Rede zum Ulla-Hahn-Preis von Nadja Küchenmeister

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Rede zum Ulla-Hahn-Preis von Nadja Küchenmeister
Verleihung des Ulla-Hahn-Autorenpreises am 10.11.2012
Rede von Preisträgerin Nadja Küchenmeister
Liebe Ulla Hahn, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Schriftsteller W.G. Sebald gibt in einem Gespräch aus dem Jahr 1997 zu bedenken, „dass
wir uns ständig auf einem ungeheuer dünnen Eis bewegen, daß wir jeden Augenblick
wegbrechen können, daß das Ganze von einer Fragilität ist, die es einem fast nicht erlaubt,
von Tag zu Tag zu kommen, und daß man, im Angesicht dieser Evidenz, dann eigentlich das
Gefühl hat, man dürfte im Grunde immer nur stillsitzen und sich nicht bewegen, damit das
alles möglichst langsam vergeht.“
Im April desselben Jahres wurde ich sechzehn Jahre alt und nur wenige Monate später hatte
sich mein Leben von Grund auf verändert. An einem lauen Sommerabend, ich befand mich
noch in den großen Ferien, verschluckte ich mich an einem Stück Brot und geriet darüber in
eine bis dahin nie gekannte Panik. Die restlichen Stunden der Nacht verbrachte ich damit, im
Flur unserer Wohnung unruhig auf und ab zu gehen, weil von einem Augenblick auf den
anderen jede Zelle meines Körpers begriffen hatte, dass sie einmal würde sterben müssen.
Dreizehn Jahre später saß ich im Frühstücksraum eines Darmstädter Hotels, am Abend zuvor
hatte ich im Literaturhaus gelesen, und war nun, da ich die Angewohnheit habe, mit dem
frühesten Zug nach Hause zu fahren, noch recht verschlafen. In der Frankfurter Rundschau
stieß ich jedoch auf einen Artikel, der sofort meine ganz Aufmerksamkeit auf sich zog. Es
handelte sich um ein Interview mit dem Titel: „Das Gehirn ist eine Baustelle.“ Die Unterzeile
dazu lautete: „Buchautor David Bainbridge über eine Entwicklungsphase, die den Homo
Sapiens erst möglich machte – die Teenagerzeit.“
„In dieser Zeit“, so Bainbridge, „passieren eine Menge Umbauten im menschlichen Gehirn.
Vor 250.000 Jahren erreichte unser Gehirn mit dem Homo Sapiens seine jetzige Größe.
Seither gibt es Teenager. Vorher dauerte es vielleicht acht oder neun Jahre erwachsen zu
werden. Erst mit dem Homo Sapiens zog sich die Reifezeit 15, 16, 18 Jahre lang hin. In
Hirnscans kann man sehen, dass das Gehirn mit 12 am größten ist, danach wird es kleiner
bis wir 20 sind. Das liegt daran“, so der Autor weiter, „dass es in dieser Zeit neu strukturiert
wird. Ein sehr komplexer Prozess. Trillionen Verbindungen werden gekappt. Außerdem
kriegen die Hauptverbindungswege eine Fettisolierung, die für ein höheres
Übertragungstempo sorgt. Obendrein ändert sich die Hirnchemie vollständig und aktiviert so
den präfrontalen Cortex im Gehirn. Erst das macht abstraktes Denken möglich.“
Von alldem wusste ich im Jahre 1997 nichts und selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich
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wohl kaum in der Lage gewesen, die Veränderungen, die auch in meinem Gehirn vonstatten
gingen, mit der nötigen Distanz zur Kenntnis zu nehmen. Distanz war das letzte, was ich in
dieser Zeit zu mir hatte. Ich wusste nichts von W.G. Sebald und auch nichts von Sartres
Antoine de Roquentin, der an seinem Lebensekel zu ersticken droht. Ich wusste nichts von
Hans Castorp, der bekennt:
„Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum
Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist,
bestimmt sie unser Denken und Regieren.“ Und der daher zu dem traumwandlerischen
Schluss kommt: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft
einräumen über seine Gedanken und damit wach ich auf...“. Auch Büchners „Lenz“, mit sich
und der Welt zerfallen, hatte meinen Weg noch nicht gekreuzt, dieser Lenz, dem es, solange
nur das Licht im Tale lag, erträglich war. Aber „gegen Abend befiel ihn eine sonderbare
Angst, er hätte der Sonne nachlaufen mögen. Wie die Gegenstände nach und nach schattiger
wurden, kam ihm alles so traumartig, so zuwider vor: es kam ihn die Angst an wie Kindern,
die im Dunkeln schlafen; es war ihm, als sei er blind. Jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns
setzte sich zu seinen Füßen: der rettungslose Gedanke, als sei alles nur ein Traum, öffnete
sich vor ihm...“ Gottfried Benns Rönne, Peter Handkes Keuschnig, Samuel Becketts Wladimir
und Estragon waren ferne Zukunftsmusik. Sylvia Plath wartete noch darauf, von mir entdeckt
zu werden, Hölderlin und Eliot litten wohl, an mein Ohr drang davon kein Ton. Den „Abschied
von den Eltern“, wie es bei Peter Weiß heißt, hatte ich noch lange nicht vollzogen und tastete
mich auch nur vorsichtig bei Goethe, Kafka, Trakl und Rilke voran. Der einzige Autor, den ich
durch und durch studierte, in dessen Büchern ich mich erkannte, durch den ich mich
einzigartig fühlte und der mich, selbstredend ohne mein Wissen, so gewöhnlich sinnsuchend
sein ließ wie unzählige Heranwachsende vor und nach mir, war Hermann Hesse. Dies zu
bekennen hat mir vor einigen Jahren bei meinen Kommilitonen nicht wenig Spott
eingebracht. Als ich indes hörte, dass es vielen von mir geschätzten Autoren in ihrer Jugend
ähnlich erging, fiel es mir wieder leichter, davon zu reden, inzwischen tue ich es sogar gern.
Dass ich jedoch von all den anderen heutigen Wegbegleitern nichts wusste, deren Schicksale
manche Schwernis mir hätte nehmen können, war wohl das Beste, was mir passieren
konnte, freilich nur, betrachtet man das eigene Leben aus der Rückschau. Wir erinnern uns
an eine Vergangenheit, von der wir meinen, dass sie unsere war, und wir hoffen auf eine
Zukunft, von der wir glauben, dass sie uns gehören wird. Erst wenn man in die Vergangenheit
reist, entwickelt man eine Identität, die Vorstellung von einem zusammenhängenden Ich. Der
Blick zurück hilft uns, an der Gleichzeitigkeit unseres Empfindens nicht zu verzweifeln, weil
wir nachträglich unserem Leben eine Ordnung geben und es uns manchmal sogar gelingt,
etwas ein für allemal hinter uns zu lassen. Das weiß ich jetzt. Mit meinen sechzehn Jahren
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und meinem noch im Umbau befindlichen Gehirn war ich radikal zum Denken und Fühlen
verdammt, ich war allein. Und ich begann, Gedichte zu schreiben. „Das Gedicht ist der Ort,
wo Erfahrung zur Sprache gebracht, zu Sprache gemacht wird“, schreibt Ulla Hahn in ihrem
schönen Nachwort zu ihrem bei Reclam erschienen Auswahlband „Süßapfel rot“. „Wörter
müssen gedeckt sein durch Erleben und Erleiden.“ Und weiter: „Jedes Gedicht birgt meine
Erfahrungen und mein sprachliches Vermögen zur Zeit seiner Niederschrift. Sind sie schön?
Immer geht es um die Deckung von Erfahrung, Erfindung und sprachlichem Vermögen.
Erfahrung, nicht Wissen. Der Mensch ist ein Sinnenwesen.“
Bis zu dieser Erkenntnis war es für mich zweifellos noch ein langer Weg, außerhalb der Kunst
wäre er nicht möglich gewesen. Die dunklen Jahre, die auf mein nächtliches
Initiationserlebnis folgten, möchte ich nicht eingehender beleuchten, gleichwohl ich dann
und wann schreibend auf sie zurückkomme, ihnen also etwas abgewinnen kann und mich
durch diese Zeit auch gegen manches geimpft fühle. In meinen Gedichten jedoch kehre ich
vorzugsweise in die eigene Vorvergangenheit zurück, in die Zeit meiner Kindheit, jene Jahre
also, die vor dem, wie es bei Bainbridge heißt, „gigantischen Umbau“ des Gehirns liegen. In
unserem Erleben führt in die magische Welt dieser Tage kein Weg zurück, darüber mache ich
mir keine Illusionen. Dennoch prägt uns wohl keine Zeit stärker. Die Welt durfte noch
ungehindert in uns eindringen, in Form von Gerüchen, Stimmen und Bildern. Das Herz eines
Kindes steht ganz weit offen, es kann sich noch nicht vor dem Dunklen schützen, es kann sich
auch nicht entscheiden, was erinnerungswürdig ist und was nicht, es trifft keine Auswahl. Es
lebt ganz einfach und wundert sich Jahre später, warum ihm der Anblick des aufziehbaren
Plastikhasen mit der roten Filzjoppe die Tränen in die Augen treibt. „Demut wäre angebracht
angesichts der Tatsache, dass jeder von uns zu einem größeren Entwurf gehört, den wir nicht
kennen“, schreibt Ulla Hahn. Und sie fügt an: „Woher kommt der Mensch? Wohin geht er?
Warum ist er jetzt, in diesem Augenblick der Evolution auf dieser Erde? Niemand erwartet
von einem Gedicht, dass es diese Rätsel löse. Aber den Stachel des Erkennenwollens, das
Ringen nach Erklärungen für dieses scheinbar so selbstverständliche Leben, den Hunger
nach Sinn möchte ich spüren. Wenn dann aus dem Wortkörper eines Gedichts, aus dem
Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt, die Melodie sich erhebt und zu schweben
beginnt, zu kreisen, dann rührt das Gedicht an das Beste im Menschen: das Gefühl der
Freiheit.“
Wohl wahr! Das Gefühl der Freiheit. Frei fühle ich mich beim Schreiben von Gedichten
paradoxerweise durch die Form, die der Flüchtigkeit allen Daseins eine feste Lautgestalt
entgegensetzt. Der Trost bei Inger Christensen, der Trost bei Dante entspringt nicht zuletzt
der Form, die diese Dichter für ihre großen Gesänge gefunden haben. Und dennoch bleibt
das Gedicht ein offenes Gebilde, das sich durch einmaliges Lesen nicht erschöpfen sollte, das
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man im Gegenteil immer wieder neu durchschreiten möchte und das einen gerade da
ergreift, wo es schmerzt. Im Gedicht schafft der Lyriker durch vorsichtiges Antippen
Bedeutungsräume, erzeugt durch bewusste Aussparungen Bilder. Gleich einem Lied oder
einem Gebet kann man das Gedicht bei sich tragen, vielleicht als eine Art Abwehrzauber.
Noch einmal Ulla Hahn: „Das Ziel der Dichtung ist Gesang. Der freie Vers darf diesen Gesang
nicht verlieren. In den Kindheitstagen der Dichtung war die gebundene Rede das einzige
Mittel, Dichtung haltbar zu machen, transportfähig, eine Stütze für das allein auf das
gesprochene Wort angewiesene Gedächtnis. Dichtung wandte sich an das Ohr, den Hörer.
Ein Gedicht ohne Melodie war undenkbar, dem Vergessen preisgegeben.“
Dem Gedicht ist die Tradition eingeschrieben, der Verfasser von Gedichten verweist auf sie
und schreibt sie fort und wirkt so an einem seit Jahrhunderten geknüpften Teppich mit.
Literatur, die mich bewegt, schaut zurück, als würde sie sich in jedem Moment ihrer
Hervorbringung von allem verabschieden. So ist nun einmal das Leben. Man findet sich kaum
darin zurecht, und muss sich doch gleich wieder von allem, was man liebt, trennen.
„Meine Trauer, mein blankes Kupferkesselchen“, heißt es in dem zarten Gedicht „Meine
Trauer“ von Ulla Hahn. Meine Trauer also, die bei W.G. Sebald zu einer regelrechten
„Trauerlaufbahn“ wird. Ich gebe zu: Mich zieht es immer wieder zu Autoren hin, die das Leid
ins Zentrum ihrer Arbeit rücken und für erfahrene Verluste eine Form gefunden haben, die
ihre Not in einen größeren Zusammenhang stellt. Das Leid ist jedoch immer individuell und
konkret, ebenso wie das Glück. Mein Glück, und das hat mich erst das Schreiben von
Gedichten gelehrt, liegt an einem kleinen Ort an der Ostsee, in Zinnowitz. Dort ist mein Vater
mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinen drei Brüdern aufgewachsen und dort habe
ich meine Kindheitssommer verbracht, auf einem Hof mit Hühnern, Katzen und dem
obligatorischen Schäferhund, den man sich nicht zu streicheln getraute. Auf der
Hollywoodschaukel döste ich in der Sonne, suchte Schatten in dem vom Wetter gegerbten
Strandkorb und aß, damals war ich noch nicht darauf allergisch, frische Ananas unter den
Sternen. Bis tief in die Nacht versammelte sich die Familie um den Grill und spielte im
funzeligen Licht der Scheune Tischtennis, bevor jene unvergleichliche Erschöpfung, die sich
aus guter Luft, gutem Essen und Lebensfreude speist, uns Kinder in die Betten zwang. Wir
schliefen in einem alten Eisenbahnwaggon, der mit einem kleinen Waschbecken ausgestattet
war, dessen Hahn nur eiskaltes Wasser führte, um zur Toilette zu gehen musste man den Hof
überqueren, unzählige Grillen spielten dazu auf. Diesen heiligen, diesen einfachen Ort habe
ich für immer verloren und ihn dennoch wiedergewonnen im Gedicht, wo er bleiben kann,
hell und schön. Der Schriftsteller übt sich im Abschiednehmen und vielleicht tut der Leser es
ihm gleich und findet in den beschworenen Bildern einer ihm eigentlich fremden
Vergangenheit den Weg zurück in das eigene untergegangene Paradies. Trauer, seltsames
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Rätsel der Verwandlung, wird dann zu Glück, da man nur das vermisst, was man einst liebte.
Die Gedichte meines ersten Buches „Alle Lichter“ breiten Erinnerungen aus und ich hoffe,
dass sie auch die Frage aufwerfen nach dem, was Erinnerung eigentlich ist. Oft überfällt mich
der Gedanke: Nichts habe ich vergessen, nicht einmal das, woran ich mich nicht erinnern
kann. Was immer das Auge auch berührt hat: Die frische Wäsche auf der Leine, den Staub
unter dem Bett, die schwarzen Brombeeren im Geäst ... Es bleiben Übersetzungen der Seele.
Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe und
manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als
bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit
auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war. Als Objekte letzter Augenblicke haben die
Dinge einen hohen Wert. Wir schauen sie an, wir berühren sie und die Türen in unserem
Inneren gehen auf und wir betreten noch einmal die Räume, in denen sich die vergangenen
Variationen unseres Ichs befinden. Diese Begegnungen sagen uns etwas über den Menschen,
den wir heute in uns erkennen. Koffer, Taschentücher, Postkarten ... sie sind durch unsere
Hände und die Hände geliebter Menschen gegangen, sie tragen den menschlichen Abdruck,
und stehen nicht nur für die Kindheit oder die Liebe, sondern gleichsam für den Verlust von
all dem und gerade deshalb gilt es sie zu bewahren im Wort, das von dem ewig Gültigen
ebenso zu sprechen wissen sollte wie von der gegenwärtigen Zeit.
In dem Roman Austerlitz von W.G. Sebald heißt es: „Wenn ich beispielsweise irgendwo auf
meinen Wegen durch die Stadt in einen jener stillen Höfe hineinblicke, in denen sich über
Jahrzehnte nichts verändert hat, spüre ich beinahe körperlich, wie sich die Strömung der Zeit
im Gravitationsfeld der vergessenen Dinge verlangsamt. Alle Momente unseres Lebens
scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als existierten die zukünftigen
Ereignisse bereits und harrten nur darauf, dass wir uns endlich in ihnen einfinden, so wie wir
uns, einer einmal angenommenen Einladung folgend, zu einer bestimmten Stunde einfinden
in einem bestimmten Haus. Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, dass wir auch in
der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist,
Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, quasi jenseits
der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?“
Vielleicht haben wir tatsächlich diese Verabredungen in der Vergangenheit. Dann gibt es
hierfür wohl keinen besseren Treffpunkt als das Gedicht. Dass die Jury in ihrer Urteilsbegründung zum Ulla-Hahn-Autorenpreis schreibt, die Gedichte in „Alle Lichter“ seien
„Liebesgedichte an das Leben“, empfinde ich als großes Kompliment und gebe auf diesem
Wege gerne zurück: Das haben Sie genau richtig verstanden.
Ich freue mich sehr über die Anerkennung, die sie mir mit diesem Preis zuteil werden lassen
und bedanke mich dafür aufs Allerherzlichste.
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