe durch nahe Bezugspersonen, son- dern um ein allgemeines Angebot an fremde Menschen. Es liegt in der Natur ihrer Mission, dass solche Organisationen dahin tendieren können, von den beiden Polen – Lebenshilfe einerseits und Respektierung der Autonomie eines Suizidwilligen andererseits – den zweiten Pol, die Selbstbestimmung, zum Leit- motiv ihrer Aktivitäten zu machen. Daher bedarf es rechtlicher Vorgaben, die sicherstellen, dass der erste Pol ausreichend Berücksichtigung erfährt. Die selbst gegebenen Regeln von Sterbehilfeorganisationen reichen diesbezüglich nicht aus, da Verletzungen dieser Regeln durch die Sterbehilfeorganisationen selbst – solche sollen tatsächlich vorgekommen sein – rechtlich nicht einklagbar und sanktionier- bar sind. Das Gebot der Fürsorge für suizidgefährdete Menschen erfordert daher eine Ergänzung des geltenden Rechts, welche diese Organisationen einer staatlichen Aufsicht unterstellt. 6 – Psychische Krankheiten (einstimmig) Bei psychisch kranken Menschen sind Todes- und Suizidwünsche häufig Ausdruck oder Symptom ihrer Erkrankung. Deshalb bedürfen Suizid- willige, die unter psychischen Krankheiten leiden – alleine oder in Kombination mit somatischen Krankheiten – in erster Linie einer psychia- trischen und psychotherapeutischen 140 Behandlung. Wenn der Suizid- wunsch Ausdruck oder Symptom einer psychischen Erkrankung ist, soll keine Beihilfe zum Suizid geleistet werden. Die Suizidforschung hat übereinstimmend herausgearbeitet, dass das Suizidrisiko durch eine psychische Erkrankung stark erhöht wird. Suizidalen Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist zuerst und vor allem mit psychiatrischer Be- handlung und psychosozialer Unterstützung zu helfen. Suizidalität kann unmittel- bar als Symptom der psychischen Erkrankung auftreten. Menschen in einer suizi- dalen Krise benötigen zuerst und vor allem Verständnis und Einfühlung. Sie brau- chen zuhörende Menschen, die verstehen, dass es keine fixen Erklärungen für Suizidhandlungen gibt. Psychische Krankheiten gehen mit einer Einbusse an Lebensqualität einher, bedeuten aber nicht das Lebensende. Die Prognose psychi- scher Störungen ist häufig offen. Daher ist der assistierte Suizid in der Regel auszuschliessen. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine Ausnahme dieser Regel ist das Auftreten von Suizidwünschen, die nicht Ausdruck oder Symptom der psychischen Erkran- kung sind und z. B. im symptomfreien Intervall einer bisher chronisch verlaufen- den Krankheit auftreten. (Unter «Ausdruck» der Krankheit ist ein direkter Zusammenhang des Suizidwunsches mit der psychischen Erkrankung gemeint und nicht z. B. ein Leiden an einer Lebenssituation, die von einer Erkrankung mit beeinflusst sein kann.) Da psychiatrische Institutionen den Auftrag haben, psychische Krankheiten und deren Folgen – wie Suizidalität – zu behandeln, sollen assistierte Suizide nicht in solchen Institutionen stattfinden. 7 – Kinder und Jugendliche Mehrheitsposition: Bei Kindern und Jugendlichen kommen die in der Gesundheitspflege generell geltenden rechtlichen und ethischen Regeln zur Anwendung. Den in Empfehlung 4 formulierten Überlegungen ist besondere Auf- merksamkeit zu schenken. In der Regel übt der urteilsfähige Minderjährige das höchstpersönliche Recht, Pflege zu akzeptieren oder abzulehnen, frei aus. Die Urteilsfähigkeit ist im Einzelfall abzuwägen. Diese Grundsätze sind auf ein mögliches Ersuchen um Beihilfe zum Suizid anwendbar. Denn so wie Kinder auch bei unheilbar terminalen Krankheiten medizinische Behandlungen verweigern können, so kann nicht aus- geschlossen werden, dass in terminaler Situation auch einem Wunsch nach Beihilfe zum Suizid entsprochen werden kann. Schwer kranke Kinder und Jugendliche, die ein Anliegen um Hilfe beim Suizid vor- bringen könnten, sind je nach Umständen beeinflussbar und für die Meinung von Drittpersonen empfänglich. Häufig ist ihr Selbstverständnis noch ungefestigt. Begleitpersonen haben sich sorgfältig darüber zu vergewissern, dass die Betroffenen ihre Situation und die entsprechende Prognose richtig und umfassend einzuschätzen vermögen. Minderheitsposition: Bei Kindern und Jugendlichen soll keine Beihilfe zum Suizid geleistet werden. Bei Kindern und Jugendlichen, die ein Anliegen zur Suizidbeihilfe vorbringen, besteht die Hoffnung, dass sich der Sterbewunsch in späteren Lebensphasen auf- löst. Kinder und Jugendliche sind in besonders ausgeprägter Weise durch äussere Umstände und Meinungen beeinflussbar. Oft ist ihr Selbstkonzept noch fragil, so dass äussere Belastungen oder innere 141 Konflikte sie schwerwiegend erschüttern können. Daher sind sie für suizidale Durchbruchhandlungen besonders gefährdet. Auch bei unheilbar terminalen Krankheiten im Kindesalter muss der Pol der Lebenshilfe Vorrang haben. Akutspitäler und Pflegeinstitutionen sind auf die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und Lebensqualität auch am Lebensende und nicht auf die Herbeiführung des Todes ausgerichtet. Der Suizid führt in diesen Institutionen deshalb zu einem erheblichen Konflikt. 8 – Spitäler und Heime (ohne Gegenstimme) A – Institutionen der Langzeitpflege: Wenn ein Bewohner den assi- stierten Suizid wünscht und er über keinen anderen Lebensort ver- fügt als diese Institution, sollte er nach Möglichkeit den Akt auch an diesem Ort durchführen können. Eine besondere Situation be- steht im Fall einer gänzlich privaten Institution, die nur Bewohner annimmt, die zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme darüber informiert wurden, dass die betreffende Institution in ihren Räumen die Suizid- beihilfe ablehnt. Das Personal der Institutionen der Langzeitpflege kann aber in keinem Fall dazu gezwungen werden, an einer Suizid- beihilfe teilzunehmen (Vorbehalt der Ablehnung aus Gewissensgründen). B – Akutspitäler: Jede Institution soll klar festlegen, ob sie für ihre Patienten die Möglichkeit des assistierten Suizids zulassen will oder nicht. Die Institution soll ihren Entscheid den Patientinnen und Patienten gegenüber erklären können. Wenn sie diese Praxis erlaubt, sollte die Institution auch die notwendigen Rahmenbe- dingungen schaffen, damit der Akt unter den bestmöglichen Vor- aussetzungen durchgeführt werden kann, ohne die anderen Pa- tienten in Mitleidenschaft zu ziehen. Aber auch hier ist der Vor- behalt der Ablehnung aus Gewissensgründen für das gesamte be- troffene Personal zu respektieren. C – Bezüglich des Suizids in psychiatrischen Institutionen wird auf Empfehlung 6 verwiesen. Der wohl erwogene persönliche Entschluss zum Suizid soll nicht an Regeln einer Institution, dem persönlichen Gewissensentscheid eines einzelnen Arztes oder einer einzelnen Betreuungsgruppe scheitern müs- sen. Es sollte die Möglichkeit gewährt werden, auf Wunsch einem anderen Arzt zugewiesen oder in eine andere Institution verlegt zu werden. 9 – Angehörige von Heilberufen (einstimmig) Für Ärztinnen und Ärzte, sowie für Pflegende entsteht vor dem Hinter- grund des medizinischen Ethos ein Konflikt, weil medizinischer Beistand Fürsorge zum Leben bedeutet und nicht Beistand zu dessen Beendigung. Aus diesem Grund kann Suizidbeihilfe nicht als etwas begriffen werden, was zum Auftrag der Angehörigen von Heilberufen gehört. Wo Ärztinnen und Ärzte dennoch Suizidbeihilfe leisten, fällt dies in ihre persönliche Entscheidung. Würde die Suizidbeihilfe zum ärztlichen Auftrag gehören, so wäre jeder Arzt dazu verpflichtet, wenn ein urteilsfähiger Patient ihn darum bittet. Was zum ärztlichen Auftrag gehört, misst sich an den Zielen, auf welche die ärztliche Tätigkeit gerich- tet ist. Ziele und Tätigkeit bestehen in der Heilung, Linderung und Begleitung. Auch dann, wenn ein Arzt bei einem assistierten Suizid von seinen ärztlichen Kompetenzen Gebrauch macht, gilt doch, 142 dass er nicht im Sinne dieser Ziele und folglich im Sinne des ärztlichen Auftrags tätig ist. Von dieser Differenzierung hängt Entscheidendes ab für das Verständnis des ärztlichen Auftrags und im weitesten Sinne für das Verständnis der Aufgabe der Medizin. Berufsleute im Gesundheitswesen sollen nach einem Gewissensentscheid für oder gegen die Suizidbeihilfe keine moralische Missbilligung und keine Sanktionen durch ihren Berufsstand erfahren. Berufsleute im Gesundheitswesen sind für die Pflege am Lebensende angemessen auszubilden. Im Rahmen dieser Ausbildung sollen auch die ethischen Fragen und Dilemmasituationen des Suizids und der Suizidbeihilfe thematisiert werden. 10 – Suizidwillige aus dem Ausland (ohne Gegenstimme) Es gibt keinen ethischen Grund, Suizidwillige aus dem Ausland generell vom assistierten Suizid in der Schweiz auszuschliessen. Ein besonderes ethisches Problem bei dieser Personengruppe besteht jedoch in der Sicherstellung einer ausreichenden Abklärung und der diesbezüglichen Sorgfaltspflichten. Für Suizidwillige aus dem Ausland sollte genauso wie für Suizidwillige aus der Schweiz sichergestellt werden, dass die in Empfehlung 4 formulierten Bedingungen erfüllt sind. Es ist davon auszugehen, dass die Gründe, weshalb Suizidwillige aus dem Ausland den Weg in die Schweiz suchen, keine anderen sind als bei Suizidwilligen aus der Schweiz. Wenn man daher (aus ethischen Erwägungen) der Ansicht ist, dass es für Letztere die Möglichkeit des assistierten Suizids geben soll, dann lässt es sich nicht ethisch, sondern allenfalls gesellschaftspolitisch rechtfertigen, Erstere von dieser Möglichkeit auszuschliessen. Das ethische Hauptproblem beim assistierten Suizid für Suizidwillige aus der Schweiz wie aus dem Ausland ist die Sicherstellung einer ausreichenden Abklärung. Für sie ist eine eingehende Kenntnis der Person und Situation des Suizidwilligen, der Konstanz ihres Suizidwunsches usw. erforderlich. Dafür genügt in der Regel nicht ein einmaliger, zeitlich begrenzter Kontakt zwischen Anreise und Ausführung des Suizids. 11 – Gesellschaftliche Tendenzen und Risiken (ohne Gegenstimme) Der Suizidprävention soll künftig grosse Aufmerksamkeit geschenkt wer- den, besonders angesichts von gesellschaftlichen Entwicklungen, die das Risiko bergen, Menschen in Grenzsituationen zur Annahme eines organi- sierten Angebotes der Suizidbeihilfe zu veranlassen. Eine dieser Entwicklungen ist die sich verändernde demographische Zusammen- setzung der Gesellschaft (Alterspyramide). Wenn der Anteil der älteren Menschen steigt, steigt auch der Anteil der Pflegebedürftigen. Eine zweite Entwicklung ist die Kostensteigerung im Gesundheitswesen, besonders im Bereich der Pflege. Beide Tendenzen zusammen können zu einem von Betroffenen empfundenen sozialen oder/und familiären Druck führen. Schuldgefühle können daraus entstehen, ande- ren (z.B. der Familie) finanziell und im Sinn der pflegerischen Abhängigkeit zur Last zu fallen. Dies kann zu Suizidwünschen führen. Pflegebedürftige Menschen sind diesem Risiko besonders stark ausgesetzt. Ihre Freiheit und Selbstbestimmung könnte durch den empfundenen Druck auf der einen Seite und durch das nahe gebrachte Angebot für eine gesellschaftlich akzep- tierte «Sterbebegleitung» andererseits gefährdet sein - auch wenn diese pflege- bedürftigen Menschen den Kriterien der 143 Urteilsfähigkeit genügen und die Sterbehilfeorganisation nicht eigennützig handelt. Die Gesellschaft steht in einer besonderen Verantwortung gegenüber den pflege- bedürftigen und abhängigen Menschen. Die Verhältnisse der Betreuung, vor allem in der Langzeitpflege, müssen so eingerichtet werden, dass sie das Entstehen von Suizidwünschen nicht fördern. Diese präventive Verantwortung beinhaltet auch eine Unterstützung für die Pflegenden, damit sie ihre fürsorgliche Arbeit ohne Selbstaufopferung und mit gesellschaftlicher Anerkennung verrichten können. 12 - Rechtlicher Regelungsbedarf Die heutige Rechtslage bedarf der Ergänzung durch Bestimmungen, die sicherstellen, dass a) vor der Entscheidung zum assistierten Suizid für jeden Einzelfall hin- reichende Abklärungen vorgenommen werden; b) niemand verpflichtet werden kann, Suizidbeihilfe zu leisten; c) keine Beihilfe zum Suizid geleistet wird, wenn der Suizidwunsch Ausdruck oder Symptom einer psychischen Erkrankung ist; d) im Falle von Empfehlung 7, Minderheitsposition: bei Kindern und Jugendlichen keine Beihilfe zum Suizid geleistet wird; e) die Sterbehilfeorganisationen einer staatlichen Aufsicht unterstellt werden. Gerade weil die Entscheidung zum assistierten Suizid eine an der Person und Situation des Suizidwilligen orientierte Einzelfallentscheidung sein muss, bedarf es hier sorgfältigster Abklärungen. Anlässlich dieser Abklärungen müssen nicht nur die Urteilsfähigkeit, die Freiheit von sozialem Druck, der Grund und Hintergrund des Suizidwunsches sowie dessen Konstanz ermittelt und sichergestellt werden, sondern im Sinne der Fürsorge für das Leben auch mögliche andere Perspektiven und Optionen mit dem Suizidwilligen erwogen und geprüft werden. Das ist nur im Rahmen einer eingehenden und länger andauernden Beziehung möglich und nicht auf Grund eines kurzen oder einmaligen Kontaktes mit dem suizidwilligen Menschen. Niemand kann einem Anderen gegenüber ein Recht haben, dass dieser ihm zur Selbsttötung verhilft. Alle haben umgekehrt ein Recht, sich der Mitwirkung an einem Suizid zu verweigern. Die Beihilfe zum Suizid kann nur auf Grund eines höchstpersönlichen Entscheides erfolgen. Dieser Entscheid kann von niemandem vorgeschrieben werden, weder von Institutionen noch von Personen im Umkreis des Suizidwilligen, noch vom Suizidwilligen selbst. Besonders wichtig ist diese Gewissensklausel für Angehörige von Heilberufen und für Mitarbeitende in Institutionen des Gesundheitswesens. Die Beihilfe zum Suizid stellt etwas dar, das ausserhalb der Tätigkeiten bleibt, auf die ein Patient oder eine Patientin mit Verweis auf das professionelle Können der Betreuenden Anspruch haben kann. 144 6.7 Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe277 Stellungnahme Nr. 13/2006; Oktober 2006 1. Einleitung In ihrer Stellungnahme Nr. 9/2005 hat die Nationale Ethikkommission dem Gesetzgeber unter anderem empfohlen, Organisationen, die in der Schweiz im Schutz von Art. 115 StGB Beihilfe zum Suizid anbieten und durchführen, einer staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Rechtliche Vorgaben sollen sicherstellen, dass in der Anwendung von Art. 115 StGB neben dem Respekt vor der Selbstbestimmung auch die Fürsorge für suizidgefährdete Menschen im Sinn des Schutzes ihres Lebens gleichgewichtige Berücksichtigung findet. Konkret sollen nach Auffassung der Ethikkommission eine Reihe von minimalen Sorgfaltskriterien für die Praxis der organisierten Suizidbeihilfe vorgeschrieben werden. In der Stellungnahme Nr. 9/2005 ist aber – abgesehen von einigen richtungsweisenden Hinweisen – offen geblieben, worin die in einer Aufsichtsregelung zu verlangenden Kriterien bestehen sollen. Mit dem vorliegenden Papier füllt die Kommission diese Lücke. Die hier vorgelegten Empfehlungen richten sich auch an die Praxis. Die darin formulierten Forderungen verstehen sich nicht als Kriterien, die, wenn sie eingehalten werden, zu einer staatlichen oder gesellschaftlichen Anerkennung von Suizidhilfeorganisationen oder ihrer Praxis im Einzelfall führen können. Die Kriterien verstehen sich vielmehr als notwendige Minimalstandards, die keine Verantwortung von den Organisationen wegnehmen. Es ist die Meinung der Kommission, dass die weitgehende Freiheit für das organisierte Angebot von Suizidbeihilfe, die vom Schweizerischen Strafrecht in Form des geltenden Art. 115 StGB geschaffen ist, auch eine gesellschaftliche Verantwortung zum Schutz der Betroffenen nach sich zieht. Die vorliegende Empfehlung ist von diesem Anliegen des Schutzes der Betroffenen getragen. Die Empfehlungen wollen keine zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Nach Vorliegen von Erfahrungen aus der Praxis sollen sie vielmehr neu diskutiert und gegebenenfalls revidiert werden können. Der Diskussion und Formulierung dieser Empfehlungen in der Kommission ist eine Anhörung von Vertreterinnen und Vertretern von drei Suizidhilfeorganisationen, der Rechtsmedizin, eines kantonsärztlichen Dienstes und einer kantonalen Staatsanwaltschaft vorausgegangen. Hintergrund ist auch die breit geführte Diskussion im Vorfeld der Stellungnahme 9/2005, die im Buch Beihilfe zum Suizid in der Schweiz. Beiträge aus Ethik, Recht und Medizin (Hrsg. Rehmann-Sutter/Bondolfi/Fischer/Leuthold; 2006) ihren Niederschlag gefunden hat. Die 12 Empfehlungen in der Stellungnahme 9/2005 „Beihilfe zum Suizid“ bilden einen integralen Bestandteil dieser Empfehlungen. 277 Quelle: www.nek-cen.ch, Publikationen: Stellungnahmen, Stand 10. März 2011 145 2. Ziel und Hintergrund Es ist das Ziel dieser Empfehlungen, darzustellen, welchen Schutz Personen, die den Wunsch haben zu sterben, gegenüber dem organisierten Angebot einer Hilfe zur Selbsttötung brauchen. Dies betrifft auch sterbewillige Menschen aus dem Ausland. Im Hintergrund steht die strafrechtliche Regelung gemäss Art. 115 StGB, die Beihilfe zur Selbsttötung ermöglicht, soweit sie nicht “aus selbstsüchtigen Beweggründen” erfolgt. Es gibt in der Schweiz heute keine weitergehenden gesetzlichen Anforderungen, die beispielsweise sicherstellen, dass der Beihilfe zum Suizid eine genügend sorgfältige, auch Alternativoptionen einschliessende Abklärung vorausgeht. Aus ethischer Sicht bewegt sich die Suizidbeihilfe zwischen zwei Polen: einerseits der gebotenen Fürsorge für suizidgefährdete Menschen, andererseits dem Respekt vor der Selbstbestimmung des Suizidwilligen. Beide Pole sind gleichermassen zu berücksichtigen. Die Kommission stützt aus ethischen Beweggründen die in der Schweiz gegebene Freiheit, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten. Die Empfehlung 5 (in 9/2005) stellte im Bezug auf die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen aber einen zusätzlichen gesetzlichen Regelungsbedarf fest. Die Kommission hatte zum Inhalt dieser Kriterien zwar bereits einige Kernpunkte festgehalten, jedoch keine Liste von Kriterien erarbeitet. Diese Lücke möchte sie nun füllen und gleichzeitig auf Missbrauchsgefahren aufmerksam machen. Die liberale rechtliche Situation lässt es zu, dass sich Sterbehilfeorganisationen innerhalb des rechtlichen Rahmens frei organisieren, dass sie sich selber Richtlinien geben und ihre Tätigkeit ausüben können. Zwischen der Hilfeleistung innerhalb einer Familien- oder Freundesbeziehung und dem organisierten Angebot zu einem sicheren und schmerzfreien Tod besteht ein wesentlicher Unterschied. Die Tatsache eines organisierten Angebotes verändert die Situation für Menschen mit einem Suizidwunsch. Es besteht die Gefahr, dass diese Organisationen einseitig auf das Prinzip der Selbstbestimmung des Menschen abstellen und dabei dem Schutz des Lebens, dem Gebot der Fürsorge im Sinn der Verantwortung für suizidgefährdete Menschen zu wenig Beachtung schenken. Für die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten an assistierten Suiziden im Kontext der Betreuung von Patienten und Patientinnen am Lebensende hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) im Jahr 2004 neue Richtlinien erlassen (Medizinisch-thischeRichtlinien der SAMW zur Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende vom 25. November 2004). Der Bundesrat hat es mit Entscheid vom 31. Mai 2006 zwar abgelehnt, eine staatliche Aufsicht über Sterbehilfeorganisationen einzurichten. In seinem Bericht anerkennt er gleichwohl, dass es Missbrauchspotentiale gibt, insbesondere bei schutzbedürftigen Personengruppen wie Jugendlichen, psychisch Kranken und terminalkranken Personen (Bericht des Eidgenössischen Justiz-und Polizeidepartments, Sterbehilfe und Palliativmedizin, Handlungsbedarf für den Bund? S. 3). Auf rechtlicher Ebene sind die 146 Behörden in der Pflicht, Missbrauch aufzudecken und strafrechtlich zu untersuchen. Diese Arbeit kann durch ethische Richtlinien unterstützt werden, welche die im Einzelfall aus Sicht des Lebensschutzes ausschlaggebenden Aspekte der Urteils- und Handlungsfähigkeit der Suizidwilligen, der Abklärungspflicht im Einzelfall und die Vertretungsverhältnisse differenzierter darstellen. 3. Definition der organisierten Suizidbeihilfe Als “organisierte Suizidbeihilfe” bzw. als “Suizidhilfeorganisation” soll im Rahmen dieser Empfehlungen eine Tätigkeit verstanden werden, die darin besteht, Hilfeleistungen für die Selbsttötung an vorher Unbekannte anzubieten oder Unbekannten zur Verfügung zu stellen. Diese Tätigkeit kann von Vereinen oder ähnlich organisierten Körperschaften, oder von Einzelpersonen (wenn sie die Hilfe zur Selbsttötung regelmässig durchführen und/oder sie an Unbekannte zur Verfügung stellen), angeboten werden. Eine Hilfeleistung in einer einzelnen, engen persönlichen oder familiären Beziehung, sowie eine einzelne und einzigartige Hilfeleistung im Rahmen einer umfassenden Beziehung zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient steht hingegen für diese Empfehlungen nicht im Zentrum, ebenso wenig der Suizid als solcher. 4. Empfehlungen bezüglich Abklärung von suizidwilligen Personen Folgende Mindestanforderungen müssen überprüft, erfüllt und dokumentiert sein, damit aus ethischer Sicht Suizidbeihilfe geleistet werden darf. 4.1 Es besteht Urteilsfähigkeit im Hinblick auf die Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe eines Dritten zu beenden. Erläuterungen: Die Urteilsfähigkeit kann nur in persönlichen, länger dauernden und wiederholten Gesprächen abgeklärt werden. Deren minimale Zeitdauer soll sich in erster Linie nach den konkreten Umständen richten, welche die Lebenssituation der sterbewilligen Person charakterisieren (ihre Bedürfnisse, die Komplexität der Probleme, die zum Suizidwunsch führen, der Krankheitsverlauf etc.). Sie soll nicht durch die Einschränkungen auf der Seite der Sterbehelfer bestimmt sein (z.B. durch ihre zeitliche Verfügbarkeit oder deren Distanz zum Lebensort des Sterbewilligen). Die erwachsene Person im Besitz der Urteilsfähigkeit ist im Allgemeinen die beste Zeugin und die beste Richterin ihrer Situation. Sie kann beurteilen, ob ihr Leiden zu gross ist. Wichtig ist, dass die eigene subjektive Sicht der suizidwilligen Person den Ausschlag gibt und nicht eine Beurteilung nach fremden Kriterien. Solange Zweifel an der Urteilsfähigkeit bestehen, darf Suizidbeihilfe nicht geleistet werden. 4.2 Der Suizidwunsch ist aus einem schweren, krankheitsbedingten Leiden entstanden. 147 Erläuterungen: Unter dem Aspekt des Schutzes des Lebens erscheint es als ethisch fragwürdig, organisierte Suizidbeihilfe an Personen zu leisten, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind, aus philosophischer Überzeugung nicht an ihrem Leben hängen, oder eine lebensverneinende Haltung haben. Autonomie ist ein zentraler Wert, aber für die organisierte Suizidbeihilfe nicht der Einzige. Der Schutz des Lebens und sozialethische Gründe bilden in nicht-krankheitsbedingten Fällen eine Grenze. Wenn kein von der Deklaration des Willens unabhängiger, darstellbarer Grund vorliegt, muss für die Organisation der Aspekt der Fürsorge (im Sinn des Lebensschutzes) Vorrang haben. Es sollen darum nur Personen in Frage kommen, die krankheitsbedingt (der Begriff der Krankheit wird in einem weiten Sinn verstanden. Er umfasst beispielsweise auch Leiden, die in Folge von Unfall oder schwerer Behinderung entstehen) schwer leiden. 4.3 Psychisch kranken Menschen, bei denen die Suizidalität ein Ausdruck oder Symptom der Erkrankung ist, soll keine Suizidbeihilfe gewährt werden. Erläuterungen: Psychisch Kranke möchten sich oft aus einem vorübergehenden oder behandelbaren Leiden das Leben nehmen. Zur Beurteilung, ob eine psychische Krankheit vorliegt, sind adäquate Kenntnisse psychischer Krankheiten erforderlich. Im Zweifelsfall ist der Beizug einer Fachperson nötig. 4.4 Der Sterbewunsch ist dauerhaft und konstant. Er ist nicht aus einem Affekt oder aus einer absehbar vorübergehenden Krise entstanden. Erläuterungen: Der Faktor Zeit kann die Lebenslage, in der ein Sterbewunsch entsteht, verändern. Zudem ist die Endgültigkeit des Sterbewunsches davon abhängig, dass er im Hinblick auf die Gesamtsituation genügend reflektiert ist. Dies bedarf ausreichender Zeit („Bedenkzeit“). Es ist allerdings nicht möglich, ein objektives Zeitmass anzugeben, bis ein Sterbewunsch als „konstant“ gelten kann. Wie viel Zeit eingeräumt werden muss, soll einerseits davon abhängen, ob sich die Lebenslage aus Sicht der abklärenden Person absehbar wesentlich verändern und sich damit der Sterbewunsch verringern kann. Andererseits soll in die Beurteilung der nötigen Zeitspanne auch einfliessen, ob die Gesamtsituation genügend bedacht werden konnte. 4.5 Der Wunsch zum Suizid ist frei von äusserem Druck zustande gekommen. Erläuterungen: Beispiele äusseren Druckes können sein: Druck von Seiten Angehöriger, soziale Isolation, den Angehörigen „Zur-Last-Fallen“, finanzielle Engpässe, die bei der betroffenen Person auch Angst vor fehlender oder mangelhafter Betreuung und Fürsorge entstehen lassen. Solche beispielhaft genannten Druckfaktoren dürfen für den Sterbewunsch nicht ausschlaggebend sein. 148 Wichtig ist, dabei im Auge zu behalten, dass Druckfaktoren auch als subjektive Befürchtungen vorhanden sein können, ohne objektiv feststellbar zu sein. Diese Faktoren entfalten dennoch ihre Wirkung. Die Abklärung, ob die Entscheidung frei von äusserem Druck zustande gekommen ist, verlangt zwingend das individuelle Gespräch, ohne Beisein von Angehörigen oder Dritten, von denen eine mögliche Beeinflussung ausgehen könnte. Dies schliesst eine gemeinsame Abklärung von zwei oder mehreren Personen aus, die gemeinsam Suizid begehen möchten (z.B. Paarsuizide). Denn dort ist das Risiko hoch, dass die Initiative nicht von beiden Partnern gleichermassen ausgeht und der Entschluss für den einen der Partner nicht frei zustande kommt. 4.6 Alle alternativen Optionen sind abgeklärt, mit dem Suizidwilligen erwogen und geprüft sowie gemäss seinem Wunsch ausgeschöpft. Erläuterungen: Die Situation muss daraufhin geprüft werden, ob sie auf anderem Weg zu Gunsten der Person verändert werden kann. Bei der Frage, wie weit man gehen muss, um alternative Optionen (wie ärztliche Behandlung, Sozialhilfe, Therapie) nicht nur abzuklären, sondern auch auszuschöpfen, muss der Wunsch der sterbewilligen Person berücksichtigt werden. 4.7 Persönliche, mehrmalige Kontakte und intensive Gespräche sind unab- dingbar. Eine Abklärung aufgrund einer einmaligen Begegnung oder auf dem Korrespondenzweg ist ausgeschlossen. Erläuterungen: Die Feststellung der Urteilsfähigkeit bleibt auch bei sorgfältigster Abklärung von der subjektiven Wahrnehmung, den Werten, der Lebenserfahrung und der Gesprächsfähigkeit des Abklärenden abhängig. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die Person, welche die Abklärungen durchführt. Es ist wesentlich, dass die Lebenssituation einer suizidwilligen Person erfasst und dokumentiert wird. Dazu gehören die Kenntnisse über das schwere, krankheitsbedingte Leiden, und Informationen über das psychosoziale Umfeld sowie die Lebensgeschichte, unter Berücksichtigung des Rechtes des Suizidwilligen auf Achtung der Privatsphäre. Dazu sind mehrmalige und persönliche Begegnungen und Gespräche unabdingbar. So kann garantiert werden, dass die Konstanz des Sterbewunsches über längere Zeit überprüft und bestätigt wird. Gleichzeitig ist aber darauf zu achten, dass die sorgfältige Abklärung die Leidenszeit nicht unnötig verlängert. 4.8 Eine unabhängige Zweitmeinung kommt zum gleichen Schluss. Erläuterungen: Es ist wichtig, dass die Beurteilung der Situation nicht nur durch eine einzige Person erfolgt, sondern durch eine zweite, von der ersten unabhängige Beurteilung überprüft wird. Diese Zweitmeinung soll von einer dafür kompetenten Person stammen. 149 5. Hinweise zur Vorbeugung von Missbrauch Neben den Empfehlungen macht die NEK-CNE Hinweise auf weitere Bereiche, die aus ihrer Sicht eine besondere Missbrauchgefahr beinhalten. In diesen besonders sensiblen Bereichen gilt es, vorbeugende Massnahmen zu treffen, um Missbräuche der straffreien Suizidbeihilfe in entsprechenden Organisationen einzuschränken. – Es darf nicht um direkter oder indirekter finanzieller Vorteile willen gehandelt werden – Das Motiv zur Suizidbegleitung kann ethisch heikel sein. Ethisch nicht vertretbar sind das Ausnützen einer Notlage, die Befriedigung am Tod (Thanatophilie) oder ideologische Gründe. – Suizidbeihilfe kann Suizidbegleiter überfordern, beispielsweise durch zu viele Begleitungen oder mangelndes de-briefing. – Mangelnde Transparenz von Organisation und Management (inkl. Buchhaltung) einer Suizidhilfeorganisation oder mangelnde Kontrolle durch organisationsinterne und – externe Personen, resp. Sachverständige können die Missbrauchsgefahr erhöhen. Die Gefahr besteht vor allem, wenn es sich bei der Organisation um einen nichtdemokratisch organisierten Verein mit dominanter Führungsperson oder einen Kreis handelt, der einer bestimmten Ideologie nahe steht. 150 7 Literatur- und Quellenverzeichnis [Anonym]: Gegen ein vollständiges Verbot jeglicher Suizidhilfe. Regierungsrat empfiehlt Ablehnung der EDU-Volksinitiative. In: Neue Zürcher Zeitung, 26.2.2010, S. 16. [Anonym]: Recht zu sterben. In: Der Spiegel, 5.2.1973, S. 74. [Anonym]: Sterbehilfe in der Schweiz: die rechtliche Situation. In: Beobachter, Ausgabe 6 vom 16. März 2001. [Anonym]: Sterbehilfe in der Schweiz. Internationale Sonderrolle in der Beihilfe zum Suizid. In: NZZ Online, 18.6.2003. [Anonym]: Strikte Auflagen für organisierte Sterbehilfe. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.10.2009, Nr. 251, S. 11, 23. [Anonym]: Vorentwurf: Schweizerisches Strafgesetzbuch (StGB) und Militärstrafgesetz (MStG) (Organisierte Suizidhilfe). Bern 2009. 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