Die Arbeitslosen von Marienthal

Transcription

Die Arbeitslosen von Marienthal
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
Die Arbeitslosen von Marienthal
Die berühmte Studie zur Weltwirtschaftskrise 1929.
Teil 1–5
Ö1 Betrifft: Geschichte
mit Reinhard Müller, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz
Redaktion: Martin Adel und Robert Weichinger
Sendedatum: September 2011
Länge: je ca. 4.50
Hintergrund
Die Arbeitslosen von Marienthal
Ein Meilenstein der Sozialforschung
Die richtungweisende Studie ist schon vor einem dreiviertel Jahrhundert zu dem klaren
Befund gekommen, dass lang andauernde Arbeitslosigkeit Menschen apathisch und
resignativ macht. An dieser Erkenntnis hat sich bis heute im Wesentlichen nicht viel
geändert.
Die niederösterreichische Arbeitergemeinde Marienthal - eine halbe Zugstunde
südöstlich von Wien gelegen - war mehr noch als andere Ortschaften von der
Katastrophe betroffen. Im Februar 1930 schloss die große Marienthaler Textilfabrik ihre
Pforten. Die Folge: Praktisch der ganze Ort war arbeitslos. Drei Viertel der 478
Marienthaler Familien waren ohne Arbeit und Brot.
Der Verlust des Arbeitsplatzes führt, anders als von vielen linken Theoretikern der
frühen 1930er Jahre erwartet, nicht zu einer nach links gehenden Radikalisierung,
sondern zu Apathie, Hoffnungslosigkeit und Depression.
In dieser Situation trat ein Team junger Sozialwissenschafter rund um Paul Lazarsfeld,
Marie Jahoda und Hans Zeisel auf den Plan: Zusammen mit einem guten Dutzend
junger Forscherinnen und Forscher - allesamt aus dem Umfeld der österreichischen
Sozialdemokratie stammend - erarbeiteten sie ihre berühmte Studie "Die Arbeitslosen
von Marienthal", ein Werk, das die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhundert
maßgeblich mit beeinflusst hat.
© Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / Mag. Winfried Schneider
Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt.
1
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
Otto Bauers Impuls
Hans Zeisel, einer der führenden Mitarbeiter der Studie, war wie die meisten seiner
Kolleginnen und Kollegen gerade einmal Mitte zwanzig, als er sich an den Forschungen
in Marienthal beteiligte. Kurz vor seinem Tod 1992 erinnerte sich Zeisel noch einmal
daran, wie alles begann: "In Wirklichkeit hat der Otto Bauer die Studie erfunden. Unser
Plan war, dass wir eine Erhebung über die Freizeit der Arbeiter machen wollen. Wir
dachten, wunderbar, da werden wir rausfinden, was sie mit der neuen Freizeit
machen... Da wurde Otto Bauer zornig. 20 Prozent Arbeitslosigkeit, Schande! Geht's
und studiert's Arbeistlosigkeit.... Das war ein großes Abenteuer, und wir haben
versucht, es so gut wie möglich zu machen." Und sie machten es gut, sehr gut sogar.
"Die Arbeitslosen von Marienthal" - das ist bis heute eine der weltweit meistzitierten
Studien zum Thema "Arbeitslosigkeit".
Soziales Engagement des Forschungsteams
Revolutionär war zum einen die Methodik der jungen Forscher: Sie werteten sowohl
offizielle Statistiken und eigens von ihnen angefertigte "Katasterblätter" für jede einzelne
Marienthaler Familie aus, sie suchten aber auch persönlichen Zugang zu den
Bewohnern des Orts. Jede Forscherin, jeder Forscher - so ihr Prinzip - musste auch für
die Bevölkerung nützliche Arbeitleistungen einbringen: Und so organisierten sie
Gebrauchkleidersammlungen, offerierten einen Gratisturnkurs für Mädchen, boten
kostenlose Schnittzeichenkurse an und sorgten für kostenlose ärztliche Beratung und
Behandlung der Marienthaler Bevölkerung. Ein anschauliches Beispiel für angewandte
Solidarität, die über dem Forschungsinteresse das Interesse an den Menschen, die
man beforscht, nicht verliert. So heißt es in der Studie:
"Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer
Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte,
sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in
das Gesamtleben nützlich einzufügen hatte.
Die Wiener Sozialwissenschafterin Sabine Gruber zeigt sich auch 75 Jahre nach dem
erstmaligen Erscheinen der Studie beeindruckt vom konkreten Engagement der
Marienthal-Forscher und nennt sie die Vorreiter der sogenannten Aktionsforschung.
Keine Politisierung
Revolutionär war nicht nur die Methodik von Lazarsfeld, Jahoda und Co., revolutionär
waren auch die inhaltlichen Erkenntnisse der Marienthal-Studie. Die Hauptthese lässt
sich so zusammenfassen: Der Verlust des Arbeitsplatzes führt, anders als von vielen
linken Theoretikern der frühen 1930er Jahre erwartet, nicht zu Politisierung und einer
nach links gehenden Radikalisierung der Arbeitslosen, sondern zu schrecklicher
Apathie, zu Hoffnungslosigkeit und allgemeiner Depression.
© Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / Mag. Winfried Schneider
Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt.
2
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
Dass Arbeitslose die neu gewonnene Freizeit dazu nützen, sich weiterzubilden oder
politisch zu engagieren, ist eine fromme Illusion. Das wusste auch Marie Jahoda, die
wesentlich am Entstehen der Marienthal-Studie beteiligt war. Nur geregelte Arbeit - und
sei sie das, was man entfremdet nennt - nur geregelte Arbeit strukturiert den Alltag des
Menschen, nur geregelte Arbeit sorgt auch dafür, dass der Mensch sich als sozial
integriert empfindet.
Hohe erzählerische Qualität
Die 1937 ins britische Exil gegangene Marie Jahoda war die wichtigste Autorin der
Marienthal-Studie. Ihr Anteil am Welterfolg der Studie kann gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden, meint der Grazer Soziologe Reinhard Müller, einer der
profundesten Kenner der Marienthal-Studie und ihrer Geschichte. Entscheidend dabei:
Marie Jahoda - eine glühende Karl-Kraus-Anhängerin - hatte großes literarisches
Talent. "Ich glaubee, das Bemerkenswerte an der Marienthal-Studie ist, daß sie eine
starke erzählerische Qualität hat", sagt Müller.
Marie Jahoda selbst betonte in einem Gespräch mit Doris Stoisser: "Eine Sache, auf die
ich immer achtgegeben hab, war eine allgemein verständliche Sprache zu schreiben,
nicht nur für meine Berufskollegen, sondern für jeden, der an dem Problem interessiert
sein könnte. Das heißt, den Jargon zu vermeiden, und die Klarheit des Ausdrucks zu
schätzen."
Und das ist Marie Jahoda glänzend gelungen. Seit der Wiederentdeckung der Studie in
den frühen siebziger Jahren sind die "Arbeitslosen von Marienthal" zum weltweiten
soziologischen Bestseller avanciert. Kein Wunder: Nimmt man etwa die deutsche
Ausgabe zur Hand - ein schmales, violettes Bändchen der Reihe "Edition Suhrkamp" ist man sofort gefangen von diesem Text, der auch als beeindruckendes Stück
österreichischer Alltagsgeschichtsschreibung bestehen kann. Die materielle Not der
Arbeitslosen von Marienthal - Marie Jahoda und ihre Kollegen haben sie exakt
beschrieben. Sie lassen etwa einen Marienthaler Lehrer im O-Ton zu Wort kommen.
Ein zwölfjähriger Schüler der zweiten Hauptschulklasse besitzt ein einziges Paar
Schuhe, genauer: ihm hängen einige zusammengenähte Fetzen von den Füßen. Wenn
es regnet oder schneit, kann er damit nicht auf die Straße. In seiner freien Zeit wird er
vom Vater eingesperrt, damit er nicht durch Herumspringen diese armseligen Reste
noch weiter gefährdet.
Auch in der von den Forschern eingerichteten Erziehungsberatungsstelle taucht immer
wieder die Frage auf: Wie hält man die Buben vom Fußballspielen fern, damit sie sich
nicht das einzige Paar Schuhe, das sie noch besitzen, ruinieren?
© Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / Mag. Winfried Schneider
Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt.
3
Ö1 macht Schule.
Ein Projekt von
Reicht das Geld nicht einmal mehr für Schuhe und Kleidung, wird die ERKRANKUNG
eines Kinds zur Katastrophe:
Frau S. erzählt: Das Kind ist eine große Sorge, es hat eine Rückenmarksverkrümmung,
es muß ein Gipsmieder tragen, dazu sollte es gut genährt sein, aber das kann sie ihm
nicht bieten. Durch die Krankheit des Kindes hat sie sich stark verschuldet.
Es geht auch anders
Langandauernde Arbeitslosigkeit führt in der Regel nicht dazu, daß die Menschen ihr
Schicksal in die eigene Hand nehmen und sich in einem emanzipatorischen Sinn
politisieren. Politisch treibt sie die Massen ganz im Gegenteil oft nach rechts - wie auch
Marie Jahoda feststellen musste. Das sieht auch der Linzer Soziologe und
Sozialhistoriker Josef Weidenholzer so, wenngleich er die New-Deal-Politik des USPräsidenten Theodore Rooselvelt als Gegenbeispiel nennt.
Die heutige Sozialforschung hat einige kleine Korrekturen an der Marienthal-Studie
angebracht. Im Großen und Ganzen aber, so betont Reinhard Müller, gelten die
Ergebnisse der Studie bis heute: "Für mich ist hier eine Pionierleistung erbracht
worden, die immer noch zu einem erheblichen Teil State of the art ist, die heute immer
noch zu einem erheblichen Teil Gültigkeit besitzt." Und er ergänzt: "Ich bin fast der
Meinung, dass man die Marienathal-Studie als die letzte relevante, sozial engagierte
Studie Österreichs bis in die Gegenwart bezeichnen kann." Der Weggang der Autoren von insgesamt 15 Personen sind nur zwei nicht ins Exil gegangen - markierte auch
einen Bruch in den österreichischen Sozialwissenschaften, der bis in die Gegenwart
anhält "und man hat auch vonseiten der Politik kaum Versuche unternommen, diese
Traditionslinie wieder an den österreichischen Universitäten zu verankern", so Reinhard
Müller.
Text: Ö1 / Günter Kaindlstorfer · 09.07.2008
© Diese Zusammenstellung: Ö1 macht Schule / Mag. Winfried Schneider
Ausschließlich zur nicht-kommerziellen Nutzung zu Unterrichtszwecken im Sinne des § 42 Abs 6 UrhG bereitgestellt.
4