Besessenheit, wie ist sie erkennbar?

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Besessenheit, wie ist sie erkennbar?
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
Zehn Fragen zu Alfred Hitchcocks „Vertigo“
Besessenheit, wie ist sie erkennbar?
Identität, wie ist sie erkennbar?
Liebe, wie ist sie erkennbar?
Gibt es Besessenheit?
Gibt es Identität?
Gibt es Liebe?
Ist Wahrheit wahrnehmbar, wenn die Welt ins Taumeln geraten ist?
Ist dem Schwindel entkommbar?
Ist wirklich alles Täuschung?
Gibt es Antworten?
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
Filmnotiz zu Alfred Hitchcocks „Vertigo“
Frauen, die Geheimnisse hüten, sind gefährlich. Diejenigen, die ihnen verfallen, laufen Gefahr,
in die Tiefe zu stürzen. Alfred Hitchcock lässt seinen Protagonisten in „Vertigo“ tief fallen –
und mit ihm die Zuschauer.
Kristin Hoell // „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // WiSE 2008/2009
Beschreibung des Filmplakates von Alfred Hitchcocks „Vertigo“
Filmplakate wollen den Blick potentieller Betrachter bereits aus weiter Entfernung auf sich lenken.
Im Idealfall können sich die Betrachter dem Plakat nicht entziehen und werden gegebenenfalls näher
herangelockt, um einzelne Details besser erkennen zu können. Stellen wir uns vor, das Plakat zu
Alfred Hitchcocks Film „Vertigo“ befindet sich in zehn Metern Entfernung. Was sehen wir? In
erster Linie rot. Ein Rechteck aus sattem Rot auf weißem Grund springt uns an. Im Zentrum des
Plakats ist eine weiße Spirale zu erkennen, in deren Mitte sich eine schwarze Figur abzeichnet. Oben
links prangen in Großbuchstaben zwei Namen. In der ersten Zeile wird James Stewart, in der
zweiten Kim Novak genannt. Unten links steht der Schriftzug „Vertigo“ in etwa derselben
Schriftgröße.
Die Betrachter werden von der spiralförmigen Struktur nahezu zum Plakat hingesogen. Beim
näheren Anschauen werden sie gewahr, dass es sich nicht bloß um eine Spirale, sondern um einen in
sich geschlossenen Kreis handelt. An den Außenseiten noch filigran, verdichten sich die Linien zur
Mitte der Spirale hin, wo sie in ein flächiges Weiß übergehen. Die Betrachter sind mit einer Spirale
ohne Anfang und ohne Ende konfrontiert. Dennoch ist die Richtung, in die der Blick gelenkt wird,
eindeutig: In die Mitte der Spirale, wo sich ein roter Kreis befindet und die schwarze Figur, die schon
von weitem erkennbar war. Gehen die Betrachter noch einen Schritt auf das Plakat zu, sehen sie,
dass sich im Zentrum der Spirale noch eine zweite Figur befindet. Nun wird auch klar, dass es sich
bei der schwarzen Figur um die Silhouette eines Mannes mit Hut handelt. Die zweite Figur ist nur
schwarz umrissen. Ansonsten ist sie durchsichtig, weshalb sich in ihr sowohl der rote Kreis als auch
die Linien der Spirale abzeichnen. Bei dieser Figur handelt es sich – erkennbar am Umriss eines
Kleides und hochhackigen Schuhen – um eine Frau. Der Mann greift an den Kragen der Frau. Die
Frau ist nach hinten gebeugt, ihr linker Arm greift nach hinten ins Leere beziehungsweise in die
spiralförmige Struktur, die ihr keinen Halt zu geben scheint.
Die Zeichnung lässt im Unklaren darüber, ob beide Figuren stürzen, ob nur die Frau fällt, ob der
Mann versucht, den Fall der Frau zu verhindern oder ihn erst herbeiführt. Den Eindruck, dass es
sich bei dieser Darstellung um eine gefährliche Situation handelt, verstärkt neben der roten
Gestaltung des Plakats insgesamt vor allem der rote Kreis in der Mitte der Spirale. Alten
Vorstellungen vom Tor zur Hölle gleich öffnet der rote Kreis den Boden unter den Füßen der
beiden Figuren, die drohen, darin hinabzustürzen.
Sicheren Halt bieten auch die Schriftzüge auf dem Filmplakat nicht. Zwar handelt es sich bei allen
Buchstaben um Majuskeln. Allerdings gleicht kein Buchstabe dem anderen. Obwohl sie auf den
ersten Blick geordnet scheinen, wirken sie bei längerem Hinsehen unruhig. Das liegt daran, dass die
einzelnen Buchstaben mal leicht nach links, mal leicht nach rechts kippen sowie unterschiedlich hoch
und breit sind. Im roten Rechteck lesen die Betrachter in der oberen linken Ecke von oben nach
unten die Namen der Hauptdarsteller – wie bereits beschrieben, steht in der ersten Zeile James Ste
wart, in der zweiten Kim Novak. Darunter folgt in der dritten Zeile kleiner geschrieben „In Alfred
Hitchcock‘s“ und darunter – kurz über der Spirale – „Masterpiece“. Unter der Spirale, am unteren
Rand des roten Rechtecks ist in Anführungszeichen der Titel des Films „Vertigo“ zu lesen. Die
Namen der Hauptdarsteller und der Filmtitel scheinen optisch gleich groß zu sein, allerdings sind die
Buchstaben des Wortes „Vertigo“ breiter gezogen als die der Darsteller. Dadurch wirkt der Filmtitel
prägnanter. Die Filmcredits sind nicht in das rote Rechteck integriert, sondern stehen in wesentlich
kleinerer Schriftgröße am untersten Ende des Plakats auf der weißen Fläche, die das rote Viereck wie
einen Rahmen umgibt.
Nachdem das Filmplakat die Betrachter angelockt hat, will es auch im Gedächtnis haften bleiben.
Doch was ist es bei diesem Plakat zu „Vertigo“, an das wir uns erinnern, wenn wir das Bild nicht
mehr direkt vor Augen haben? Vor allem – so geht es mir zumindest – ist es die Spirale auf roter
Fläche und die schwarze Figur in ihrem Zentrum. Und weil er auf dem Plakat genügend Raum hat,
um sich zu entfalten, bleibt auch der Name des Films in Erinnerung: Vertigo.
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
Beschreibung des Trailers zu Alfred Hitchcocks „Vertigo“
Eine eigene Welt baut der Trailer zu Alfred Hitchcocks Film „Vertigo“ für die Betrachter auf.
Am Anfang steht ein Wörterbuch, am Ende die Anfangsszene des ursprünglichen Films – eine
Verfolgungsjagd über die Dächer San Franciscos, in dessen Folge sich der Protagonist über
dem Abgrund an einer Regenrinne festhält. Die Herangehensweisen, unter welchen Gesichtspunkten der Trailer betrachtet werden kann, sind vielfältig: Wie wird die Voice-Over-Stimme
eingesetzt? Wie werden die Protagonisten charakterisiert? Wie gehen die verschiedenen Szenen
ineinander über? Wie unterstützt die Filmmusik die Botschaft des Trailers? All diese Fragen
sind lohnenswert in Hinblick auf diesen Trailer. Um sie soll es nachfolgend allerdings nur bedingt gehen. Die Auseinandersetzung mit der vom Trailer kreierten spezifischen Filmwelt soll
hingegen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
Der Trailer beginnt. Ein Wörterbuch wird aufgeschlagen. Der Begriff „vertigo“ wird beschrieben. Nach den letzten Worten der Voice-Over-Stimme „a whirlpool of terror“ beginnt das
Filmbild, sich zu drehen, die Musik wird dramatisch. Das sich drehende Filmbild geht über in
eine pinkfarbene, nach rechts rotierende, spiralförmige Struktur. Der pinkfarbenen Spirale auf
schwarzem Grund folgt eine türkisfarbene. Anschließend erscheint zeitgleich mit dem Filmtitel
„Vertigo“, dessen Schriftzug gelb gestaltet ist, eine grünfarbene Spirale. Zugleich berichtet die
Voice-Over-Stimme, dass der Film von Alfred Hitchcock kreiert worden ist und die Geschichte
dem Wort Spannung eine neue Bedeutung gebe. Die Spirale überlagert den Titel und verschwindet im Bild eines Mannes, der sich mit vor Panik aufgerissenene Augen im Bett aufsetzt.
Er wird den Betrachtern sofort vorgestellt: James Stewart. Nach dem nächsten Schnitt wird
Kim Novak präsentiert, die sich mit ebenso panischem Blick an einer Wand hinter ihrem Rücken festkrallt.
Novak wird überblendet von einer Szene, in der beide Protagonisten eng umschlugen am Rand
einer Klippe stehen. Novak klammert sich an Stewart und erklärt ihm verzweifelt, sie wolle
nicht sterben, jemand sei in ihr, die ihr sage, sie müsse sterben. Daraufhin folgt eine knappe
Vorstellung der Charaktere. Zum einen gibt es die schöne Frau, die sich selbst zerstören will.
Zum anderen einen von Höhenangst besessenen Mann. Dazu wird eine Szene gezeigt, in der
Stewart auf eine kleine Treppe steigt, hoch und runter schaut. Am Ende der Szene erliegt er
doch seiner Höhenangst und sinkt in die Arme einer den Betrachtern unbekannten Frau, die im
Trailer nicht näher charakterisiert wird. Die Voice-Over-Stimme fragt anschließend danach, was
die schöne Frau und den Mann zusammengebracht hat. Die Bilder zeigen, wie der Mann in ein
Zimmer stürmt. Die Frau liegt nackt im Bett, nur eine Decke umhüllt sie. Fragend blickt sie ihn
an. In der nächsten Szene bringt die Voice-Over-Stimme den Geist, von dem die Frau besessen
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ist, ins Spiel. Die Frau wird gezeigt, wie sie an einem Grab steht. Der Mann schleicht hinter ihr
her. Danach zeigt der Trailer eine Szene am Ufer unter der Golden Gate Bridge. Die Frau läuft
in Richtung Wasser, kommt am Ufer zu stehen. Der Mann rennt panisch in ihre Richtung. Die
Voice-Over-Stimme spricht vom „point of no return“ in Bezug auf die Frau. Der Eindruck,
dass sich die Frau umgebracht hat, wird von der nächsten Überblendung unterstützt: Der Mann
steht mit trauriger Miene vor einem Blumenladen. Parallel berichtet die Stimme von einer Liebe, die so stark sei, dass sie alle Grenzen niederreiße zwischen Gegenwart und Vergangenheit,
zwischen Leben und Tod, zwischen dem „golden girl in the dark tower“ und dem „tawdry readhead that he tried to remake in her image“. Die Betrachter sehen den Protagonisten, dessen
Antlitz vom Gesicht der blonden Frau überblendet wird. Die blonde Frau wiederum wird von
einer Brünetten überblendet. Das Bild des Protagonisten ist die ganze Zeit sichtbar. In der
nächsten Szene sehen die Betrachter den Protagonisten und die Brünette, die ihn fragt, ob er
sie lieben wird, wenn sie ihr Aussehen verändert. Er antwortet: „Ja.“ Sie kommen sich nahe.
Und sie sagt verzweifelt: „Alright, then I‘ll do it. I don‘t care anymore about me.“
Nach dieser Szene werden die Betrachter erinnert, wer die Rollen im Film spielen: Stewart wird
mit dem Schriftzug angepriesen, so habe man ihn noch nie zuvor gesehen. Novak wird damit
angekündigt, dass sie gleich zwei erstaunliche Rollen spiele. Abschließend wird eine Verfolgungsszene auf einem Dach gezeigt, die im Film – wie bereits erwähnt – eigentlich am Anfang
steht. Parallel zu dieser Verfolgungsszene werden die Namen der Nebendarsteller eingeblendet,
und es wird in großer Schrift darauf hingewiesen: „Only Hitchcock could weave this tangled
web of terror“. Anschließend sehen die Betrachter den Protagonisten, der beim Sprung von
Dach zu Dach abrutscht und mit seinen Händen an einer Regenrinne Halt sucht. Er blickt nach
unten in die Tiefe, und Hitchcocks sogenannter Vertigo-Effekt kommt zum Einsatz: Der Boden scheint sich beim Blick nach unten noch weiter in die Tiefe zu bewegen. Abschließend wird
noch einmal zusammengefasst, dass es sich um „Alfred Hitchcock‘s Vertigo“ handelt.
Wie sieht nun also die Welt aus, die der Trailer kreiert? Kurz zusammengefasst, will der Trailer
die Betrachter dazu bringen, sich einen spannungsgeladenen Film anzuschauen, der eine hybride Form zwischen Liebesgeschichte und Krimi aufweist. Genau wissen die Betrachter nicht,
worum es geht: Ein von Höhenangst geplagter Mann und eine von einem Geist besessene,
blondhaarige Frau verlieben sich ineinander. Aufgrund ihrer Besessenheit bringt sich die blonde
Frau um. Der Mann trauert und versucht daraufhin, das Aussehen einer brünetten Frau, in das
der blonden zu verwandeln. Die Gestaltung des Trailers macht allerdings klar, dass noch viel
mehr passiert. Denn die ans Ende gesetzte Verfolgungsjagd, deren Ausgang ungewiss ist, baut
einen Spannungsbogen auf, der erst mit dem Anschauen des Films aufgelöst werden kann.
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
21. Filmminute in Alfred Hitchcocks „Vertigo“
Einem Katz-und-Maus-Spiel gleicht die 21. Filmminute in Alfred Hitchcocks Film „Vertigo“.
Die blonde, geheimnisvolle Frau scheint nicht zu ahnen, dass sie von einem charismatischen,
elegant auftretendem Mann gejagt wird – das Gegenteil wird sich erst im weiteren Verlauf des
Films erweisen. Er sieht sie, beobachtet sie, ist in ihren Bann gezogen, geht verschlungene Wege, um sich ihr zu nähern. Umrahmt von sehnsuchtsvoller und zugleich beunruhigender Filmmusik erfahren die Betrachter seine Sicht auf diese Szene. Die Betrachter werden zu Voyeuren,
indem die Kamera sie zwingt, die Perspektive des Protagonisten einzunehmen. Doch was genau zeigt Hitchcock in dieser 21. Minute?
Ein Mann betritt einen Park. Er schaut suchend nach rechts. Mit wackeliger Fahrt
nimmt die Kamera seine Perspektive ein und folgt seinem Blick. Neben üppigen Sträuchern
werden Grabsteine sichtbar. Die Sträucher werden vom Kameraauge passiert. Das Kamerabild
schwenkt nach rechts und gibt die Sicht frei auf eine blonde Frau, die in einiger Entfernung
steht. Schnell wird sie zum Zentrum des Bildes, eingefasst von Grabsteinen im Vordergrund,
einem Berg aus Steinen in ihrem Rücken und vielen grünen Hecken. Die Dame steht andächtig
still in ihrem grauen Kostüm, ihren Mantel trägt sie über dem angewinkelten rechten Arm.
Die Kamera springt zurück auf den Oberkörper des Protagonisten, der fragend nach
rechts schaut. Er läuft an einem Busch vorbei und sieht die blonde Fremde nun von der Seite.
Sie ist nicht mehr so weit von ihm entfernt wie in der vorherigen Einstellung. Im Bildzentrum
befindet sich eine einzelne rote Rose, deren farbenprächtige Blüte vor dem Hintergrund des
dunklen Mantels der Frau hervorsticht. Der Mann läuft weiter geradeaus, an der Frau vorbei
und wendet seinen Blick in ihre Richtung: Sie steht vor einem Grabstein, das wird jetzt deutlich
erkennbar. Scheinbar lässig, eine Hand in der linken Hosentasche vergraben, schlendert der
Observateur nun über einen Friedhofsweg, sein Blick wandert umher. Er gibt sich gelassen.
Seine Beobachterperspektive hat er gegen die Aufmachung eines Flaneurs getauscht, der hier
und dort mit mal mehr, mal weniger Interesse die Grabsteininschriften liest – bis seine Augen
erneut an der Geheimnisvollen hängen bleiben, die noch immer gedankenversunken vor dem
Grabstein steht. Die Betrachter sehen sie nun von rechts hinten. Im linken Vordergrund blühen
erneut Rosen. Diesmal gelbe. Ein mit kleinen Hecken umrahmter, nach links geschwungener
Weg führt zur Frau als Mittelpunkt der Einstellung. Am Ende dieser kurzen Szene scheint sie
aus ihren Gedanken aufzuwachen und hebt den Kopf. Die Kamera beobachtet erneut den Protagonisten, der seinerseits angestrengt in die Richtung der Undurchsichtigen äugt. Langsam
schlendert er zu einem Baum und lugt durch einen Spalt zwischen Felswand und Baumstämmen, sieht, wie das Objekt seiner Begierde nach rechts verschwindet. In sich gekehrt läuft sie in
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
seine Richtung. Er macht hastig einen Schritt nach vorn gen Felsmauer, wo er sich halb hinter
einem hervorstehenden Stein versteckt. Noch immer fixieren seine Augen die blonde Frau, die
unterdessen den Baum passiert. Ihr Blick ist gesenkt auf den Rosenstrauß, den sie vor ihrer
Brust in den Händen hält. Erstmals in dieser Filmminute ist ihr Antlitz aus der Nähe erkennbar: die Haare streng nach hinten genommen, zu einem Dutt verknotet, ein „klassisch schönes“
Gesicht offenbarend.
Aus dem Schatten des Baumes tritt die Geheimnisvolle in die Sonne und verharrt einen
Augenblick am angedeuteten Scheidepunkt des Weges. Erneut zeigt der Film den Betrachtern,
wie der Mann die Frau beobachtet. In seinem Gesicht ist die Angst ablesbar, sie könne ihn entdecken, ebenso wie seine Faszination für die anmutige Fremde. Unterdessen hat die Beobachtete sich entschieden, den Weg nach links zu wählen. Sie dreht dem Protagonisten den Rücken
zu, der ihr hinterher starrt – er schluckt. Sie geht elegant hinter einer Hecke nach rechts ab.
Kristin Hoell // Projekt: „Schreiben über Film“ // Dozentin: Stefanie Diekmann // Wintersemester 2008/2009
Beschreibung des vorspanns von Alfred Hitchcocks „stage fright“
Ein Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine Stadt, London. „All the world‘s a stage.“ Der Vorspann zu Alfred Hitchcocks Schwarz-Weiß-Film „Stage Fright“ von 1950 erinnert
an diese Auffassung Shakespeares. „And all the men and woman merely players: They have
their exits and their entrances.“ Die zweite Hälfte des Shakespearschen Zitats wird im Film
selbst relevant, in den Hitchcock mit dem Vorspann genau eine Minute einführt.
Der Vorspann beginnt mit der Einblendung eines Gemäldes im Barockstil. Zwei Engel am linken und am rechten oberen Rand halten den Schleier einer Krone, die in der Mitte des oberen
Bildrandes positioniert ist. Die Krone überstrahlt die Szenerie. Das untere Drittel des Bildes
wird dominiert von einem zentral situierten, fantasievoll gestalteten Kopf. Das Gesicht ist das
einer Frau. Es erinnert an das Antlitz von Marlene Dietrich, die eine der Hauptrollen in „Stage
Fright“ spielt. Der Kopf ist verziert mit Pflanzen, und es scheint, als seien ihm Hörner aufgesetzt. Dort, wo unterhalb des Kopfes, Hals und Schultern ansetzen sollten, wachsen nach links
und rechts Farne, die sich an ihren Enden aufrollen. Auf ihnen sitzt links und rechts je ein Bläser. Sie haben ihre Posaunen auf die Stelle gerichtet, an der die Ohren des Kopfes zu vermuten
sind. In dem Moment, in dem die Zuschauer das Bild erfasst haben, erklingen im Vorspann
auch Posaunen.
In der Mitte des Bildes sind die Worte „Safety“ und „Curtain“ angebracht. Oben steht das Wort
„Safety“, darunter das Wort „Curtain“. Beide Worte sind in Majuskeln geschrieben. Sie beugen
sich leicht nach unten und bilden damit einen Rahmen für den Kopf mit dem Frauengesicht.
Folgt man der Bedeutung der Worte soll es sich demnach bei dem als Gemälde empfundenen
Filmbild um die Darstellung eines Schutzvorhangs, dem sogenannten Eisernen Vorhang, handeln. Diese Feuerschutzvorhänge sind im Theater zu finden. Die Betrachter gewinnen damit
gleich zu Beginn des Vorspanns einen Eindruck davon, in welchem Milieu sich der Film bewegen wird. Im ersten Moment liegt die durch den Schriftzug evozierte Assoziation mit dem Eisernen Vorhang jedoch nicht nahe: Trotz der eigenartigen Quadrierung des Bildes und den gezielt gesetzten Spotlights – zum Beispiel auf die beiden Bläser – vermittelt das Filmbild nicht
den Eindruck, dass ein realer Schutzvorhang abgefilmt worden ist. Zwar zeigen sich die Abdrücke der einzelnen Platten in der Regel bei Eisernen Vorhängen. In diesem Fall jedoch weisen sie
keinerlei plastische Materialität auf. Die hellgrauen Quadrate sehen aus wie aufgemalt. Folgt
man dieser Interpretation, wird den Filmzuschauern lediglich vorgespielt, es handele sich um
einen Vorhang. Anzunehmen, dass Hitchcock mit dieser Darstellung auf die Medialität des
Theaters selbst referenziert, liegt nahe, ist doch das Theater der Ort, an dem mittels Bühnen-
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bild Illusionen geschaffen werden. Und ebenso wie Hitchcocks inszenierte Illusion eines abgefilmten Vorhanges, sind die Bühnenbilder mal mehr, mal weniger realistisch gestaltet.
Nach wenigen Sekunden wird der Vorhang überblendet mit dem Logo von Warner Bros. Pictures, die den Film präsentieren. Daraufhin folgen die Namen der Haupdarsteller. Währenddessen weist der als Bild interpretierte Vorhang eindringlich darauf hin, dass es sich bei ihm tatsächlich um einen Schutzvorhang handelt, indem er sich von unten nach oben öffnet. Er wird
langsam hochgezogen.
In dem Moment, in dem das Wort „Safety“ langsam aus dem Bild verschwindet, lesen die Betrachter den Namen des Regisseurs, Alfred Hitchcock, und den Titel des Films „Stage Fright“.
Genau wie die Worte „Safety“ und Curtain“ sind auch die Worte „Stage“ und „Fright“ untereinander gesetzt. Auch die Schriftarten der vier Worte ähneln sich. Doch bei „Stage“ und
„Fright“ stehen die Buchstaben aufrecht und solide im Bild. Die verspielte Darstellung der
Worte „Safety“ und „Curtain“ ist bei „Stage“ und „Fright“ einer Starre gewichen. Die Sicherheit, die der Vorhang noch vor wenigen Sekunden geboten hat, weicht dem „Lampenfieber“
oder, um die Begriffe wörtlich zu nehmen, der Angst vor der Bühne.
Der Vorhang öffnet sich unterdessen weiter. Statt auf eine Bühne, gibt er überraschenderweise
den Blick auf eine Stadt frei. Die Stadt wird zur Bühne, zum Schauplatz des Geschehens, zu
dem Ort, an dem die Schauspieler agieren. Die Zuschauer sehen Häusermauern, eine Straße,
Fußgänger und später Autos. Der Vorhang wird stetig höher gezogen, die Musik wird schneller
und dramatischer. Schließlich enthüllt der Vorhang in seinem letzten Drittel die Londoner St.
Paul‘s Cathedral. Zeitgleich überthront der Kopf mit dem Frauengesicht die Szenerie. Der
Kopf wird kaum von Schrift überblendet, zudem wird er angestrahlt. Die Musik wird parallel
zum Verschwinden des Vorhanges aus dem Bild schriller und kündigt damit den Regisseur an:
„Directed by Alfred Hitchcock“ erscheint auf dem Vorspannbild, bevor der Vorhang endgültig
verschwindet und der Hauptteil des Films beginnt.
Vorhänge die sich öffnen, schließen sich am Ende eines Stücks auch wieder. Um ein wenig
vorwegzugreifen, sei an dieser Stelle verraten, dass sich der Vorhang am Ende des Films auch
wieder schließt. Unerwartet kommt ihm eine tragende Rolle zu. So wird der Film zum Theaterstück und der Eiserne Vorhang bestimmt dessen Ausgang.

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