Klara v. Assisi an Agnes v. Prag

Transcription

Klara v. Assisi an Agnes v. Prag
Klara an Agnes von Böhmen – Ein
geistlicher Weg
Wer etwas mehr über die Spiritualität der heiligen Klara von
Assisi wissen möchte wird neben ihrer Regel vor allem die
Briefe Klaras an Agnes von Prag lesen. Die böhmische Königstochter Agnes wendet sich wohl auf der Suche nach einer eigenen Ausrichtung und Spiritualität für ihr Leben und ihre Klostergründung an Klara, um sich von ihr Anregungen, Hinweise
und Hilfestellung zu erbitten. Leider sind uns keine Briefe der
heiligen Agnes von Böhmen an Klara von Assisi erhalten geblieben. Was uns vorliegt sind vier Briefe Klaras, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf verschiedene Anfragen von Agnes
eine Antwort gegen sollen. Diese Briefe geben nun eine reiche
Auskunft über die Spiritualität der Heiligen Klara selbst. Zunächst erwecken die vier Briefe, schon allein auf Grund ihrer
weit auseinander liegenden Datierung (1. Brief vor Pfingsten
1234; 2. Brief zwischen 1234 und 1238; 3. Brief etwa Anfang
1238; 4. Brief wohl 1253), den Eindruck von vier geistlichen
Gelegenheitsschreiben, die nicht unbedingt in einem inneren
Zusammenhang stehen. Eine genaue Lektüre der Briefe verhilft
dann aber doch dazu einen inneren Zusammenhang festzustellen. Mehr noch, ein intensiver Textvergleich offenbart, dass
Klara mit diesen Briefen Agnes nicht nur spirituelle Ratschläge
gibt, sondern ihr vielmehr einen wirklichen geistlichen Weg
vorlegt, den Klara selbst gegangen ist und zu dem sie nun
Agnes ermuntert.
Eine textkritische Analyse der Briefe zeigt auf, dass Klara in
jedem ihrer Briefe eine Etappe ihres geistlichen Weges beschreibt. Jeder einzelne Brief dient also dazu Agnes den nächsten Schritt auf dem geistlichen Weg schmackhaft zu machen.
Dabei liegt jedem der vier Briefe das selbe Grundschema zugrunde. Klara benennt das Ziel, beziehungsweise das jeweilige
Etappenziel ihres geistlichen Weges. Sie beschreibt die
Schwierigkeiten und benennt die notwendigen Voraussetzungen, um sich auch auf diesen Wegabschnitt machen zu können.
Sie gibt eine geistliche Beschreibung der jeweils nächsten
Etappe und schildert lebendig Früchte, die demjenigen der diesen Weg geht, geschenkt werden.
Mit Hilfe dieses einfachen Grundschemas, das den vier Briefen
zu Grunde liegt: Ziel des Weges, Voraussetzung, Wegbeschreibung und erlangte Früchte, sollen nun hier die vier Briefe einer
nach dem anderen interpretiert werden.
1. Brief: vom Guten zum Besseren
In ihrem ersten Brief an Agnes von Böhmen benennt Klara zunächst das große Ziel, zu dem der vorgestellte geistliche Weg
dann auf verschiedenen auf einander folgenden Etappen führen
soll. Deshalb, liebste Schwester, ja noch mehr zu verehrende
Herrin, seid ihr Braut, Mutter und Schwester meines Herrn Jesus Christus. (Vers 12.24) Mit diesen Worten, die sich an den
Brief des heiligen Franziskus an alle Gläubigen anlehnen stellt
Klara Agnes das Ziel ihres Lebens vor Augen: Braut, Mutter
und Schwester des Herrn Jesus Christus zu werden. Damit bietet Klara eine echte Alternative zur „weltlichen Bestimmung“
der Agnes an. Sie ist die Tochter, bzw. Schwester, des böhmischen Königs, sie ist auserwählt Braut des Kaisers Friedrich II.
zu werden, der um ihre Hand anhält. Ihre weltliche königliche
Bestimmung wird in diesem von Klara vorgestellten Lebensziel gleichsam auf eine geistliche Ebenen überführt und auf Jesus Christus den Bräutigam edleren Geschlechtes (Vers 7) ausgerichtet. Die Bestimmung der Agnes Braut, Mutter und
Schwester zu sein wird dadurch nicht abgewiesen oder gar unterdrückt, sondern auf dem geistlichen Weg auf ein höheres
Ziel hin ausgerichtet. Braut-, Mutter- und Schwestersein betreffen auch die fraulichen Dimensionen des Lebens von Agnes.
Diese fraulichen Dimensionen werden für den geistlichen Weg
nicht negiert, jedoch aber in einer geistlichen Ausrichtung neu
wertgeschätzt.
An dieser Stelle des Briefes beweist Klara dann auch ihr pädagogisches Gespür. Die Vorstellung eines hehren und idealistischen Lebenszieles kann auch lähmen und abschrecken. Deshalb stellt Klara nun Agnes zunächst einen ersten Wegabschnitt
vor, den sie gehen soll, um sich dann nach und nach dem großen Ziel anzunähern. Deshalb habe ich dafür gehalten, so sehr
ich vermag, Eure Hoheit und Heiligkeit mit dem demütigen
Bitten bei der Liebe Christi anzuflehen, dass ihr in seinem heiligen Dienste zu erstarken begehrt, vom Guten zum Besseren,
von Tugend zu Tugend ... (Vers 31-32) Vom Guten zum Besseren im Alltag voranzuschreiten ist eine realistische, erfüllbare
Herausforderung. Mehr erwartet Klara für diese erste Wegstrecke nicht. Deutlich benennt sie aber auch die Gefahren und die
sich daraus ergebenden Voraussetzungen, um den geistlichen
Weg von Tugend zu Tugend überhaupt erst gehen zu können.
Weltliche Ehren und Würden, Prunk (Vers 5) und irdischer
Reichtum (Vers 22.26-29) bilden im Blick auf die adelige Herkunft der Agnes die konkreten Gefährdungen ihres geistlichen
Weges. Dies alles zu verschmähen, wie es Agnes schon begonnen hat, ist die unabdingbare Voraussetzung, um diesen Weg
zu gehen.
Klara konkretisiert diesen ersten Wegabschnitt noch weiter, in
dem sie auf die Armut nach dem Beispiel Christi (Vers 15-20)
und auf den heiligen Dienst verweist (Vers 13). Der heiligen
Dienst ist eventuell eine Anspielung auf die Tatsache, dass mit
der Klostergründung von Agnes eine Armenhospiz verbunden
war, in dem die Schwestern selbst die Kranken pflegten. Jedenfalls das Voranschreiten vom Guten zum Besseren verwirklicht
sich konkret in der Nachfolge der Armut Christi und in besagtem heiligen Dienst.
Wenn Agnes diesen Weg gehen wird werden die Früchte dieser
ersten Etappe nicht auf sich warten lassen. So frohlockt von
Herzen und freuet Euch, erfüllt von höchster Freude und geist-
licher Fröhlichkeit. (Vers 21) Höchste Freude und geistliche
Fröhlichkeit werden dem geschenkt, der diesen Weg geht.
Freude und Fröhlichkeit verweisen auf das Glück der Lebenserfüllung und sind zugleich Kraft und Ansporn diesen Weg
fortzusetzen.
2. Brief: Teilhabe am Leben Christi
Der genaue Zeitpunkt der Entstehung diese Briefes, wahrscheinlich die Antwort auf einen Brief von Agnes, ist nicht
festzustellen. Liegt aber zwischen 1234 und 1238. Aus dem
Kontext ergibt sich, dass Agnes großen äußeren Schwierigkeiten ausgesetzt war und sich von Klara einen Rat erhofft. Klara
antwortet, in dem sie auf den geistlichen Weg zurückkommt
und sozusagen den zweiten Wegabschnitt beschreibt. Wiederum benennt sie ein Etappenziel. Wenn Du mit ihm (Jesus
Christus) Schmerzen empfindest, wirst Du mit ihm herrschen,
wenn Du mit ihm leidest wirst Du dich mit ihm freuen, wenn
Du mit ihm am Kreuz der Drangsal stirbst, wirst Du im Glanz
der Heiligen mit ihm die himmlischen Wohnungen besitzen.
(Vers 21) In ihrer zeitgenössischen Sprache verweist Klara
Agnes auf die Teilhabe am Leben Christi. Die erste Stufe des
Weges vom Guten zum Besseren wird jetzt gleichsam personalisiert in der Lebensgemeinschaft mit Christus. Um das Leben
Jesu zu teilen und zur Lebensgemeinschaft mit ihm zu gelangen bedarf es der konkreten Nachfolge. Schau auf den, der verachtenswert geworden ist für Dich? Ihm folge, die Du verachtenswert geworden bist in dieser Welt, um seinetwillen. (Vers
19) Der weitere spirituelle Weg veranschaulicht sich nun in der
konkreten Nachfolge. Wiederum kommt Klara auf die Hindernisse zu sprechen und deutet auch die Nöte und derzeitigen
Schwierigkeiten von Agnes indirekt an. Nach wie vor scheinen
die irdische Königswürde und das anerbieten der kaiserlichen
Ehe ein Hindernis dargestellt zu haben. Aus dem historischen
Kontext wissen wir, dass die königliche Familie Agnes lange
bedrängte den Eheantrag des Kaisers aus politischen Gründen
anzunehmen. Darüber hinaus scheint Agnes auf Schwierigkei-
ten gestoßen zu sein ihre Regel und Lebensform kirchlich anerkannt zu bekommen. Auch in diesem Zusammenhang wurde
Agnes, ähnlich wie Klara, bedrängt. Als Voraussetzung den
geistlichen Weg weiter zu gehen postuliert Klara für Agnes in
dieser Situation frauliches Selbstbewusstsein, Selbststand und
Eigenverantwortung. Glaube niemandem, stimme keinem zu,
wenn er Dich von diesem (Deinem) Vorsatz abbringen, wenn
er Dir ein Ärgernis in den Weg legen wollte, damit Du in jener
Vollkommenheit, zu der Dich der Geist des Herrn berufen hat,
Deine Gelübde dem Allerhöchsten erfülltest. (Vers 14) Und:
Wenn Dir aber jemand etwas anderes sagen, etwas anderes
einreden würde, was Deiner Vollkommenheit hinderlich wäre,
wenngleich Du ihm Verehrung schuldig wärest, befolge dennoch seinen Rat nicht! (Vers 17) Deutliche Worte, die selbst
eine notwendige Auseinandersetzung zu Gunsten des als richtig erkannten Weges nicht scheuen.
Auch aus dieser Etappe werden für den weiteren Weg Früchte
erwachsen: Standhaftigkeit und Ausdauer. Dass Du, eingedenk
Deines Vorsatzes, wie eine andere Rachel, immer Deinen Anfang im Auge hast: Du mögest halten, was Du hältst, was Du
tust, tue weiter, ohne zu säumen, vielmehr eile in schnellem
Lauf, mit leichtem Schritt, ohne den Fuß anzustoßen, damit
auch Deine Schritte den Staub meiden; sicher, froh und munter
mögest Du behutsam den Weg zur Seligkeit gehen. (Vers 1113)
3. Brief: tragen Christi im Mutterschoss
Im dritten Brief, der etwa Anfang 1238 zu datieren ist, vertieft
Klara im neuen Etappenziel die spirituelle Ausrichtung des Lebens, indem sie Agnes einlädt Christus in ihrem Mutterschoss
zu tragen. Siehe, jetzt ist es klar, dass durch die Gnade Gottes,
die das Wertvollste aller Geschöpfe ist, die Seele des gläubigen
Menschen größer ist als der Himmel; denn die Himmel mit den
übrigen Geschöpfen vermögen den Schöpfer nicht zu fassen,
die gläubige Seele allein ist seine Wohnung und sein Sitz, und
dies nur durch die Liebe, die die Gottlosen nicht haben. Denn
so spricht die Wahrheit: „Wer mich liebt, wird von meinem
Vater geliebt, und auch ich werde ihn lieben, und wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ (Joh 14,
21.23) Wie also die glorreiche Jungfrau der Jungfrauen ihn
leiblich getragen hat, so kannst auch Du ihn ohne jeglichen
Zweifel stets in Deinem keuschen und jungfräulichen Leib geistig tragen, wenn Du den Fußstapfen ihrer Demut und besonders ihrer Armut nachfolgst. (Vers 21-25) Mit der Beschreibung ihres dritten Etappenzieles greift Klara auf die Vätertheologie nach dem Johannesevangelium von der Geburt und Einwohnung Gottes im Herzen, in der Seele, im „Mutterschoss“
des gläubigen Menschen zurück. Damit stellt Klara ihren geistlichen Weg in die Tradition der Kirchenväter, vor allem der
orientalisch-griechischen Väter, die auf der Grundlage der
Schriftmeditation diese Theologie als geistliche Lebensform
für alle Gläubigen entfalteten.
Das größte Hindernis auf diesem Abschnitt des Weges sieht
Klara für Agnes im Hochmut und in der Eitelkeit. Deshalb soll
sie mit Hilfe der Weisheit den Hochmut und die Eitelkeit zu
Fall bringen. Dich sehe ich nämlich, wie Du die Listen des
schlauen Feindes, den verderblichen Hochmut der menschlichen Natur und die Menschenherzen betörende Eitelkeit
schrecklich und unvermutet zu Fall bringst mit Hilfe eines
wunderbaren Vorrechtes der Weisheit, die aus dem Munde
Gottes selbst kommt. (Vers 6) Sicherlich findet sich hier auch
wieder eine Anspielung Klaras auf die Spiritualität des Heiligen Franziskus, der die Weisheit, zum Beispiel im Gruß an die
Tugenden Vers 1, an die Spitze aller Tugenden stellt. Alle Tugenden anführend offenbart sich die wahre Weisheit in Jesus
Christus, dem fleischgewordenen Wort Gottes.
Die wahre Weisheit ist es dann auch, die es Klara ermöglicht
diesen dritten Wegabschnitt deutlicher zu beschreiben. Agnes
kann nämlich das Ziel dieser Etappe erreichen, in dem sie in
den Spiegel der Ewigkeit blickt. Hier greift Klara ein Instru-
ment den Spiegel auf, der im Mittelalter als kostbares Stück im
Leben einer Prinzessin wohl eine große Rolle spielte. Agnes
mag schon auf Grund ihrer Erziehung an den Gebrauch eines
Spiegel gewöhnt gewesen zu sein. Hier zeigen sich auch wieder die pädagogischen Fähigkeiten Klaras. Sie fordert Agnes
nicht in einer strengen Askese auf den Spiegel mit Verachtung
wegzuwerfen, sondern der Spiegel erhält auf einer geistlichen
Ebene jetzt eine neue Bedeutung für Agnes. Eine bisherige,
vielleicht eitle, Gewohnheit der Prinzessin wird jetzt auf eine
neue Art und Weise zu einer Möglichkeit der spirituellen Lebensvertiefung gewandelt. Stelle Deinen Geist vor den Spiegel
der Ewigkeit, stelle Deine Seele in den Glanz der Glorie, stelle
Dein Herz vor das Bild der göttlichen Wesenheit und forme
dich selbst durch Beschauung gänzlich um in das Abbild seiner
Gottheit. (Vers 12-13) Im Spiegel, der in der mittelalterlichen
Frauenspiritualität überhaupt eine große Rolle spielt, soll
Agnes nicht sich selbst widerspiegeln, so wie sie ist, vielmehr
soll sie im Spiegel ihre Gottebenbildlichkeit wahrnehmen und
sich durch Betrachtung und Formung immer mehr diesem Bilde angleichen. Betrachtung und Formung haben dann auch ihr
konkretes Bewährungsfeld, wie zum Beispiel im Fastengebrauch, den Klara ausführlich darstellt, um Agnes von jeder
rücksichtslosen und unmöglichen Strenge der Enthaltsamkeit
(Verse 31-40) abzubringen.
Als Frucht des Weges wünscht Klara Agnes hier Freude und
die Abwesenheit von Bitterkeit. Freue also auch Du Dich stets
im Herrn, Liebste, und nicht mögen Bitterkeit und widrige Dinge Dich umstricken ... (Vers 10-11). Zu dieser Freude gehört
auch die Gesundheit des Leibes und der Seele (Vers 42). Immer deutlicher wird auch, wie als Frucht des geistlichen Weges
zwischen Klara und Agnes, sowie ihren Schwestern eine geistliche Solidarität und geschwisterliche Verbundenheit wächst.
4. Brief: eine heilige Lebensgemeinschaft
Der vierte und letzte Brief von Klara an Agnes stammt wohl
aus dem Jahre 1253. Zwischen dem dritten und vierten Brief
liegen also viele Jahre. Klara selbst spricht in diesem Brief
über den nicht häufigen Briefkontakt und nennt auch eine objektiven Grund: der Mangel an Boten und die Gefahren der
Straßen (Vers 6). Dieser Brief stammt aus dem Todesjahr der
Heiligen Klara. Sie fasst hier gleichsam wie in einem geistlichen Testament ihre ganze spirituelle Lebenserfahrung zusammen und vermittelt an Agnes den Höhe- und Zielpunkt ihres
geistlichen Weges. Um dieses Ziel zu erreichen ist ein letzter
Abschnitt des Weges zu gehen, um sich mit dem Lamm zu vermählen. Weil Du wie eine zweite hochheilige Jungfrau, die heilige Agnes, dem unbefleckten Lamm, das hinweg nimmt die
Sünden der Welt, wunderbar vermählt bist. (Vers 8) Als letzte
Voraussetzung dafür hat Agnes, wie Klara feststellt, alle Eitelkeiten der Welt hinter sich gelassen. Wie ein roter Faden zieht
sich die Gefahr der Eitelkeit durch alle Briefe. Immer wieder
fordert Klara Agnes auf diese zu fliehen. Es scheint, dass
Agnes lange Zeit gegen diese Untugend anzukämpfen hatte,
was auf Grund ihrer Herkunft und Erziehung auch nicht weiter
verwunderlich ist. Wiederum wird der Spiegel, eigentlich ein
Instrument der Eitelkeit, auf die geistige Ebene gehoben und
dadurch neu zu einem Instrument des spirituellen Lebens aufgewertet. Auf dieser letzten Etappe des Weges wird die Betrachtung des Spiegels sogar intensiviert. Jetzt soll Agnes im
Spiegel aber nicht mehr sich selber betrachten, vielmehr reflektiert der Spiegel das irdische Leben des Bräutigams Jesu Christi von der Krippe bis zum Kreuz. In diesem Spiegel schaue täglich, o Königin, Braut Jesu Christi, und betrachte immer in
ihm Dein Antlitz ... In diesem Spiegel erstrahlen die selige Armut, die heilige Demut und die unaussprechliche Liebe, die Du
mit Gottes Gnade durch den ganzen Spiegel sehen kannst. Beachte, sage ich, ganz vorne in diesem Spiegel die Armut dessen, der da in der Krippe liegt und in Windeln eingehüllt ist. O
wunderbare Demut, o staunenswerte Armut! ... In der Mitte des
Spiegels aber betrachte die Demut ... die er um der Erlösung
des Menschengeschlechtes willen auf sich genommen hat. Am
Ende des Spiegels aber beschaue die unaussprechliche Liebe,
mit der er am Stamme des Kreuzes leiden und an ihm durch die
schimpflichste Art des Todes sterben wollte. (Verse 15-23) Diese Betrachtung des Spiegel steigert sich in der Vorstellung Klaras, in dem der am Kreuz hängende Jesus Christus selbst zum
diesem Spiegel wird, in dem sich die rettende Liebe Gottes reflektiert. Als daher dieser Spiegel selbst am Holz des Kreuzes
angebracht wurde ... (Vers 24). Von dieser Liebe soll nun
Agnes immer stärker in ihrem Leben entzündet werden. Daher
also mögest Du vom Feuer der Liebe immer stärker entzündet
werden, o Königin des himmlischen Königs. (Vers 27) Das Ziel
des geistlichen Weges ist nun mit dieser letzten Frucht in der
heiligen Lebensgemeinschaft mit dem Bräutigam erreicht. Diese Lebensgemeinschaft beschreibt Klara mit Zitaten aus dem
Hohen Lied der Liebe. (Verse 28-32) Gleichzeitig vollendet
sich hier die Berufung sowohl der Agnes als auch Klaras im
Braut-, Mutter- und Schwestersein. Das große Ziel des geistlichen Weges, welches Klara der Agnes schon in ihrem ersten
Brief vor Augen stellte ist nun, von Etappe zu Etappe voranschreitend, erreicht. Klara selbst, die ihren eigen Tod schon vor
Augen hat empfiehlt sich und ihre Schwestern an Agnes und
verabschiedet sich von ihr. Lebe wohl, liebste Tochter, mit Deinen Töchtern bis hin zum Throne der Herrlichkeit des großen
Gottes und betet für uns. (Vers 39)
Die Lektüre der Briefe Klaras an Agnes unter zu Hilfe nahme
des Grundschemas: Etappenziel, Wegabschnitt, Gefährdungen
und Voraussetzungen, sowie den jeweiligen erwachsenen
Früchten, hat uns geholfen den geistlichen Weg, den Klara in
diesen vier Briefen beschreibt, offen zu legen und den darin
enthaltenen spirituellen Tiefgang aufzuzeigen. Damit entfaltet
Klara, neben Franziskus, eine eigenständige und frauliche Version für einen geistlichen Lebensweg. Dieser geistliche Weg
der heiligen Klara basiert auf einer profunden Kenntnis der
Heiligen Schrift, der Vätertheologie und konkretisiert sich angesichts der realistischen Situation der Königstochter Agnes.
Um diesen geistlichen Weg für den franziskanischen Raum allgemein fruchtbar zu machen müssen die einzelnen Elemente
und Etappen des Weges jeweils neu konkretisiert und aktualisiert werden.
Aufgabe:
Lesen und Betrachten Sie die Briefe der Heiligen Klara von
Assisi an die Heilige Agnes von Böhmen.
Erarbeiten Sie einen geistlichen Weg, der sich am Wege der
heiligen Klara inspiriert. Definieren Sie das Ziel und die einzelnen Etappenziele. Stellen Sie die konkreten Hindernisse und
Gefahren fest. Formulieren Sie die notwendigen Voraussetzungen, um den Weg auch gehen zu können. Beschreiben Sie die
erhofften Früchte.