Like a rolling stone? - Selbsthilfe

Transcription

Like a rolling stone? - Selbsthilfe
Titel
die freiheit des Patienten
20 Jahre Frankfurter Selbsthilfezeitung
How does it feel to be on
your own
With no direction home
Like a complete unknown
Like a rolling stone?
Bob Dylan
In der ersten Ausgabe der Frankfurter Selbsthilfezeitung vom
Januar 1990 weist die damalige, aus Birgit Moos-Hofius und Ilse
Rapp bestehende Redaktion darauf hin, dass Selbsthilfegruppen
ein Mittel seien, den ständig wachsenden Anforderungen unserer
schnelllebigen Gesellschaft gerecht zu werden, indem sie die
aus unserem Zusammenleben mehr und mehr verschwindenden
Beziehungssysteme wie Großfamilie, Nachbarschaft und dauerhafte freundschaftliche Bindungen zumindest teilweise ersetzten.
Wenn man anlässlich eines runden Jubiläums als altgedienter
Autor der Zeitung und Veteran der Selbsthilfebewegung die
Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre Revue passieren lässt,
finden sich mit Sicherheit genügend Belege für die beruhigende
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Annahme, dass Selbsthilfegruppen nach wie vor diese Ersatzfunktion haben und sie in befriedigender Weise erfüllen: Die Gruppe
als Bastion der Toleranz, der Würde und der wechselseitigen
Akzeptanz inmitten einer von Relativismus, Ökonomisierung und
Deregulierung verstörten Gesellschaft.
Da ich es Ihnen, den Lesern dieser Zeitung mit meinen Texten in
der Vergangenheit nicht immer ganz leicht gemacht habe, wird
es Sie sicher nicht überraschen, dass ich es bei der vorangestellten optimistischen Prognose nicht bewenden lasse und behaupte,
dass der schlichte Antagonismus zwischen Gruppe und Gesellschaft, drinnen und draußen, gut und böse, unhaltbar ist und
Titel
zu einer Verklärung führt, die der Selbsthilfebewegung abträglich psychisch als auch interpersonell. Dieser Strukturwandel wird von
ist und sie ihrer Zukunftsfähigkeit beraubt.
Dornes als ambivalent bezeichnet, weil der innere Dauerdialog
die Störanfälligkeit des psychischen Apparats erhöht und mit ihr
Der am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätige Soziologe
die Wahrscheinlichkeit, beim Anwachsen äußerer Belastungen
und Gruppenanalytiker Martin Dornes hat in einer bislang unver- möglicherweise zusammenzubrechen.
öffentlichten programmatischen Skizze Überlegungen zum Strukturwandel der Psyche in der Moderne angestellt; Überlegungen,
die ich nachzeichnen möchte, um zu verdeutlichen, dass dieser
Wandel bedenkenswerte Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und damit auch für Gesellungsformen wie die organisierte
Selbsthilfe haben könnte. Dornes, der bis 2001 stellvertretender
Direktor des von Michael Lukas Moeller geleiteten Instituts für
Medizinische Psychologie am Uniklinikum Frankfurt war und mit
seinen Büchern zu einem vertieften gesellschaftlichen Verständnis des frühen Sozialisationsprozesses beigetragen hat , vertritt
die These, dass die seit etwa 1980 in dreiviertel aller bundesrepublikanischen Familien zu beobachtende Verschiebung vom
„Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ eine zentrale Erziehungsvorstellung befördert hat, in der Gehorsam und Unterordnung
abgewirtschaftet haben und statt dessen Selbstständigkeit und
freier Wille vorherrschen. Dieser „anerkennende“ Erziehungsstil
bildet eine grundlegende Voraussetzung für das psychosoziale
Wohlbefinden des Kindes und die Ausbildung eines gesunden
Selbstwertgefühls.
Wenn man diese Veränderung des Erziehungsklimas als eine
Facette eines umfassenderen Enttraditionalisierungsprozesses
begreift, liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei nicht nur
um ein Oberflächenphänomen, sondern um einen nachhaltigen
„Umbau“ der Persönlichkeitsstruktur handelt. Die Elemente
des psychischen Apparats – in psychoanalytischer Terminologie:
Es, Ich und Überich – treten in ein verändertes Verhältnis
zueinander. Das Es wird weniger triebhaft, das Überich weniger
triebfeindlich und rigide, das Ich flexibler und sublimierungsfähiger. Diese kommunikative Verflüssigung der inneren
Instanzen entkrampft und lockert den psychischen Apparat,
indem Triebimpulse jetzt nicht mehr, wie früher, verboten und
zensiert, sondern ungefiltert zugelassen und angehört werden.
Das Zwiespältige an dieser Errungenschaft liegt darin, dass die
Aufhebung der Zensur damit einher geht, dass sich das Ich allen
Triebregungen stellen muss; vergleichbar der Anstrengung,
die es bedeutetet, sich als fortschrittliche Eltern pausenlos den
Ansprüchen des Kindes zu stellen: Alles darf, soll und muss nicht
selten bis zur Erschöpfung ausdiskutiert werden- sowohl intra-
Mit der traditionellen,
unter der Diktatur des
Überichs ausgebildeten
Charakterstarre geht
auch ein Stück Charakterstärke verloren,
wenn man darunter die
Fähigkeit versteht, auftauchende Wünsche,
Bedürfnisse und Begehrlichkeiten umstandslos
zurückzustellen oder zu
verwerfen.
Diesen Triebverzicht kann man als „stark“ bezeichnen, weil er die
Konzentration auf eine von außen gestellte Aufgabe erleichtert,
aber „starr“, weil er auf Kosten von inneren Regungen geht, die
bereichernd und belebend sein könnten, wenn sie zugelassen
würden. Das markanteste Kennzeichen dieser subjektiven Modernisierung ist laut Dornes die Verbindung von größerer intrapsychischer Freiheit und größerer Verletzlichkeit. In Ermangelung
eines besseren Begriffs belegt der Autor diese Psychostruktur mit
dem Begriff der „postheroischen Persönlichkeit“. Damit ist zum
einen gemeint, “dass sich dieser Typus von einer heroischen
Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet hat wie
vom heroischen Aus- und Durchhalten einmal getroffener Lebensentscheidungen. Er ist gewissermaßen beweglicher geworden“.
Jenseits der begrifflichen Anstrengungen des Wissenschaftlers
begegnet Martin Dornes dem Typus der postheroischen Persön-
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lichkeit mit vorsichtiger Sympathie und stellt ihm im Bereich
seiner Charaktereigenschaften ein insgesamt gutes Zeugnis aus.
Er sei mit „innerer Toleranz“ ausgestattet und aufgrund des in
der Kindheit erworbenen Selbst- und Weltvertrauens in der Lage,
den Argumenten und Anliegen anderer Menschen mit Duldung
und Neugier zu begegnen und sie affektiv unvoreingenommen
zu würdigen. Seine fehlende Autoritätshörigkeit mache ihn
demokratiefreundlicher und befähige ihn in Abkehr von den
gesellschaftlichen Großobjekten zum mikrosozialen Engagement:
„Die Selbsthilfegruppe wird wichtiger als die Gewerkschaft, das
Selbstbewusstsein wird wichtiger als das Klassenbewusstsein, die
Alltagssolidarität in der örtlichen Bürgerinitiative wichtiger als
die Arbeitersolidarität im Rahmen einer Partei.“ Psychostrukturell
könne man also zumindest der Tendenz nach von einer Abkehr
vom Universalismus und einer Hinwendung zu partikulareren
Aspekten des Zusammenlebens sprechen.
Dass ich mich den sorgfältig belegten, von verhaltenem Optimismus geleiteten Thesen Martin Dornes nicht vorbehaltlos anzuschließen vermag, kann auf die fehlende Geduld im Umgang
mit hochkomplexen Formen der Theoriebildung, dem Mangel
an eigentlich wünschenswerter „innerer Toleranz“ oder eine
selbstverborgene Affinität zum heroischen Persönlichkeitstypus
alter Prägung zu tun haben. Kurzum: Ich bin mir nicht sicher,
ob die Beweglichkeit des neuen Sozialisationstyps das mikrosoziale
Engagement auf lange Sicht befördert oder zerstört. Weniger
dramatisch ausgedrückt: Mitarbeiter von psychologischen Beratungsstellen, psychosozialen Ambulanzen und Selbsthilfe-Kontaktstellen berichten vermehrt von telefonischen Erstgesprächen,
bei denen die Ratsuchenden das Gespräch mit der unangenehm
berührenden Aufforderung einleiten:
Wenn die sofortige Ausbreitung des Warenkorbes verweigert wird,
ist es nicht selten so, dass der Anrufer den Druck erhöht und sein
Gegenüber daran erinnert, das er schließlich auch von seinem
Steueraufkommen bezahlt werde und deshalb verpflichtet sei,
ihm uneingeschränkt Rede und Antwort zu stehen.
Der Verdacht, dass es sich bei diesen fernmündlich vorgetragenen Unverschämtheiten um mehr handeln könnte als um die
verbalen Entgleisungen unverschämter Einzelgänger, wird durch
die Erfahrungen bestätigt, die ich als teilnehmender Beobachter
in verschiedenen Selbsthilfeorganisationen wie der Deutschen
Multiple Sklerose Gesellschaft, der Sklerodermie-Selbsthilfe und
dem Verein der Lebertransplantierten Deutschland sammeln
konnte. Was im Erstkontakt mit den informellen Gruppenleitern dieser vom Krankheitsbild und dem Selbstverständnis her
deutlich zu unterscheidenden Organisationen ins Auge sprang,
war das schätzungsweise von Mitte 50 bis Mitte 70 reichende
fortgeschrittene Alter der Gruppenrepräsentanten.
Diese Menschen, die
als von der jeweiligen
Erkrankung Betroffene
seit bis zu 20 Jahren
unverzagt den
Gruppenkarren ziehen,
indem sie Fachärzte
einladen, Sponsoren
„Sagen Sie mir erst Mal, gewinnen, Freizeitaktivitäten steuern und
welche Gruppen Sie
Fahrdienste für Kranke
denn so im Angebot
und deren Angehörige
organisieren, ließen
haben.“
im Fortgang der
Gespräche erkennen,
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Titel
dass ihre Gruppen trotz
der kontinuierlichen
Zunahme von Neuerkrankten und Transplantationspatienten
im Wartestatus vom
Aussterben bedroht
seien: Die Jungen
wollen nicht mehr.
Ein würdiger alter Herr im Rollstuhl, der in einer Kleingruppe des
Gruppenleiterforums der DMSG Rheinland-Pfalz auf anrührende
und diskrete Weise andeutete, dass er aufgrund der rapiden
Verschlechterung seines Gesundheitszustands in absehbarer
Zukunft ein Pflegefall sein werde und die Leitung der ihm ans
Herz gewachsenen Gruppe abgeben müsse, bilanzierte seine
Begegnungen mit den Neuerkrankten in einer Mischung aus
Resignation und Fassungslosigkeit: „Sie tauchen nach Mitteilung
ihrer Diagnose in der Gruppe auf, versorgen sich mit unserer
Anteilnahme und unserem medizinischen Fachwissen und
verschwinden ebenso schnell wie sie gekommen sind. Sie haben
keinen Blick für die Gruppe und lassen die Menschen, die ihnen
Aufmerksamkeit und Einfühlung haben zuteil werden lassen,
achtlos fallen wie ausgequetschte Zitronen“.
Wenn man diese Äußerungen nicht als Bekenntnisse eines
gekränkten und verbitterten Gruppenpatriarchen im Augenblick
seiner Abdankung diskreditiert, zeichnet sich womöglich eine
unangenehme Wahrheit ab, die zwei Botschaften enthält: Die
vielbelächelten Helfer sterben aus und mit ihnen verschwindet
das ihnen zugeordnete neurotische Syndrom. Die auf einer
reziproken Struktur des fließenden wechselseitigen Gebens und
Nehmens beruhende Gruppenkultur der Gesprächsselbsthilfe
verarmt zugunsten eines psychisch unverbindlichen Systems von
Angebot und Nachfrage: Selbsthilfeberatungsstellen und Selbsthilfegruppen offerieren gesundheitliche Dienstleistungen und
der Kunde, mal als König, mal als Schnäppchenjäger, bedient
sich je nach ökonomischem Vorteil und individuellem Bedarf.
Dass man sich mit einer solch pessimistischen Prognose dem
Vorwurf der radikalen Einseitigkeit aussetzt, kann nicht ausbleiben.
Und weil er berechtigt ist, empfiehlt es sich, zu einer wohlwollenderen Sichtweise zurückzukehren, die uns Martin Dornes
in seinen Überlegungen zum Strukturwandel der Psyche nahe
legt: Die Flexibilität der postheroischen Persönlichkeit ist nicht
Ausdruck von Angst, sondern der einer psychischen Verfassung,
die nicht Anpassung, sondern einen Zuwachs neuer Selbst- und
Weltgestaltungsmöglichkeiten impliziert. Wegen des hohen
Tempos sozialer Wandlungs- und Enttraditionalisierungsprozesse
sowie der damit einhergehenden Dehnung des sozialen Gewebes,
steht die Struktur dieser Persönlichkeit allerdings weitgehend im
Freien. Sie findet ihren Halt überwiegend in sich selbst und ist
deshalb von Entgleisungen und Überanstrengungen bedroht.
Die Zukunft wird
zeigen, wie sie
damit fertig
werden wird.
Da alle mehr oder weniger im Freien stehen, bleibt abzuwarten,
was aus uns wird, den Alten und den Jungen, den Beweglichen
und den Unbeweglichen, den Selbstlosen und den Selbstbewussten.
Fortsetzung demnächst in dieser Zeitung.
Günter Franzen
[email protected]
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