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Bern, 26. Juni 2016, von Stephan Suhner
Weitreichender Entscheid des Verfassungsgerichts löst Kontroverse über Bergbau und
Unabhängigkeit der Justiz aus
In den vergangenen Jahren war das kolumbianische Verfassungsgericht ein wichtiger Akteur,
um der Bergbaulokomotive gewisse Schranken zu setzen und die Grundrechte der
verletzlichsten Bevölkerungsgruppen zu schützen. Mit dem bisher letzten Urteil vom 9. Juni
2016 hob das Verfassungsgericht die Strategischen Bergbauzonen AEM (Áreas Estratégicas
Mineras) auf, eines der Kernelemente der Bergbau-Entwicklungsstrategie der Regierung
Santos. Die Bergbauindustrie beklagte sich daraufhin, dass das Verfassungsgericht teilweise
ideologische Urteile fälle und diese zu rechtlicher Unsicherheit und letztendlich zu weniger
Investitionen führen. Dieser Angriff des Minensektors auf das Verfassungsgericht veranlasste
rund 80 Persönlichkeiten, eine lange Stellungnahme zu verfassen, worin sie festhielten, dass
die Urteile des Verfassungsgerichts vielmehr zeigen, wie fragwürdig und heikel viele
Entscheide im Bergbausektor gewesen seien, und mit den Urteilen die notwendigen
Korrekturen vorgenommen würden.
Am 9. Juni 2016 hat das Verfassungsgericht das Urteil T-766-20151 veröffentlicht, mit dem die
Verfügungen Nr. 180241 und Nr. 0045 von 2012 und Nr. 429 von 2013 aufgehoben wurden.
Damit sind die Strategischen Bergbauzonen AEM (Áreas Estratégicas Mineras), die das
Bergbauministerium und die Nationale Bergbauagentur vergeben wollten, ungültig.
Ausgangspunkt für diesen wegweisenden Entscheid war eine Tutela, eine Grundrechtsklage,
die die Menschenrechtsorganisation Tierra Digna im Namen von sechszehn
afrokolumbianischen Gemeinschaftsräten und des interethnischen Forums des Chocó FISCH
eingereicht hatte. Mit dieser Tutela sollten die Rechte der betroffenen Gemeinschaften auf
vorgängige Konsultation, auf das Territorium, die ethnische Diversität und das Mitspracherecht
geschützt werden.
Das Verfassungsgericht argumentierte, Verfügungen wie diejenige, die die AEM schaffen,
müssten zwingend einen Prozess der vorgängigen Konsultation durchlaufen, denn allein ihre
Anordnung habe schwerwiegende Folgen für die betroffenen Gemeinschaften. Weiter hielt das
Verfassungsgericht fest, dass alle Massnahmen der öffentlichen Politik, so auch bezüglich des
Bergbaus, sofern sie die Ausübung der Rechte ethnischer Minderheiten gefährden, vorgängig
konsultiert werden müssen. Falls die territorialen Rechte ethnischer Gemeinschaften schwer
betroffen wären, müssten diese Gemeinschaften klar ihre vorgängige, freie und informierte
Zustimmung geben, bevor diese Massnahmen umgesetzt werden können. Das
Verfassungsgericht hielt ebenfalls fest, dass es sich bei der Konsultation um ein Grundrecht
handle, das einen Dialog ohne Zwang und Aufdrängen bedinge, und dass staatliche
Massnahmen nur legitim sind, wenn dieses Grundrecht vollständig respektiert wird.2
Die Strategischen Bergbauzonen AEM hätten sich über eine Fläche von 20 Millionen Hektaren
in den Departementen Antioquia, Bolívar, Caldas, Cauca, Cesar, Chocó, Huila, La Guajira,
Nariño, Norte de Santander, Putumayo, Quindío, Risaralda, Tolima, Valle del Cauca,
Amazonas, Guainía, Guaviare, Vaupés und Vichada erstreckt. Dies entspricht mehr als 20%
der Landesfläche. Es handelt sich bei den AEM um eines der Kernelemente der Bergbaupolitik
der Regierung Santos: analog zum Erdölsektor sollten auch beim Bergbausektor grosse
1
Vollständiges Urteil siehe http://www.corteconstitucional.gov.co/relatoria/2015/T-766-15.htm
Medienmitteilung von Tierra Digna, 11. Juni 2016, http://tierradigna.org/2016/06/11/corte-constitucional-deja-sinefectos-juridicos-areas-estrategicas-mineras-delimitadas-en-colombia/
2
Blöcke mit grob bekanntem Potenzial an abbaubaren Mineralien in sogenannten
Bergbaurunden vergeben werden. Das vorliegende Urteil des Verfassungsgerichts ist deshalb
ein schwerer Rückschlag für Santos‘ Bergbaupolitik. Das Problem ist, dass die Zonen, die
hätten vergeben werden sollen, sich häufig mit wertvollen Ökosystemen wie dem Chocó und
dem Amazonas-Regenwald, aber auch mit den Páramos (hochgelegene Moorlandschaften)
überschneiden.3 Während der Bergbausektor für eine Überarbeitung (Abschwächung) der
vorgängigen Konsultation Lobby betreibt, die ihm mehr Rechtssicherheit geben sollte, setzen
sich Umweltorganisationen für einen stärkeren Schutz bedrohter und wichtiger Ökosysteme
ein. Dieser Machtkampf dürfte je nach Ausgang zu weiteren internationalen Klagen von
Unternehmen gegen den kolumbianischen Staat führen, wie es kürzlich mit der kanadischen
Firma Cosigo Resources wegen einer Bergbaukonzession in der Region Tarairá der Fall war.
Dieses Urteil war es auch, das für die Bergbauindustrie das Fass zum Überlaufen brachte und
sie veranlasste, öffentlich darüber zu klagen. Die Urteile des Verfassungsgerichtes scheinen
den Verband der Minenunternehmen weit mehr zu belasten als die Tatsache, dass die
ausländischen Investitionen in den Bergbau 2014 um 47% und 2015 um 66% zurückgingen
und dass die Preise für Kohle und Nickel um 32% respektive 48% fielen. Der Bergbausektor
analysierte die Urteile des Verfassungsgerichtes von 2010 bis 2016 und stellte fest, dass von
25 Urteilen nur zwei zu Gunsten des Bergbaus ausgegangen waren. 24 der Urteile betrafen
Grundrechtsklagen – Tutelas – aber nur eine der behandelten Tutelas stammte von einem
Unternehmen. Der Verband vermutet, dass das Verfassungsgericht vorwiegend
Grundrechtsklagen einer Revision unterzieht, die von NGOs und Gemeinschaften eingereicht
werden und Unternehmen damit benachteiligt. Ein hoher Vertreter des Sektors sagt, das
Verfassungsgericht urteile nicht gemäss den Gesetzen, sondern geleitet von ideologischen
Schlagseiten der obersten Richter. Gemäss dieser Stimme gebe es eine Gruppe von Richtern,
die gegen den Bergbau eingestellt seien. Die Verfassungsrichter selber sagen, es gehe darum,
die Rechte der Schwächsten zu schützen, und dass die Verfassung der Wirtschaft einige
grundsätzliche Grenzen setze, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht über allem stehe. Zu
den kritisierten Urteilen gehören auch das Verbot des Bergbaus in Páramos, die Streichung
des Art. 37 des Bergbaugesetzes (wonach Gemeinden keine Zonen vom Bergbau ausnehmen
dürfen) und verschiedene Urteile gegen die Eisenbahnbetreiberin FENOCO zum Schutz
ethnischer Minderheiten und der Grundrechte der AnwohnerInnen der Kohlenzüge von
Glencore und Drummond.4
Rund 80 Persönlichkeiten, NGO-VertreterInnen, UniversitätsprofessorInnen, Umwelt- und
BergbauexpertInnen veröffentlichten am 19. Juni 2016 eine Erklärung5, in der sie die Urteile
des Verfassungsgerichtes verteidigen und gegen die Argumente des Bergbausektors Stellung
nehmen. Die Unterzeichnenden hielten fest, dass der Bergbausektor, wenn er nun juristische
Unsicherheit und für seine Interessen negative Effekte aufgrund der Urteile beklage, vergesse,
dass er in den letzten Jahren enorm davon profitiert hatte, dass die Bergbaupolitik und die
darauf aufbauenden Entscheide wichtige Grundrechte der Verfassung von 1991 missachtet
hätten. Die Urteile des Verfassungsgerichts seien vielmehr als Versuch zu sehen, Aktivitäten
wie den Bergbau verfassungskonform zu gestalten. Die im Artikel von El Tiempo kritisierten
Urteile zeigen genau, wie die jüngsten Regierungen Entscheidungen einseitig zu Gunsten der
Bergbauinteressen fällten, die die Grundrechte vieler KolumbianerInnen verletzten. Nicht das
Verfassungsgericht und die Verteidigung der verfassungsmässigen Grundrechte sei eine
ideologische Schlagseite, vielmehr sei die einseitige Förderung des Bergbaus und der
Rohstoffausbeutung eindeutig eine ideologische Einseitigkeit der letzten Regierungen. Letzten
Endes ziele die Kritik des Bergbausektors darauf ab, strukturelle Probleme des Staates zu
verkennen, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschränken und die Einforderung der
Grundrechte polemisch zu politisieren.
3
http://www.elespectador.com/noticias/medio-ambiente/corte-constitucional-frena-seco-locomotora-mineraarticulo-637308
4 http://www.eltiempo.com/economia/sectores/fallos-en-contra-de-la-mineria-en-la-corte-constitucional/16620528
5 http://www.ambienteysociedad.org.co/es/los-fallos-de-la-corte-denotan-los-problemas-constitucionales-de-lamineria-en-colombia-no-un-sesgo-ideologico/