Wicker Klinik Bad Wildungen Seelische Erkrankungen

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Wicker Klinik Bad Wildungen Seelische Erkrankungen
Wicker Klinik Bad Wildungen
Seelische Erkrankungen
Effizienz um jeden Preis – Ist die Seele schnell genug?
Seelische Erkrankungen - Einleitung
Die stetige Veränderung und Wandlung ist ein entscheidendes Kriterium von Lebendigkeit.
Zeit unseres Lebens und auch davor und danach wandeln wir uns und wandeln sich Dinge um
uns herum. Veränderung und Wandlung gab es schon immer und wird es auch weiter geben.
Das Besondere, das wir in den letzten Jahrzehnten erleben ist, dass sich die Veränderungen
um uns herum mit einer ungeheuren Dynamik und mit großem Tempo vollziehen, so, dass wir
den Dingen vielleicht noch intellektuell folgen können, aber unsere Seelen oft nicht mehr
Schritt halten können und erlahmen oder streiken, im Sinne von „Neben-sich-stehen“ oder
Depression oder Burnout. Die Beschleunigung des Lebens im Allgemeinen und unsere
Seelengeschwindigkeit ist ein sehr weites Thema. Als bekennende Autoliebhaberin habe ich
mich am Rande mit Fragen beschäftigt, ob es „Hochgeschwindigkeitsseelen“ gibt, die
besonders schnell bei äußeren Veränderungen Schritt halten können, ob es „gedrosselte“
Seelen gibt, so eine Art Tempo 30 Zone für Seelen, ob Seelen beschleunigen und bremsen
können bzgl. der Anpassungsleistung an Veränderung, ob sie im Winter langsamer und
vorsichtiger sind als im Sommer. Ich bin zu diesen Fragen noch nicht zu einer abschließenden
Meinung gekommen, habe mich dann entschieden, das Thema auf Veränderungen in der
Arbeitswelt und deren mögliche Folgen einzugrenzen.
Ich möchte Ihnen in einem ersten Schritt über die Zunahme von seelischen Erkrankungen in
den letzten Jahren berichten. Im zweiten Teil möchte ich einen möglichen Zusammenhang
zwischen Veränderungen unseres gesellschaftlichen Alltags, insbesondere im Hinblick auf die
Arbeitssituation darstellen. Im dritten Teil werde ich Ihnen Kausalitäten zwischen
Veränderungen der Arbeitslandschaft und dem Anstieg von seelischen Erkrankungen aus
entwicklungspsychologischer Sicht darstellen. Im vierten und letzten Teil möchte ich dann die
Aufgaben der Psychotherapie in der Gegenwart und in der nahen Zukunft in dem vorab
geschilderten Problemfeld darlegen.
In der folgenden Darstellung habe ich versucht Ihnen das Problemfeld bildlich darzustellen:
Seelische Erkrankungen - Teil 1
Beginnen möchte ich zunächst mit einigen wenigen Zahlen und Statistiken, um das Ausmaß
oder den Rahmen zu umreißen, in dem sich die psychotherapeutische Arbeit jetzt und in der
nahen Zukunft zunehmend bewegen wird.
Aus dem Gesundheitsreport einer großen deutschen Ersatzkasse (DAK) geht hervor, dass
2004 bei einem Krankenstand von 3,2 % und durchschnittlich 11,6 Arbeitsunfähigkeitstagen
22,6 % durch Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems hervorgerufen wurden, Tendenz
fallend, 15,5 % durch Erkrankungen des Atmungssystems, Tendenz fallend, 14,4 % durch
Verletzungen (Arbeits- und Wegeunfälle), Tendenz fallend und 9,8 % durch psychische
Erkrankungen hervorgerufen wurden (2003 8,8 %) Tendenz steigend.
Betrachtet man die Entwicklung der AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen zwischen
1997 und 2004, so ist ein Anstieg um 68,7 % zu verzeichnen.
Im Jahr 2004 waren 2,9 % der Beschäftigten wegen einer psychischen Erkrankung
arbeitsunfähig. Der starke Anstieg der Ausfallstage aufgrund psychischer Erkrankungen ist
umso bemerkenswerter, als dass Krankheitsniveau zwischen 1997 und 2004 insgesamt
konstant geblieben bzw. 2004 gegenüber dem Vorjahr sogar leicht gefallen ist.
Das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen bildet jedoch nur einen vermutlich kleinen Teil des
tatsächlichen Krankheitsgeschehens ab. Die Zahl der von psychischen Erkrankungen
Betroffenen liegt deutlich höher, da in der Analyse der Krankenkasse nur diejenigen
Erkrankungen erfasst werden, die zu Arbeitsunfähigkeitszeiten führen. Viele Beschäftigte
gehen jedoch trotz vorhandener Symptomatik zur Arbeit oder können die Arbeitsfähigkeit
medikamentös oder durch psychotherapeutische Behandlung erhalten.
Frauen sind von psychischen Erkrankungen stärker betroffen als Männer. Psychische
Erkrankungen machten bei Männern 2004 etwa 8,4 % der Krankheitstage aus, bei Frauen
waren es 11,6 %.
Betrachtet man die Betroffenenquote, so ist festzuhalten, dass 2004 3,9 % der erwerbstätigen
Frauen eine AU-Zeit aufgrund psychischer Erkrankungen hatten, während es bei Männern 2,2
% waren.
Zu dem Geschlechterunterschied werden u.a. folgende Hypothesen formuliert:
1. Stresshypothese:
Frauen leben in einer schlechteren sozialen Situation als Männer: Geringere Aus- und
Weiterbildungsmöglichkeiten, geringerer sozialer Status, geringes Einkommen. Daraus
folgert eine höhere Stressbelastung bei Frauen, die wiederum mehr psychische Erkrankungen
zur Folge hat.
2. Expressivitätshypothese:
Frauen können negative wie positive Gefühle offener als Männer schildern. Infolge dessen
werden psychische Erkrankungen bei Frauen häufiger diagnostiziert.
3. Beziehungshypothese:
Frauen sind die „Beziehungsarbeiterinnen“ und „Vernetzerinnen“ in den Familien und in der
Gesellschaft allgemein. Sie sind daher von schnellen Veränderungsprozessen im privaten wie
im beruflichen Umfeld auf Beziehungsebene besonders betroffen und reagieren daher
häufiger als Männer mit seelischen Erkrankungen.
Es gibt noch zahlreiche andere Hypothesen zu der Frage, warum mehr Frauen als Männer
seelische Erkrankungen entwickeln. Dies ist heute nicht das Hauptthema meines Vortrages,
daher möchte ich es mit den 3 Hypothesen bewenden lassen.
Als Rehamedizinerin hat mich in diesem Zusammenhang auch die Frage beschäftigt, in
welcher Weise sich die Zunahme der seelischen Erkrankungen auf Rehaleistung und
Berentung ausgewirkt hat.
Betrachtet man die Bedeutung psychischer Erkrankungen aus unterschiedlichen
Wirtschaftsgruppen, so sind insbesondere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
Gesundheitswesens betroffen, gefolgt von Angestellten der öffentlichen Verwaltung und an
dritter Stelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Organisationen und Verbänden (Quelle:
DAK Gesundheitsbericht 2005). Den 3 Bereichen u.a. gemeinsam ist, dass es sich um
Dienstleistungsbereiche handelt, wo aufgrund des Publikumverkehrs besondere Fähigkeiten
im kommunikativen – und Beziehungsbereich gestellt werden.
Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten in Deutschland zu beobachtenden
psychischen Erkrankungen. Auf internationaler Ebene zeichnet sich eine ähnliche
Entwicklung ab. Angststörungen sind in der Bevölkerung weiter verbreitet als depressive
Störungen: 14,5 % der Bevölkerung haben innerhalb eines Jahres eine Angststörung, während
8,3 % eine depressive Störung haben. Die depressiven Störungen führen jedoch häufiger zu
Arbeitsunfähigkeitszeiten, während die Angststörungen mit entsprechenden
Vermeidungsstrategien die Arbeitsfähigkeit wenig beeinträchtigt. So stieg die Zahl der
Ausfallstage aufgrund von depressiven Störungen zwischen 2000 und 2004 um 42 %
(Erkrankungsfälle stiegen um 30 %). Die Zahl der Ausfallstage aufgrund von Angststörungen
stieg zwischen 2000 und 2004 um 27 % (Anstieg der Erkrankungsfälle um 17 %) (Abbildung
4).
Die Frage, ob psychische Erkrankungen tatsächlich zunehmen oder nur besser diagnostiziert
oder von den Betroffenen mehr Beschwerden geäußert und die Erkrankungen eher akzeptiert
werden, kann derzeit noch nicht mit Sicherheit beantwortet werden, da entsprechende
Langzeituntersuchungen fehlen. Belegt ist, wie bereits oben aufgeführt, dass
Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund psychischer Erkrankungen ansteigen, ebenso wie die
Inanspruchnahmequoten von Leistungen des medizinischen Versorgungssystems. Vieles
spricht jedoch für eine Zunahme der psychischen Erkrankungen. Experten gehen davon aus,
dass die Depression im Jahre 2020 weltweit den zweiten Rang unter den „Behinderungen
verursachenden Erkrankungen“ einnehmen wird.
Seelische Erkrankungen - Teil 2
Ich habe mich mit der Frage beschäftigt, was sich gesellschaftlich, insbesondere in der
Arbeitswelt verändert hat, um eine mögliche Erklärung für den oben geschilderten
Sachverhalten zu finden:
► Verdichtung der Arbeitsanforderungen und Beschleunigung von Prozessen
→ durch Personalabbau bei gleich bleibendem Arbeitsaufkommen findet eine allgemeine
Verdichtung von Arbeit statt.
→ Steigerung der Arbeitsanforderung durch verstärkte Qualitätsanforderungen, mehr
Eigenverantwortung, Einrichtung von Profit-Centern und der Möglichkeit, Fehler
zurückzuverfolgen, Pflicht zum lebenslangen Lernen.
→ Besonders im Kommunikationsbereich findet sich eine erhebliche Beschleunigung der
Prozesse: Erleichterte Information via PC führt zu Datenflut, Zeitaufwand mit Sortieren,
schnelle Antworten, schnelle Reaktionszeiten
→ Erhöhte Ansprüche an Flexibilität (Zeitarbeitsfirmen, Projektarbeit)
► Geringere Kontrollierbarkeit der Arbeitswelt, geringere Vorhersehbarkeit und
geringe
Selbstwirksamkeitserfahrungen,
→ Geringere Beeinflussbarkeit von Prozessen (Globalisierung, Zentralisierung ...)
→ Häufiger Jobwechsel, unsichere Zukunftsperspektiven,
→ Enger werdende oder fehlende Handlungs-, Entscheidungs- und Zeitspielräume
→ Entpersönlichte Kommunikation: Amerikanische Firma San Microsystems, ein weltweit
führendes Technologieunternehmen stellt Mitarbeiter nur noch per Computerbewerbung
ein, lässt sie am Computer arbeiten und entlässt sie auch per Mausklick.
→ Befristete Arbeitsverträge
→ Angst vor Outsourcing oder Restrukturierung mit nachfolgenden Entlassungen: Beispiel
Telekom: 50000 MitarbeiterInnen sollen outgesourct werden mit dem Ziel, dass sie zu
geringerem Lohn und shlechteren Bedingungen die gleiche Arbeit weiter machen.
→ Es findet sich eine Tendenz zur Verringerung von Festangestellten und im Einsatz
zusätzlicher Leiharbeiter. Das erschwert die Identifikation mit dem Arbeitsplatz
→ Arbeitsplatzverlust trotz hohem Engagement
→ Häufiger Wechsel von Aufgaben und Zuständigkeiten durch Reorganisation und
Restrukturierung
→ Halbwertszeit von Unternehmensentscheidungen werden immer kürzer
→ Angst davor, die steigenden Leistungserwartungen nicht zu schaffen
→ Verlagerung von Verantwortung auf untere Ebenen durch Profit-Center und
Kostenstellenrechnung. Dadurch erhöht sich der Druck auf den unteren Ebenen.
► Ausdünnung sozialer Bezugssysteme
→ Hohe Anforderungen an Flexibilität, oft auch mit Wechsel der Arbeitsorte verbunden
→ Häufige Restrukturierungsmaßnahmen und Reorganisationsmaßnahmen verändern
Teams
und damit soziale Gruppen am Arbeitsplatz
→ Zeitverträge führen zu häufigem Teamumbau
→ Da es immer noch zu wenig Teilzeitarbeitsplätze gibt, ist Vereinbarkeit von Familie und
Beruf schwierig, führt zu erhöhtem Druck, auch im Privatleben
→ Wegen unsicherer Arbeitsplätze nimmt Konkurrenzverhalten und Mobbing zu
→ Führung orientiert sich ausschließlich an Kennzahlen und nicht an humanen Werten
→ Erholungsphasen werden kürzer oder verschwinden ganz
→ Veränderungen der Arbeitszeiten (Ladenöffnungszeiten,..) belasten private soziale
Bezugssysteme
→ nach Ausschöpfung aller Rationalisierungsreserven gibt es keinen Platz mehr für bislang
gut
mitlaufende Langsamarbeiter, keine soz. Nischen mehr.
► Geringe Wertschätzung und Belohnung
→ Geringere Wertschätzung des Einzelnen (Gehälter runter, Ökonomisierung aller
betrieblichen
Abläufe, alle Entscheidungen orientieren sich ausschließlich an Kennzahlen. Die
täglichen
Börsendaten belegen, dass Unternehmen wertvoller werden, wenn sie den
Mitarbeiterstab
verschlanken. Dies entspricht einem Wertewandel).
→ Keine der Tätigkeit und dem Einsatz angemessener Entlohnung
→ Keine Aufstiegsmöglichkeiten (planbar)
► Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft
→ Dienstleistung geht meist mit „Kundenkontakt“ einher. Dies erfordert mehr psychische
Fähigkeiten wie Konzentration, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Reaktionsfähigkeit,
Affektkontrolle, Lernfähigkeit und Wahrnehmung. Diese Fähigkeiten sind äußerst
stressvulnerabel. (Beispiel: Krankenhaus, Schaffner, AA,..)
→ Soziale und kommunikative Fähigkeiten werden zu wenig geschult
→ Konflikte entstehen, wenn einerseits Kundenorientierung gefordert, andererseits die
zeitlichen Ressourcen für Abwicklung der Dienstleistung nicht ausreichen.
→ Mehr Emotionsarbeit, die sozialer Stressor sein kann.
→ Kundenorientierung als möglicher Stressor.
► Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit
→ Erwartung, dass MitarbeiterInnen selbständig Probleme lösen, zum Beispiel in dem sie
auf
Erfordernisse des Marktes reagieren. Dann fehlen oft vorgefertigte Wege und definierte
Aufgaben. Das kann Chance oder Überforderung sein.
→ Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwinden, z.B. wenn ständige
Erreichbarkeit
gefordert, per Handy oder E-Mail. Dadurch sind verstärkte Abgrenzungsfähigkeiten
besonders notwendig.
→ Oft unklare Zielvorgaben, die der Betroffene nicht erreichen kann und für die er aber
dann
geradestehen soll (Ohnmacht)
→ Prinzip der Selbststeuerung: Ziele werden vorgegeben, jedoch dem Einzelnen große
Handlungsspielräume gelassen, mit welchen Mitteln und Methoden er das Ziel erreicht.
Man
versucht dadurch oft erfolgreich bei den Geschäften eine selbsttätige Steigerung der
Leistungsverausgabung zu erreichen.
► Arbeitslosigkeit
→ Arbeit als sinn- und strukturgebende Tätigkeit nicht mehr vorhanden. Der Broterwerb
aus
eigener Kraft als Selbstwertsteigerung fehlt, Verlust des sozialen Status und der sozialen
Sicherheit.
Ich möchte an dieser Stelle besonders betonen, dass die oben genannten veränderten
Rahmenbedingungen nicht bei allen Menschen automatisch zu psychischen Erkrankungen
führen. Erfreulicherweise schaffen die meisten Menschen noch die notwendigen
Anpassungsprozesse. Was für manche eine Überforderung darstellt, ist für andere eine
Herausforderung durch die sie sich angespornt fühlen. Seelische Erkrankungen sind immer
multifaktoriell bedingt und müssen immer im Zusammenhang mit individuellen und
persönlichen Voraussetzungen bezogen auf Kompetenzen, Ressourcen, Defizite und
Schwächen gesehen werden. Trotzdem scheinen die oben skizzierten Veränderungen der
Bedingungen in der Arbeitswelt bei zunehmend mehr Menschen die Anpassungs- und
Kompensationsmöglichkeiten zu übersteigen und seelische Erkrankungen zu fördern.
Seelische Erkrankungen - Teil 3
Um die möglichen Zusammenhänge besser zu verstehen möchte ich mit Ihnen jetzt im dritten
Teil kurz die Welt der Entwicklungspsychologie besuchen, die uns, wie ich meine, Antworten
gibt, inwieweit oben genannte Veränderungen für immer mehr Menschen krankmachend sind.
Von Daniel Stern und Martin Dornes und anderen Babywatchern wissen wir, dass Säuglinge
bereits hoch kompetent sind, wenn sie zur Welt kommen: Es gibt das Paradigma des aktiven,
kompetenten Säuglings, der von der ersten Lebensminute aus sich heraus aktiv und
konstruktiv danach strebt mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, sich diese anzueignen und
letztlich über Kontrollerfahrungen Sicherheit in dieser Umwelt zu gewinnen.
Bereits vor der Geburt
● machen Embryonen erste Sinneserfahrungen
● kommt es zum Aufbau von strukturierten, neuronalen Netzwerken durch Erfahrungen und
somit zu einer nutzungsabhängigen Strukturierung des Gehirns
● ist eine frühe Eigenaktivität zu beobachten.
Nach der Geburt
● kommuniziert der Säugling präverbal und selbstaktiv mit den Bezugspersonen
● verfügen die Säuglinge über einen relativ differenzierten Wahrnehmungsapparat und
können
zwischen vertrauten und nicht vertrauten Personen unterscheiden
● Säuglinge verfügen von Geburt an über ein differenziertes Grundmuster von Affekten wie
Überraschung und Ekel, Interesse, Neugier und Freude. Traurigkeit ist ab dem ersten
Monat,
Furcht und Ärger in etwas vier bis sechs Monaten zu beobachten.
● Säuglinge sind mit einem hohen Maß an Energie ausgestattet, sie besitzen eine
Grundtendenz
zu wachsen, im körperlichen, geistigen und psychischen Sinne.
Man kann also von einer grundsätzlichen Tendenz des Kindes ausgehen, die Welt erobern zu
wollen, sie zu meistern und Mängel zu kompensieren und sich nicht von der Welt
zurückzuziehen.
Die Bildung der inner-psychischen Struktur, der Selbststruktur (als handlungsleitende Instanz)
vollzieht sich in der Auseinandersetzung des Säuglings bzw. des erwachsenen Menschen mit
der Umwelt über die Bildung von Erfahrungen, die dann inner-psychisch präsentiert werden.
Hüther (2004) definiert den Begriff „Erfahrung“ als das „im Gedächtnis eines Individuums
verankerte Wissen, die in seinem bisherigen Leben entweder besonders erfolgreich oder
besonders erfolglos eingesetzten, und in dieser Weise immer wieder bestätigt befundenen und
deshalb auch für die Lösung zukünftiger Probleme als entweder besonders geeignet bzw.
ungeeignet bewerteten Strategien des Denkens und Handelns. Solche Erfahrungen sind immer
das Resultat der subjektiven Bewertung der eigenen Reaktion auf eine wahrgenommene oder
als bedeutend eingeschätzte Veränderung der Außenwelt. Dabei sind die wichtigsten
Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens machen kann, psychosozialer Natur. Zu
beachten ist dabei, dass die einmal gebildeten Strukturen und neuronalen Netzwerke, sofern
sie einmal gefestigt sind, aus Gründen der mentalen Ökonomie relativ konservativ sein
müssen. In den ersten beiden Lebensjahren bildet sich eine große Anzahl an Verbindungen
zwischen den Nervenzellen im Gehirn aus – wesentlich mehr als später benötigt werden.
Danach wird ausgelichtet. Nur die Kontakte bleiben erhalten und verstärken sich, die immer
wieder benötigt werden; die anderen verkümmern. Mit der Pubertät ist dieser Prozess im
Wesentlichen abgeschlossen: Dem Erwachsenen steht ein gut eingefahrenes, aber auch
weniger anpassungsfähiges Nervennetz zur Verfügung.
In diesen neuronalen Netzwerken sind die Bindungs- und Erziehungserfahrungen der frühen
Kindheit niedergelegt.
Wichtige Variablen dieser frühen Interaktionsprozesse sind unter anderem Empathie und
Feinfühligkeit, das Ermöglichen von Regelmäßigkeiten, das adäquate Spiegeln der
Lebensäußerungen des Kindes und entsprechende soziale Rückversicherung. Drei Faktoren
kommen besondere Bedeutung zu:
a)
dem Erfahren sicherer Bindung
b)
der Unterstützung kindlicher Emotionsregulation und Affektabstimmung
c)
dem Erleben von Kontrolle und Selbstwirksamkeit.
Insbesondere das Erfahren einer sicheren Bindung ist die Basis für Neugierverhalten und eine
„offene Weltbegegnungshaltung“. Eine unsichere Bindung an sich ist noch nicht als
pathologisch zu betrachten, stellt aber möglicherweise eine Ursache für die Entwicklung
defensiver Handlungsstrategien beim Umgang mit neuen Anforderung dar.
Bezogen auf Kontrolle und Selbstwirksamkeit ist zu sagen, dass ein Individuum insbesondere
in den ersten Lebensjahren eine Grundüberzeugung darüber entwickelt, inwieweit das Leben
einen Sinn macht, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeiten bestehen, ob es sich lohnt
sich einzusetzen und zu engagieren. (Kohärenz nach Antonovsky) Diese
lebensgeschichtlichen Erfahrungen führen zu bestimmten Erwartungen, in welchem Ausmaß
dieses Grundbedürfnis befriedigt wird.
Selbstwirksam sein heißt, aufgrund bisheriger Erfahrungen auf seine Fähigkeiten und
verfügbaren Mittel vertrauen zu können und davon auszugehen, ein bestimmtes Ziel auch
durch Überwindung von Hindernissen am Ende tatsächlich erreichen zu können. Eine große
Bedeutung haben dabei die Erwartungen, ob das eigene Handeln zu Effekten führt oder nicht.
Diese Erwartungen steuern schon im Vorherein das Herangehen an Situationen und
Aufgaben, damit auch die Art und Weise der Bewältigung und führen so oftmals zu einer
Bestätigung des eigenen Selbstwirksamkeitserlebens. Der Mangel an
Selbstwirksamkeitserleben und an Kontrollerfahrungen kann auch im Erwachsenenalter zu
erheblichen psychischen Krisen führen.
Bevor ich mit der Entwicklungspsychologie schließe, möchte ich Ihnen noch kurz
zusammenfassend Variablen beschreiben, die für eine förderliche Entwicklung von Kindern
hilfreich sind:
→ Sicherheit gebende und stabile, verlässliche Beziehungen zumindest einem erwachsenen
Menschen
→ Die Bezugspersonen sollten feinfühlig sein, ein emotional warmes aber auch klar
strukturierendes Erziehungsverhalten zeigen
→ Sie sollten bei der Selbstregulation Unterstützung geben
→ Es sollten soziale Modelle angeboten werden, die ein angemessenes
Bewältigungsverhalten
in Krisensituationen zeigen, Kinder sollten dazu ermutigt werden.
→ Kinder sollten frühe Möglichkeiten zu Selbstwirksamkeitserfahrungen haben
→ Sie sollten anregende Bedingungen haben, um kognitive Kompetenzen entwickeln zu
können
→ Sie sollten Möglichkeiten zur Entwicklung eines Kohärenzgefühls haben. Gemeint ist
damit, die
Erfahrung zu machen, dass Reize und Informationen aus der Umwelt einer gewissen
Regelmäßigkeit unterliegen und auf geistiger Ebene begreifbar und auch beeinflussbar
sind und,
dass das Leben einen Sinn hat und die eigene Existenz von Bedeutung ist
→ Sie sollten unter guten und sicheren sozioökonomischen Bedingungen aufwachsen
Die hier geschilderten günstigen Bedingungen für Entwicklungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten bei Kindern gelten auch für gesunde soziale Bedingungen im
weiteren Erwachsenenleben. Hatten Kinder die Chance unter diesen günstigen Bedingungen
aufzuwachsen, sind sie als Erwachsene häufig resilient genug, um trotz erschwerter
Bedingungen in der Arbeitswelt seelisch gesund zu bleiben. Waren die Bedingungen der
Entwicklung eher ungünstig, so sind die Menschen im Erwachsenenalter möglicherweise eher
vulnerabel für die Entwicklung seelischer Erkrankungen, wenn sich die gesellschaftlichen und
Arbeitsbedingungen wie oben geschildert verändern. D. h., dass ihre Bewältigungskompetenz
und ihre Bewältigungsfähigkeiten, bezogen auf neue Anforderungen und
Anpassungsleistungen, im Arbeits- wie im Privatleben möglicherweise nicht ausreichen und
so seelische Erkrankungen entstehen können.
Lassen Sie mich dazu einige Beispiele entwickeln:
Wir haben aus der Entwicklungspsychologie gelernt, dass es für Kinder wie für Erwachsene
wichtig ist, Dinge kontrollieren zu können und die Erfahrung zu machen, Dinge beeinflussen
zu können, also selbst wirksam zu werden. Betrachten wir als Beispiel, was sich derzeit bei TCom abspielt. Der Vorstand plant 50000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszugliedern in
eine neue Firma in der sie die gleiche Arbeit für weniger Geld machen sollen, weniger Urlaub
bekommen und schneller kündbar sind. Betroffen sein werden Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter völlig unabhängig davon, ob sie sich bisher in besonderem Maße für die Telecom
engagiert haben oder nicht. Diese Entscheidung ist für den Einzelnen nicht kontrollierbar, war
nicht vorhersehbar, auch wenn er oder sie sich wehrt, möglicherweise mit gewerkschaftlicher
Unterstützung, wird dies nichts verändern. Es werden also keine
Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht und die Wertschätzung der geleisteten Arbeit sinkt in
Form einer geringeren Entlohnung. Manche der Betroffenen kommen damit irgendwie
zurecht, andere werden sich ohnmächtig fühlen, die Vorgänge als persönliches Versagen
werten und als Folge möglicherweise Depressionen oder Angsterkrankungen entwickeln.
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel anführen: Wir haben im vorausgegangenen Teil uns
damit befasst, dass stabile soziale Bindungen für seelische Gesundheit wichtig sind. Das gilt
sowohl für das private wie auch das Arbeitsleben. In den letzten Jahren finden wir auch bei
den Dienstleistern eine Zunahme von Zeitverträgen. So werden z.B. in Kliniken teilweise
Pflegekräfte, aber auch andere Berufsgruppen mit 4 oder 6 Monatsverträgen eingestellt mit
der Option jederzeit auf verschiedenen Stationen eingesetzt werden zu können. Da besonders
in der Pflege die Teamarbeit für den reibungslosen Ablauf der Arbeit einen hohen Stellenwert
hat, das Team gleichzeitig bei der Arbeit mit Schwerstkranken einen hohen Wert in puncto
Psychohygiene und emotionale Entlastung hat, sind die Anforderungen an
„KurzzeitarbeiterInnen“ also an solche mit 4-Monats-verträgen wie auch an die Teams
besonders hoch. Vertrauensvolle soziale Beziehungen, die besonders auch in der Arbeit mit
kranken Menschen wichtig sind, entwickeln sich nicht in der Geschwindigkeit, wie kurz
befristete Arbeitsverträge oft enden. Außer der hohen Flexibilität und Anpassungsleistung
derer, die wechselnde befristete Verträge haben, ermüden oft auch die Teams, wenn sie
immer wieder „Neue“ für einen kurzen Zeitraum integrieren sollen und bieten dann nicht
mehr ausreichend soziale Unterstützung. Dies kann bei den ZeitarbeiterInnen zu
Überforderung und Überlastung und zu einem Gefühl von Nichtdazugehören führen, was
letztendlich Depressionen zur Folge haben kann.
Als letztes Beispiel vielleicht noch ein paar Gedanken zur Affektabstimmung und
Affektkontrolle: Die Hinwendung zur Dienstleistungsgesellschaft erfordert von immer mehr
Menschen die Arbeit mit Kunden von deren Zufriedenheit letztendlich oft der eigene
Arbeitsplatz abhängig ist. Gleichzeitig werden im Bereich Dienstleistung die zeitlichen
Ressourcen aus Gründen der Profitabilität immer mehr verknappt. Nehmen wir als Beispiel
die Altenpflege. Sowohl ambulant, wie auch stationär reichen die kalkulierten Pflegezeiten
knapp, um die unbedingt notwendige Körperpflege auszuführen. Die meisten Pflegekräfte
sehen die Bedürfnisse der zu Pflegenden nach darüber hinaus gehenden mitmenschlichen
Kontakt und sehen auch selbst die Notwendigkeit, können dies aber nicht anbieten, weil dafür
keine zeitlichen Ressourcen eingeplant sind. Dies setzt viele unter einen ungeheuren Druck
und unter ungeheure Anspannung, was oft mit Ohnmachtsgefühlen einhergeht und die sich in
Form aggressiver Übergriffe gegen die zu Pflegenden äußern kann oder aber häufiger in Form
von Depressionen oder Somatisierungsstörungen kanalisiert wird.
Seelische Erkrankungen - Teil 4
Ich möchte nun zum vierten Teil kommen, indem ich versuchen möchte, Strukturmerkmale
erfolgreicher Psychotherapie für Patientinnen und Patienten darzulegen, die wegen arbeitsoder umweltbezogener Überforderung durch Veränderung seelische Erkrankungen entwickelt
haben.
Es ist vielfach empirisch abgesichert, dass eine wesentliche Grundlage für eine Erfolg
versprechende Psychotherapie eine gute Beziehung zwischen Therapeutin/Therapeut und
Patientin/Patient ist. Von therapeutischer Seite her gelten für eine gute therapeutische
Beziehung folgende Kennzeichen:

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










Respektvoller und wertschätzender Umgang
Volle Zuwendung und Aufmerksamkeit
Feinfühligkeit
Ausstrahlung von Kompetenz, da dies Sicherheit vermittelt
Kommunikation „auf der selben Wellenlänge“
Sensibilität für die Regung des Patienten und entsprechende, auch nonverbale
Begleitung
Dasein für die Patienten, „ohne sie zu dominieren“
Verständnisvoll gewährend sein, aber gleichzeitig führend und strukturierend, wenn
die
Patienten Unterstützung braucht
Zuverlässigkeit
Auf Seiten der Patientin/des Patienten gelten folgende Merkmale
Wertschätzender, respektvoller Umgang
Wunsch nach Veränderung
Zuverlässigkeit
Aufbauend auf einer gestalteten guten Therapiebeziehung kann es gerade für Patientinnen und
Patienten, die depressiv geworden sind, weil sie die geforderten Anpassungsleistungen an die
veränderte Arbeitswelt nicht geschafft haben, wichtig sein, analog dem Wirkfaktorenkonzept
zunächst mit der Ressourcenaktivierung zu beginnen. Dabei geht es nicht darum, dass die
Ressourcen nur aufgezeigt werden, sondern um das gezielte Aktivieren der vorhandenen
Ressourcen und Stärken. Ressourcen können sein zwischenmenschliche Beziehungen,
Fähigkeiten, psychische Merkmale, Interessen und motivationale Bereitschaften.
Motivationale Bereitschaften könnten zu mehr Fortbildungsaktivitäten genutzt werden, um
beruflich mehr Kompetenz zu gewinnen, aber genauso gut im privaten Bereich auf eine
Verbesserung der sozialen Netzwerke oder andere Halt und Sicherheit gebende Tätigkeiten
wie zum Beispiel Sport gelenkt werden.
Der zweite Faktor wäre die aktive Hilfe zur Problembewältigung. Dabei geht es um ein
reales, praktisches Arbeiten an der Lösung des Problems, inklusive die Etablierung auf der
Verhaltensebene.
Dazugehörige Elemente:






Schwierigkeiten ernst nehmen
Problem identifizieren
Gemeinsame Problemdefinition
Analyse des Problems (darstellen, besprechen, Zielanalyse)
Suche nach Lösungs- und Bewältigungsmöglichkeiten (................., Teilschritte ...)
Reale Bewältigung, Probehandeln z.B. in Form von Problemlösung in der
Spielhandlung und Reflektion der Lösungen (Folge organisieren,
Selbstwirksamkeitserwartung verbessern)
Im folgenden Schritt, in dem der Klärung geht es darum, dass die Patienten sich über sich
selbst klar werden sollen, neue Zusammenhänge sollen erkannt und hergestellt werden und
Unbewusstes soll zum Bewussten werden. Hier geht es mehr um das Arbeiten an den inneren
Prozessen, an der Bewusstmachung innerpsychischer Konflikte und darum mehr „das Eigene
sehen zu können“. Dieser eher tiefenpsychologisch fundierte Schritt könnte z. B. hilfreich
sein, wenn es einem Patienten oder einer Patientin schwer fällt, seine Arbeit „gut zu
verkaufen“ und deutlich wird, dass die Ursache in einer früh gebahnten Hemmung und
Selbstwertproblematik liegt.
Im folgenden Schritt der prozessualen Aktivierung geht es darum, diese alten
innerpsychischen Schemata durch die Kopplung mit aktuellem Erleben und Emotionen zur
Aktivierung zum Schwingen zu bringen und damit einen Umbau zu ermöglichen. Dies
geschieht durch die Organisierung korrektiver Erfahrungen, dadurch, dass den Patienten die
Möglichkeit gegeben wird sich neu zu erleben (auch im Handeln), durch gezieltes Anlegen
von Denken, Fühlen und Handeln, durch ein von bisherigen Mustern abweichendes Verhalten
der Therapeutin, auch durch Konfrontation, durch Abweichen vom normalen
Erregungsniveau, durch Ausnahmen vom Alltäglichen in dem zum Beispiel Anstöße für
Veränderungen gegeben werden. Prozessuale Aktivierung kann in ambulanten wie auch in
stationären Therapien stattfinden. Im stationären Bereich bieten sich Alltagssituationen aus
dem Klinikleben mit Mitpatientinnen und Mitpatienten an, die sich häufig kurzfristig in den
Einzel- oder Gruppentherapien aufgegriffen und fokussiert werden können.
Bei der Arbeit mit Patientinnen und Patienten die wegen arbeitsbezogener und aufgrund von
gesellschaftlichen Veränderungen entwickelter seelischer Erkrankungen zur Therapie
kommen, kristallisieren sich meines Erachtens nach vier Hauptthemenfelder heraus:
1. Verbesserung der Abgrenzungsfähigkeit zwischen Privat- und Berufsleben und
zwischen virtuellen und realen Welten
2. Umgang mit Vielfalt
3. Umgang mit Ungewissheit
4. Entwicklung von tragfähigen Sinnstrukturen
Zu 1.:
In Zeiten zunehmender beruflicher Belastung ist es von großer Bedeutung private Ressourcen
zum Kraft schöpfen und zum entspannen zu pflegen. Hierzu gehört auch im Zeitalter von
Computertechnologie, dass die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt stabil
bleibt und nicht diffundiert (Chatroom, Partnersuche per PC, Real-life , Cybergesellschaft,
Netikette, Netizen, Regular, Newbie, n00b, Internetsucht:7-12 % der User: PIG: Path.Internet-Gebrauch).
Zu 2.:
In Zeiten erhöhter Anforderung an Flexibilität und Anpassungsleistung ist es unbedingt
notwendig die Vielfalt akzeptieren zu lernen, auch in dem Sinne, dass es für ein Problem
möglicherweise mehrere Lösungswege gibt. Lebensentwürfe müssen häufiger neu entwickelt
werden, da aufgrund sich ständig verändernder Bedingungen die längerfristigen Planungen oft
keinen Bestand mehr haben können (Wechsel des Berufes, der Arbeitsplätze, PachworkWorking) Vielfalt muss entängstigt und als Chance begriffen werden.
Zu 3.:
Ungewissheit wird in Zukunft eine der wenigen Gewissheiten sein. Da sich Arbeitsprozesse
und Planungen durch Globalisierungen und Großkonzerne immer mehr der Kontrolle des
Einzelnen entziehen und demzufolge auch die Berechenbarkeit von beruflichen
Karriereplanungen abnimmt ist es für viele Menschen erforderlich zu lernen, mit der
Ungewissheit zu leben. Im therapeutischen Arbeiten ist es daher wichtig, Patienten im
Selbstwert und der Ich-Stabilität zu stärken, da Ich-stabile Menschen durch Ungewissheit
weniger zu ängstigen sind und ihnen daher der Umgang damit leichter fällt.
Zu 4.:
Da in unserer Gesellschaft viele Menschen ihren Lebenssinn über Leistung im Bereich
bezahlter Arbeit definieren, ist es in Zeiten großer Arbeitsplatzunsicherheit oder bei
Arbeitsplatzverlust besonders wichtig, alternative tragende Sinnsysteme zu entwickeln, um
sog. Sinnkrisen oder depressiven Entwicklungen vorzubeugen oder zur Heilung beizutragen.
Die betroffenen Menschen können sich im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeit oder
gesellschaftlicher Arbeit engagieren, wie z.B. Arbeit in Vereinen, Vorlesen im Kindergarten
oder Altenheim, einkaufen für alte oder kranke Menschen, etc. Anderen sind spirituelle Wege
hilfreich. Wichtig erscheint mir, dass es gelingt, den Selbstwert von der bezahlten Arbeit zu
entkoppeln.
Die therapeutischen Konzepte der Zukunft werden sich mit diesen Fragestellungen aus meiner
Sicht eingehender befassen müssen. Wir werden weniger gefordert sein intrapsychische
Konflikte mit den Patientinnen und Patienten zu bearbeiten. Natürlich können wir den Verlust
des Arbeitsplatzes im analytischen Sinne deuten als Verlust der nährenden Mutter. Meine
Vorstellung ist allerdings, dass wir unmittelbarer ansetzen sollten, indem wir z.B. die
Ohnmachtserfahrung des Arbeitsplatzverlustes entindividualisieren, indem wir die
Bewältigungsmechanismen stärken, indem wir Möglichkeiten von Selbstwirksamkeit
aufzeigen oder in der therapeutischen Arbeit erfahrbar machen, indem wir
Kontrollerfahrungen aufzeigen und den Selbstwert der Menschen, die uns zur Therapie
aufsuchen stärken.
Neben diesen beruflich-therapeutischen Aufgaben sehe ich unsere Aufgaben auch darin, sich
gesellschaftlich dafür einzusetzen, dass die Arbeitswelt wieder mehr humanitären Kriterien
gehorcht, dass zum Beispiel Entscheidungen nicht ausschließlich nach Kennzahlen und
Wertschöpfung im streng kapitalistischen Sinne getroffen werden, sondern auch soziale und
humanitäre Aspekte in der Wirtschaft und in der Politik wieder eine wichtigere Rolle spielen.
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lange vergessenen Paarbeziehung"
Mit den besten Wünschen für Ihr seelisches und körperliches Wohlergehen
Ihre Dr. med. G. Fröhlich-Gildhoff

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