Wichtige Informationen für die beschuldigte Person durch ihren

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Wichtige Informationen für die beschuldigte Person durch ihren
Wichtige Informationen für die beschuldigte Person
durch ihren Strafverteidiger*
Anwalt der ersten Stunde
1. Informationsanspruch
Als Beschuldigter haben Sie einen gesetzlichen Anspruch darauf, zu wissen, was der Gegenstand des gegen Sie geführten Strafverfahrens ist (Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO). Sie haben das Recht
zu erfahren, was Ihnen zur Last gelegt wird:
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bezüglich der vorgeworfenen Sachverhalte (Lebensvorgänge),
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bezüglich möglicher Delikte (Straftatbestände),
wegen der gegen Sie ermittelt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss der
Tatverdacht so umschrieben werden, dass die beschuldigte Person ihn erfassen und sich ihre
Verteidigungsstrategie zurechtlegen kann (BGer 6B_518/2014 vom 04.12.2014, E 1.2. und E 3.4.). Dazu
gehören die Angabe von Ort und Zeit der vorgeworfenen Tat sowie eine kurze Schilderung der
Tatumstände.
Obschon Sie auf die Beantwortung keinen gesetzlichen Anspruch haben, sollten Sie als Beschuldigter formell zu Protokoll auch die Fragen stellen

welches die Verdachtsgründe für die Eröffnung eines Ermittlungs- und oder Untersuchungsverfahren sind,
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welche Personen Sie durch entsprechende Aussagen belasten sowie
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welches die übrigen Beweismittel sind, welche zur Verfahrenseröffnung führten.
Vor der ersten polizeilichen Einvernahme besteht kein Recht auf Akteneinsicht der beschuldigten Person oder ihres Verteidigers (BGE 137 IV 172, E 2.3.). Erst nach der ersten Einvernahme der
beschuldigten Person und nach Erhebung der wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft
besteht die Möglichkeit zur Akteneinsicht soweit nicht Einschränkungen nach StPO 108 (Gefahr
des Missbrauchs, aus Gründen der Sicherheit von Personen oder wegen öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen)
bestehen (Art. 101 Abs. 1 StPO)
.
*Dieses Informationsblatt ist Bestandteil der Unterlagen aus dem Verkehr der beschuldigten Person mit ihrer Verteidigung und darf nach Art. 264 Abs. 1 lit. a StPO nicht beschlagnahmt werden. Dieses Beschlagnahmeverbot ergibt
sich aus dem Anspruch auf freien Verkehr mit dem Verteidiger nach Art. 159 Abs. 2 und 235 Abs. 4 StPO bzw. Art.
29 BV und Art. 6 EMRK. Es gilt ungeachtet des Ortes, wo sich dieses Informationsblatt befindet.
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2. Recht zur Aussageverweigerung
Als beschuldigte Person müssen Sie wissen,
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dass Sie jegliche Aussage verweigern dürfen (Art. 113 Abs. 1, Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO), sowohl generell als auch nur punktuell, d.h. zu einzelnen Fragen sowie

dass soweit Sie Aussagen machen, diese als Beweismittel gegen Sie verwendet werden
können.
Die beschuldigte Person darf bei ihren Aussagen lügen, soweit dadurch keine anderen Straftaten begangen werden wie beispielsweise durch eine falsche Anschuldigung von namentlich
genannten oder sonst wie individualisierbaren Personen oder durch eine Irreführung der
Rechtspflege, indem Delikte geschildert wurden, die gar nicht begangen wurden.
Als beschuldigte Person müssen Sie sich selbst nicht belasten. Sie habe das Recht, nicht nur die
Aussage, sondern auch jegliche sonstige aktive Mitwirkung zu verweigern (Art. 113 Abs. 1 StPO), in
welchem Fall das Strafverfahren aber gleichwohl fortgeführt wird (Art. 113 Abs. 2 StPO).
3. Keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung und Selbstbelastung
Die beschuldigte Person hat grundsätzlich keine Pflicht, an dem gegen sie geführten Verfahren
aktiv mitzuwirken. Sie hat aber das Recht dazu, Anträge auf Abnahme von Beweismitteln (Zeugeneinvernahme, Augenscheine, Gutachten etc. ) zu verlangen, die geeignet sind, den Deliktsvorwurf zu entkräften. Die beschuldigte Person muss sich nicht selbst belasten (Art. 113 Abs. 1
Satz 1 StPO) und darf deshalb auch nur einseitig am Verfahren mitwirken.
Als beschuldigte Person haben Sie das Recht, nicht nur generell oder zu einzelnen Fragen oder
bei Einvernahmen durch bestimmte Behörden oder Personen (z.B. einem bestimmten Polizeibeamten,
der sich aggressiv oder suggestiv verhält) Ihre Aussage zu verweigern. Sie dürfen auch jegliche Mitwirkung an dem gegen Sie Strafverfahren verweigern und sich rein passiv verhalten (Art. 113
Abs. 1 Satz 2 StPO), worauf bei ihrer ersten Einvernahme hinzuweisen ist (Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO).
Verweigert die beschuldigte Person ihre Mitwirkung, so wird das Verfahren gleichwohl fortgeführt (Art. 113 Abs. 2 StPO). Ein Strafurteil gegen die beschuldigte Person kann auch ohne deren
aktive Mitwirkung, d.h. auch wenn sie ihre Aussagen zur Sache verweigert hat, gestützt auf
andere Beweismittel ergehen.
Für die beschuldigte Person besteht jedoch eine gesetzliche Duldungspflicht für Zwangsmassnahmen nach Art. 196 - 298 StPO, d.h. für polizeiliche Vorführung, vorläufige Festnah-
me, Untersuchungs- und Sicherheitshaft, Untersuchung von Effekten und Fahrzeugen, Hausdurchsuchung, DNA-Analysen und Beschlagnahmungen etc. Das Gesetz sieht in Art. 113 Abs. 1
StPO ausdrücklich vor, dass sich die beschuldigte Person den gesetzlich vorgesehenen
Zwangsmassnahmen unterziehen muss. Die beschuldigte Person kann also zum Erscheinen bei
Verhandlungen und zur Teilnahme an Konfrontationen, Augenscheinen und Rekonstruktionen
zwangsweise verpflichtet werden, wobei sie an diesen Terminen sich durchaus passiv verhalten
darf und keine Aussagen machen muss.
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4. Teilnahmerechte
Die beschuldigte Person darf die Teilnahme eines Rechtsanwaltes als Verteidiger bei allen Einvernahmen ihrer Person verlangen. Bezüglich allen Beweisen, die ohne Beisein des Verteidigers
abgenommen würden, müssen Sie unbedingt die wiederholte Abnahme verlangen (Art. 131 Abs. 3
StPO).
5. Freier Kontakt mit Verteidiger
Als beschuldigte Person dürfen Sie sowohl während der vorläufigen Festnahme (Art. 159 Abs. 2
StPO), als auch bei Haft (Art. 224 Abs. 2 StPO) jederzeit frei und unbeaufsichtigt schriftlich oder
mündlich mit dem Verteidiger verkehren.
6. Anträge auf Abnahme entlastender Beweismittel
Als beschuldigte Person dürfen Sie in jeder Einvernahme wie auch im Haftverfahren die Erhe-
bung derjenigen Beweise verlangen, die geeignet sind, den Tatverdacht oder die Haftgründe zu
entkräften. Sie müssen darauf drängen, dass die von Ihnen gestellten Anträge auf Abnahme
entlastender Beweismittel unbedingt in den Einvernahmeprotokollen vermerkt werden. Dafür
ist immer am Schluss jeder Einvernahme Raum, wenn die beschuldigte Person gefragt wird, ob
sie noch etwas zu ergänzen oder zu berichtigen habe.
Für das Zwangsmassnahmengericht, welches über die Haft entscheidet, besteht die gesetzliche
Verpflichtung, die sofort verfügbaren Beweise, welche geeignet sind, den Tatverdacht oder die
Haftgründe zu entkräften, zu erheben (Art. 225 Abs. 4 StPO). Soweit das Zwangsmassnahmengericht die entlastenden Beweismittel als nicht sofort verfügbare Beweise betrachtet und nicht
selber erhebt, ist im Verfahren vor Zwangsmassnahmengericht der Antrag zu stellen, es sei die
Staatsanwaltschaft anzuweisen, die beantragten entlastenden Beweismittel im Rahmen weiterer Untersuchungshandlungen zu erheben (vgl. Art. 226 Abs. 4 lit. c StPO).
7. Teilnahme an Beweisabnahmen und Zeugeneinvernahmen
Die beschuldigte Person hat das Recht, an Beweisabnahmen und Zeugeneinvernahmen teilzunehmen oder dass zumindest ihr Verteidiger daran teilnimmt.
8. Keine Zustimmung zu Verzichtserklärungen
Als beschuldigte Person sollten Sie nie auf irgendwelche Verfahrensrechte verzichten,
insbesondere soll ohne Konsultation des Verteidigers kein Verzicht auf die Wiederholung der
Abnahme von Beweisen erklärt werden, die in Abwesenheit des Verteidigers erhoben wurden.
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9. Unterzeichnung Einvernahmeprotokolle
Es wird empfohlen, die Einvernahmeprotokolle immer zu unterschreiben. Nie die Unterschrift
verweigern, weil sonst nur ein zweiter Polizeibeamte oder Staatsanwalt auf dem Protokoll bestätigt, dass die beschuldigte Person die Unterschrift verweigert habe. Viel besser ist es, vor
oder neben der Unterschrift zu schreiben, dass die Aussagen nicht korrekt protokolliert wurden:
z.B. "entspricht nicht meinen Aussagen, B. Muster" oder "Antworten falsch protokolliert, B.
Muster", "Antworten zu Fragen x-y sinnentstellt und unvollständig protokolliert, B. Muster".
Soweit die beschuldigte Person die Unterzeichnung des Einvernahmeprotokolls verweigert, besteht die gesetzliche Verpflichtung, die Weigerung und die dafür angegebenen Gründe im Protokoll zu vermerken (Art. 78 Abs. 5 StPO).
10. Verbotene Beweiserhebungsmethoden
Zwangsmittel, Gewaltanwendung und Drohungen sind bei der Beweiserhebung, insbesondere
bei der Einvernahme der beschuldigten Person, verboten.
Untersagt sind auch Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder
die Willensfreiheit der beschuldigten Person beeinträchtigen können (Art. 140 StPO). Soweit die
Polizei bei Einvernahmen für den Fall, dass keine Aussage oder kein Geständnis erfolgte, eine
vorläufige Festnahme oder Untersuchungshaft in Aussicht stellen sollte, muss darauf gedrängt
werden, dass diese Ankündigungen im Einvernahmeprotokoll vermerkt werden. Ebenso sollte
im Einvernahmeprotokoll aufgeführt werden, falls eine Entlassung aus der vorläufigen Festnahme der Untersuchungshaft oder gar eine Strafminderung für den Fall eines Geständnisses
etc. in Aussicht gestellt wird. In einem solchen Falle kann vor der Unterschrift beim unterzeichnen des Protokolls folgendes angebracht werden "diese Aussagen erfolgten im Hinblick auf die
Zusicherung, heute aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, B. Muster".
11. Kooperation und Geständnis des Beschuldigten
Anständiges und kooperatives Verfahren des polizeilichen Ermittlungsverfahren und im anschliessenden Untersuchungsverfahren vor Staatsanwaltschaft führt praxisgemäss zu einer
Strafminderung im Rahmen der späteren gerichtlichen Beurteilung. In der Praxis wird auch das
Geständnis strafmindernd berücksichtigt, obwohl dies aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch ist, weil diese Praxis die Entscheidung auszusagen oder zu schweigen beeinflussen kann.
Gemäss Bundesgerichtsentscheid BGE 121 IV 204 f. kann ein Geständnis zu einer Reduktion
einer Strafe um 1/5 bis zu 1/3 bewirken. Generell gesagt werden kann, dass soweit ein Geständnis vorgesehen ist, dieses so früh wie möglich erfolgen sollte und nicht erst nachdem umfangreiche Beweise erhoben und die Beweislage bereits erdrückend ist. Ist die beschuldigte
Person geständig, so haben die Staatsanwaltschaft und das Gericht die Glaubwürdigkeit des
Geständnisses zu prüfen (Art. 160 StPO). Bei einem Geständnis wird die beschuldigte Person aufgefordert, die näheren Umstände der Tat genau zu bezeichnen. Dadurch sollen falsche Geständnisse erkannt und sachgerecht Geständnisse für den Fall eines späteren Widerrufs des
Geständnisses abgesichert werden.
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Oftmals führt ein umfassendes Geständnis dazu, dass der Haftgrund der sog. Verdunkelungsoder Kollusionsgefahr wegfallen kann. Gleichwohl wird in der Praxis ein umfassendes Geständnis kaum je zur sofortigen Haftentlassung führen, weil gemäss gesetzlicher Vorgabe das Geständnis zuerst auf seine Glaubwürdigkeit geprüft werden muss und die Untersuchungsbehörden zuerst alle wesentlichen Zeugen und Auskunftspersonen einvernommen haben wollen,
bevor die beschuldigte Person aus der Untersuchungshaft entlassen wird.
Die beschuldigte Person soll freundlich aber bestimmt und selbstsicher auftreten. Ihre Äusserungen sollen sachlich sein. Beschimpfungen, aggressives Verhalten, Tätlichkeiten etc. sind zu
vermeiden. Renitentes Verhalten sowie verbale und tätliche Angriffe gegen Polizisten, Staatsanwälte und Richter führen wie Lügengeschichten zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit. Aggressives Verhalten des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren führt erfahrungsgemäss zu einer schlechteren Behandlung und wird bei einer allfälligen Verurteilung straferhöhend berücksichtigt.
12. Protokollarische Einvernahme der beschuldigten Person
Es gilt der Grundsatz, sich nie auf formelle Gespräche mit Polizisten oder Staatsanwälten einlassen, soweit darin der Gegenstand des Strafverfahrens thematisiert wird. Vermeintliche unverfängliche Gespräche lockerer oder "freundlicher" Atmosphäre werden oft geführt, um der
beschuldigten Person Informationen oder Zugeständnisse zu entlocken, die sie sonst nicht abgeben würde. Die Befragung des Beschuldigten soll formell zu Protokoll erfolgen.
Vor der ersten Einvernahme und nur bei der ersten Einvernahme ist die beschuldigte Person
darauf hinzuweisen
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dass ein strafprozessuales Vorverfahren, d.h. eine Strafuntersuchung gegen sie eingeleitet wurde,
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welches die Straftaten sind, die Gegenstand des Verfahrens bilden,
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dass sie die Aussage und Mitwirkung verweigern kann,
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dass sie berechtigt ist, einen Verteidiger zu bestellen und bei Mittellosigkeit eine amtliche Verteidigung beantragen kann,
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dass sie eine Übersetzerin oder einen Übersetzer verlangen kann (Art. 158 StPO).
Nicht nur für die Staatsanwaltschaft und das Gericht, sondern auch für die Polizei gilt, dass die
Verfahrenshandlungen vollständig und richtig protokolliert werden müssen (Art. 76 Abs. 3 StPO).
Die Protokollierung von Einvernahmen erfolgt in der Verfahrenssprache. Entscheidende Fragen
und Antworten sind wörtlich zu protokollieren (Art. 78 Abs. 3 StPO). Die Verfahrensleitung kann
der einvernommenen Person gestatten, ihre Aussagen selbst zu diktieren (Art. 78 Abs. 4 StPO).
Nach Abschluss der Einvernahme wird das Protokoll vorgelesen oder zum Lesen vorgelegt. Die
beschuldigte Person, die einvernommen wurde, hat dann das Protokoll zu unterzeichnen und
jede Seite zu visieren.
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Vor der Unterzeichnung unbedingt den Inhalt des Protokolls auf Richtigkeit und Vollständigkeit
überprüfen. Insbesondere ist auch zu kontrollieren, ob die eingangs erwähnte Rechtsbelehrung
nicht vollständiger protokolliert wurde als sie tatsächlich erfolgte. Bei fehlerhafter oder unvollständiger Protokollierung formell die Korrektur bzw. Ergänzung verlangen. Wird dem nicht entsprochen, vor der Unterschrift einen handschriftlichen Vermerk anbringen, dass die "Antwort zu
Frage Nr. …. auf Seite …. unvollständig, sinnentstellt oder falsch protokolliert" wurde.
Falls eine unkorrekte Behandlung erfolgte, wie z.B. Verweigerung von Trinkwasser oder der
WC-Benützung oder Einvernahme unter besonders schikanösen Bedingungen (grelle Lichtverhältnisse usw.) weitere Aussagen verweigern und im Protokoll auf die Missstände hinweisen.
Gleichzeitig darlegen, dass unter korrekten Bedingungen weitere Aussagen gemacht werden.
Nicht vergessen, jede beschuldigte Person hat das Recht, dass ihr Verteidiger bei den Einvernahmen anwesend ist. Jede beschuldigte Person hat das Recht, jegliche Aussagen oder auch
nur solche zu bestimmten Fragen zu verweigern (Art. 113 Abs. 1, Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO), ohne
dass sie dies näher begründen müsste. Weil die Aussagen, welche die beschuldigte Person
macht, als Beweismittel auch gegen sie verwendet werden, empfiehlt es sich, im Zweifelsfall
die Aussage zu verweigern.
Vorsicht bei Fragen, die darauf abzielen, dass Sie ein bestimmtes Ereignis oder Geschehen "in
Kauf genommen" haben sollen bzw. dass Sie in einer Weise handelten, obschon Sie "damit
rechneten" das etwas passieren könnte. Solche Fragen dienen dem Nachweis der Erfüllung des
subjektiven Tatbestands, insbesondere dazu, Ihnen einen Eventualvorsatz oder bei Fahrlässigkeitsdelikten eine pflichtwidrige Unsorgfalt nachweisen zu können. Auf Fragen, ob Sie ein bestimmtes Ereignis (insbes. der deliktische Erfolg) in Kauf genommen haben oder mit einem
solchen rechneten, im Zweifelsfall immer mit "Nein" beantworten.
13. Verpflichtung der Strafbehörden auch den entlastenden Umständen nachzugehen
Das Verfahrensziel im Strafprozess ist es, die materielle Wahrheit zu ermitteln und ihr zum
Durchbruch zu verhelfen. Zu diesem Zweck haben die Strafbehörden, d.h. die Polizei und die
Staatsanwaltschaft, im Vorverfahren und die Strafgerichte im erstinstanzlichen Erkenntnisverfahren und im Rechtsmittelverfahren
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alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen
von Amtes wegen abzuklären und dabei
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die belastenden und entlastenden Umstände mit der gleichen Sorgfalt zu untersuchen
(Art. 6 StPO).
Weil die Strafverfolgungsbehörden leider meist nur den belastenden Umständen nachgehen,
sind sie an ihre gesetzliche Verpflichtung zu erinnern, dass sie auch alle massgeblichen Beweismittel abzunehmen haben, aus welcher sich für die beschuldigten Person entlastende Umstände ergeben können.
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14. Unschuldsvermutung
Die beschuldigte Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteil als unschuldig (Art. 10 Abs. 1
StPO). Die Unschuldsvermutung wirkt sich als Beweislastregel (unter anderem) dahingehend
aus, dass der Staat der beschuldigten Person
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die Erfüllung aller objektiven Tatbestandsmerkmale des betreffenden Delikts,
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den deliktischen Vorsatz (direkter Vorsatz oder Eventualvorsatz) oder ev. die Fahrlässigkeit und
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die Erfüllung der Prozessvoraussetzungen bzw. das Fehlen von Verfahrenshindernissen
nachzuweisen hat.
Für das urteilende Gericht bestehen keine festen Beweisregeln. Das Gericht hat die Beweise
frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung zu würdigen (Art. 10
Abs. 2 StPO). Es gibt keine Rangordnung der Beweise. Auch Indizien und Hilfsbeweise können
berücksichtigt werden.
Aus der Unschuldsvermutung ergibt sich sodann, dass beim Bestehen von unüberwindlichen,
d.h. erheblichen Zweifeln an der Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten
Tat, das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage ausgeht (Art. 10 Abs. 3
StPO: Grundsatz "In dubio pro reo").