Hausarbeit Vom Mythos zur Popkultur – Das Vampir-Genre
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Hausarbeit Vom Mythos zur Popkultur – Das Vampir-Genre
Technische Universität Chemnitz Philosophische Fakultät Professur Mediennutzung Hausarbeit Vom Mythos zur Popkultur – Das Vampir-Genre im Wandel der Zeit vorgelegt von Luise Köhler Matr.-Nr. 139593 Dozent Dipl.-Ing Georg Valtin, M.A. Seminar Faszination Mystery: Die mediale Inszenierung des Rätselhaften, Sommersemester 2009 Chemnitz, 01. Juli 2010 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung........................................................................................................................... 1 2 Vampir-Mythos…………………………………………………………………………. 2 2.1 Der abendländische Vampir………………………………………………………………….. 2 2.2 Herkunft und Entwicklung des Vampir-Begriffs…………………………………………….. 3 2.3 Der Vampir im Menschen…………………………………………………………………. 3 3 Das Vampir-Genre……………………………………………………………………… 4 3.1 Einflüsse……………………………………………………………………………………… 4 3.1.1 Fantasy………………………………………………………………………………….. 5 3.1.2 Horror…………………………………………………………………………………… 8 3.1.3 Mystery…………………………………………………………………………………. 11 3.2 Charakterisierung…………………………………………………………………………….. 14 3.3 Der Vampirfilm………………………………………………………………………………. 15 3.3.1 Versuch einer formalen Einordnung……………………………………………………. 15 3.3.2 Funktionen……………………………………………………………………………… 17 3.3.2.1 Der Vampirfilm als Spiegel der Gesellschaft…………………………………... 18 3.3.2.2 Die Vampir-Metapher und Sexualität…………………………………………... 19 3.3.3 Zielgruppe………………………………………………………………………………. 20 4 Der gesellschaftsfähige Vampir als popkulturelles Phänomen..................................... 21 4.1 Die ‚Twilight‘-Saga: Ursprung eines Vampir-Hypes………………………………………... 21 4.2 Das neue Vampirbild………………………………………………………………………… 21 4.3 Der Fan als ‚Opfer‘…………………………………………………………………………... 23 4.4 Vampirismus und Populärkultur………………...…………………………………………. 24 5 Fazit und Ausblick............................................................................................................ 26 6 Literaturverzeichnis……………………………………………………………………. 27 7 Eidesstattliche Erklärung................................................................................................. 30 1 Einleitung „Es gab drei Dinge, deren ich mir absolut sicher war: Erstens, Edward war ein Vampir. Zweitens, ein Teil von ihm – und ich wusste nicht, wie mächtig dieser Teil war – dürstete nach meinem Blut. Und drittens, ich war bedingungslos und unwiderruflich in ihn verliebt.“1 Isabella Swan hat ihr Herz an einen Vampir verloren. – Und mit ihr Millionen von Mädchen auf der ganzen Welt. Die ‚’Twilight’‘-Saga der Autorin Stephenie Meyer, welche die Geschichte von dem Vampir Edward und seiner menschlichen Geliebten erzählt, hat eine neue Phase des Vampir-Genres eingeläutet. Fernab von gesellschaftlich verankerten Mythen um die geheimnisvollen und gefährlichen Blutsauger, kreiert die Autorin ein neues Vampirbild. Das einst rücksichtslose, egoistische Monstrum ist gezähmt und tritt in Form eines aufopferungsvollen Liebhabers in Erscheinung. Für die Zielgruppe, weibliche Teenager und junge Erwachsene, ist Edward, der Prototyp des neuen Vampirs, schnell zum Idol avanciert. Rund um die ‚’Twilight’‘-Saga hat sich somit eine riesige, internationale Fangemeinschaft gebildet, die vorwiegend über das Internet den Vampirismus-Diskurs zum populärkulturellen Gegenstand werden ließ. Die neue Vampir-Begeisterung stellt jedoch nur den vorläufigen Höhepunkt einer langen GenreGeschichte dar. Bereits seit der Entstehung des Vampir-Glaubens übt der Mythos vom blutsaugenden Wesen eine enorme Faszination auf die Menschen aus. Grund dafür ist seine Anlehnung an menschliche, meist tabuisierte Bedürfnisse und Wünsche, die mit Hilfe der Vampir-Metapher zum Ausdruck gebracht werden können. Ziel der vorliegenden Arbeit soll es sein, die Entwicklung des Vampir-Genres und seine Funktionen im Rahmen gesellschaftlicher Kontexte nachzuzeichnen. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über die Entstehung des Vampir-Mythos und eine Charakterisierung des ‚klassischen‘ Vampirs, wie er im Volksglauben verankert ist. Im Anschluss soll das Vampir-Genre als multidimensionales und historisch variables Genre analysiert werden. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt hierbei auf dem Vampirfilm, welcher sich im Laufe seiner Entwicklung vom Sub-Genre des Horrorfilms zum zielgruppenspezifischen Unterhaltungsmittel ausdifferenziert hat. Abschließend erfolgt eine Skizzierung der aktuellen Vampir-Begeisterung, welche durch die Verfilmung der ’Twilight’-Romane von Stephenie Meyer ausgelöst wurde. 1 Meyer (2008), S. 206 1 2 Vampir-Mythos Bereits seit mehreren tausend Jahren ist der Vampir-Mythos weltweit im Aberglauben der Menschen verankert. Die Vorstellungen vom Wesen der blutsaugenden Geschöpfe unterscheiden sich jedoch aufgrund vielfältiger regionaler Überlieferungen. Je nach Glaubensauffassung und angelehnt an gesellschaftliche Konventionen werden dem Vampir bestimmte Merkmale zu- bzw. abgesprochen. Eine allgemeingültige ‚Idee‘ des Vampirs existiert demnach nicht. So war beispielsweise der Glaube an die auferstehenden Toten, die Wiedergänger, für die Entstehung des Bildes vom modernen, westlichen Vampir sehr einflussreich. In Regionen hingegen, wo die Erdbestattung ungebräuchlich ist, zählt dieses Charakteristikum nicht zum Wesen des Vampirs.2 2.1 Der abendländische Vampir Im Folgenden soll nun der Typus des abendländischen Wiedergänger-Vampirs näher betrachtet werden. Dieser hat sich in der westlichen Welt als ‚klassische‘ Vorstellung vom Vampir herausgebildet und wird von Norbert Borrmann3 wie folgt beschrieben: „Es handelt sich bei ihm um einen Toten, der nachts sein Grab verläßt [sic.], um seinen Opfern das Blut auszusaugen. Er greift Menschen und in der Not auch Tiere an. Tagsüber muss er in seinem Grabe liegen.“4 Desweiteren sei der Leichnam des Vampirs nicht eziehungsweise nur gering verwest und weise zudem Zeichen auf, die seine Lebendigkeit belegen. So würden beispielsweise die Haare und Nägel wachsen. Bei männlichen Vampiren könne zudem eine Erektion auftreten. Je nachdem, wie viel Blut er getrunken habe, würde sich, so die Legende, der Körperumfang des Vampirs verändern. Für seine Opfer stelle der Vampir eine Gefahr dar, weil sie nach ihrem Tod ebenfalls zu Vampiren werden würden. Wolle man einen solchen Blutsauger töten, müsse man ihn ausgraben, einen Pfahl ins Herz stoßen und den Leichnam verbrennen.5 Erste Aufzeichnungen über diese Wiedergänger-Vampire stammen aus England. Bereits zum Ende des 12. Jahrhunderts berichtete man dort von deren Wirken. Knapp 200 Jahre später häuften sich im DeutschRömischen Reich schriftliche Darstellungen über auferstehende Tote, die den Menschen Furcht einflößen. Solche ‚Vampirzeugnisse‘ lassen sich nahezu in ganz Europa finden, wobei deren Existenz nicht belegen kann, „wie lange der Vampirglaube in der entsprechenden Region bereits verbreitet war“6. Besonders viele und einflussreiche Berichte kamen aus dem Balkan. Die dort vorherrschende Multikulturalität und 2 vgl. Borrmann (1999), S.12/13 Norbert Borrmann setzt sich in seiner Monografie „Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit“ ausführlich mit der Vampirthematik und ihren gesellschaftlichen Bezügen auseinander. 4 ebd. S. 49 5 vgl. ebd., S. 49/50 6 ebd., S. 50 3 2 Glaubenskämpfe zwischen Moslems und Christen förderten die Entwicklung und Verbreitung des Vampir-Mythos‘. Spätestens seit der Veröffentlichung von Bram Strokers Roman ‚Dracula‘ im Jahr 18977, gilt Rumänien besziehungsweise Transsilvanien als ‚Geburtsort‘ der Vampire. Aus dieser Gegend stammt auch der inzwischen weltweit verbreitete Glaube, man könne, „neben dem kirchlichen Abwehrzauber“8, Knoblauch als wirksames Mittel gegen Vampire einsetzen. 2.2 Herkunft und Entwicklung des Vampir-Begriffs Die unterschiedlichen Ursprünge und Ausprägungen des Vampirglaubens haben dazu geführt, dass es etliche Bezeichnungen für die Vampirgestalt gibt. Allein im Griechischen existieren fünf verschiedene Namen, mit denen man die mythologischen Wesen benennen kann. Im Deutschen verwendet man häufig den Ausdruck ‚Blutsauger‘ als Synonym für ‚Vampir‘. Die Herkunft des Vampir-Begriffs sei, so Borrmann, jedoch nicht eindeutig geklärt. Man nehme an, dass er auf das makedonische Wort ‚opyr‘ zurück zu führen sei, welches soviel bedeutet, wie ‚fliegendes Wesen‘. Im Slawischen und Serbischen entstand daraus vermutlich die modifizierte Bezeichnung ‚vanpir‘. Diese wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstmals auch in der deutschen Sprache verwendet und mündete schließlich, nach einigen Variationen, im heute gängigen Vampir-Begriff. Zunächst bezeichnete man damit ausschließlich blutsaugende Wiedergänger, begann jedoch bald darauf, dem Wort eine soziale Konnotation zuzusprechen.9 Gegenwärtig kann der Ausdruck ‚Vampir‘ „auf jede Form von parasitärer oder raubtierhafter Existenz hinweisen, gleichgültig ob damit ein widernatürlich weiterlebender Untoter gemeint ist oder ein äußerst diesseitiges und vitales Ausbeuternaturell“10. 2.3 Der Vampir im Menschen „Mythos, Sage, Kunst und Literatur belegen, daß [sic] die Gestalt des Vampirs allen Menschen vertraut ist.“11 Der Vampir lässt sich somit als eine Allegorie des Menschen beschreiben. Borrmann erweitert diese These und spricht diesbezüglich sogar vom ‚Vampirprinzip‘, welches das gesamte „irdische Leben“12 bestimme. Das zentrale Motiv stellt für ihn dabei das ‚Blutsaugen‘ dar. Es stehe symbolisch für eine Art Parasitismus: „Um sich am Leben zu erhalten, muss man etwas einsaugen, sich anderes Leben einverlei- 7 vgl. Borrmann (1999), S.71 ebd. S. 51 9 vgl. ebd. (1999), S.13 10 ebd. 11 ebd., S.11 12 ebd. 8 3 ben. Und im Regelfall beruht das vampiristische Gedeihen des einen Lebens auf dem Nichtgedeihen des einverleibten Lebens.“13 Generell beinhaltet der Vampirglaube zahlreiche sozialpsychologische Bezüge. So geht die Psychoanalyse davon aus, dass diese mythische Figur vom Menschen ‚geschaffen‘ wurde, um „tabuisierte Konflikte“14 zu bewältigen. Hierbei handelt es sich insbesondere um „menschliche Ängste und Wünsche im Bereich von Sexualität und Tod“15. Für Margit Dorn, die sich in ihrer Monografie mit den sozialen Funktionen des Vampirfilms auseinander setzt, sind dabei zwei zentrale Motive von wichtiger Bedeutung: Zum einen der Aspekt der Wiedergeburt und zum anderen das Blutsaugen. Demnach bestehe die psychoanalytische Grundlage des Vampirglaubens aus einer zwiespältigen Haltung zu den nahestehenden Toten: „Der Wunsch nach erneutem Vereintsein kollidiert mit der Angst vor den Toten und den eigenen Schuldgefühlen und wird deshalb auf dieselben projiziert; d.h. die Lebenden unterstellen den Toten den Wunsch nach Rückkehr und Vereinigung, wobei sexuelle Konnotationen ins Spiel kommen. (…) Der als Vampir zurückkehrende Tote entzieht den Lebenden ihre Lebensenergie, [das Blut; L.K.], was eine Umschreibung für die Erschöpfung durch den sexuellen Akt darstellt.“16 Insbesondere in Bezug auf Sexualität werden der Vampir-Metapher viele weitere symbolische Bedeutungen zugesprochen. Eine wichtige Rolle spielen hierbei kulturelle und gesellschaftliche Normen. Je nachdem, wie sich die sozialen Maßstäbe verändern, kann die Vampir-Symbolik angepasst und zur latenten Darstellung verschiedenster Tabuthemen eingesetzt werden. 3 Das Vampir-Genre 3.1 Einflüsse Romane und Filme, die das Vampirthema aufgreifen, werden häufig dem Horror-Genre zugeordnet. Geht man davon aus, dass es sich dabei um die klassischen Vampirgeschichten handelt, bei denen der Blutsauger als triebgesteuertes, rücksichtsloses Monster dargestellt wird, ist einer solchen Einordnung nichts entgegen zu setzen. Doch spätestens seit dem Erscheinen der modernen Vampir-Romane und Filme, ist die ursprüngliche Bestimmung als Sub-Genre des Horrors als unzureichend anzusehen. Das Vampirgenre hat sich zu einem multidimensionalen Genre entwickelt, welches verschiedene Einflüsse vereint. Vor allem Elemente des Fantasy-Genres gewinnen in Bezug auf Vampirstories zunehmend an Bedeutung. Darüber hinaus findet eine inhaltliche Verlagerung der Vampirthematik statt. Der Vampir 13 Borrmann (1999), S.11 Dorn (1994), S. 57 15 ebd. 16 ebd., S. 57/58 14 4 wird nicht mehr ausschließlich als bedrohliches Monster dargestellt, sondern immer häufiger als ‚exotisches‘ Gesellschaftsmitglied, das sich anzupassen versteht und sogar Liebesbeziehungen zu Menschen führen kann. Die tiefe Verankerung der Vampirthematik im Volksglauben erfordert den Einbezug einer weiteren Gattung, wenn es darum geht, sie als Genre zu charakterisieren: Das Mystery-Genre. Auch im Rahmen dieses Mischgenres, welches Einflüsse des Krimis, des Horror- und Fantasy-Genres vereint, wird der Vampirismus als übernatürliches Phänomen immer wieder thematisiert. Im Folgenden soll nun das Vampir-Genre als historisch variables, hybrides Genre bestimmt werden. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Einordnung und Charakterisierung des Vampirfilms. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine Darstellung seiner drei wesentlichen Einflüsse: Des Fantasy-, Horror- und MysteryGenres. Auf eine detaillierte Erläuterung weiterer Elemente, wie beispielsweise den Liebes- oder Actionfilm, wird an dieser Stelle verzichtet. Sowohl die Thematisierung romantischer Beziehungen, als auch die filmisch anspruchsvolle Gestaltung actionreicher Szenen gehören längst zum unverzichtbaren Bestandteil erfolgreicher Produktionen. Sie sind somit für eine Einordnung des Vampir-Genres nicht zwingend notwendig. Jedoch wird die besondere Bedeutung von Liebesbeziehungen in neuen Vampir-Romanen und -Filmen unter dem Gliederungspunkt 4 näher erläutert. 3.1.1 Fantasy „Wir lesen Fantasy, weil wir sie lieben, wir lieben sie, weil sie eine Quelle für Wunder und Rätsel und Freude ist, die wir nirgends sonst finden können.“17 Die Ursprünge des Fantasy-Genres finden sich in der phantastischen Literatur. Doch genau wie bei allen Genres, existieren sowohl in Bezug auf die literarische Gattung, als auch hinsichtlich ihrer Subgenres keine allgemeingültigen Definitionen. Selbst darüber, ob die Phantastik überhaupt als Gattung gelten kann, ist man sich unter Literaturwissenschaftlern uneinig. Doch unabhängig davon, wie die Phantastik definiert wird, ob als Stil oder literarische Gattung, besteht größtenteils der Konsens darüber, dass „es sich zunächst einmal um motivbestimmte Sonderformen erzählender Prosa handelt“18. Roger Caillois, einer der ersten Literaturwissenschaftler, der sich mit einer Definition der Phantastik auseinandergesetzt hat, grenzt die phantastische Literatur von anderen Gattungen mit fantastischen Inhalten, wie zum Beispiel dem Märchen oder Science Fiction ab. Für ihn besteht die Besonderheit der Phantastik in der Kollision zwischen Realität und Imaginärem: „Während in der Welt des Märchens das Wunderbare als normal erscheint, provoziert es in der phantastischen Literatur ‚einen Riß [sic], einen befremdlichen, fast unert- 17 18 Carter (1973) zitiert nach Weinreich (2006/2007): http://www.polyoinos.de/Phantastik/fantasy.html Brittnacher (1994), S.23 5 räglichen Einbruch in die wirkliche Welt […]‘.“19 Somit verbindet Caillois die Phantastik mit der Darstellung des Entsetzlichen und der daraus entstehenden Verunsicherung des Rezipienten. Offensichtlich ist diese Definition zu eng gefasst und hat sich im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als ungültig erwiesen. Seine Nachfolger, wie beispielsweise Todorov, haben jedoch seinen Ansatz aufgegriffen und relativiert. Somit ist die Vermischung zwischen Realitätssystem und dem Imaginären heute noch ein bedeutendes Kriterium, wenn es darum geht, die Phantastik als Gattung zu charakterisieren. Im Gegensatz zu Caillois findet hierbei jedoch keine Beschränkung auf bedrohliche fantastische Elemente statt. Dr. phil. Frank Weinreich hat sich intensiv mit den spezifischen Merkmalen des Fantasy-Genres auseinandergesetzt. Seine Monographie "Fantasy. Einführung" wurde im Jahr 2008 mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet.20 In Anbetracht dessen beruhen die folgenden Ausführungen zu einer Bestimmung des Fantasy-Genres vorwiegend auf seinen Überlegungen. Frank Weinreich beschreibt das spezifische Merkmal der phantastischen Literatur als Grenzüberschreitung „der empirisch nachvollziehbaren Wirklichkeitsdarstellung“21. Damit legt er eine sehr breit gefasste Definition vor, welche die vielen SubGenres der Phantastik, wie beispielsweise Horror, Märchen, Science Fiction und Fantasy einschließt. Ausgehend von der historischen Herkunft des Fantasy-Genres sollen nun seine wesentlichen Eigenschaften skizziert werden. Laut Weinreich gelingt dies über eine Betrachtung der Inhalte von Fantasygeschichten. Hierbei könne man "im Wesentlichen drei Charakteristika [ausmachen; L.K.], die sich für eine Bestimmung von Fantasyliteratur (...) im Allgemeinen (...)"22 eignen: Helden, imaginäre Welten und Magie. Die Besonderheiten des Helden sieht Weinreich zum einen in seiner Funktion als Handlungsträger, zum anderen in den ihm zugesprochenen übernatürlichen Fähigkeiten. Demnach sei es charakteristisch für Fantasygeschichten, dass die Helden entweder aufgrund angeborener phantastischer Begabungen oder aber durch den Einsatz von Hilfsmitteln reale menschliche Einschränkungen überwinden können. Alternativ beziehungsweise zusätzlich werden sie, so Weinreich, mit übernatürlichen Phänomenen konfrontiert, gegen die sie sich behaupten müssen.23 Ein weiteres inhaltliches Merkmal des Fantasy-Genres sind für Weinreich die imaginären Welten, welche "auf irgendeine Weise24 mit der empirischen Realität (...) gebrochen haben, dass ein Zugang aus Sicht der Erzählung nicht möglich oder nur ausgewählten Personen möglich ist sowie aus Sicht (...) des Lesers und der Naturwissenschaften prinzipiell unmöglich bleiben muss"25. Innerhalb dieser Fantasiewelten jedoch, sei das Übernatürliche tatsächlich. So beschreibt 19 Brittnacher (1994), S.13 vgl. http://www.polyoinos.net/veroeffentlichungen.html 21 http://www.polyoinos.net/Phantastik/fantasy.html 22 ebd. 23 vgl. ebd. 24 Imaginäre Welten können parallele Realitäten sein, räumlich und zeitlich getrennte Welten oder Dimensionen, die Erde in einer anderen Zeit oder die heutige, verzauberte Realität, vgl. Weinreich (2006/2007): http://www.polyoinos.net/Phantastik/fantasy.html 25 ebd. 20 6 auch Borstnar die Motivistik des Fantasy-Genres als "fremde Welt mit spezifischen Eigengesetzlichkeiten, die nicht identisch ist mit der außersprachlichen Welt"26 und in der die verschiedenen Figuren "alle den selben Realitätsstatus besitzen"27. Die "metaphysischen Voraussetzungen"28 der imaginären Welt unterscheiden sich also von der Realität, wodurch die Magie, das für Weinreich dritte, wesentliche Merkmal des Fantasy-Genres, binnen dieser Welt ebenfalls zum Faktum wird. Somit lässt sich festhalten, dass innerhalb des Fantasy-Genres das Übersinnliche eine große Rolle spielt. Doch da die Metaphysik allein als bestimmendes inhaltliches Merkmal nicht ausreicht, um Fantasy von anderen Genres abzugrenzen, ergänzt Frank Weinreich seine Definition um den Aspekt des Wahrheitsanspruches. Demnach sei das, was erzählt wird, innerhalb der fiktionalen Welt als wahrhaftig anzusehen. Weinreich spricht in diesem Zusammenhang von Ernsthaftigkeit als Voraussetzung für die Zuordnung zum Fantasy-Genre. Dieser Wahrheitsanspruch gelte jedoch nicht im Bezug auf die Realität29: "Fantasy ist demnach ein literarisches (sowie mehr und mehr auch cineastisches und in weiteren Ausdrucksformen auftretendes) Genre, dessen zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Wesen ist, das als Fiktion auftritt, die als Fiktion auch verstanden werden soll und muss."30 Den Ursprung für die wesentliche Bedeutung des Übernatürlichen im Fantasy-Genre liegt für Weinreich im Mythos. Dieser erhebe zwar, zumindest zum Zeitpunkt seiner Entstehung, auch nach außen einen Wahrheitsanspruch, verfolge aber, genau wie Fantasy den Zweck, sinnstiftend zu sein. Im Fantasy-Genre geschehe dies jedoch auf eine modifizierte Art und Weise. Das Ziel sei es nicht vorrangig, die Welt zu erklären, sondern vielmehr den Rezipienten in eine fremde Welt zu "versetzen, die mit einem faktischen transzendentalen Überbau ausgestattet ist und so das Bedürfnis"31 nach der Überschreitung empirischer Realität zu bedienen. Damit lasse sich auch die Attraktivität des Fantasy-Genres begründen. Die von Weinreich vorgelegte Definition von Fantasy erscheint immer noch sehr breit gefasst und im Sinne einer Genreabgrenzung ungeeignet. Auch Weinreich selbst äußert sich diesbezüglich sehr kritisch, möchte jedoch nicht von seiner Begriffsbestimmung abrücken. Er postuliert, dass sich andere Genres der phantastischen Literatur, wie zum Beispiel Horror oder Märchen, aufgrund eigener, spezifischer Kriterien vom Fantasy-Genre unterscheiden ließen. 26 Borstnar (2008), S.74 ebd. 28 Waggoner (1978), zitiert nach Weinreich (2006/2007): http://www.polyoinos.net/Phantastik/fantasy.html 29 vgl. http://www.polyoinos.net/Phantastik/fantasy.html 30 ebd. 31 ebd. 27 7 3.1.2 Horror “Benützt die Gegenwart mit Glück! Und wenn nun eure Kinder dichten Bewahre sie ein gut Geschick Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“32 Wovor Goethe in seinem 1827 entstandenen Gedicht ‚Den Vereinigten Staaten‘ warnte, war bereits zu dieser Zeit nicht mehr abzuwenden. Genau wie in Deutschland existierte auch in Amerika die erste Horrorliteratur.33 Trotz anfänglicher Missachtung, vor allem aufgrund der Einflüsse des Realismus, hat sich das Horror-Genre als beliebte Variante der Phantastik durchgesetzt und avancierte darüber hinaus zu einem bedeutsamen Filmgenre. Ob in Buchform, oder auf der Kinoleinwand – die Faszination für das Böse, für „die schockierende Abweichung vom Vernünftigen, Schönen und Guten“34, ist groß. Im deutschen Duden wird der Horror-Begriff mit den Synonymen “Schauder [(…) und; L.K.] Abscheu“35 beschrieben. Bezogen auf Horrorerzählungen und – Filme kann man sagen, dass sie solche und ähnliche Affekte beim Rezipienten auslösen sollen. Doch neben „Angst, Schrecken und Verstörung“36, die als genretypische intendierte Emotionen gelten, kann sogar Heiterkeit während der Rezeption empfunden werden. „Seit dem Ende der ‚klassischen‘ Phase der Genregeschichte in den 1960er Jahren scheint Horror zu einem Schirmbegriff für verschiedene, wenn auch komplementäre Erlebnisformen geworden zu sein.“37 Somit haben sich nicht nur die erwünschten emotionalen Reaktionen der Rezipienten, sondern auch die Plots und Bezugsobjekte im modernen Horrorfilm vervielfältigt. Kennzeichnend für das Horror-Genre im klassischen Sinn ist die Thematisierung „einer Konfrontation zwischen einer Gesellschaft, deren Institutionen soziale, wissenschaftliche und moralische Normalität repräsentieren, und einer Größe, die den Ordnungssätzen eben jener Normalität widerspricht“38. Dieses Erzählmuster hat jedoch im Laufe der Entwicklung an Bedeutung verloren und wird mittlerweile häufig variiert. So stellen einige moderne Horrorfilme die „‘Normalität‘ der erzählten Alltagswelt selbst in Frage“39, indem beispielsweise das bedrohliche Objekt nicht von außen in die Welt der Opfer eindringt, sondern direkt aus deren Umfeld kommt. Klassische übernatürliche Antagonisten, wie Zombies, Geister, Vampire und andere Monster, werden häufig durch mordende Psychopathen ersetzt. Ein weiteres Merkmal des modernen Horrorfilms sieht Borstnar in der veränderten Spannungskurve. Demnach werde im Gegensatz zum klassischen Horrorfilm, bei dem die äußere Bedrohung zumindest temporär abgewehrt 32 Eibl (1987), S.739 - 741 vgl. Brittnacher (1994), S. 9/10 34 ebd, S.7 35 Duden (1996), S.357 36 http://www.film-lexikon.de/Horrorfilm 37 Vonderau (2002), S.129 38 Borstnar u.a. (2008), S.71 39 Vonderau (2002), S.130 33 8 werden konnte, in der modernen Genrephase häufig der Verlust der Gesellschaftsordnung thematisiert.40 Darüber hinaus setzen so genannte Splatter- beziehungsweise Slasherfilme, die sich als Subgenre des modernen Horrorfilms heraus bildeten, den Fokus der Inszenierung auf die Darstellung roher Gewalt. Damit grenzen sie sich vom klassischen Horrorfilm ab, bei dem der dramaturgische Spannungsaufbau, unterstützt von filmischen Stilmitteln, im Vordergrund steht. Dabei wird versucht, eine starke emotionale Identifikation des Rezipienten mit dem Protagonisten zu erreichen. Das daraus entstehende empathische Empfinden dient dann als Grundlage für affektive Reaktionen, wie zum Beispiel Angst. Ob und wie dieses spezifische Affekt-Management41 im modernen Horrorfilm funktioniert, wird aufgrund der veränderten Dramaturgie und Darstellung unter Filmwissenschaftlern diskutiert. Wenn nämlich die intendierte Emotion beim Zuschauer als zentrales Merkmal des Horrorgenres gilt, stellt sich die Frage, ob postklassische, gewaltorientierte Horrorfilme überhaupt diesem Genre zugeordnet werden können. Patrick Vonderau hat sich in seinen Ausführungen zu den „Erlebnisqualitäten des ‚modernen‘ Horrorfilms“42 mit genau dieser Problemstellung auseinandergesetzt. Anhand einer exemplarischen Beschreibung der affektiven Wirkungsweise postklassischer, gewaltorientierter Horrorfilme, begründet er die Zugehörigkeit dieser Filme zum Horrorgenre. Zu diesem Zweck spricht er sich zunächst für einen dynamischen Genrebegriff aus, der, unter Berücksichtigung der Veränderungen innerhalb des Horror-Genres, die Abgrenzungsmerkmale zu anderen Genres umfassen solle. Ausgehend von dieser Annahme, versucht Vonderau herauszustellen, „welche historisch übergreifenden ‚Filmähnlichkeiten‘ affektiver Art sich zwischen Filmen annehmen lassen, die im letzten Jahrhundert des Kinos dem Horror zugesprochen wurden“43. Er führt aus, dass diese Gemeinsamkeit aller Horrorfilme im Auslösen von Dissonanz bestehe. Laut Vonderau werden Filme dem Horror-Genre zugeordnet, die beim Rezipienten ein Gefühl von Beängstigung beziehungsweise Unstimmigkeit bewirken. Während dieser Affekt im klassischen Horrorfilm vor allem durch bedrohliche Kreaturen oder Geschehnisse hervorgerufen werde, weise der moderne Horrorfilm „mindestens eine zusätzliche affektive Komponente auf, die auch bei einem Mangel an Monstren im klassischen Sinn den Film in der richtigen generischen Kategorie einzuordnen“ erlaube. So löse der postklassische Horrorfilm, eine starke Unsicherheit beim Rezipienten aus. Diese entstehe zum einen aufgrund einer ständigen Ungewissheit bezüglich des Handlungsverlaufs und zum anderen aus der widersprüchlichen Rezeptionssituation.44 Moderne Horrorfilme schockieren und faszinieren gleichzeitig. In Anlehnung an die Ausführungen zur kognitiven Filmpsychologie von Ohler und Nieding benennt Vonderau die Konsequenz der narrativ bedingten Irritation als „kognitiv induziertes Spannungsempfinden, das 40 vgl. Borstnar u.a. (2008), S.74-77 In Anlehnung an Eder (2002) beschreibt Vonderau ‚Affekt‘ als „Oberbegriff für unterschiedliche ‚mental Phänomene‘, zu denen Emotionen, (…) Stimmungen, Triebe, Instinkte und Empfindungen zählen“, siehe dazu Vonderau (2002), S.129 42 Vonderau (2002). S. 132 43 ebd., S. 132/133 44 vgl. ebd. S.129 - 135 41 9 unabhängig von Empathie und Identifikation mit einem Protagonisten funktioniert“45. Vonderau schreibt in diesem Zusammenhang der Zuschauererwartung eine sehr große Bedeutung zu. Demnach erwarte der Rezipient vom Autor eines Filmes, dass er im Rahmen der vorliegenden Kommunikationssituation angemessene Selektionen vornimmt. Breche die mitteilende Instanz jedoch diese Erwartungshaltung, so beginne der Rezipient Vermutungen über die Intention des Autors aufzustellen. „Die Anspannung des Zuschauers resultiert dabei aus dem Versuch, die kommunikativen Absichten seines Gegenübers zu antizipieren, um die Kontrolle über den Rezeptionsprozess zu behalten, um Schock-, Schreck und Überraschungsmomenten gewappnet entgegen zu treten.“46 Besonders in der postklassischen Phase des Horrorfilms, in der „dem Gang von Schrecken und Gewalt (…) keine konventionellen Grenzen gesetzt scheinen“47 und sich der Sinn des Films dem Zuschauer oft nur schwer beziehungsweise nicht erschließt, stellen diese Inferenzen für Vonderau die Grundlage der Rezipienten-Irritation dar: „Dissonanz-Induktion lässt sich in der jüngeren Phase des Genres demnach auf mindestens zwei Ebenen beobachten. Man könnte von einem ‚mehrstimmigen‘ Affekt-Management sprechen: Neben der ‚Melodie‘, einer Emotion wie Furcht, die sich auf die Evaluation konkreter Objekte bezieht, gibt es auch eine ‚Begleitstimme‘, die auf Inferenzen über den Mitteilenden beruht und dem ganzen Film als diffuses Gefühlsmuster unterliegt.“48 Für Patrick Vonderau zählen demnach auch Splatter- und Slasherfilme zum Horrorgenre. Diese Filme rücken Zeige-Handlungen in den Vordergrund, die für den Zuschauer in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Sie funktionieren somit weniger über den eigentlichen Plot, als vielmehr über die Art der Präsentation selbst.49 „Denn auch, wenn die (…) Zeigemomente nicht narrativ-motiviert sind, bleiben sie doch funktional auf die Rezeption ausgerichtet. [(…) Sie; L.K.] richten sich als Verständigungshandlungen an andere Menschen, sie ‚zeigen etwas an‘, und (…) können (…) zur kognitiven Basis für die ‚beängstigend unstimmige‘ Atmosphäre werden.“50 Anhand der vorangegangenen Betrachtungen wird deutlich, dass das zentrale Merkmal des Horror-Genres nach wie vor die intendierte Emotion ist. Ob anhand eines Empathie auslösenden Plots oder aufgrund schockierender Gewaltdarstellungen – Horrorfilme bewirken eine dissonante Spannung beim Rezipienten. Diese genrespezifische Eigenschaft stellt ein relativ klares Abgrenzungsmerkmal zu anderen Genres dar. Dennoch muss auch das Horrorgenre als variable Größe angesehen werden, für die es keine eindeutige, allgemeingültige Definition gibt. 45 Ohler/Nieding (2001), zitiert nach Patrick Vonderau (2002), S.135 Vonderau (2002), S. 142 47 ebd. S. 136 48 ebd. 49 vgl. ebd., S. 140 50 ebd., S.141 46 10 3.1.3 Mystery Der englische Begriff ‚Mystery‘ lässt sich mit ‚Geheimnis‘ oder ‚Rätsel‘ übersetzen und bezeichnet, laut deutschem Fremdwörterbuch, einen „[Fernseh]film, Roman o.Ä. mit geheimnisvoller, schauriger Darstellung von mysteriösen, meist nicht mit natürlichen Phänomenen erklärbaren Verbrechen“51. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Scheinanglizismus, da dem Wort ‚Mystery‘ nur im Deutschen eine derartige Bedeutung zugesprochen wird. Im Englischen benennt man mit dem Mystery-Begriff einen gewöhnlichen Kriminalroman.52 Im Folgenden soll nun versucht werden, Mystery anhand der relativ neuen Definitionen von Nina Waldkrich und Sandra Ziegenhagen als Genre zu charakterisieren. Nina Waldkirch liefert in ihrer 2007 erschienen Diplom-Arbeit eine Definition des Mystery-Genres, die sich aus nur wenigen literarischen Quellen und ihren „eigenen Beobachtungen zusammen[setzt; L.K.]“53. Sie begründet ihr Vorgehen mit der noch recht jungen Existenz des Mystery-Begriffs und dem daraus resultierenden Mangel an einschlägiger Literatur.54 Laut Waldkirch handelt es sich beim Mystery-Genre „um ein hybrides Genre [(…), welches sich; L.K.] aus einer Vielzahl von Gattungen zusammen[setzt; L.K.]: aus der Detektivgeschichte, dem Thriller und aus Fantasy. Außerdem finden sich teilweise Horrorelemente. (…) Des Weiteren versteht man unter Mystery ‚[…] die paranormale Verrätselung der Alltagswelt […]. (Hierzu zählen beispielsweise) unerklärliche Vorkommnisse, Magie- und Spukähnliches […] oder paranormales Verhalten […]‘[sic].“55 Nina Waldkirch bezieht in ihre Definition des hybriden Mystery-Genres zahlreiche Merkmale unterschiedlicher Genres mit ein. Um die wesentlichen Eigenschaften des Mystery-Genres heraus zu stellen, sollen nun die Einflüsse des Krimis, des Horror - und Fantasy-Genres genauer beschrieben werden. Waldkirch führt an, dass die Protagonisten in Detektivgeschichten zumeist männlich, überdurchschnittlich intelligent und versiert im Spurenlesen seien. Diese Eigenschaften spricht sie ebenso den Hauptfiguren im Mystery-Genre zu. Begründen lasse sich das mit deren Aufgabe, ein oder mehrere Rätsel zu lösen, um somit ein Geheimnis, das Mysterium, aufzuklären. Im Fall der Detektivgeschichte handele es sich hierbei meist um ein Verbrechen, welches allein durch Beobachtung und logisches Zusammenfügen von Fakten durch die ermittelnde Person gelöst werden soll. Im Mystery-Genre müsse sich der Protagonist vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Theorie und historischer Tatsachen interpretativ mit den aktuellen mysteriösen Vorkommnissen auseinander setzen und, wenn nötig, auch dazu bereit sein, zum Zweck des Erkenntnisgewinns illegal56 zu handeln.57 „Fakt und Fiktion“58 würden im Rahmen dieses ermitteln 51 Duden Fremdwörterbuch (2005), S.689 vgl. Ziegenhagen (2009), S.21, 35 53 Waldkirch (2007), S.16 54 vgl. ebd. 55 ebd., S.18-20 56 Dieses illegale Vorgehen durch den ermittelnden Protagonisten findet sich häufig auch in Handlungssträngen von Krimis wieder und findet zumeist im Sinne der besten beziehungsweise schnellst möglichen Problemlösung statt. 52 11 den Vorgehens verknüpft, wodurch dem Mystery-Genre eine belehrende Funktion zugesprochen werden könne. Die Detektivstory lässt sich dem Genre des Krimis zuordnen, welches inhaltlich durch die „Darstellung von Norm- und Rechtsverstößen [(…) und; L.K.] ggf. (…) deren (erfolgreicher oder nicht erfolgreicher) Aufklärung“59 charakterisiert ist. Der für Krimis typische Handlungsverlauf, in dem die Lösung des Rätsels zumeist überraschend und erst am Ende des Romans beziehungsweise Films erfolgt, wird auch im Mystery-Bereich häufig verwendet. Hierbei wirkt sich das Erzählmuster auf die affektive Reaktion des Rezipienten aus. Es wird Suspense erzeugt. Zillmann beschreibt diese Art von Gespanntheit als „(…) emotionale Reaktion, die typischerweise aus akuter Besorgnis um beliebte Protagonisten entspringt, die durch unmittelbar erwartete Ereignisse bedroht werden, wobei diese Besorgnis aus einer hohen aber nicht vollständigen subjektiven Gewissheit über das Eintreten des erwarteten bedauernswertem Ereignisses erwächst“.60 Doch nicht nur Erzählstrukturen und Inhalte des Krimis finden sich im Mystery-Bereich wieder. Das motivische Merkmal der Situierung „in gegenwärtigen raumzeitlichen Welten“61 kann ebenfalls ganz bewusst im Mystery-Genre eingesetzt werden, um das Interesse des Rezipienten aufgrund aktueller Bezüge zu wecken und um seine Empathie für den Protagonisten zu verstärken. Typische Elemente von Horrorfilmen, die im Mystery-Genre aufgegriffen werden, sind für Nina Waldkirch die Thematisierung des Konfliktes zwischen Gut und Böse und das, der Genre-Bezeichnung entsprechende Affekt-Management. Hierbei werde der Rezipient durch die Erzählstruktur verwirrt und verängstigt. Diese mentale Reaktion des Zuschauers sei, so Waldkirch, im Horror-, genauso wie im MysteryGenre intendiert.62 „Die Darstellung des Unheimlichen erfolgt in Mystery-Romanen und –Filmen jedoch weitaus zurückhaltender als in typischen Horrorfilmen, denn beim Mystery stehen verstärkt das Lösen von Rätseln, die Hauptfiguren, deren Leben und Emotionen im Vordergrund.“63 In Anlehnung an diese inhaltliche Fokussierung der Hauptpersonen beschreibt Waldkirch die Einflüsse des Fantasy-Genres. Die für Fantasy-Geschichten kennzeichnende „Heldenreise des Protagonisten, auf der er sich mit dem Bösen konfrontiert sieht und durch die er am Ende ein besserer Mensch wird“64, werde demnach auch im Mystery-Genre aufgegriffen. Auch hier durchlaufe der meist introvertierte Protagonist einen Wandlungsprozess, der sich positiv auf seine Persönlichkeit auswirkt. Darüber hinaus gebe es, laut Waldkirch, im Mystery-Genre auch fantastische Elemente, die auf den magischen Realismus zurück 57 vgl. Waldkirch (2007), S.18 ebd. 59 Borstnar u.a. (2008), S.75 60 Zillmann (1996), S.208 61 ebd. 62 vgl. Waldkirch (2007), S.20 63 ebd. 64 ebd. 58 12 zu führen sind.65 Das Rätselhafte und Übernatürliche wird in die Realität integriert. Anders als im Fantasy-Genre geschehen somit unerklärliche Dinge nicht in einer imaginären Welt mit ihren eigenen Gesetzen, sondern innerhalb der Wirklichkeit. Eine neuere, jedoch nicht so detaillierte Definition des Mystery-Genres wird von Sandra Ziegenhagen im Rahmen ihrer Studie zum Zuschauer-Engagement am Beispiel der Fernsehserie „Lost“ vorgenommen. Ebenso wie Waldkirch, bezeichnet sie Mystery als ein „Mischgenre mit Elementen aus den Genres Horror, Krimi und Fantasy [(…), bei dem zumeist; L.K.] übernatürliche Phänomene und Verschwörungstheorien im Mittelpunkt der Narration“66 stehen. Auch Ziegenhagen geht in ihren Ausführungen auf die narrativen Besonderheiten des Mystery-Genres im Vergleich zu anderen Genres ein. So beschreibt sie ebenfalls den thematischen Fokus, der auf den Protagonisten und ihren Emotionen liegt. Im Gegensatz zu Nina Waldkirch ordnet Ziegenhagen jedoch den für Horrorfilme typischen Konflikt zwischen Gut und Böse nicht dem Mystery-Genre zu. So postuliert sie, dass die im Mystery-Genre auftretenden rätselhaften und übernatürlichen Figuren oder Phänomene nicht in jedem Fall das Böse verkörpern, sondern sogar bedeutungsvoll für die Protagonisten sein können.67 Beide vorgestellten Definitionen betonen die Hybridität des Mystery-Genres und verdeutlichen somit, dass sich Mystery als Genre nur sehr schwer genau bestimmen und abgrenzen lässt. Durch die GenreBezeichnung wird die Erwartungshaltung der Rezipienten beeinflusst. In Bezug auf das Mystery-Genre werden hierbei jedoch weniger spezifische Elemente vom Zuschauer gefordert beziehungsweise erwartet, sondern eher das bloße Vorkommen des Rätselhaften. Es handelt sich demnach nicht um ein Genre im klassischen Sinn, welches anhand klarer Kriterien rein strukturell definiert werden kann. Vielmehr beschreibt der Mystery-Begriff sowohl ein diffuses, durchaus populäres Mischgenre, als auch eine inhaltliche, dramaturgische und stilistische ‚Zutat‘, welche im Rahmen bestehender Genres zum Einsatz kommt. Typische Mystery-Themen sind paranormale und/respektive übersinnliche Phänomene, wie zum Beispiel Hexerei, außerirdisches Leben, Zeitphänomene, mysteriöse Erscheinungen, Geheimbünde und Verschwörungstheorien. Akteure, die ohne erkennbares Motiv handeln und scheinbar zusammenhanglose Teilplots, kennzeichnen häufig die Dramaturgie. Somit kann Mystery auch als Mittel zur Spannungserzeugung bezeichnet werden. Im Gegensatz zum Suspense, wie ihn Zillmann68 beschreibt, löst Mystery jedoch eher einen kognitiven Prozess, als eine emotionale Reaktion aus. Der Rezipient überlegt, was passiert, anstatt sich die Frage zu stellen, was geschehen wird. Durch die Kombination von Mystery und Suspense kann die affektive Reaktion des Zuschauers verstärkt werden. Der spannungslösende Moment fällt dann zusammen mit der Aufklärung des Mysteriösen und der damit einhergehenden Überraschung der Rezipienten. 65 vgl. ebd. Ziegenhagen (2009), S. 21 67 vgl. ebd., S.35 68 s. S. 12 66 13 3.2 Charakterisierung Anhand der vorangegangenen Betrachtungen ist deutlich geworden, dass Genres als historisch variable, hybride Artefakte zu verstehen sind. Sie sind das Produkt spezifischer Merkmalszuschreibungen, die sich zwar an den gesellschaftlichen Konventionen orientieren, jedoch kein allgemeingültiges Ordnungssystem bilden. So gibt es besipielsweise verschiedene Blickwinkel, aus denen man einen Film typisieren kann. Man kann ihn anhand seiner inhaltlichen oder formalen Merkmale einem bestimmten Genre zuordnen, oder man betrachtet ihn aus der Perspektive des Produzenten und schreibt dem Film eine bestimmte intendierte Funktion zu. Unabhängig davon, unter welchem Aspekt eine solche Genre-Zuordnung vorgenommen wird, besteht sie immer aus einer Reduktion auf typische Merkmale, anhand derer man das Buch, den Film oder das Videospiel etc. einem bestimmten, gesellschaftlich etablierten und veränderbaren Muster zuordnet. Möchte man nun das Vampir-Genre als ein solches Muster beschreiben, wird deutlich, dass es sich hierbei um ein multidimensionales Genre handelt. Genau, wie die bereits vorgestellten Genres, hat es sich im Rahmen seiner historischen Entwicklung ausdifferenziert. So haben sich nicht nur die Inhalte von Vampir-Romanen und Filmen gewandelt, sondern auch die Darstellungsformen. Darüber hinaus hat sich die Vampirthematik zu einem medien- und formatübergreifenden Phänomen entwickelt. Ob im Roman, im Kino, im Fernsehen, im Musical oder im Computerspiel – dem Vampir begegnet man in vielen Unterhaltungsbereichen. Die Figur des Vampirs tritt dabei in den unterschiedlichsten Facetten auf: So wird er unter anderem als blutrünstiges Monster, als aristokratischer Antiheld oder als sympathisches Vampirkind dargestellt. Dementsprechend unterscheiden sich beispielsweise auch die TV-Formate, in denen der Vampirismus thematisiert wird. Neben den mittlerweile ‚klassischen‘ Vampirserien, wie ‚Buffy‘ oder ‚Vampire Diaries‘, findet die Vampirthematik Einzug in Infotainment-Formate, wie ‚Galileo Mystery‘ oder in Serien und Filme anderer Genres. Diese Ausdifferenzierung des Vampir-Genres bedingt eine schwierige Abgrenzbarkeit gegenüber anderen Genres. Selbst wenn man das Vampir-Genre auf das stoffliche Vorhandensein der Vampirthematik begrenzt, wird man mit der Frage konfrontiert, was zu dieser Thematik gezählt werden kann: Reduziert man sie auf das bloße Vorhandensein eines als ‚typisch‘ erachteten Vampirs oder schließt diese Definition alle den Vampirismus betreffenden Themengebiete mit ein? Daraus ergeben sich Zuordnungsprobleme, die nicht zu überwinden sind. Aufgrund der tiefen Verankerung im Volksglauben stellt die funktionale Erfassung des Vampir-Genres zunächst eine plausibel erscheinende Alternative dar. Der Mythos vom Vampir wurde zu seiner Entstehungszeit als real empfunden und entwickelte sich zu einer Metapher, um ausbeuterische Beziehungen zu beschreiben. Insbesondere Romane und Filme, die dem Vampir-Genre zugeordnet werden können, grei14 fen typische Elemente des Aberglaubens auf und generieren daraus neue Bedeutungen. Die Vampirthematik dient also dazu, bestimmte Inhalte und Bezüge verschlüsselt darzustellen. Inwiefern der Vampirfilm diese Funktion erfüllt und welche wesentliche Bedeutung dabei den gesellschaftlichen Einflüssen zukommt, wird im Punkt 3.3.2 näher erläutert. Zunächst soll jedoch versucht werden, den Vampirfilm anhand seiner Entwicklung und der bereits erläuterten Einflüsse in seiner Vielfalt zu charakterisieren und bestehenden Genres zuzuordnen. 3.3 Der Vampirfilm 3.3.1 Versuch einer formalen Einordnung Der Vampirfilm hat sich im Laufe seiner Entwicklung vom ‚klassischen‘ Horrorfilm zum multidimensionalen Filmgenre gewandelt. Gekoppelt ist diese Modifizierung an eine veränderte Darstellung des Vampirs. Zunächst wurde er, in Anlehnung an den Vampirglauben, als rücksichtsloses Monstrum dargestellt, welches nachts von den Toten aufersteht, um den Menschen das Blut auszusaugen. Beispielhaft dafür ist der 1922 erschienene Stummfilm ‚Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens‘69. Populär wurde das Vampirgenre durch die Verfilmung von Bram Stokers Roman ‚Dracula‘. Der im Jahr 193170 erschienene Film ebnete den Weg für das bekannte, medial vermittelte Vampirbild vom aristokratischen Antihelden. Heute begegnet man im Vampir-Genre aber noch mindestens einer weiteren Vampirfigur: Dem sympathischen, vermenschlichten Vampir, der als Protagonist Teil der Handlung ist. Je nachdem, wie die Vampirthematik dargestellt beziehungsweise durch welche Art von Vampir sie verkörpert wird, lässt sich eine Zuordnung zu bestehenden Genres vornehmen. So gibt es zum Beispiel den Vampirfilm als Sub-Genre des Horrorfilms. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass der Vampir das Böse verkörpert, indem er Angst und Schrecken verbreitet. Seitens des Zuschauers findet keinerlei Identifikation mit der Vampirfigur statt. Zwar greifen solche Horror-Filme „auf der latenten Ebene (…) menschliche Ängste und Konflikte“71 auf, jedoch werden diese vorwiegend auf das Bedrohliche von Außen projiziert und weniger auf den Menschen selbst. Der aristokratische Vampir hingegen, als dessen Prototyp ‚Dracula‘ gilt, erscheint als eine Art Überwesen. Dieses wirkt auf den Menschen jedoch nicht ausschließlich bedrohlich, sondern übt gleichzeitig eine enorme Faszination aus. Der Vampir ‚Dracula‘ steht für ewiges Leben, übernatürliche Kräfte und Schönheit. Er „überragt die anderen [Menschen; L.K] durch seinen Stand, seine Bildung und Erfahrung, seine 69 vgl. Dorn (1994), S. 71 vgl. ebd., S. 86 71 ebd., S. 35 70 15 Fähigkeit zur Konversation, durch erotische Aktivität und eine exotische Ausstrahlung“72. Obwohl er ein Teil der Gesellschaft ist, wird er durch seine Überdurchschnittlichkeit als Gefahr empfunden. Sie verleiht ihm Macht über andere Menschen und befähigt ihn dazu, seine elementarsten Triebe unzensiert zu befriedigen. Viele Filmvampire wurden in Anlehnung an diesen medial inszenierten Prototyp des Vampirs geschaffen. Hierbei variiert das Ausmaß der menschlichen Eigenschaften, die den Kreaturen zugesprochen werden. Betrachtet man beispielsweise den Film ‚Interview mit einem Vampir‘73, so lässt sich feststellen, dass der Vampir ‚Louis‘ durchaus menschliche Gefühle, vor allem Mitleid, empfindet. Dies geht soweit, dass er sich entgegen seiner Triebe weigert, Menschenblut zu trinken. Damit hat sich eine zweite Art von Vampirfilm heraus gebildet, die nicht mehr als Sub-Genre des Horror-Genres gelten kann. Man erhält einen Einblick in die Psyche des Vampirs, der als aristokratischer Antiheld auftritt und nicht als seelenloses Monster. Diese detailliertere Darstellung des Antagonisten ermöglicht es dem Rezipienten, eine gewisse Faszination zu empfinden. Der Zuschauer setzt sich mit dem übernatürlichen Wesen auseinander und ist, je nach Art der Darstellung, sogar in der Lage, Empathie zu empfinden. Aufgrund dessen lassen sich Vampirfilme dieser Art eher dem Fantasy-Genre zuordnen. Es findet eine Realitätsüberschreitung statt, indem der Vampir als übernatürliches Wesen dargestellt wird. Innerhalb der fiktionalen Welt existieren diese Geschöpfe und sind demnach als wahrhaftig zu begreifen. Das Besondere an Vampirfilmen ist jedoch, dass die Handlung oft in die reale Welt eingebettet wird. Das heißt, im Gegensatz zu anderen Filmen aus dem Fantasy-Genre, ist die fiktionale Welt hier gleichzusetzen mit der empirischen Realität, die dem Rezipienten vertraut ist und zu der er theoretisch Zugang hat. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasy und magischem Realismus. Insbesondere die neuen Vampirfilme, welche den gesellschaftsfähigen Vampir als Protagonisten in die Handlung integrieren, bedienen sich dieser Realitätsnähe. Es lassen sich somit ebenfalls inhaltliche Parallelen zum Mystery-Genre feststellen, bei dem die Verrätselung der Alltagswelt thematisiert wird. Das Auflösen der mysteriösen Geschehnisse, die Figuren und deren Emotionen stehen dabei im Mittelpunkt. Dieses inhaltliche Schema findet sich auf unterschiedlichste Art und Weise auch in Vampirfilmen wieder. Der Vampir ist dann zum Beispiel die übernatürliche ‚Erklärung‘ für zunächst unergründliche Vorkommnisse. Oft gibt es auch einen ‚Helden‘, welcher sich mit dem Vampirismus auseinandersetzt und im Laufe der Handlung lernt, wie man die übernatürlichen Wesen vernichtet. Dabei erfolgt die Darstellung des Unheimlichen meist zurückhaltender als im Horrorfilm. Als dramaturgisches und stilistisches Mittel wird Mystery in Vampirfilmen eher verhalten eingesetzt. Zumeist verweist schon der Titel oder die Genrebezeichnung ‚Vampirfilm‘ auf den Vampir als übernatürliches Handlungselement. 72 Dorn (1994), S. 91 Erscheinungsjahr: 1994, vgl. dazu http://www.ofdb.de/film/1556,Interview-with-the-Vampire-The-VampireChronicles 73 16 Es wird deutlich, dass der Vampirfilm zahlreiche Elemente verschiedener Genres vereint. Diese Vielfalt macht eine allgemeingültige narrative und motivische Charakterisierung des Vampirfilms an sich unmöglich. Vielmehr lassen sich Vampirfilme, je nach Darstellungsart und inhaltlicher Aufbereitung, bestehenden Genres zuordnen. So gibt es, neben den bereits erläuterten Arten von Vampirfilmen, Trickfilme, Liebesfilme, Actionfilme, Krimis und zahlreiche weitere Genres, in denen die Vampirthematik aufgegriffen wird. Abhängig davon, welche prototypischen Elemente eines spezifischen Genres im Vampirfilm dominieren, wird er vom Rezipienten einem bestimmten Genre zugeordnet. Dabei kann sich das Empfinden der Zuschauer von dem der Produzenten unterscheiden. Denn „während für die Produzenten ein Film als Prototyp eines Genres gilt, der als Erster möglichst viele der narrativen und ästhetischen Merkmale in sich vereint, die später für das Genre als typisch erachtet werden, ist dieser Prototyp aus der Sicht der Zuschauer bei jedem Genre variabel“74. Kulturell genormte Genremuster bilden somit nur einen Teil der Genrevorstellung des Rezipienten. Welche Prototypen er wirklich imaginiert, hängt ebenfalls von seinen persönlichen Erfahrungen und den ihn umgebenden gesellschaftlichen Strukturen ab.75 3.3.2 Funktionen Der Vampirfilm hat im Laufe seiner Entwicklung verschiedene Funktionen „in sich wandelnden sozialen Kontexten“76 eingenommen. Um eine Charakterisierung des Vampir-Genres vornehmen zu können, ist es demnach notwendig, die „Bedürfnisse, Werte und Konflikte [darzustellen, welche; L.K.] der Vampirfilm als Genre grundsätzlich berührt“77. Margit Dorn beschreibt in ihrem Buch ‚Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen‘ die Entwicklung des Vampirfilms im Laufe des 20. Jahrhunderts. Somit erweitert sie den filmwissenschaftlichen Genrebegriff um eine sozialwissenschaftliche Perspektive und verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und der Transformation von Filmgenres. Am Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen steht für Dorn die Annahme, dass der „Akt der Filmrezeption als spielerische bzw. unbewußte [sic.] und ersatzhafte Befriedigung von sozial geprägten Bedürfnissen“78 diene. Dementsprechend ist ihre Untersuchung darauf ausgerichtet, die historisch variablen „Gratifikati- 74 Mikos (2003), S. 255 vgl. Mikos, S. 254/255 76 Dorn (1994), S. 57 77 ebd., S. 56 78 ebd., S. 213 75 17 onsangebote“79 des Vampir-Genres qualitativ zu analysieren. Anhand einer exemplarischen Analyse stellt sie heraus, welche gesellschaftlich relevanten Botschaften die jeweiligen Vampirfilme vermitteln. Das zentrale Motiv stellt für sie dabei das Blutsaugen dar, welches als „Metapher für den Entzug bzw. die Aneignung von ‚Lebenskraft‘, für Dominanz und Unterwerfung u.ä.“80 stehe. Je nachdem, wie sich der gesellschaftliche Kontext ändere, ließen sich somit ausbeuterische Beziehungen jeglicher Art beschreiben. „Dementsprechend definiert sich das Genre des Vampirfilms [für Margit Dorn; L.K.] nicht dadurch, daß [sic.] es den Stoff des Vampirismus aufgreift, sondern dadurch, daß [sic.] es sein Grundmotiv des Blutsaugens funktionalisiert. (…) Wie hingegen die ‚Oberfläche‘ des Genres aussieht, d.h. wie das Motiv in einzelnen Filmen stofflich, thematisch und visuell verwirklicht wird, ist kein Kriterium der Definition.“81 Damit legt Margit Dorn einen sehr breite Definition des Vampir-Genres vor, welche, losgelöst vom ‚typischen‘, historisch vermittelten Vampirbild, auch Filme einbezieht, „in denen das Motiv des Aussaugens oder Ausgesaugt-Werdens eine zentrale Rolle spielt und als Verweis benutzt wird“82. Obwohl diese Betrachtung nicht mehr auf der rein inhaltlichen Definition des Vampir-Genres beruht, lassen sich auch hier Probleme bei der Abgrenzung bzw. Erfassung aller zugehörigen Filme feststellen. Dennoch liefert Dorn wesentliche Erkenntnisse darüber, welche Funktionen der Vampirfilm im Rahmen seiner Entwicklung eingenommen hat und inwiefern diese an gesellschaftliche Kontexte gebunden sind. 3.3.2.1 Der Vampirfilm als ‚Spiegel der Gesellschaft‘ Um einer einseitigen Betrachtungsweise entgegen zu wirken, bezieht Margit Dorn filmwirtschaftliche Fakten in ihre Untersuchung ein. So ließen sich, laut Dorn, anhand einer quantitativen Bestandsaufnahme von Vampirfilmen, welche zwischen den Zwanziger- und Neunzigerjahren erschienen sind, drei Entwicklungsphasen dieses Filmgenres ausmachen: Ein leichter Produktionswachstum von Beginn der Zwanziger- bis Mitte der Fünfzigerjahre, ein Boom des Vampirfilms von Mitte der Fünfziger- bis Mitte der Siebzigerjahre und schließlich ein Rückgang der Produktion ab den Siebzigerjahren. Für jede dieser Phasen könne man inhaltliche und formale Merkmale nachweisen, welche für die Produktionszeit der jeweiligen Vampirfilme als typisch zu erachten seien. Darüber hinaus zeige sich, dass die Entwicklung der Produktion von Vampirfilmen „durch einen Wandel der sozialen Funktionen des Genres begründbar“83 sei.84 79 ebd. ebd., S. 35 81 ebd., S. 35/36 82 ebd., S. 36 83 ebd., S. 213 84 vgl. ebd. 80 18 Laut Dorn bestand die Funktion des Vampirfilms in der ersten Phase darin, den Rezipienten in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen zu entlasten. So thematisiere ‚Nosferatu‘ (1922) die instabile Weimarer Republik und liefere mit der Vampirgestalt ein konkretes Schuldobjekt. Darüber hinaus vermittle der Film dem Rezipienten, dass man durch Ergebenheit aus der Krise erlöst werde. Ähnlich habe auch ‚Dracula‘ (1931), im Zuge der Weltwirtschaftskrise, die Tugend der Bescheidenheit propagiert. „Luxus, Exotik und Extravaganz“85 würden durch den Vampir verkörpert und sollten dem Zuschauer suspekt gemacht werden, so Dorn. In den Fünfzigerjahren habe der Vampirfilm dann den allgegenwärtigen Wunsch nach Liberalisierung aufgegriffen, indem er ersatzweise die neuen Bedürfnisse des Rezipienten erfüllte. Dabei habe man sich vor allem auf die Kompensation des Verlangens nach sexueller Befreiung konzentriert. Zu Beginn der Siebzigerjahre gab es jedoch, so Dorn, auch Filme, die im Zuge der Studentenbewegung die Erlösung aus jeglicher Art von Heteronomie thematisierten. In dieser Phase des Umbruchs und Wertewandels ‚explodierte‘ die Vampirfilmproduktion. Mit dem Aufkommen neuer Krisen in den Siebzigerjahren flachte die Euphorie bezüglich des gesellschaftlichen Wandels ab. Dementsprechend habe der Vampirfilm seine bisherige Funktion als ‚Ersatzbefriedigung von Liberalisierungswünschen‘ verloren. Es kam zu einem Produktionsrückgang. Indem man sich jedoch angepasst und damit begonnen habe, den irritierenden Werteverlust der Gesellschaft in Vampirfilmen zu verarbeiten, sei es gelungen, gewisse Zielgruppen zu bedienen und den Vampirfilm am Leben zu halten. Laut Dorn wurden beispielsweise Probleme kultureller Identität oder die Orientierungslosigkeit von Jugendlichen inhaltlich aufgegriffen. Speziell habe die Zielgruppe der Teenager in den Achtzigerjahren für den Vampirfilm an Bedeutung gewonnen. Im Zuge der Entdeckung von AIDS, habe man vor allem versucht, auf Gefahren der Sexualität hinzuweisen und an die Vernunft der Jugendlichen zu appellieren.86 3.3.2.2 Die Vampir-Metapher und Sexualität Sexualität ist ein wichtiger Bestandteil von Vampirfilmen. So kann zum einen der Vampirismus als Metapher für sexuelle Wünsche, Handlungen und Tabus verstanden werden, zum anderen aber dient die dargestellte Sexualität als Metapher für übergeordnete gesellschaftliche Probleme. Exemplarisch nennt Dorn die Attraktivität Draculas, welche als Teil seiner Extravaganz, im Zuge der Weltwirtschaftskrise als schädlich dargestellt werde. Ein weiteres Beispiel stellt für sie die Lesbierin im Film Vampyres (1975) dar. Diese stehe symbolisch für die Folgen der gesellschaftlichen Veränderung, insbesondere für die 85 86 ebd. vgl. ebd., S. 214/215 19 Emanzipation der Frau. Aufgrund des modifizierten Geschlechterverhältnisses seien die Männer irritiert gewesen. Dementsprechend werde im Film ein negatives Bild der Lesbierin gezeichnet.87 Der sexuelle Symbolgehalt des Vampirismus ist sehr vielfältig und bezieht sich vor allem auf das von Margit Dorn als zentral anzusehendes Motiv des Blutsaugens. Der Vampir verführt seine Opfer, welche zumeist junge, schöne Frauen sind. Sie geben sich ihm hin bis zur Unterwerfung. Sogar den Tod nehmen sie in Kauf, um das sexuelle Erlebnis mit ihm zu teilen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um den ‚typischen‘ Geschlechtsakt. Die Besonderheit der Vampir-Metapher besteht darin, dass ihr zahlreiche sexuelle Bezüge zugesprochen werden, dem Vampir an sich jedoch eine ‚normale‘ sexuelle Tätigkeit abgesprochen wird. Er vollzieht den Sexualakt durch seinen Biss, durch den er seinen Opfern das Blut, und damit das Leben nimmt. Borrmann sieht den Ursprung dieser oralen Befriedigung im Saugen an der Mutterbrust. Der ‚klassische‘ Vampir ist ein Egoist, der von seinen Trieben geleitet wird. Man kann sagen, er unterliegt einem Laster. Die Opfer hingegen, die er sich aussucht, sind zumeist unschuldig und sehnen sich nach sexueller Zuneigung. Der Konflikt zwischen ‚Versuchung‘ und ‚Vernunft‘ ist somit im Bezug auf die Vampir-Metapher sehr wesentlich. 88 In den meisten Vampirfilmen wird Sexualität als schlecht beziehungsweise bedrohlich dargestellt, Asexualtität hingegen als ‚erstrebenswert‘. Der Vampir verkörpert die Gefahr, indem er ständig danach bestrebt ist, rücksichtslos seine Bedürfnisse zu befriedigen. Somit wurde er im Laufe der Entwicklung des Vampir-Genres zur Personifikation ansteckender Krankheiten, wie zum Beispiel AIDS. Doch auch sexuelle Perversionen, wie Pädophilie, Fetischismus, Sadomasochismus und Nekrophilie, können als gesellschaftliche Tabus mittels der Vampir-Metapher aufgegriffen und in sie hinein interpretiert werden. 3.3.3 Zielgruppe Genauso vielseitig wie die Bedeutungsinhalte und Darstellungsformen von Vampirfilmen, ist auch deren Zielgruppe. Die Rezipienten variieren je nach inhaltlicher und gestalterischer Aufbereitung der Vampirthematik. Im Laufe der Genre-Geschichte hat sich jedoch die Zielgruppe der Jugendlichen als eine sehr bedeutende für das Vampir-Genre heraus gestellt. Bereits in den Achtzigerjahren erkannte man die Jugendlichen als Hauptadressaten der Botschaften an, welche von Vampirfilmen latent übermittelt werden sollen. Besonders in dieser oft als schwierig erachteten Lebensphase der Selbstfindung, spricht man dem Genre eine wichtige ‚Aufklärungsfunktion‘ zu. Egoismus und Triebverhalten sind im Jugendalter besonders ausgeprägt. Die Vampir-Metapher kann helfen, bestehende Unsicherheiten der Teenager aufzugreifen und vor unvernünftigem Verhalten warnen. Sehr deutlich wird diese Art der Zielgruppenorientierung 87 88 vgl. Dorn (1994), S. 216 vgl. Borrmann (1999), S. 229 20 an der Gestaltung der Charaktere. Diese sind meist so konzipiert, dass sich die Jugendlichen mit ihnen identifizieren können. So erzählte beispielsweise die TV-Serie Buffy die Geschichte eines Teenagers, der sich nicht nur anhand übernatürlicher Kräfte gegen Dämonen und Vampire durchsetzen muss, sondern auch mit ganz alltäglichen Problemen des Erwachsenwerdens zu kämpfen hat. Auch die neusten Erscheinungen, die Filme der ‚’Twilight’-Saga‘ oder die Fernsehserie ‚Vampire Diaries‘, sind sehr stark auf die Zielgruppe der Jugendlichen zugeschnitten. 4 Der gesellschaftsfähige Vampir als popkulturelles Phänomen 4.1. Die ‚’Twilight’‘-Saga: Ursprung eines Vampir-Hypes Die zielgruppengerechte Aufbereitung der Vampirthematik findet im derzeitigen ‚Vampir-Hype‘ ihren Höhepunkt. Stephenie Meyer hat mit ihrer fünfteiligen Romanvorlage zur ‚’Twilight’-Saga‘ eine regelrechte Welle der Begeisterung für den Vampir-Mythos ausgelöst. Der erste Band ‚’Twilight’‘, in Deutsch ‚Bis(s) zum Morgengrauen‘ erschien im Jahr 2005 und avancierte zum internationalen Bestseller. Es folgten vier weitere Bände, ‚Bis(s) zur Mittagsstunde‘, ‚Bis(s) zum Abendrot‘‚ ,Bis(s) zum Ende der Nacht‘ und ‚Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl‘89, die zwischen 2006 und 2010 in ca. 50 Ländern90 erschienen sind. Weltweit wurden bisher etwa 100 Millionen91 Exemplare der ‘Twilight’ – Romane verkauft. Auch die Verfilmungen der ersten beiden Bände wurden zu großen Publikums-Erfolgen. Insgesamt spielten die beiden Kino-Filme bisher 1,1 Billion US-Dollar92 ein. Der dritte ‘Twilight’-Film ‚Eclipse – Biss zum Abendrot‘93 kommt Ende Juni 2010 in die US-amerikanischen Kinos und auch der vierte Teil der Saga soll verfilmt werden. 4.2 Das neue Vampirbild Stephenie Meyer hat mit ihrer ’Twilight’-Saga ein neues Vampirbild geschaffen, welches sich deutlich von der gesellschaftlich verankerten Vorstellung eines Vampirs unterscheiden lässt. Edward Cullen, der Protagonist der Handlung, verkörpert einen übernatürlich schönen Vampir, dessen Liebe zu einem Menschen stärker ist als sein Verlangen nach Blut. Er kämpft gegen seinen natürlichen Trieb an und macht es sich zur Aufgabe, seine Geliebte Isabella Swan zu beschützen. Dabei stellt Edward selbst zunächst die größte Gefahr für sie dar. Obwohl er und seine Vampir-Familie sich ausschließlich von Tierblut ernähren, 89 vgl. http://www.bella-und-edward.de/web/buecher/index vgl. http://www.concorde-film.medianetworx.de/%28S%28o4uku0iqe4vetavl2jhd1045%29%29/index.html: Concorde Filmverleih, Presseservice, Presseheft engl., Stand: 08.06.2010 91 vgl. ebd. 92 vgl. ebd. 93 vgl. ebd. 90 21 fällt es ihm sehr schwer, dem Geruch des Blutes von Isabella zu widerstehen. Sie hingegen wünscht sich, ein Vampir zu werden, um ewig mit Edward vereint zu sein. ‘Twilight’ erzählt somit von einer Liebe, wie sie außergewöhnlicher und bedingungsloser nicht sein kann. Anhand der Geschichte wird deutlich, dass es sich im Fall der ’Twilight’-Saga um eine Vampir-Romanze handelt, in dessen Mittelpunkt die zwiespältige Liebesbeziehung zwischen Mensch und Vampir steht. Im Rahmen der Erzählung wird der Rezipient über das Leben der Vampire aufgeklärt. Damit verblasst der mysteriöse Charakter dieser Wesen, ihre Eigenschaften und Bedürfnisse werden freigelegt. Der Rezipient erhält somit einen neuen Zugang zum Vampir-Mythos, welcher hier in modifizierter Form thematisch aufgegriffen wird. Meyer kreiert in ihren Romanen verschiedene Arten von Vampiren, die sich zu Clans zusammen geschlossen haben und unterschiedliche Lebensstile pflegen. Das Hauptaugenmerkt liegt hierbei auf den Cullens, Edward‘s Vampir-Familie. Ihre Mitglieder integrieren sich in die Gesellschaft und haben dem Genuss von Menschenblut entsagt. Sie töten Tiere, um sich zu ernähren. Selbst in Bezug auf ihre Feinde, die Werwölfe, sind sie kompromissbereit und leben nahezu friedlich neben ihnen her. Genau wie diese übernatürlichen Wesen kleiden und verhalten sie sich in Gesellschaft wie normale Menschen. Das ‚klassische‘ Vampirbild wird jedoch auch in ‘Twilight’ nicht ganz aus den Augen verloren. So erscheint in dieser Geschichte ebenfalls der böse, blutrünstige Vampir, der skrupellos Menschen ermordet. Dieser ist Gegenspieler der ‚guten‘ Vampire und Feind der Menschen. Somit teilt Stephenie Meyer die einst ausschließlich als gefährlich dargestellten Wesen in ‚für den Menschen ungefährliche‘ und ‚böse‘ Vampire ein. Wesentliche Merkmale, welche die ’Twilight’-Vampire von den Lebenden unterscheiden, sind individuell variierende Gaben, wie die Fähigkeit, Geschehnisse vorher zu sehen, Gedanken zu hören, oder Stimmungen zu beeinflussen. Des Weiteren verfügen die Vampire über immense Kräfte und können sich sehr schnell und grazil fortbewegen. Kommt ihre Haut mit Sonnenlicht in Kontakt, beginnt sie zu glitzern. Aus diesem Grund meiden sie die Öffentlichkeit, wenn die Sonne scheint. Anhand der Farbe ihrer Pupillen kann man erkennen, wie hungrig beziehungsweise gesättigt die Vampire sind. Ist sie bernsteinfarben, so sind sie satt. Färben sich die Pupillen jedoch schwarz, ist das Verlangen der Vampire nach Blut sehr groß. Die ‚bösen‘ Vampire der Geschichte haben rote Augen. Generell werden die Vampire in Stephenie Meyers Romanen als übernatürlich schöne Wesen mit blasser Haut beschrieben, die weder essen, noch schlafen müssen. In den Verfilmungen der Romanvorlage wurde versucht, dieses imaginäre Bild vom Vampir möglichst detailgetreu umzusetzen. 22 Dementsprechend hoch waren die Erwartungen der ’Twilight’-Fans, als Ende des Jahres 200794 publiziert wurde, dass die Romanvorlage von Stephenie Meyer verfilmt werden sollte. Es musste ein Schauspieler gefunden werden, der den vollkommenen Vampir Edward zielgruppengerecht verkörpert. Schon damals gab es in Internetforen heftige Diskussionen darüber, welche Akteure am besten geeignet seien. Als bekannt wurde, dass der britische Schauspieler Robert Pattison die Rolle bekommen soll, unterschrieben sogar ca. 75.000 Menschen eine Petition im Internet, die sich gegen ihn als Edward Cullen aussprach.95 Inzwischen jedoch ist die Person Robert Pattison für Millionen von ’Twilight’-Fans zum Inbegriff eines Vampirs geworden. 4.3 Der Fan als ‚Opfer‘ Die Zielgruppe der Romane und Filme zur ’Twilight’-Saga lässt sich anhand der inhaltlichen und gestalterischen Aufbereitung des Vampirthemas recht eindeutig bestimmen. Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive eines siebzehnjährigen, schüchternen Mädchens mit dem Namen Isabella Swan. Da „ihre Gedanken, Träume und Motive spannend und nachvollziehbar erzählt werden, finden sich junge Mädchen in ihr wieder“96. Aufgrund dieser Identifikation wird das Empathieempfinden des Rezipienten gesteigert. Auch die Figur des Vampirs ist an die Zielgruppe angepasst. Edward Cullen ist romantisch, klug und beschützt Isabella. Darüber hinaus ist er sehr schön und wird von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass Edward ein Vampir ist. Er entspricht jedoch nicht der klassischen Vorstellung vom blutsaugenden Wesen, sondern wird positiv aufgewertet. „Als scheinbar ‚perfekter‘ Partner wird er so zur Projektionsfläche für latente ‚Mädchen‘-Träume.“97 Bezüglich ihrer Funktion im gesellschaftlichen Kontext weißt die ’Twilight‘-Saga Parallelen zu den Vampirfilmen der achtziger Jahre auf. Dabei liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf den Themen Adoleszenz, soziale Andersartigkeit98 und Sexualität. Die Vernunft wird zum zentralen Aspekt der Handlung. Im Gegensatz zu den damaligen Filmen, die vor dem ‚Bösen‘ in Form des Vampirs warnten, werden dem Vampir heute soziale Kompetenzen zugesprochen. Er empfindet Mitleid und Liebe, kann sein Verhalten bewusst steuern und seinen natürlichen Trieb unterdrücken. In ‘Twilight’ ermahnt Edward seine Geliebte häufig zur Besonnenheit. Insbesondere in Bezug auf Sexualität hält er seine Triebe zurück, um Isabella vor seiner Unberechenbarkeit zu schützen. Damit ist Edward Cullen nicht nur zu einer Art ’VorzeigeVampir’ avanciert, sondern zum Idol einer ganzen Generation. 94 vgl. http://www.spielfilm.de/news/8169/kristen-stewart-spielt-die-hauptrolle-in-twilight.html vgl. http://www.welt.de/kultur/article3036770/Robert-Pattinson-ist-unser-neuer-James-Dean.html 96 http://www2.mediamanual.at/pdf/filmabc/23_filmabcmat_twilight.pdf 97 ebd. 98 vgl. http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html 95 23 4.4 Vampirismus als populärkultureller Gegenstand Die ’Twilight’-Saga zählt derzeit zu den medial präsentesten Romanen und Filmen aus dem FantasyGenre. Kristen Steward und Robert Pattison, die beiden Hauptdarsteller der Romanverfilmungen, sind binnen kürzester Zeit zu weltbekannten Hollywood-Stars geworden. Zu dem großen Erfolg der VampirSaga hat allerdings nicht nur die Omnipräsenz in den Medien beigetragen. Rund um das Phänomen ‘Twilight’ hat sich eine große, internationale Fangemeinde gebildet, die hauptsächlich via Internet das virale Marketing und damit den Vampirismus-Diskurs voran treibt. So existieren zahlreiche Fanseiten, Blogs, Foren und Online-Communities, in denen sich die Fans austauschen können. Das Interesse der ’Twilight’-Anhänger geht also weit über die bloße Rezeption des Buches oder des Films hinaus. Sie setzen sich ausführlich mit dem Hintergrund der Saga und mit dem zugrunde liegenden Vampir-Mythos auseinander. Die Marketing-Industrie wiederum knüpft an die Bedürfnisse der Fans an, alles über den Film, seine Entstehung, aber auch seine Hintergründe erfahren zu wollen und bringt dementsprechende Produkte auf den Markt. So wurden bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, in denen sich die Autoren mit der ’Twilight’Saga und der von ihr ausgehenden Faszination auseinandersetzen. Doch auch ‚klassische‘ MerchandisingArtikel, wie Poster, Soundtracks oder Kleidung kann der ‘Twilight’-Fan weltweit und in verschiedensten Ausführungen erwerben. Allein an der Marketing-Kampagne zum deutschen Kinostart der dritten Romanverfilmung sind u.a. Burger King‘, ‚essence‘, ‚VOLVO‘, ‚LG Electronics‘, ‚BARBIE‘ und sogar ‚ZIMBO‘-Wurstwaren mit verschiedenen Produkten und Aktionen beteiligt. 99 Damit ist die Vampir- Begeisterung nicht mehr nur als medienübergreifendes Phänomen zu verstehen, sondern ebenfalls als wirksames Werbemittel. Im Zuge der Widerbelebung des Vampir-Genres und der damit einhergehenden Faszination sind innerhalb der letzten fünf Jahre zahlreiche Vampirbücher und Fernsehserien erschienen, die das neue Bild vom vermenschlichten Vampir aufgreifen. So lässt sich zum Beispiel in den erfolgreichen US-amerikanischen Serien ‚Vampire Diaries‘100 und ‚True Blood „das Motiv der Liebesgeschichte zwischen Mensch und Vampir“101 wiederfinden. Entsprechend gibt es auch im Internet so genannte Web-Serien, bei denen der Rezipient sogar teilweise über den Fortgang der Geschichte mitbestimmen kann. Ein professionelles und erfolgreiches Beispiel hierfür ist die amerikanische Web-TV Serie ‚I Heart Vampires‘102, welche von 99 vgl. http://www.concorde-film.medianetworx.de/%28S%28o4uku0iqe4vetavl2jhd1045%29%29/index.html: Concorde Filmverleih, Presseservice, Pressemitteilung: „Bella, Edward und Jacob bekommen starke Unterstützung im Handel“ 100 siehe dazu: http://www.vampire-diaries.de/ 101 http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html 102 http://www.take180.com/show/I__3_Vampires/h1a 24 ‚Take180‘, einem Tochterunternehmen der ‚The Walt Disney Company‘103, produziert wird. Darüber hinaus werden auch Amateur-Videoproduktionen über das Internet verbreitet. Diese „stehen vor allem im Kontext des Kommentars und der Reflexion aktueller Vampir-Begeisterung, die in transmedialen Narrativen Ausdruck und Anreiz findet“104. Insbesondere in den USA trifft die Idee vom ‚enthaltsamen‘ Vampir, wie sie in ‘Twilight’ kreiert wird, auf großen Zuspruch. Obwohl Stephenie Meyer, Autorin der Saga und bekennende Mormonin, beteuert, dass sie keine pädagogischen Ziele mit ihren Romanen verfolge105, hat sie mit ihrer Romanfigur Edward einen Vampir geschaffen, der sich voller Überzeugung gegen den Geschlechtsverkehr vor der Ehe ausspricht. Aufgrund der weiten Verbreitung einer reaktionären Weltanschauung in den USA, erreicht sie somit eine breite Zielgruppe.106 Kritiker befürchten sogar, dass sich die emanzipierte Frau durch die so genannte ’Twilight-Manie‘ zurück entwickeln könnte.107 Am Rande der neuen Faszination für den Vampir-Mythos hat sich in den USA eine Subkultur heraus gebildet, die ganz spezifisch den Werwolf, als ‚klassischen‘ Feind des Vampirs, zur Identifikationsfigur macht. Sich selbst bezeichnen die jugendlichen Anhänger als ‚Teen Werewolves“, tragen Kontaktlinsen und künstliche Schwänze. Ein Bericht über die Entstehung dieser Subkultur an der San Antonio High School wurde auf Youtube.com108 veröffentlicht und hat eine Welle an Parodien nach sich gezogen. Generell kann man sagen, dass die ‚Twilight‘-Saga eine neue Phase des Vampir-Genres eingeläutet hat. Aufgrund der Modifizierung des ‚klassischen‘ Vampirbildes und der damit einhergehenden inhaltlichen Fokussierung einer romantischen Liebesbeziehung zwischen Mensch und Vampir hat Stephenie Meyer mit ihren Romanen einen gesellschaftlichen Diskurs in Gang gesetzt. Zum einen tauschen sich die Anhänger der Vampir-Saga untereinander aus, zum anderen greifen die Medien zahlreich das Phänomen ‚Twilight‘ auf. Insbesondere die traditionellen Normen und Werte, welche durch die Geschichte vermittelt werden, führen dabei zu Diskrepanzen. Mit Hilfe der Schnelllebigkeit des Internets konnte sich die neue Vampir-Begeisterung, aber auch der daran anknüpfende Diskurs, weltweit rasant verbreiten. „Die Fan-Bewegungen um Twilight, True Blood etc. stellen sich der Netzöffentlichkeit als Massenphänomene dar und subkulturelle Zuweisungen nachhaltig infrage: Das Nischendasein des Fans ist längst passé.“109 103 http://www.take180.com/cms.do?page=privacy_policy.html http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html 105 vgl. http://www.emma.de/index.php?id=biss_ins_hirn_2009_3 106 vgl. http://www2.mediamanual.at/pdf/filmabc/23_filmabcmat_twilight.pdf 107 vgl. http://www.emma.de/index.php?id=biss_ins_hirn_2009_3 108 http://www.youtube.com/watch?v=Q77sJT8O56E 109 http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html 104 25 5 Fazit und Ausblick Anhand der vorliegenden Arbeit konnte die Entwicklung des Vampir-Genres vom einstigen Sub-Genre der Horrorliteratur zum multidimensionalen und multimedialen Gegenstand der Populärkultur nachgezeichnet werden. So machen die vorangegangenen Betrachtungen deutlich, dass sich der im Volksglauben verankerte Vampir-Mythos auch im Rahmen der medialen Aufbereitung als Kompensations- und Ausdrucksmittel menschlicher Ängste und Bedürfnisse bewährt hat. „Als ambivalenter Inbegriff für [(…) Gefahr, L.K.] auf der einen Seite und sexuelle Anziehungskraft und Lust auf der anderen, wurde die Figur des Vampirs zum zentralen Motiv unzähliger literarischer und künstlerischer Abhandlungen.“110 Je nachdem, wodurch der gesellschaftliche Kontext bestimmt wurde, hat vor allem der Vampirfilm verschiedene soziale Funktionen eingenommen. Den Höhepunkt der Popularität erfährt das Vampir-Genre im derzeitigen Vampir-Hype, welcher durch die Romane und Filme zur ‚Twilight‘-Saga ausgelöst wurde. Diese neue, extreme Art der VampirBegeisterung wirft einige Fragen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und medialen Ursachen und Konsequenzen auf.111 Insbesondere die Ausprägungen der Fankultur im Internet stellen diesbezüglich einen interessanten Forschungsschwerpunkt dar. So muss zum Beispiel die Funktion und Bedeutung des Internets als Kommunikationsplattform von Fans, Kritikern und Medien in die Betrachtung einbezogen werden. Doch auch der gesellschaftliche Kontext, die spezifische Zielgruppenadressierung, sowie der intendierte und tatsächliche Aussagegehalt der jeweiligen Romane, Filme oder Serien spielen im Hinblick auf die Erforschung des gegenwärtigen ‚Vampir-Hypes‘ eine wichtige Rolle. Es wird deutlich, dass es einer umfassenden, interdisziplinär wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf, um den Vampirismus und die damit einhergehende Faszination als Phänomen gesellschaftlicher Diskurse erfassen und verstehen zu können. Demgemäß gewinnen „medien-, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven“112 im Zuge einer solchen Genreforschung an Bedeutung. 110 http://www2.mediamanual.at/pdf/filmabc/23_filmabcmat_twilight.pdf vgl. http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html 112 ebd. 111 26 6 Literaturverzeichnis Primärliteratur Meyer, Stephenie (2008): Biss zum Morgengrauen. 4.Aufl. Hamburg: Carlsen Verlag. Meyer, Stephenie (2007): Biss zur Mittagsstunde. Hamburg: Carlsen Verlag. Meyer, Stephenie (2008): Biss zum Abendrot. Hamburg: Carlsen Verlag. Meyer, Stephenie (2009): Biss zum Ende der Nacht. Hamburg: Carlsen Verlag. Sekundärliteratur Dorn, Margit (1994): Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen. Ein Beitrag zur Genregeschichte. Frankfurt am Main: Lang. Borrmann, Norbert (1999): Vampirismus oder die Sucht nach Unsterblichkeit. Kreuzlingen/München: Hugendubel. Borstnar, Nils/Eckhardt Papst/Hans Jürgen Wulff (2008): Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft. 2. überarb. Aufl. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Brittnacher, Hans Richard (1994): Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Eibl, Karl (1987): Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 2. Deutscher Klassiker-Verlag: Berlin, S.739-741 Mikos, Lothar (2003): Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Waldkirch, Nina (2007): Der Trend zum Mystery-Genre in neuen Romanen und Filmadaptionen. Dan Brown, Arturo Pérez-Reverte und Wolfgang Hohlbein. Marburg: Tectum Verlag. 27 Ziegenhagen, Sandra (2009): Zuschauer-Engagement. Die neue Währung der Fernsehindustrie am Beispiel der Serie >Lost<. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Zillmann, Dolf (1996): “The Psychology of Suspense in Dramatic Exposition”. In: Peter Vorderer, Hans J. Wulff, Mike Friedrichsen (Hrsg.): Suspense Conceptualization, Theoretical Analyses and Empirical Explorations, Mahwah: NJ (Lawrence Erlbaum Associates), S.199-232 Zeitschriften Vonderau, Patrick (2002): „’In the hands of a maniac’. Der moderne Horrorfilm als kommunikatives Handlungsspiel“. In: Montage/AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. 11. Jg (2002), H. 2, S. 129 - 146 Tertiärliteratur Duden. Bd. 1. Rechtschreibung der deutschen Sprache (1996). 21. völlig neu bearb. und erw. Aufl. Manheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag Duden. Bd. 5. Fremdwörterbuch (2005). 8. Neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag Internetquellen http://www.bella-und-edward.de/web/buecher/index (21.06.2010) http://www.concorde-film.medianetworx.de/%28S%28o4uku0iqe4vetavl2jhd1045%29%29/index.html (21.06.2010) http://www.emma.de/index.php?id=biss_ins_hirn_2009_3 (21.06.2010) http://www.film-lexikon.de/Horrorfilm (21.06.2010) http://www.ofdb.de/film/1556,Interview-with-the-Vampire-The-Vampire-Chronicles (21.06.2010) 28 http://www.polyoinos.net/Phantastik/fantasy.html (21.06.2010) http://www.polyoinos.net/veroeffentlichungen.html (21.06.2010) http://www.research-school.rub.de/letting_the_vampire_in_2010.html (21.06.2010) http://www.spielfilm.de/news/8169/kristen-stewart-spielt-die-hauptrolle-in-twilight.html (21.06.2010) http://www.take180.com/cms.do?page=privacy_policy.html (21.06.2010) http://www.take180.com/show/I__3_Vampires/h1a (21.06.2010) http://www.vampire-diaries.de/ (21.06.2010) http://www.welt.de/kultur/article3036770/Robert-Pattinson-ist-unser-neuer-James-Dean.html (21.06.2010) http://www.youtube.com/watch?v=Q77sJT8O56E (21.06.2010) http://www2.mediamanual.at/pdf/filmabc/23_filmabcmat_twilight.pdf (21.06.2010) Sondermedien Twilight - Biss zum Morgengrauen, Regie: Catherine Hardwicke, 117 Min., USA (2008) New Moon – Biss zur Mittagsstunde: Regie: Chris Weitz, 125 Min., USA (2009) 29 7 Eidesstattliche Erklärung Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne unerlaubte Hilfe Dritter verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die inhaltlich oder wörtlich aus Veröffentlichungen stammen, sind kenntlich gemacht. Die Arbeit lag in gleicher oder ähnlicher Weise noch keiner Prüfungsbehörde vor und wurde bisher noch nicht veröffentlicht. Chemnitz, den 01. Juli 2010 Luise Köhler 30