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James Hamilton-Paterson Leseprobe aus: Vom Meer Über die Romantik von Sonnenuntergängen, die Mystik des grünen Blitzes und die dunkle Seite von Delfinen Aus dem Englischen von Thomas Bodmer Inhalt Der grüne Blitz Die Deutscheund Nationalbibliothek Kopffüßer verschiedene verzeichnet kleine Fischarten, können ihre Färbung diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; verändern und sich so verschiedenen Hintergründen anpassen. Tiere detaillierte bibliografische Daten sind im Internet auf offener See hingegen finden nirgends Unterschlupf und brauchen unter http://dnb.ddb.de abrufbar. deshalb raffiniertere Methoden, um sich vor einem uniformen Hintergrund unsichtbar zu machen. Diese reichen von Durchsichtigkeit wie bei vielen Quallen bis zu Silbrigkeit wie beim Silberbeilfisch. Dieser kleine Fisch hat sich in einen regelrechten Spiegel verwandelt: Er © 2010 by James ist vertikal zu Hamilton-Paterson einer Klinge abgeflacht und über und über mit Plättchen aus Guanin (einem der vier Grundbestandteile der DNS ) be1. Auflage 2010 deckt, by diemareverlag, Licht reflHamburg ektieren. Von vorn oder hinten ist ein Silberbeil© 2010 fi sch zu edünn, um rasch entdeckt zu werden, und von der Seite wirkt Typografi und Einband er unsichtbar, weil er den ihn umgebenden Ozean widerspiegelt. Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg Schrift Minion Fische, die Pro vor allem an der Oberfläche leben, sind bedroht durch Druck und Bindung CPIBeispiel Clausen & Bosse,oder Leck Kormorane, weshalb sie oft Raubvögel, wie zum Tölpel Printed in Germany silbrig blau sind; wohingegen viele Fische, die auf offener See in der ISBN 978-3-86648-119-0 Nähe der Oberfläche leben, wie zum Beispiel Fliegende Fische, Makrelen oder Thun, auf dem Rücken tiefultramarin und auf dem Bauch www.mare.de hellblau oder silbrig sind. (Das gleiche Camouflageprinzip wurde im Zweiten Weltkrieg bei Kampfflugzeugen angewandt: Ihre Oberseite wurde in der Regel so bemalt, dass sie zum überflogenen Terrain passte, während die Unterseite meist hellblau oder weiß war.) In Tiefen unterhalb der von der Sonne beleuchteten oberen Schichten verwenden die Lebewesen andere Mittel, um in den Überresten des Tageslichts nicht sichtbar zu sein. Fische, Krabben und Garnelen, die unterhalb von siebenhundert Metern auf den Hängen des Kontinentalsockels leben, sind oft rot. Da Rottöne den Wellenlängen entsprechen, die das Wasser am schnellsten absorbiert, werden rot gefärbte Tiere unterhalb einer gewissen Tiefe unsichtbar oder wirken schwarz. Darunter liegt das Reich der Biolumineszenz, eine Welt von großer Subtilität und Komplexität, voller Köder, Fallen und für die Fortpflanzung wichtiger Signale. Doch an diesem Punkt schlagen nicht wissenschaftlich ausgebildete Eltern zur Abwehr weiterer Fragen listigerweise am besten einen Gang in die Eisdiele vor. 226 Vorwort Ereignisse 7 Meteorologische und Himmelserscheinungen haben Menschen immer schon seltsam fasziniert. Je seltener das Phänomen, Inseln desto größer die Faszination. Noch heute sind auch viele NichtwisNoirmoutier senschaft ler dazu bereit,16Kontinente zu durchqueren, um eine totale SonnenfiPonza nsternis24 zu beobachten; was sie anzieht, ist wohl nicht nur Maltaauf32 die Aussicht ein einmaliges Erlebnis, sondern, wie ich vermute, Teufelsinsel 41 auch derDie Überrest alter abergläubischer Vorstellungen, nach denen Narrenschiff e besondere 49 solche Dinge eine ganz Bedeutung haben. Die Natur ist zu so weiten Teilen gezähmt und entmystifiziert worden, dass wir einen Geschöpfe regelrechten Drang haben, die Ehrfurcht vor ihr von der Müllkippe Meerungeheuer zurückzuholen, auf die wir54 sie geschmissen hatten. Daher rührt auch Quallen 57 Interesse am »grünen Blitz«. unser wiedererwachtes Wale, Blitz Intelligenz und Lärm 66 Der grüne (manchmal auch »grüner Strahl« genannt) ist etund Menschen 70 was, dasDelfi sichne gelegentlich bei Sonnenuntergängen ereignet und besLophelia 76 tenfalls ein paar Sekunden anhält, weshalb es nicht sehr häufig beobDie Klippenassel achtet wird. Er kann in dem79Moment auftreten, da die Sonne hinter Quorum sensing 82 besonders auf dem Meer. In der Regel dem Horizont verschwindet, zeigt sich ein smaragdgrüner heller Fleck über dem letzten FitzelFischfang chen Sonne und hält sich dort ein, zwei Sekunden nach deren VerTiefwasser-Schleppnetzfi scherei 88 ihres Verschwindens schwinden. In seltenen Fällen blitzt vom Ort Spüren Fische Schmerz? 102 das Glück, den grünen Blitz ein grüner Strahl auf. Ich hatte zweimal Kugelfi sche Mal 1221979, als ich allein auf einer Landspitze an zu sehen. Das erste Fischzuchten in Schottland Insel 127 Palawan saß. Ich hatte dader Westküste der philippinischen Outports 140 Phänomen gehört. Da ich mir nicht sicher mals noch nie von diesem 161 hatte, erwähnte ich es nicht, denn ich befürchwar, wasKaviar ich gesehen Der Walfänger und Kannibalismus hoher See 164 tete, man könnte mich Essex auslachen und sagen, ichauf hätte wohl zu viel 227 San-Miguel-Bier getrunken. Das zweite Mal war viele Jahre später an Bord eines schottischen Trawlers in der Nordsee, als ich für einen Artikel zum Thema Überfischung recherchierte. Auch diesmal sagte ich nichts, da die ganze Mannschaft auf Deck mit dem Fang beschäftigt war und jeden, der die Muße hatte, Sonnenuntergänge zu betrachten, mit gnadenlos bissigen Sprüchen eingedeckt hätte. Mittlerweile hat der grüne Blitz sogar Eingang in die Populärkultur gefunden. Er kommt in Pirates of the Caribbean: At World’s End (Fluch der Karibik 3: Am Ende der Welt) vor, wo er als Zeichen dafür gilt, dass eine Seele ins Leben zurückgekehrt ist, was in diesem Fall heißt, dass Johnny Depp als Captain Sparrow aus Davy Jones’ Spind herausgefunden hat. Schon 1986 gab es Éric Rohmers Film Le rayon vert (Das grüne Leuchten), dessen Heldin in Liebesnöten ist und als Zeichen auf den grünen Blitz hofft, von dem sie aus dem 1882 erschienenen gleichnamigen Roman von Jules Verne weiß. Dass Verne um dieses Phänomen herum einen ganzen Roman schrieb, spiegelt das wissenschaftliche Interesse des 19. Jahrhunderts wider: Man suchte eine Erklärung für etwas, das die Menschen seit Jahrhunderten verwunderte und das bereits die alten Ägypter bemerkt hatten. Verne beschreibt die Bemühungen seiner Heldin Helena Campbell, den seltenen grünen Blitz in Schottland zu erhaschen. Doch ihr Blick auf den Sonnenuntergang wird immer wieder durch Wolken oder Segelschiffe gestört, und als es tatsächlich zu einem grünen Blitz kommt, verpasst sie ihn, weil sie genau in diesem Moment in die Augen ihres Geliebten blickt. Verne erwähnt in seinem Roman eine Legende, die besagt, dass, wer den grünen Blitz gesehen hat, in der Liebe nie die falsche Wahl trifft. (Diese Legende hat es natürlich auch Rohmers Heldin angetan.) Ich kann dazu nur sagen: Obschon ich den grünen Blitz gleich zweimal gesehen habe, habe ich in Liebesdingen mein Leben lang katastrophal danebengegriffen. Aber das sagt über Legenden nichts anderes, als was ich bereits gewusst habe. Wissenschaftlich lässt sich der grüne Blitz erklären mit der Brechung des Lichts der untergehenden Sonne und Eigenheiten des 228 menschlichen Sehvermögens. Die Atmosphäre funktioniert wie ein Prisma, welches das Sonnenlicht in seine Spektralfarben aufspaltet, die alle in verschiedenen Winkeln gebrochen werden. Längere Wellenlängen wie Rot werden weniger, kürzere wie Blau und Gelb dagegen viel stärker gebrochen. Sinkt die Sonne dem Horizont entgegen und dringen ihre Strahlen durch die immer dichtere Atmosphäre zum Betrachter, verschwindet das Blau durch die Streuwirkung der Luftmoleküle. Bei geeigneten atmosphärischen Bedingungen verschwinden größtenteils auch Gelb und Orange, die nicht zerstreut, sondern von Ozon- und Sauerstoffmolekülen sowie von Wasserdampf absorbiert werden. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versinkt, sind nur noch Rot und Grün übrig. Weil das menschliche Auge vom grellen Rot überwältigt wird, kann es die grüne Komponente zunächst nicht als gesonderte Farbe wahrnehmen. Tatsächlich zeigen Spezialfotografien Folgendes: Wenn die Sonne zur Hälfte hinter dem Horizont versunken ist, hat ihr oberer Saum eine deutlich grüne Färbung. Sowie die rote Scheibe verschwindet, schrumpft dieser grüne Saum und konzentriert sich: Je mehr er sich zu einem bloßen Punkt zusammenzieht, desto heller wird er. Das Grün wird für das menschliche Auge erst im letzten Moment sichtbar, wenn das rote Licht verschwunden ist. Dann zeigt sich plötzlich ein grellgrüner Fleck, und wir nehmen einen grünen Blitz wahr. Nun kann man sich fragen, warum das nicht jedes Mal zu beobachten ist, wenn die Sonne bei klarem Himmel untergeht. Es ist leider so: Die atmosphärischen Bedingungen müssen genau richtig sein. Der Effekt geht verloren, wenn die gelben und orangen Wellenlängen nicht gründlich genug absorbiert werden; aber auch ein Containerschiff am falschen Ort oder der Blick in die Augen eines geliebten Wesens können alles zunichtemachen. Einen grünen Blitz zu erhaschen, kommt deshalb seltener vor, als in Europa beispielsweise das Nordlicht (Aurora borealis) zu beobachten, weshalb der grüne Blitz, seiner prosaischen Erklärung zum Trotz, von einer Aura des Mystischen umgeben ist. 229 Falls jemand bezweifeln sollte, dass die Atmosphäre wie ein Prisma funktioniert: Derselbe Effekt ist auch die Erklärung dafür, dass die Sonnenscheibe immer stärker verzerrt wird, wenn sie kurz auf dem Horizont zu stehen scheint und dann dahinter versinkt. Das Licht ihrer Unterkante wird stärker gebrochen als dasjenige der Oberkante. Dadurch scheint ihr unterer Teil etwas weiter oben zu sein, als er sein sollte, was das bekannte Zusammensacken und Breiterwerden zur Folge hat. Ebenfalls der Brechung wegen sehen wir die Sonne noch ein Weilchen, nachdem sie bereits hinter dem Horizont versunken ist: Ihre Strahlen biegen sich dann gleichsam über der Erdkrümmung. Der grüne Blitz ist somit ein Gespenst der untergegangenen Sonne. Wie erwähnt, ist an diesem unwichtigen, aber auffälligen Phänomen nichts Mystisches dran. Das anhaltend breite Interesse hat aber bestimmt mit archaischen Gefühlen zu tun, die sich leicht einstellen, wenn wir den Himmel betrachten. Sogar in unserem weltlichen Zeitalter kann man noch immer den schwachen Abglanz einer Urangst verspüren, wenn sich die unheimliche, stille Dämmerung einer totalen Sonnenfinsternis schnell über die uns umgebende Landschaft ausbreitet. Eines Nachts vor einem Dutzend Jahren erlebte ich auf den Philippinen ein anderes sonderbares Himmelsereignis, eines, das viel seltener als ein grüner Blitz sein dürfte und mich noch tiefer beeindruckte. Ich war beim Speerfischen mit einem Freund aus dem Dorf. Wir schwammen jenseits der Korallenriffe, vielleicht einen halben Kilometer von der Küste entfernt, und verwendeten zum Anlocken von Sepien Taschenlampen, die wir selbst wasserdicht gemacht hatten. Es war nach Mitternacht, die pechschwarze Dunkelheit, die dieser Art des Fischens so förderlich ist, wurde bereits aufgehellt von einem Vollmond, der tief über dem Land hinter unserem Dorf stand. Seeauswärts fiel Regen, dessen Ausläufer bis zu uns reichten. Plötzlich sahen wir beide am Himmel einen riesigen grauen Bogen, einen perfekten hundertachtzig Grad umfassenden Halbkreis aus Nebel, der 230 aus sich deutlich voneinander abhebenden Bändern helleren und dunkleren Graus bestand. Ich brauchte ein Weilchen, bis mir dämmerte, dass dies ein »Mondregenbogen« sein musste: das genaue Gegenstück eines Regenbogens, allerdings schwarz-weiß. Obschon ich noch nie von so etwas gehört hatte, war offensichtlich, was es war, und ebenso offensichtlich war, dass mit den entsprechenden optischen Hilfsmitteln die für unsere Augen zu schwachen Spektralfarben feststellbar gewesen wären. Es war ein dermaßen unerwartetes und »persönliches« Erlebnis (da zwangsläufig jeder Mensch »seinen eigenen« Regenbogen sieht), dass ich mich heute noch an den wohligen Schauer, dem allerdings auch so etwas wie Ehrfurcht und Angst beigemischt war, erinnere. Mag sein, dass er auch von meiner Einsicht rührte, dass ich dergleichen aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr sehen würde. Kalt, majestätisch und ätherisch wirkte der Bogen und schickte durch das tropisch warme Wasser einen Schauer, der bei mir Gänsehaut von Kopf bis Fuß bewirkte. Erst als der Anblick zu verblassen begann, nahm ich wahr, wie sehr er meinem Begleiter zu schaffen machte. Dieser war völlig fertig mit den Nerven, und ich tat, was ich konnte, um ihm zu erklären, dass das nichts als die nächtliche Version eines gewöhnlichen Regenbogens gewesen sei. Das konnte er zwar akzeptieren, doch die Seltenheit des Ereignisses war für ihn beängstigend: Das musste doch etwas zu bedeuten haben. Er war überzeugt, dass dies ein Vorzeichen dafür sei, dass ein Unglück das Dorf oder, Gott behüte, seine Familie treffen werde. Nachdem der Mondregenbogen vom Himmel verschwunden war, hörten wir auf zu fischen und schwammen rasch an Land. Doch nicht einmal der Anblick seiner friedlich schlafenden Familie vermochte die Befürchtungen meines Freundes zu beschwichtigen, und nie hat er den dramatischen rauchigen Bogen vergessen, der sich mitten in der Nacht über den Himmel spannte. Er hat mir auch nie zustimmen können, dass es ein auf gespenstische Weise schöner Anblick war. Nach Europa zurückgekehrt, schickte ich der in London erschei- 231 Meerestiefen nenden Zeitschrift New Scientist einen Brief mit einer kurzen Beschreibung des Ereignisses. Dieser hatte Briefe verschiedener Leute aus aller Welt zur Folge, die ebenfalls einen Mondregenbogen gesehen hatten, und viele erwähnten die Ehrfurcht, die sie dabei empfunden hatten. Bald folgten auch die wissenschaftlichen Erklärungen dafür. Damit ein Mondregenbogen entstehen kann, muss der Mond voll oder beinahe voll sein, sonst ist es nicht hell genug. Er muss tief an einem dunklen Himmel stehen, und auf der vom Betrachter aus gesehen gegenüberliegenden Seite muss es regnen. Nur wenn der Betrachter genau am richtigen Ort ist und auch alle anderen Bedingungen stimmen, lässt sich das Phänomen beobachten, weshalb es so viel seltener ist als ein gewöhnlicher Tagesregenbogen. Die Reaktion meines philippinischen Freundes rief mir in Erinnerung, dass der Mensch den Himmel immer schon nach Zeichen und Omen abgesucht hat, die große politische oder persönliche Veränderungen ankündigen sollten. Und zweifelsohne tun dies Millionen Menschen, insbesondere Astrologen, bis heute. So sind beispielsweise Kometen seit Jahrtausenden mit Katastrophen in Verbindung gebracht worden (das Wort »Desaster« ist vom lateinischen astrum abgeleitet und bedeutet »Unstern«). Man sah sie als Vorzeichen für den Tod eines großen Mannes oder den Untergang einer wichtigen Stadt. Darüber kann man lachen; doch ist nicht zu leugnen, dass wir auch in heutigen, durch und durch weltlichen Gesellschaften noch ähnlich angstvoll den Himmel absuchen. Die Wissenschaft interessiert sich für Sonnenflecke, Sonnenzyklen und anderes, was unsere Atmosphäre und das Wetter beeinflusst; von all diesen Phänomenen versuchen wir eifrig abzulesen, was sie über die Erderwärmung aussagen, jene drohende Katastrophe, die fast jedem Angst macht, der genug weiß, um Angst zu haben. Vor diesem düsteren Hintergrund wirkt der grüne Blitz, als von schlimmen Bedeutungen unbelastetes Ereignis, erst recht bezaubernd. 232 Stimmen hören Meerestiefen Zur Philosophie des Tauchens Eine Menge Anderswo 233