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Ernst Wawra über: Jay Bergman Meeting the Demands of Reason.
The Life and Thought of Andrei Sakharov. Cornell University Press
Ithaca, NY, London 2009. XVII. ISBN: 978-0-8014-4731-0
First published: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas /
jgo.e-reviews, jgo.e-reviews 2011, 2
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Ausgabe: jgo.e-reviews 2011, 2
Verfasst von: Ernst Wawra
Jay Bergman: Meeting the Demands of Reason. The Life and
Thought of Andrei Sakharov. Ithaca, NY, London: Cornell
University Press, 2009. XVII, 454 S., 15 Abb. ISBN:
978-0-8014-4731-0.
Atomwissenschaftler, Menschenrechtler und Abgeordneter des
Volksdeputiertenkongresses – dies sind die drei wesentlichen Stationen
im Leben Andrej D. Sacharovs. 1921 geboren, studierte er an der
Lomonossov-Universität Physik und war führend an der Entwicklung der
Wasserstoffbombe beteiligt. Obwohl mit vielen Ehrungen und Preisen
ausgezeichnet – genannt seien hier nur die Wahl zum Vollmitglied der
Akademie der Wissenschaften, „Held der Sozialistischen Arbeit“ oder
„Stalinpreis“ – wandte er sich seit den sechziger Jahren immer stärker
den Andersdenkenden zu und brach schließlich mit dem politischen
System, von dem er doch so stark profitiert hatte. Für seinen Einsatz für
Menschenrechte wurde er 1975 mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnet, 1980 nach Gor’kij verbannt. Erst 1986 durfte er
zurückkehren und arbeitete als gewählter Volksdeputierter an der neuen
Verfassung mit. Am 14. Dezember 1989 verstarb Sacharov in seiner
Wohnung in Moskau. Bereits nach dieser kursorischen Betrachtung
seines Lebens drängt sich vor allem eine Frage auf: Wie und warum
vollzog sich der Wechsel vom erfolgreichen sowjetischen Wissenschaftler
hin zu einem führenden Mitglied der sowjetischen Bürger- und
Menschenrechtsbewegung? Warum wagte er eine Konfrontation mit dem
System, in dem er doch so rasant Karriere gemacht hatte?
Unter dem Titel „Meeting the Demands of Reason. The Life and Thought
of Andrei Sakharov“ erschien – nach denen von Gennadij E. Gorelik
(Nauka i svoboda, 2004) und Richard Lourie (Sakharov. A Biography,
2002) – eine neue Biographie über Sacharov, die sich eben auch jene
Fragen stellt. Jay Bergman hat als Desiderat erkannt, dass sich die
bisherigen Arbeiten vor allem auf Sacharovs privates, wissenschaftliches
und öffentliches Leben konzentrierten, dabei aber eine stringente
Analyse seiner Ideen und Konzepte vernachlässigten. (S. XIV) Diese
Lücke will er schließen und „not only the content of his ideas but how
they evolved in response to changes both in his personal circumstances
and in the larger political enviroment in which he lived“ (S. XIV)
darstellen. Als grobes Raster dienen ihm hierfür drei Leitfragen: 1. Wie
wurde Sacharov Dissident? 2. Worin bestand eben diese Dissidenz? und
3. Welchen Beitrag leistete Sacharov zum Kollaps der Sowjetunion 1991
(S. XII)?
Die vorliegende Biographie gliedert sich in acht Teile, wobei sich deren
insgesamt 25 Kapitel an den zu erwartenden biographischen
Einschnitten – Jugend, Ausbildung, „Großer Vaterländischer Krieg“, erste
Schritte in die „andersdenkende Öffentlichkeit“, Einsatz für Bürger- und
Menschenrechte und Friedensnobelpreis, Verbannung und die Zeit nach
der Rückkehr – orientieren. In den ersten drei Teilen (S. 3–131) stellt
Bergman präzise und sachkundig Sacharovs Entwicklung vom
Atomwissenschaftler zum Dissidenten dar. Es gelingt ihm dabei, dem
Leser Sacharovs Wandlung schlüssig darzulegen, und er macht diese
anhand der entscheidenden Stationen deutlich: seines Einsatzes für eine
Einstellung der atmosphärischen Kernwaffentests, der Demütigung
durch Nikita S. Chruščev, seines Erfolgs bei der Verhinderung der Wahl
von Nikolai I. Nuždin, seines Einsatzes für den Schutz des Baikalsees und
schließlich seiner Teilnahme an der Demonstration auf dem Moskauer
Puškin-Platz.
Daran schließen sich die Teile vier bis sechs an (S. 133–329), in denen
der Autor anschaulich die verschiedenen Arten und Formen der
„dissidentischen“ Tätigkeit Sacharovs beschreibt. Seine „Gedanken über
Freiheit, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“, seine enorme
Bedeutung für die Bürger- und Menschenrechtsbewegung, die
Verleihung des Friedensnobelpreises, aber auch die private und
persönliche Entwicklung, z.B. die Heirat mit seiner zweiten Frau Elena
Bonnėr, einem „[e]qual Partner in Politics and Life“ (S. 153–157), finden
hier Erwähnung.
Der siebte und letzte Teil (S. 331–411) möchte die Frage nach dem
Beitrag Sacharovs für den Zerfall der Sowjetunion beantworten, vermag
aber inhaltlich nicht zu überzeugen. Zwar widmet sich Bergman darin
der Zeit nach Sacharovs Rückkehr aus der Verbannung und während
seines politischen Engagements als Volksdeputierter, allerdings fasst er
dabei nur die allgemeinen Geschehnisse zusammen. Und so bleiben für
die Erörterung dieser Frage letztlich nicht mehr als Allgemeinplätze. Des
weiteren stört bei der Lektüre des letzten Teils, dass Bergman –
beispielsweise in Kapitel 23 – die bis dahin eingehaltene chronologische
Erzählweise aufgibt und thematisch und zeitlich zwischen Fragen des
Umweltschutzes, der Wirtschaft, der Presse, des Mehrparteiensystems,
der Vorkommnisse in Berg-Karabach und schließlich auch der Gründung
von Memorial hin- und herspringt, nicht ohne jedoch bei jeder
(un)möglichen Gelegenheit anzumerken, dass es sich um „the last
weeks“ (S. 356), „the last months“ (S. 368) oder eben „the last years of
his life“ (S. 367) handelte, in welchen die geschilderten Geschehnisse
stattfanden.
Hauptgrundlage für Bergmans Untersuchung der Ideen und Gedanken
Sacharovs sind dessen Autobiographie und Schriften sowie die
Erinnerungen Bonnėrs. Daher ist es überraschend, dass die von Bonnėr
herausgegebene achtbändige Ausgabe „Sobranie sočinenij – Gesammelte
Werke“ (Trevoga i nadežda, Vospominanija i Dnevniki) aus dem Jahr
2006, die Sacharovs Aufsätze, Briefe, Reden und Interviews,
Erinnerungen und Tagebücher beinhaltet, nicht in die im Anhang
befindliche Bibliographie mit aufgenommen wurde. In dieser finden sich
vor allem englische Übersetzungen von Sacharovs Aufsätzen, Interviews
und Erinnerungen aus den Jahren 1947 bis 1996; doch trotz dieser
Unvollständigkeit erhält vor allem ein nicht-russischsprachiger Leser
einen breiten Eindruck von Sacharovs wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Tätigkeit. Es ergibt sich aus Bergmans
Vorgehensweise, die Appelle, Briefe oder Essays Sacharovs ausführlich
zu paraphrasieren, dass man viel Bekanntes liest und leider wenig
Überraschendes bzw. gar Neues erfährt. Am auffälligsten zeigt sich dies
im Kapitel 7 „Confronting Khrushev“ (S. 92–105), in welchem er auf nicht
weniger als 14 Seiten letztlich das entsprechende Kapitel aus der
Autobiographie Sacharovs nacherzählt, ohne dabei dessen Erinnerungen
zu hinterfragen. Zwar ist es zu begrüßen, die Hauptperson selbst
ausführlich „zu Wort kommen zu lassen“, allerdings vermisst man doch
oft die nötige historische Einordnung und Kommentierung, die über eine
zum Teil reine Wiederholung der Worte Sacharovs hinausginge.
Die geäußerte Kritik soll jedoch die Leistung Bergmans nicht schmälern,
denn er hat fundiert und präzise die Ideen und Gedanken Sacharovs
dargestellt. So liegen die Stärken dieser Biographie eindeutig in den
ersten Kapiteln, also in der Nachzeichnung der Entwicklung vom
Atomwissenschaftler über den systemimmanenten Kritiker hin zu einem
Mitglied der sowjetischen Bürger- und Menschenrechtsbewegung und in
der Beschreibung Sacharovs in seinem Einsatz für zum Teil völlig fremde
Menschen und unterschiedlichste Themengebiete innerhalb seines
bürger- und menschenrechtlichen Engagements. So ist es in der
Gesamtschau Bergman, der die Biographie von Richard Lourie als „[t]he
most recent“ (S. XIV) beschrieben hat, bei allen genannten
Einschränkungen gelungen, über sein Vorbild hinauszugehen und somit
dem Leser den im Westen wohl bekanntesten Andersdenkenden der
siebziger Jahre in der Sowjetunion nahezubringen. Wer sich mit Sacharov
beschäftigen will, wird zurecht zur hier vorliegenden Biographie greifen,
auf eine die russischen Archivquellen berücksichtigende Untersuchung
muss man jedoch noch warten. „Writing a biography of Andrei Sakharov
is not easy.“ (S. XIII)

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