Lehren aus der Finanzkrise 20.05.09

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Lehren aus der Finanzkrise 20.05.09
Roland Vaubel
Mai 2009
Lehren aus der Finanzkrise:
Rolle des Staates und internationale Dimension
I. Ursachenanalyse
Wenn man Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen will, muss man sich über ihre Ursachen im Klaren
sein. Leider besteht in dieser Frage keine Einigkeit. Ich möchte neue Überlegungen in die Diskussion
einbringen.
1. Falsche Marktanreize, unvollkommene Voraussicht oder Staatsversagen?
Einige Ökonomen – vor allem in Deutschland – vertreten die Meinung, dass die Krise durch falsche
Marktanreize verursacht wurde. Zu den Protagonisten dieser Schule gehörte schon sehr früh H.-W.
Sinn:
- "Die Wechselwirkung zwischen dem Anreiz, das Eigenkapital zu minimieren, und dem
Anreiz zum Glückspielen verursachte die amerikanische Krise ... Die Krise breitete sich aus,
weil das Bankensystem nicht ausreichend risikoscheu war, ja in vielen Fällen das Risiko
geradezu suchte."1
- "Bei hoher wirtschaftlicher Unsicherheit kann die Haftungsbeschränkung ... zum Problem
werden, weil sie den Wagemut zum Glücksrittertum übersteigert ... Die fünf großen USInvestmentbanken, von denen bisher drei der Krise zum Opfer fielen, haben hemmungslos auf
diese Strategie gesetzt."2
Das ist die These vom Marktversagen. Danach haben die Banken wider besseres Wissen die Krise
riskiert, weil der Markt ihnen nicht die richtigen Anreize bot.
Dabei ist zwischen den Eigentümern und den Managern der Banken zu unterscheiden. Die
Eigentümer waren angeblich zu risikofreudig, weil ihre Haftung im Konkursfall beschränkt ist,
während ihnen die Gewinne unbegrenzt zugute kommen. Die Manager waren angeblich zu
risikofreudig, weil sie nur auf Zeit beschäftigt werden und daher nicht so langfristig denken wie die
Eigentümer und weil sie Jahr für Jahr erfolgsabhängige Bonusse erhalten, die im Falle eines späteren
Misserfolgs nicht zurückzuzahlen sind.
Die Nachteile von Haftungsbeschränkungen sind seit Jahrhunderten bekannt, und sie gelten für
Banken wie Nichtbanken. Trotzdem haben sich das Prinzip der beschränkten Haftung, die Delegation
der Unternehmensführung an Manager und die Erfolgsbeteiligung der Manager weithin durchgesetzt
1
2
Ifo-Standpunkt 99 vom 28.10.08, vgl. auch Sinn (2009).
Wirtschaftswoche vom 13.10.08, vgl. auch Sinn (2009).
2
und im Markt bewährt. Weshalb sollten diese bewährten Prinzipien der Unternehmensverfassung
gerade jetzt zu einer stark übersteigerten Risikobereitschaft – Glücksrittertum, wie es Sinn nennt –
geführt haben? Sinn (2009) beruft sich darauf, dass Walter Eucken die Haftung als konstitutives
Prinzip der Marktwirtschaft betrachtet hat. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass Eucken die schon
damals im Gesellschaftsrecht existierenden Beschränkungen der Haftung abgelehnt hätte.
Dass die Manager einen kürzeren Zeithorizont haben als die Eigentümer, war schon immer so.
(Ebenso haben die Politiker einen kürzeren Zeithorizont als die Bürger – die Macht wird ihnen nur für
kurze Zeit übertragen.) Dass jede Form der Erfolgsbeteiligung die Manager zur kurzfristigen
Gewinnmaximierung anregt, ist auch nicht neu. Dass sich die Erfolgsbeteiligung der Manager seit
einigen Jahren nicht mehr (nur) nach dem Betriebsergebnis, sondern (auch) nach dem Aktienkurs oder
Shareholder Value bemisst, hat die Kurzfristorientierung der Manager nicht verstärkt, sondern
verringert. Denn der Aktienkurs spiegelt die langfristigen Gewinnerwartungen der Marktteilnehmer –
genauer: der Anleger – wider. Die potentielle Asymmetrie der Erfolgsbeteiligung gibt es nicht erst seit
den Aktienoptionen. Außerdem haben sich diese Bonussysteme nicht nur bei den Banken, sondern in
allen Wirtschaftszweigen durchgesetzt. Sind jetzt alle Manager zu „Glücksrittern“ geworden? Das ist
vielleicht die Welt der Abenteuerfilme, aber nicht die Realität.
Richtig ist, dass die Haftungsbeschränkungen die volle Internalisierung der Risiken verhindern. Aber
daraus folgt nicht, dass die Manager – oder Eigentümer – den Konkurs leichtfertig in Kauf nehmen
oder nahmen und daher – wie Sinn meint – „die Risiken suchten“. Ein Bild soll dies verdeutlichen.
Betrachten wir den Piloten eines vollbesetzten Passagierflugzeugs – eines Jumbos. Er haftet nur für
einen winzigen Bruchteil des Schadens, den er anrichtet, wenn er einen schweren Fehler macht, das
Flugzeug abstürzt und alle Insassen umkommen. Da er selbst nur einen Teil des Schadens trägt,
müsste er eigentlich – nach Sinns Argumentation – zu risikofreudig sein. In Wirklichkeit ist er es aber
nicht, denn der Absturz würde ihn sein Leben kosten. Das ist für ihn ein hinreichender Anreiz, den
Absturz zu vermeiden.
Ein Konkurs ist ein Absturz. Eigentümer und Manager haben in aller Regel einen hinreichenden
Anreiz, ihn zu vermeiden. Technisch ausgedrückt: nicht alle Externalitäten sind allokationsrelevant.
Viele sind intramarginal und daher zu vernachlässigen. Das ist seit langem anerkannt, wird aber von
den Propheten des Marktversagens gerne übersehen.
Nicht unmittelbar absturzgefährdet waren die Credit-Rating-Firmen und die sogenannten "Special
Purpose Facilitities", die die Kredite verbrieften und weiterverkauften, ohne selbst in größerem
Umfang am Risiko beteiligt zu sein. Auch diesen beiden Akteuren musste jedoch klar sein, dass die
Vortäuschung niedriger Risiken ihren Geschäftserfolg langfristig gefährden würde.
Vom Konkurs zu unterscheiden ist die vorzeitige Entlassung von Managern. Dass solche Manager
trotz ihres Misserfolgs Abfindungen erhalten, ist der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln. Dennoch
haben sich solche Abfindungsregelungen im internationalen Wettbewerb um Spitzenmanager
durchgesetzt. Daraus kann man schließen, dass hochqualifizierte Manager sehr begehrt sind und dass
3
der Misserfolg nicht vorhersehbar war oder dass es unmöglich oder zumindest sehr schwierig wäre,
ihnen auf rechtlich überprüfbare Weise ein persönliches Verschulden – d.h. Vorsatz oder grobe
Fahrlässigkeit – nachzuweisen. Doch auch die Abfindungen ändern nichts daran, dass der Misserfolg
und die vorzeitige Entlassung für die betroffenen Manager unangenehm und daher nicht vorsätzlich
sind.
Es gibt aber nicht nur allgemeine Plausibilitätsüberlegungen, die gegen die These von den verzerrten
Marktanreizen und damit gegen Marktversagen sprechen. Die ökonometrische Evidenz (Gorton 2008:
74) zeigt nämlich, dass der Anteil der notleidenden Kredite in den USA ganz überwiegend durch die
Veränderungen der Immobilienpreise erklärt werden kann und kaum von den Vergabekriterien der
Hypothekenbanken abhing. Das deutet darauf hin, dass die Hypothekenbanken selbst von den
massenhaften Kreditausfällen überrascht wurden. Außerdem ist bekannt, dass viele Banker auch in
ihren privaten Vermögensdispositionen – wo die Anreize nach einhelliger Auffassung stimmten –
herbe Verluste erlitten haben.
Ich neige deshalb zu einer anderen Erklärungshypothese: Die Banker haben sich geirrt. Auslöser der
Krise waren falsche Erwartungen, nicht falsche Anreize – jedenfalls nicht falsche Marktanreize. Die
Banker haben die Risiken nicht „gesucht“ (Sinn), sondern unterschätzt.
Die Wirtschaft funktioniert – wie die Wissenschaft – nach dem Prinzip des „trial and error“ (Karl
Popper). Denn der Wettbewerb bietet maximale Anreize zur Innovation. Die modernen Finanzmärkte
sind das beste Beispiel. Irrtum ist unvermeidlich.3 Zum reinen Glückspiel oder "Kasinokapitalismus",
wie es Sinn (2009) nennt, wird die Marktwirtschaft dadurch nicht.
Dass sich die Menschen irren, bedeutet nicht, dass die Marktwirtschaft ein ineffizientes System ist.
Die Marktwirtschaft ist ein Koordinationsmechanismus; diese Aufgabe erfüllt sie herrschaftsfrei und
hocheffizient. Aber sie kann natürlich nichts daran ändern, dass die Zukunft ungewiss ist. Wer von der
Marktwirtschaft vollkommene Voraussicht fordert, verlangt Unmögliches. Deshalb macht es auch
keinen Sinn, den Irrtum als „Marktversagen“ zu bezeichnen. Unvollkommene Voraussicht ist kein
Systemfehler.
Worin bestand der Irrtum?
1. Viele Banken und Anleger schätzten die zukünftige Entwicklung der Immobilienpreise falsch ein –
vor allem der Preise im amerikanischen Subprime-Segment.
2. Die Kreditvermittlungskette war überdehnt: die Geschäftsbanken und Anleger in aller Welt, aber
auch die Credit Rating Agencies, wussten zu wenig über die Risiken, die sich hinter den "AssetBacked Securities" der kreditverbriefenden Special Purpose Vehicles verbargen.
3. Über die verbleibende Eigenbeteiligung der kreditvergebenden Hypothekenbanken ("Originators")
an den Hypothekenforderungen war wenig bekannt.
3
Vgl. auch Edmund Phelps, "Uncertainty bedevils the best system", Financial Times, London, 15.04.09.
4
4. Über die Special Purpose und Structured Investment Vehicles der Banken, die die
Hypothekenkredite und die verbrieften Asset-Backed Securities aufkauften, gaben die Bilanzen der
Banken keine Auskunft.
5. Die Bankenvorstände überschätzten die Leistungsfähigkeit der mathematisch-statistischen RisikoManagement-Systeme, die sie vor noch gar nicht langer Zeit eingeführt hatten. Sie erkannten nicht,
dass die Risikoanalysen, die ihnen ihre Spezialisten lieferten, auf Erfahrungswerten (Korrelationen)
weniger Jahre basierten und die systemischen Risiken völlig ignorierten. Insofern ist die Krise das
bisher gravierendste Beispiel dafür, wie die kritiklose Anwendung und Überschätzung der
Mathematik in der ökonomischen Analyse zu falschen Schlussfolgerungen und schweren
Fehlentscheidungen führen kann.
Dass nicht falsche Marktanreize, sondern falsche Erwartungen ausschlaggebend für die Entstehung
der Krise waren, zeigt die Entwicklung der relativen Risikoprämien. Wie Demyanyk und van Hemert
(2008, Abb. 6 und 7) gezeigt haben, sind die Risikoprämien bei den amerikanischen SubprimeHypotheken in den Jahren vor der Krise – ab 2001 – gefallen. Wenn dies Ausdruck einer sinkenden
Risikoaversion gewesen wäre, hätten sie auch in den anderen Bereichen des US-Finanzsystems – zum
Beispiel am Corporate Bond-Markt – fallen müssen, was nicht zutrifft (a.a.O.). Die fallenden
Risikoprämien für Subprime Mortgages zeigen daher an, dass die zunehmenden Risiken in diesem
Markt nicht erkannt wurden. Die empirische Evidenz deutet auf einen Irrtum hin.
Dass nicht falsche Marktanreize, sondern falsche Erwartungen ausschlaggebend für die Entstehung
der Krise waren, macht schließlich ein einfaches Gedankenexperiment deutlich. Nehmen wir an, die
Banken hätten alle Risiken richtig eingeschätzt, aber die Haftungsbeschränkungen wären geblieben.
Wäre die Krise trotzdem ausgebrochen? Sicher nicht.
Oder umgekehrt: unterstellen wir, es hätte die Haftungsbeschränkungen nicht gegeben, aber die
Prognosefehler der Banken wären geblieben. Wäre es trotzdem zu der Krise gekommen? Ja natürlich.
Die Haftungsbeschränkungen waren weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für
den Ausbruch der Krise. Eine notwendige Bedingung war die Unterschätzung der Risiken.
Gab es noch weitere notwendige Bedingungen? Es könnte sein, dass zwar nicht vom Markt, aber
doch vom Staat falsche Anreize ausgingen. Haben sich die Banken vielleicht darauf verlassen, dass
der Staat für sie einspringen würde, wenn sie zu große Risiken eingehen und in Schwierigkeiten
geraten würden? Das ist das Moral-Hazard-Problem, wie wir es aus der Versicherungsökonomik
kennen. Ich sehe zwei gewichtige Einwände:
1. Selbst wenn der Staat alle Banken rettet, ist den Bankmanagern – wie bereits erwähnt – von
vornherein klar, dass eine solche Krise für sie äußerst unerfreuliche Konsequenzen – von
Anfeindungen bis hin zur Schande einer Entlassung – hat, und auch die Eigentümer der Banken
mussten für den Fall der Krise mit einem dramatischen Kursverfall bei Bankaktien, d.h., mit herben
Vermögensverlusten rechnen.
5
2. Eine Reihe von Banken wurde ja gerade nicht vor dem Konkurs bewahrt. Das prominenteste
Beispiel ist Lehman Brothers.
Dennoch besteht Einigkeit, dass auch staatliche Maßnahmen zur Entstehung und Verschärfung der
Krise beigetragen haben, ja dass Staatsversagen eine weitere notwendige Bedingung für die
Entstehung der Krise war. Darüber ist schon viel geschrieben worden; deshalb will ich diese
wirtschaftspolitischen Fehler nur kurz benennen:
1. Es fing damit an, dass das amerikanische Department of Housing and Urban Affairs im Wahljahr
1996 den in staatlichem Auftrag operierenden Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac
vorschrieb, mindestens 12 Prozent ihrer Kredite an Personen zu vergeben, deren Einkommen
weniger als 60 Prozent des örtlichen Medianeinkommens betrug. Diese Quote wurde im Wahljahr
2000 auf 20 Prozent und 2005 auf 22 Prozent erhöht. Der Eigenkapitalanteil der Kreditnehmer
brauchte noch nicht einmal 10 Prozent zu betragen. Außerdem kauften Fannie Mae und Freddie
Mac in großem Umfang verbriefte Subprime Hypothekenkredite von privaten Institutionen auf. Die
verfehlte Vermögensbildungspolitik des amerikanischen Staates hat die dramatische Expansion des
höchst labilen Subprime-Immobilienmarktes daher begünstigt und wahrscheinlich überhaupt erst
möglich gemacht.
2. Ohne die viel zu expansive Geldpolitik der amerikanischen Notenbank in den Jahren 2002 bis 2004
wäre es nicht zu der Immobilienpreisblase gekommen. Verfehlt war nicht die Niedrigzinspolitik
des Jahres 2002, denn 2001-02 befand sich die amerikanische Wirtschaft in einer Rezession. Aber
nachdem die Wirtschaft 2003 und 2004 wieder ansehnliche reale Wachstumsraten von 2,5 und 3,6
Prozent erreicht hatte, hätte die Geldpolitik unverzüglich auf einem neutralen Kurs
zurückschwenken müssen.4 Dass es nicht dazu kam, lag wahrscheinlich daran, dass 2004 ein
Wahljahr war. Außerdem waren die Konjunkturprognosen der Fed für 2003 und 2004 viel zu
pessimistisch. Aber das kann Absicht gewesen sein. Vielleicht sollten sie dazu dienen, die
expansive Geldpolitik vor der Wahl zu rechtfertigen. Die Niedrigzinspolitik der Fed ermutigte
nicht nur zum kreditfinanzierten Immobilienkauf. Als Folge der expansiven Geldpolitik wurde
auch die Ertragskurve so steil, dass sich die Banken für eine stärkere Fristentransformation
entschieden. Das trug zur Labilität des Bankensystems bei.
3. Sowohl Fannie Mae und Freddie Mac als auch die rein privaten Hypotheken-, Investment- und
Depositenbanken unterstanden einer staatlichen Aufsicht. Die staatlichen Regulierungsbehörden
haben versagt.
Weshalb versagte die Bankenaufsicht in den USA und anderswo? Mehrere mögliche Ursachen
werden in der Literatur diskutiert:
1. Der Staat, die Politiker und Beamten, wissen es auch nicht besser. Im Gegenteil, diejenigen, die die
besten Voraussagen machen, zieht es eher in den gut bezahlten Bankvorstand als in den engen
Rock des Beamten. Selbst wenn die Aufsichtsbehörden alle Daten der Banken und viel weiter
4
Taylor (2009) zeigt, dass die Geldpolitik der Fed in dieser Zeit ganz untypisch war (Figure 1) und dass eine
regelkonforme Geldpolitik den Anstieg der Immobilienpreise weitgehend verhindert hätte (Figure 2).
6
reichende Kontrollbefugnisse gehabt hätten, an dem Ausbruch und Verlauf der Krise hätte das
nichts geändert. Deshalb wird es nicht helfen, den Aufsichtsämtern größere diskretionäre
Entscheidungsspielräume zu gewähren.
2. Die Aufsichtsbehörden werden von den Interessenverbänden der Produzenten – der Banken –
beeinflusst, die keine weitreichenden Regulierungen wünschen ("regulatory capture"). Damit ist zu
rechnen. Auch in diesem Fall hilft es nicht, die Befugnisse der Aufsichtsbehörden zu erweitern.
3. Die nationalen Aufsichtsbehörden waren nicht streng genug, weil die Nationalstaaten um das
internationale Bankgeschäft konkurrierten, welches Arbeitsplätze und Steuereinnahmen versprach.
Dagegen spricht, dass die Bankenaufsicht in den USA und den meisten anderen Industrieländern
nicht oder nicht allein dem Finanzministerium, sondern (auch) der meist unabhängigen Zentralbank
untersteht.
Aber hat vielleicht ein internationaler Deregulierungswettbewerb zwischen den Gesetzgebern, d.h.,
den Politikern, zu der Krise geführt?
2. Ein internationaler Deregulierungswettbewerb als Ursache der Krise?
Auch diese Erklärung findet sich in prononcierter Form bei H.-W. Sinn5:
„Die Regulierung war einem Laschheitswettbewerb unterworfen, der sie wirkungslos werden
ließ. Wer weniger streng als andere regulierte, der konnte seinen Banken einen Vorteil
gegenüber der Konkurrenz aus anderen Ländern verschaffen. Man wusste zwar, dass eine
nachlässige Regulierung die Käufer der Finanzprodukte schädigen könnte, weil die
Rückzahlungswahrscheinlichkeit damit verringert wurde. Aber die Käufer hatten keine Lobby
und saßen zum Teil ohnehin im Ausland ... Der Wettbewerb der Staaten kann grundsätzlich
nicht funktionieren ..."
Auch auf der Ebene der Staaten lautet Sinns Diagnose also auf Wettbewerbsversagen.
Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Deregulierung Innovationen begünstigt und dass
Innovatoren
zum
Teil
–
jedenfalls
vorübergehend
–
irren.
Aber
welche
konkreten
Deregulierungsmaßnahmen können tatsächlich für die Finanzmarktkrise verantwortlich gemacht
werden?
Kreditverbriefungen, Special Purpose Vehicles und Structured Investment Vehicles (conduits) waren
in den USA schon immer erlaubt. Sie gehören zu den Finanzmarktinnovationen der achtziger Jahre.
Wenn die Krise durch eine Deregulierungsmaßnahme ausgelöst worden sein soll, so kommt dafür nur
die Aufhebung des Glass-Stegall-Act im Jahr 1999 in Frage. Damit wurde in den USA die gesetzliche
Trennung zwischen Depositenbanken und Investmentbanken beseitigt und wieder die Bildung von
Universalbanken ermöglicht, wie sie in Europa üblich sind. Wie die Krise gezeigt hat, bieten
Universalbanken jedoch mehr Stabilität als hochspezialisierte Investmentbanken – insofern war die
Deregulierung gerade geeignet, der Krise entgegenzuwirken.
5
Wirtschaftswoche, 10.11.08
7
Die Deregulierungsgegner argumentieren nun, dass die Beseitigung der Wettbewerbsschranken
zwischen Depositen- und Investmentbanken die weniger regulierten Investmentbanken in die Lage
versetzte, in die traditionellen Märkte der Depositenbanken einzudringen, und so die Depositenbanken
veranlasste, durch die Gründung von Structured Investment Vehicles die Eigenkapitalvorschriften zu
umgehen. Aufgabe der Structured Investment Vehicles war es unter anderem, Asset-Backed Securities
zu erwerben und zur Finanzierung kurzfristige Wertpapiere zu emittieren – also in großem Stil
Fristentransformation zu betreiben. Ob die zunehmende Verbreitung der Structured Investment
Vehicles wirklich dem schärferen Wettbewerb von Seiten der Investmentbanken zuzuschreiben war,
ist nicht eindeutig zu klären. Auf jeden Fall ist jedoch Regulierungsversagen zu konstatieren. Das
Problem war nicht, dass der Staat deregulierte und mehr Wettbewerb zuließ, sondern dass er den
Versuchen der Depositenbanken, die für sie geltenden Eigenkapitalvorschriften zu unterlaufen, keinen
Riegel vorschob. Außerdem ist zu beanstanden, dass es weder vor noch nach 1999 hinreichende
Eigenkapitalvorschriften für die Investmentbanken gab. Aber auf Deregulierungsmaßnahmen –
geschweige denn einen internationalen Deregulierungswettbewerb – ist die Krise nicht
zurückzuführen.
Die These vom Versagen des Staatenwettbewerbs steht auch theoretisch auf schwachen Füßen. Das
zeigt die berühmte "Assignment Solution" (Zuordnungslösung) von Robert Mundell, der – unter
anderem dafür – 1999 den Nobelpreis erhielt.6 Danach ist dezentrale Wirtschaftspolitik auch bei
internationaler
Interdependenz
der
Märkte
effizient,
wenn
jeder
Staat
jedem
seiner
wirtschaftspolitischen Ziele das jeweils effektivste wirtschaftspolitische Instrument zuordnet. Jede
Regierung achtet dann darauf, was die anderen Regierungen tun, und sie reagiert darauf. Die
Regierungen können und sollten einander zwar informieren, aber sie treffen keine Absprachen. Das
Ergebnis dieses „nicht-kooperativen Spiels“ ist ein „Nash-Gleichgewicht“, das zugleich stabil und
effizient ist.
Eine solche eindeutige Zuordnung von Instrument und Ziel ist nicht nur möglich, sondern auch
wünschenswert. Denn sie macht klar, wer bei Zielverfehlungen verantwortlich ist und zur
Rechenschaft gezogen werden muss. Nur so kann demokratische Kontrolle funktionieren.
Ein möglicher Einwand ist nun, dass die Zuordnungslösung zwar optimal („first-best“) ist, dass sie
aber in der Realität keine Chance hat, weil die Politiker den Hals nicht voll bekommen können, d.h.,
weil sie mehr Ziele als Instrumente haben. Zum Beispiel wollen sie mit dem Instrument
Bankenregulierung nicht nur das Ziel Finanzmarktstabilität erreichen, sondern auch den
Weltmarktanteil der heimischen Banken maximieren, weil das für mehr Beschäftigung und höhere
Steuereinnahmen sorgt. In einer solchen „second-best world“ bietet sich eine Technik an, die in der
quantitativen Theorie der Wirtschaftspolitik als „Optimierung bei flexiblen Zielen“ bezeichnet wird.
Bei diesem Verfahren werden die konkurrierenden Ziele gewichtet und der Verlust aus den
Zielverfehlungen minimiert.
6
Im internationalen Kontext wird die Assignment-Lösung zum Beispiel von Patrick (1973) dargestellt und
analysiert.
8
Wenn nun jede Regierung den Weltmarktanteil der heimischen Banken maximieren will und sich die
Bankenregulierung negativ auf diesen Marktanteil auswirkt, fürchten viele einen internationalen
Wettlauf zum regulatorischen Nullpunkt („race to bottom“). Dieser Schluss ist jedoch voreilig. Denn
die Regulierung der Banken hat ja für die Regierungen nicht nur Kosten (beim Marktanteil), sondern
auch einen Nutzen: Finanzmarktstabilität, ein öffentliches Gut. Der Deregulierungswettbewerb
zwischen den Staaten löst daher nicht einen Wettlauf zum Nullpunkt, sondern einen Wettlauf zum
Nash-Punkt aus. Das Problem ist nur, dass der Nash-Punkt im Fall der Optimierung flexibler Ziele
nicht mehr optimal ist.
Die Frage ist aber, ob die Finanzmarktstabilität wirklich ein flexibles Ziel ist. Denn keine Regierung
hat ein Interesse daran, durch übermäßige Deregulierung Banken anzulocken, wenn sie erwarten muss,
dadurch eine Finanzkrise auszulösen. Wenn es trotzdem – wie in diesem Jahr – zu einer Panik kommt,
so kann der Grund nicht ein „Laschheitswettbewerb“ (Sinn), sondern nur ein Irrtum sein. Die
unzureichenden Eigenkapitalvorschriften waren also nicht eine Folge falscher Anreize, sondern
falscher Erwartungen.
Daraus folgt: das Ziel der Finanzmarktstabilität ist im kritischen Bereich nicht flexibel, sondern fix,
und es hat Vorrang vor der Maximierung des Weltmarktanteils. Damit ist aber Mundells AssignmentLösung wieder anwendbar. Dezentrale Regulierung funktioniert.
Nur in dem Bereich, in dem die Regulierung über das für die Finanzmarktstabilität notwendige Maß
hinausgehen würde, hängt die von der Regierung gewählte Regulierungsintensität davon ab, wie stark
die anderen Regierungen die Banken regulieren. Deshalb führen internationale Absprachen, denen
keine Bank entkommen kann, zu einer Überregulierung – d.h. zu einer Regulierungsintensität, die über
das für Finanzmarktstabilität notwendige Niveau hinausgeht.
Eine weitere Komplikation kommt hinzu. Welche Bank hat ein Interesse daran, sich in einem Land
anzusiedeln, dessen Finanzmarktstabilität wegen mangelnder Regulierung ernsthaft gefährdet ist?
"Regulierungsarbitrage" findet nur insoweit statt, als das, was anderswo erlaubt ist, auch tatsächlich
für die Banken attraktiv ist. Das heißt: selbst wenn jede Regierung für ihr Instrument
Bankenregulierung nicht ein Ziel, sondern zwei Ziele – Finanzmarktstabilität und einen möglichst
großen Weltmarktanteil im Bankgeschäft – hätte, so wären diese Ziele nicht voneinander unabhängig,
sondern positiv miteinander verknüpft. Die Regulierung würde zur Erreichung beider Ziele beitragen.
Jede Regierung würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Auch in diesem Fall ist Mundells
Assignment-Lösung anwendbar.
Wie zitiert sieht Sinn ein weiteres Problem darin, dass die Käufer der Finanzprodukte zum Teil im
Ausland sitzen. Aber weder die Banken noch die Regierungen haben ein Interesse daran, das lukrative
Auslandsgeschäft zu verlieren.
Schließlich meint Sinn, dass die Bankenregulierung zu „lasch“ sei, weil die Käufer der
Finanzprodukte keine Lobby haben, während die Banken gut organisiert und politisch schlagkräftig
sind. Diese Asymmetrie gibt es natürlich, aber sie ist noch viel stärker, wenn die
9
Finanzmarktregulierungen nicht dezentral in den einzelnen Staaten, sondern zentral auf internationaler
Ebene beschlossen oder ausgehandelt werden. Für die Interessengruppen ist es nicht schwer, sich auf
europäischer oder atlantischer Ebene zu organisieren. Die Anleger können dem nichts entgegensetzen
– sie verstehen noch nicht einmal, was in Brüssel oder Washington gespielt wird.
Ursache der Finanzmarktkrise war nicht, dass die einzelnen Staaten – insbesondere die USA – keine
hinreichenden Anreize gehabt hätten, die Krise zu verhindern, und das Gleiche gilt für die
Bekämpfung der Krise.
II. Krisenmanagement
Die Finanzmarktstabilität ist ein öffentliches Gut. Deshalb ist es Aufgabe des Staates, im Falle einer
Krise die Geld- und Kreditversorgung der Wirtschaft zu garantieren. Dazu kann gehören, dass
entweder die Zentralbank oder die Einlagenversicherung als Lender of Last Resort – gegen
Sicherheiten und zu einem Strafzins! – Kredite an illiquide Banken vergibt und dass der Staat
insolvente Banken, die kein Privater übernehmen und weiterführen will, in eine Auffanggesellschaft
überführt, rekapitalisiert, restrukturiert und nach der Krise wieder am Markt verkauft.7 Aber es ist
nicht Aufgabe des Staates, solvente Banken zu subventionieren, ihnen notleidende Kredite
abzukaufen, sich an ihnen zu beteiligen oder sogar ihre Verstaatlichung zu erzwingen. Wenn er es
trotzdem tut, wird er seine Hilfe an Bedingungen knüpfen – zum Beispiel, den Banken Vorschriften
für die Kreditvergabe (in Deutschland an die kleinen und mittleren Unternehmen), die
Managergehälter und die Dividendenpolitik machen. Dann verheddert sich die Politik in
diskretionären Eingriffen und der Befriedigung von Interessengruppen. Sie hält sich nicht mehr an
Regeln. Dem punktuellen Interventionismus sind dann keine Grenzen mehr gesetzt.
Melden die Banken dagegen Konkurs an, so haben Manager und Eigentümer ihr (Verfügungs-)Recht
verloren. Dann darf man den Managern nicht die Schande des Konkurses und den Eigentümern nicht
den totalen Verlust des Aktienkapitals ersparen. Die staatliche Auffanggesellschaft sollte die
insolventen Banken daher, soweit sie systemrelevant sind, zu einem symbolischen Preis – z.B. von
einem Euro – übernehmen. Es geht nicht an, dass die Aktien eigentlich insolventer Banken nur
deshalb zu einem positiven Kurs gehandelt werden, weil die Börse vom Staat Subventionen oder einen
ansehnlichen Kaufpreis erwartet.
Einige Ökonomen befürchten, dass die Banken, wenn sie nach all den Verlusten ihre
Eigenkapitalquoten wieder anheben, weniger Kredite vergeben werden, anstatt ihr Eigenkapital zu
erhöhen. Das ist das Schreckgespenst einer – möglicherweise viele Jahre anhaltenden –
"Kreditklemme". Ob sich eine solche Kreditklemme anbahnt, ist völlig ungeklärt. Denn es ist ganz
normal, dass die Banken in einer Rezession weniger Kredite vergeben, weil die Zahl der Erfolg
7
Die Auffanglösung wurde ab den achtziger Jahren in den USA und Anfang der neunziger Jahre von der
bürgerlichen Regierung Schwedens praktiziert.
10
versprechenden Investitionsprojekte zurückgeht.8 Es ist zunächst einmal Aufgabe der staatlichen
Makropolitik, die Rezession zu überwinden.
Für H.-W. Sinn ist die Kreditklemme eine ausgemachte Sache, und er schlägt drastische
Maßnahmen vor, um sie zu bekämpfen. Der Staat soll die Banken – auch die solventen Banken –
zwingen, ihr Eigenkapital wieder auf den Stand zu bringen, den es an einem (willkürlich gewählten)
Stichtag vor Ausbruch der Krise erreicht hatte. Wenn die Banken sich nicht im vorgeschriebenen
Umfang am Markt rekapitalisieren, soll sich der Staat – auch gegen ihren Willen – selbst an den
Banken beteiligen:
"Der Staat muss den Banken sagen: Entweder ihr besorgt Euch frischen Kapital, oder wir
steigen bei Euch ein."9
Das ist ein äußerst problematischer Vorschlag. Selbst wenn der Staat stimmrechtslose Aktien
erwerben würde, würde er sich doch anmaßen, eine bestimmte Allokation des Kapitals
vorzuschreiben. Er würde sich nicht darauf beschränken, zum Zwecke der Risikovorsorge eine
Mindestrelation zwischen Krediten und Eigenkapital vorzugeben, sondern die absolute Höhe des
Eigenkapitals, die mindestens vorzuweisen ist, fixieren. Das ist keine Globalsteuerung mehr, sondern
Strukturpolitik im Geiste der siebziger Jahre. Es ist keine Makropolitik, sondern Mikrointervention.
Dafür fehlt dem wohlwollenden Diktator Staat das notwendige Wissen. Die Landesbanken sind der
schlimmste Beweis.
Die von Sinn propagierten Brachialmethoden sind nicht nur ordnungspolitisch problematisch, sie
sind auch gar nicht notwendig, um einer Kreditklemme vorzubeugen. Die marktkonforme
Ursachentherapie bestünde vielmehr darin, die Eigenkapitalvorschriften vorübergehend auszusetzen,
bis die Wirtschaft wieder auf ihren langfristigen Wachstumspfad zurückgekehrt ist.10 Denn andernfalls
können die Eigenkapitalvorschriften prozyklisch wirken. Das regulatorische Eigenkapital ist kein
Risikopuffer – der Puffer ist das freie Eigenkapital. Längerfristig müssen die Eigenkapitalvorschriften
dahingehend reformiert werden, dass die vorgeschriebene Quote regelgesteuert mit der Auslastung der
Kapazitäten variiert, wie dies im Abschnitt III beschrieben wird.
Die Banken werden auch unabhängig von den staatlichen Vorschriften ihre Eigenkapitalbasis wieder
aufbauen, wenn die Zeit dafür günstig ist. Ihr Kreditgeschäft werden sie deshalb nicht vernachlässigen,
denn damit erwirtschaften sie ihre Gewinne. Wird sie der Wettbewerb zwingen, ihre
Eigenkapitalquoten überstürzt zu erhöhen und ihre Kreditvergabe einzuschränken, weil sie sich sonst
nicht mehr am Markt refinanzieren können? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte; damit ist auch nicht zu
8
Die Granger-Kausalitätstests von Kashyap, Stein und Wilcox (1993) belegen für die USA, dass eine
restriktive Geldpolitik die reale Kreditvergabe der Banken an die Unternehmen vermindert, dass aber
gleichzeitig die Emission von kurzfristigen Industrieobligationen (commercial paper) zunimmt. Der
Nettoeffekt auf die Investitionen – insbesondere die Ausrüstungsinvestitionen – ist negativ.
9
Zitat aus: Der Tagesspiegel, Berlin, 25.10.2008.
10
Vgl. die Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie vom 23.01.2009. Der Vorschlag des Beirats bezieht sich nur auf Basel II; aus den gleichen
Gründen wären aber auch die prozyklisch wirkenden Eigenkapitalvorschriften von Basel I vorübergehend
auszusetzen. Zu Basel II vgl. Blum und Hellwig (1995) und Repullo und Suarez (2008).
11
rechnen, wenn der Staat – wie ich vorgeschlagen habe – in der Krise die Verbindlichkeiten der Banken
garantiert.
Die Bundesregierung ist unter der Federführung von Finanzminister Steinbrück – dem Vorbild der
britischen Labour-Regierung folgend – den Weg der Subventionierung, Kapitalbeteiligung,
Verstaatlichung und Gängelung solventer Banken gegangen. Wie in Großbritannien wurden die
Banken zwar nicht gezwungen, die angebotenen Steuergelder anzunehmen, aber wer es tat, konnte
seine Kreditvergabe, seine Dividenden und seine Gehaltsstruktur nicht mehr frei bestimmen.
Außerdem verlängerten die verschiedenen staatlichen Finanzspritzen und Subventionen die Krise.
Dadurch, dass von Fall zu Fall schwache Banken künstlich am Leben erhalten wurden, blieb der
Eindruck, dass es noch weiter bergab gehen könne. Da die notwendige Flurbereinigung ausblieb,
hielten Anleger und Banken ihr Pulver trocken und flüchteten vorläufig in die Liquidität. Hätten die
nicht überlebensfähigen Banken dagegen schon frühzeitig Konkurs anmelden und von der
Auffanggesellschaft übernommen werden müssen, wäre die Talsohle eher erreicht worden und der
nächste Aufschwung früher in Gang gekommen.
Die Auffanglösung impliziert, dass der Staat alle Verbindlichkeiten insolventer Banken garantiert. In
dieser Hinsicht ging die Bundesregierung – trotz all ihrer fallweisen Interventionen – nicht weit genug.
Sie garantierte nur die Guthaben der Einleger – mit der Folge, dass der Interbankenmarkt
zusammenbrach.11
Zum Schluss fand sich die Bundesregierung sogar bereit, eine staatliche "Bad Bank" zu installieren,
die – willkürlich ausgewählte – "toxische" Forderungen der Banken übernehmen und garantieren
sollte. Das war ein Fehler, denn damit subventionierte sie solvente Banken. In Schweden, das häufig
als Vorbild genannt wird, wurde dies 1992 ausdrücklich vermieden. Die schwedischen Bad Banks
übernahmen die notleidenden Kredite der insolventen Banken, die sich in der Auffanggesellschaft
befanden. Wenn der Staat über seine Auffanggesellschaft die Verbindlichkeiten aller systemrelevanten
Banken garantiert, ist eine staatliche "Bad Bank" für die notleidenden Kredite der solventen Banken
überflüssig. Das Ziel sollte nicht sein, solvente Banken durch staatliche Kreditgarantien zu
subventionieren, sondern die Gläubiger der Banken vor den Folgen drohender Bankenkonkurse zu
schützen.
Für die Bekämpfung der Rezession war vor allem wichtig, dass die Notenbanken dafür sorgten, dass
die Geldmenge weiter – nicht weniger als das Produktionspotential – anstieg. Der Kardinalfehler, den
die Notenbanken während der Weltwirtschaftskrise von 1929-33 begingen, als sie einen dramatischen
Rückgang der Geldmenge zuließen, wurde damit vermieden. Den Notenbanken mangelte es jedoch an
Geduld. Nachdem die notwendigen Lockerungen vollzogen worden waren, bestand keine
Notwendigkeit, immer wieder nachzulegen. Die Konjunkturwirkungen der Geldpolitik treten nun
einmal erst mit einer Verzögerung von 3-5 Quartalen ein. Da hilft nur Abwarten.
11
Die Ausdehnung der Garantie auf die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Banken hat zum Beispiel der
Kronberger Kreis (2009) gefordert.
12
Auch die automatischen Stabilisatoren der Fiskalpolitik wurden diesmal nicht außer Kraft gesetzt.
Darüber hinaus wurden riesige staatliche Ausgabenprogramme in Gang gesetzt. Sie krankten daran,
dass sich die zusätzliche oder vorgezogene Güternachfrage des Staates meist nicht auf diejenigen
Produktionskapazitäten richtete, die unterausgelastet waren. Außerdem ist der Staat erfahrungsgemäß
zu schwerfällig, um kurzfristig zusätzliche Investitionen durchzuführen.
Wie die Panik von 1907 – die letzte globale Panik vor der Weltwirtschaftskrise – zeigte, braucht eine
durch Fehlspekulationen und Konkurse großer Banken entstandene Krise nur wenig mehr als ein Jahr
zu dauern, wenn geldpolitische Fehler vermieden werden.12 In einem solchen Fall kommt die Wirkung
staatlicher
Ausgabenprogramme
zu
spät.
Steuersenkungen
können
schneller
wirken
als
Ausgabenprogramme. Zum Beispiel hätte man den Mehrwertsteuersatz für langlebige Konsumgüter
ein halbes Jahr lang herabsetzen können.
Eine international koordinierte Konjunkturpolitik war nicht erforderlich, denn jede Regierung und
Zentralbank hatte einen hinreichenden Anreiz, die eigene Wirtschaft zu stabilisieren. Die Tatsache,
dass sich nationale Stützungsmaßnahmen auch im Ausland günstig auswirken, bedeutet ja nicht, dass
die einzelnen Länder ohne internationale Absprachen zu wenig tun würden. Jeder wird im eigenen
Interesse berücksichtigen, was die Anderen vorhaben. Zu diesem Zweck kann ein internationaler
Informationsaustausch nützlich sein, aber internationale Gipfeltreffen oder Absprachen braucht man
dafür nicht. Wichtig ist lediglich, dass keiner versucht, sich zu Lasten der Anderen zu sanieren – zum
Beispiel durch protektionistische Handelsbeschränkungen oder Subventionen.
III. Der langfristige Reformbedarf
1. Dezentrale Lösungen
Da für den Ausbruch der Krise nicht falsche Marktanreize, sondern Staatsversagen und Irrtum
ausschlaggebend waren, geht es nicht darum, in die Kreditgewährung, Dividendenpolitik und
Entlohnungssysteme der Banken einzugreifen, sondern den Staat zu reformieren und die Transparenz
und Risikopuffer der Finanzinstitutionen zu verbessern.
Dem geldpolitischen Wahlzyklus ist schwer beizukommen, solange die Geldmenge von einer
staatlichen Zentralbank kontrolliert wird. Auch wenn die staatliche Zentralbank frei über ihren
Instrumenteneinsatz entscheiden kann und die Mitglieder des Zentralbankrats nicht wiederernannt
werden dürfen, neigen sie dazu, im Wahljahr mit ihrer Geldpolitik die Partei zu begünstigen, die ihnen
12
Die Panik von 1907 wurde ebenfalls durch Bankenkonkurse an der Wall Street ausgelöst und breitete sich
auch in Europa aus. In den USA ging das reale Bruttoinlandsprodukt von einem Jahr aufs andere um 11
Prozent zurück, kehrte aber im folgenden Jahr – so, als ob nichts gewesen wäre – auf den Potentialpfad
zurück (Bruner, Carr 2007, Figure 1.2). In Deutschland war die Rezession insgesamt schwächer, verteilte sich
aber auf zwei Jahre: die Industrieproduktion sank 1907 um 1,2 Prozent und 1908 um 4,8 Prozent.
13
zu ihrem Amt verholfen hat; denn sie sind ernannt worden, weil sie diese Partei präferieren.13 Wollte
man den geldpolitischen Wahlzyklus verhindern, so müsste man wohl die Wahltermine – innerhalb
einer Marge von mehreren Jahren – kurzfristig durch das Los bestimmen.
Eine Vermögensbildungspolitik, wie sie in den USA betrieben wurde, ist schon deshalb
problematisch, weil sie nicht die Präferenzen der Bürger respektiert, sondern ihre Kaufentscheidungen
durch staatliche Subventionen zu manipulieren sucht.
Dass sich die Menschen irren, ist unvermeidlich. Aber man kann versuchen, dem Irrtum
vorzubeugen und sich dagegen abzusichern. Vorbeugend wirken alle Maßnahmen, die die Transparenz
verbessern. Manchmal ist Irrtum Folge einer bewussten Irreführung bis hin zum Betrug. Staatliche
Offenlegungspflichten können als Mittel der Betrugsprävention gerechtfertigt sein. Auf den
Finanzmärkten geht es dabei vor allem um Folgendes:
1. Kreditverbriefende Banken müssen die Selbstbeteiligungsquoten der Hypothekenbanken bekannt
geben.
2. Alle Banken müssen ihre außerbilanziellen Positionen berichten – insbesondere ihre
Fristentransformation in Structured Investment Vehicles.
3. Rating-Agenturen müssen ihre Beratungsaufträge offen legen.
Die Politik schießt hier übers Ziel hinaus. Zum Beispiel hat die amerikanische Börsenaufsicht den
Rating-Agenturen untersagt, strukturierte Anleihen zu bewerten, an deren Zusammenstellung sie
beratend beteiligt waren. Die Europäische Kommission will dieses Verbot kopieren und darüber
hinaus die Zusammensetzung, Vertragsdauer und Entlohnung der Vorstände regeln (KOM (08) 704).
Es würde genügen, auf mögliche Interessenkonflikte hinzuweisen.
Die Krise hat gezeigt, dass das Irrtumspotential auf den Finanzmärkten größer ist, als man geglaubt
hatte. Deshalb müssen sich die Banken besser dagegen absichern. Die vorgeschriebenen
Eigenkapitalquoten sollten deutlich erhöht und auf die Investmentbanken ausgedehnt werden. Auch
die Structured Investment Vehicles der Geschäftsbanken und die Hedge-Fonds sollten verpflichtet
werden, ihre Verbindlichkeiten in erheblichem Umfang mit Eigenkapital zu unterlegen. Die
Begründung für die Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften ist nicht – wie bei Sinn –, dass sonst
die Haftungsanreize nicht stimmen. Das war und ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die
Irrtumswahrscheinlichkeit größer ist, als man bisher geglaubt hatte, und dass Hebel in der bisherigen
Größenordnung daher zu gefährlich sind.
Da die größte Gefahr von den systemrelevanten Großbanken ausgeht, sollten ihnen höhere
Eigenkapitalquoten auferlegt werden als den anderen Banken.14 Wie bereits erwähnt bietet es sich
außerdem an, die Eigenkapitalvorschriften als eingebaute Stabilisatoren einzusetzen. In Spanien wird
dies bereits praktiziert. Die vorgeschriebene Kernkapitalquote sollte im Boom höher sein als in der
13
Zur Empirie vgl. Vaubel (1993, 1997) für Deutschland und McGregor (1996) für die USA.
Vgl. dazu den Vorschlag von Alan Greenspan, "We need a better cushion against risk", Financial Times,
London, 27.03.09.
14
14
Rezession, so dass die im Boom angesammelten Risikopuffer in der Krise frei werden und tatsächlich
eingesetzt werden können.
Es wäre überdies effizient, wenn der Staat auf folgende Weise Anreize für die Bildung freiwilligen
Eigenkapitals setzen würde. Wenn die "systemrelevanten" Banken in Zukunft darauf bauen können,
dass der Staat sie nicht Konkurs gehen lässt, sondern auffängt und rekapitalisiert, dann wird der
Bankensektor auf Kosten der anderen Branchen subventioniert und die Allokation verzerrt. Deshalb
sollten die Banken in Zukunft selbst für die Kosten der Institutsgarantie aufkommen. Für diese Lösung
spricht auch, dass sich die Banken sonst darauf verlassen könnten, auf Kosten der Steuerzahler vor der
Insolvenz bewahrt zu werden. Die systemrelevanten Banken sollten daher verpflichtet werden, sich für
den Konkursfall zu versichern – die kleineren auf dem Weltversicherungsmarkt, die großen zu
entsprechenden Konditionen beim Staat. Der Beitragssatz würde von der jeweils nachgewiesenen
Eigenkapitalquote der Bank, einer schematischen Risikoklassifizierung ihrer Forderungen und dem
Ausmaß der Fristentransformation abhängen. Je höher also die Eigenkapitalquote das zulässige
Minimum übersteigt und je geringer das Risiko der Forderungen und die Fristentransformation, desto
niedriger der Beitragssatz.15
In der Diskussion sind jedoch ganz andere Reformvorschläge, die in die Irre führen:
1. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Managergehälter zu beschränken. Die Krise ist nicht durch
zu hohe Managergehälter verursacht worden. Die Entlohnung der Manager in Banken und
anderswo ist das Ergebnis des internationalen Wettbewerbs um Spitzenkräfte. Dabei stehen für die
einzelnen Großunternehmen dreistellige Millionenbeträge und mehr auf dem Spiel.
2. Es ist weder notwendig, noch sinnvoll, die bestehenden Haftungsbeschränkungen aufzuheben.
3. Es wäre falsch, den Banken vorzuschreiben, was für Forderungen sie erwerben dürfen: in welchem
Umfang und mit welchen Risiken. Denn davon versteht der Staat nichts. Leider gibt das deutsche
Finanzmarktstabilisierungsgesetz dem Staat das Recht, Kreditvergabequoten festzulegen.
4. Weder die Europäische Union noch die einzelnen Staaten sollten den Rating-Agenturen ein
bestimmtes Geschäftsmodell vorschreiben.
5. Ganz verfehlt wäre es, – wie von vielen gefordert –, durch staatliche Verbote oder eine
Börsenumsatzsteuer die Spekulation zu unterdrücken oder zu erschweren. Das gilt auch für
Leerverkäufe von Nichtbanken. Die Spekulation erfüllt eine nützliche Funktion. Die Preise, die die
Spekulanten fordern oder bieten, zeigen ihre Erwartungen an. Diese Preissignale sind wichtige
Informationen auch für andere, die sich kein eigenes Urteil zutrauen. Insofern stellen die
Spekulanten – ohne es zu wollen – für die Allgemeinheit ein öffentliches Gut bereit. Man kann
nicht dadurch, dass man das Thermometer (die Spekulation) vernichtet, die Krankheit (den Irrtum)
oder das Fieber (die Krise) bekämpfen.
Insgesamt sollte sich die Reform von den folgenden Grundsätzen leiten lassen:
15
Die Versicherungslösung ist effizienter als eine stärkere Umlagefinanzierung unter den Banken, wie sie der
Kronberger Kreis (2009) vorschlägt, denn im Krisenfall schwächt die Umlage auch noch die gesunden
Banken und zieht sie womöglich mit in den Abgrund.
15
1. Regulierung ja, wenn es darum geht, sich besser auf den – auch in Zukunft unvermeidlichen –
Irrtum vorzubereiten. Regulierung nein, wenn sich der Staat anmaßt, kraft besseren Wissens
Irrtümer verhindern zu wollen.
2. Wenn der Staat die Banken zwingt, sich besser auf den Irrtum vorzubereiten, sollte er nicht
punktuell intervenieren – dazu fehlt ihm das Wissen –, sondern strengere Regeln aufstellen. Das
heißt: Ja zu strikteren gesetzlichen Finanzierungsregeln; nein zu einer mächtigeren staatlichen
Regulierungsbehörde, die nach eigenem Ermessen in die Dispositionsfreiheit der Banken eingreift.
3. In Maßen vertretbar sind Vorschriften, die mehr Transparenz herstellen und auf diese Weise den
Marktteilnehmern helfen, sich vor Irrtum und Betrug zu schützen.
4. Es ist notwendig, dem Moral Hazard vorzubeugen, der in Zukunft von der viel weiter reichenden
Bestandsgarantie für Banken ausgehen wird.
5. Die staatliche Bestandsgarantie darf nicht dazu führen, dass die Banken subventioniert und damit
gegenüber den anderen Wirtschaftszweigen bevorzugt werden.
2. Die internationale Dimension
Die Krise ist nicht dadurch entstanden, dass die Bankenaufsicht als nationale Aufgabe betrachtet
wurde. Keine noch so enge internationale Koordination der Bankenaufsicht oder generell der
Finanzmarktregulierung hätte an dem Ausbruch oder dem Verlauf der Krise das Geringste geändert.
Deshalb ist es abwegig, jetzt in der Europäischen Union oder auf der Ebene des Internationalen
Währungsfonds eine zentrale Bankenaufsicht oder Regulierung der Finanzmärkte zu fordern. Es ist
zwar nicht verwunderlich, dass diese internationalen Organisationen eine Chance wittern, ihren
Zuständigkeitsbereich zu erweitern und ihre Macht zu vergrößern. Aber weder die USA noch
Großbritannien scheinen bereit, die Regulierung ihrer Banken in fremde Hände zu geben. Die Politiker
haben sich einen Ersatzschauplatz gesucht, weil sie meinen, einen Schuldigen präsentieren zu müssen
(obwohl es sich doch im Kern um einen Irrtum handelt) und weil sie nicht als untätig erscheinen
wollen.
Richtig ist, dass – ganz unabhängig von der Krise – die zunehmende Internationalisierung des
Bankgeschäfts nach grenzüberschreitenden Lösungen für die Bankenaufsicht verlangt. In der
Europäischen Union werden die ausländischen Töchter der Banken sowohl von den Behörden des
Mutterlandes als auch von den Behörden des Gastlandes beaufsichtigt. Die Banken sind verpflichtet,
an beide Behörden zu berichten. Dieses System der doppelten Kontrolle ist nicht nur völlig
ausreichend, sondern sogar intensiver als eine zentrale Kontrolle. Doppelt hält besser. Außerdem
können die Behörden vor Ort besser beurteilen, was das Problem ist und wie es am besten gelöst
werden kann. Es ist nicht zweckmäßig, dass eine EU-Aufsichtsbehörde in Brüssel die Stadtsparkasse
XYZ beaufsichtigt. Dagegen spricht das Subsidiaritätsprinzip. Eine zentrale europäische
Bankenaufsicht, wie sie die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und die von
16
Jacques de Larosière geleitete Expertengruppe vorgeschlagen haben, ist weder notwendig noch
sinnvoll.
Weder die europäischen Institutionen noch der Internationale Währungsfonds haben die Krise
vorhergesehen. Der IWF schrieb im April 2007: "The amount of potential credit loss in subprime
mortgages may be fairly limited".16 Die Wirtschaftsprognosen des IWF waren sogar in der
Vergangenheit besonders schlecht. Eine gute Aufsichtsbehörde muss die Zukunft gut einschätzen
können.
Wie Tabelle 1 zeigt, lieferte der IWF in den Jahren 1973-85 für fünf der sechs größten
Industrieländer die unzuverlässigsten Wachstumsprognosen. Demgegenüber
– etwa hier Tabelle 1 –
waren die Prognosen der Privaten stets die besten, die der betreffenden Nationalstaaten in der Hälfte
der Fälle.
In Tabelle 2 habe ich die Analyse für den Zeitraum 1990-2004 aktualisiert. Die Vergleichsprognosen
– etwa hier Tabelle 2stammen von der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), dem National
Institute for Economic and Social Research, London (NIESR), der Arbeitsgemeinschaft der
wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute (AWA), dem Sachverständigenrat (SVR), den
privaten Consensus Forecasts des Economist, der American Statistical Association und des National
Bureau for Economic Research (ASA/NBER), dem Institut für Weltwirtschaft, Kiel (IfW) und dem
Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques, Paris (INSEE). Da zum Beispiel der
Sachverständigenrat keine Frühjahrsprognosen veröffentlicht, habe ich mich auf die Herbstprognosen
beschränkt.
Für sechs der sieben Industrieländer weisen die Prognosen des IWF den größten Fehler auf. Das
gleiche gilt im Durchschnitt der sieben Länder. Am treffsichersten sind die privaten Prognosen des
Economist Consensus und, soweit vorhanden, die Prognosen, die die drei in der letzten Spalte
genannten wissenschaftlichen Institute jeweils für das eigene Land vorgelegt haben.
Die Ergebnisse der beiden Tabellen deuten auf drei Regelmäßigkeiten hin:
1. Die besten Prognosen sind die privaten.
2. Unter den öffentlichen Institutionen liefern die örtlichen die besten Prognosen.
3. Unter den internationalen Organisationen ist die Organisation der Industrieländer (OECD)
treffsicherer als die weltumspannende Organisation (IWF) – jedenfalls wenn es um die
16
IMF, Global Stability Report 2007, S. 7.
17
wirtschaftliche Entwicklung in den Industrieländern geht. Globale Finanzmarktkrisen nehmen ihren
Ausgang in den großen Industrieländern.
Es kommt hinzu, dass die Wachstumsprognosen des IWF – wie Aldenhoff gezeigt hat17 –, im
Durchschnitt viel zu optimistisch sind. Sowohl die Frühjahrs- als auch die Herbstprognosen für das
Folgejahr sind im Fall der sieben größten Industrieländer auf dem Ein-Prozent-Signifikanzniveau in
Richtung Optimismus verzerrt – möglicherweise weil die Regierenden der Mitgliedstaaten dies gerne
sehen (vor allem vor Wahlen). Die Frühjahrs- und Herbstprognosen für Asien und die
Frühjahrsprognosen für Lateinamerika sind desto stärker in Richtung Optimismus verzerrt, je größer
die Kredite, die der IWF in dem betreffenden Jahr an die Länder der betreffenden Region vergibt.
Diese Korrelationen sind teilweise auf dem Fünf-Prozent und teilweise auf dem Zehn-Prozent-Niveau
signifikant.
Als internationale Aufsichtsbehörde ist der IWF auch aus anderen Gründen völlig ungeeignet. Er
äußert sich zwar von Zeit zu Zeit zur Lage der Finanzmärkte in verschiedenen Mitgliedstaaten, aber
mit dem Bankgeschäft hat er nichts zu tun. Er verleiht das ihm anvertraute Kapital an Regierungen,
nicht an Banken. Für internationale Aspekte der Bankenregulierung ist seit 1999 das "Financial
Stability Forum" der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel zuständig. Dort ist die
erforderliche Expertise, dort können Informationen ausgetauscht werden. Wenn der IWF im Rahmen
seiner
wirtschaftspolitischen
Überwachungstätigkeit
(Surveillance)
wichtige
vertrauliche
Informationen erhält, die die Regulierung der Banken und die Finanzmarktstabilität betreffen, sollte er
sie dem Financial Stability Forum zur Verfügung stellen.
Selbst in seinem Kerngeschäft – der Kreditvergabe – macht der IWF keine gute Figur. Zum Beispiel
erhöht er seine Kredite regelmäßig dann, wenn im Empfängerland Wahlen anstehen.18 Er vergibt
seine Kredite zu subventionierten Zinsen. Ein Lender of Last Resort sollte einen Strafzins fordern
(Bagehot). Dann würde sich zeigen, ob und inwieweit der IWF tatsächlich zusätzliche Finanzmittel
benötigt. Wenn die Mittel nicht ausreichen, wäre es wichtig, dass sie nicht permanent, sondern nur für
die Dauer der Krise erhöht werden Der IWF hatte eine Verdopplung seiner Ressourcen gefordert. Die
Regierungen der G-20-Länder haben sich Anfang April darauf geeinigt, sie zu vervierfachen: um 500
Mrd. Dollar im Rahmen der General Agreements to Borrow (GAB) und um 250 Mrd. Dollar in Form
neuer Sonderziehungsrechte. Die Erweiterung der GAB kann befristet werden, die Zuteilung
zusätzlicher Sonderziehungsrechte nicht. Die GAB-Kredite können gezielt an Bedürftige vergeben
werden, die Sonderziehungsrechte erhalten alle gemäß ihren Anteilen am Kapital des IWF. Die GABKredite können an wirtschaftspolitische Bedingungen geknüpft werden, die Inanspruchnahme der
Sonderziehungsrechte nicht. Deshalb hatten sich die Industrieländer jahrzehntelang geweigert,
zusätzliche Sonderziehungsrechte zu schaffen. Jetzt sind alle Dämme gebrochen. Der Panik der
Märkte folgte die Panik der Politik. Für die Bundesrepublik bedeutet dies, dass der Bund in
erheblichem Umfang Kredite an Staaten – genauer: Regierungen – vergeben wird, die der
17
18
Aldenhoff (2007), Tables 1 und 2.
Vgl. die empirische Evidenz in Dreher, Vaubel (2004), Table 1.
18
Weltkapitalmarkt als besonders kreditunwürdig einstuft. Die Gewinne der Bundesbank werden daher
stark zurückgehen.
IV.Schluss
Die Politiker, die sich heute für eine welt- oder europaweite Zentralisierung oder internationale
Absprachen im Bereich der Finanzmarktpolitik einsetzen, lassen sich von vordergründigen
Argumenten leiten. Zum einen meinen sie laienhaft, gemeinsame Probleme müssten gemeinsam gelöst
werden. Ob zwei Menschen oder Länder das gleiche Problem haben, sagt aber nichts darüber aus, ob
sie es am besten gemeinsam oder einzeln lösen können. Zum anderen denkt der Laie, dass bei
zunehmend integrierten Finanzmärkten auch die Finanzmarktpolitik integriert werden müsse. Die
Assignment-Lösung von Robert Mundell (vgl. Abschnitt I.2 oben) beweist das Gegenteil. Dezentrale
nationale Finanzmarktpolitik ist auch bei größter internationaler Interdependenz der Finanzmärkte
effizient, solange die Instrumente – was ja nicht schwierig ist – gemäß ihrem komparativen Vorteil
zugeordnet und eingesetzt werden. Die klassischen Begründungen des Subsidiaritätsprinzips gelten
auch für die Finanzmarktpolitik:
1. Auf dezentraler Ebene verfügt die Politik über bessere Informationen.
2. Auf dezentraler Ebene funktioniert die demokratische Kontrolle besser.
3. Auf dezentrale Ebene werden die Unterschiede in den Präferenzen und Bedürfnissen besser
berücksichtigt.
4. Eine Vielzahl von Experimenten begünstigt die Innovation.
5. Dezentrale Wirtschaftspolitik lässt den Bürgern mehr Freiheit.
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19
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Europa vor dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion, Duncker & Humblot, Berlin,
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German and International Evidence, European Journal of Political Economy, Vol. 13, S. 201224.
Zusammenfassung
Für den Ausbruch der Finanzmarktkrise waren nicht falsche Marktanreize, sondern falsche
Erwartungen und Staatsversagen ausschlaggebend. Ein Vergleich der Risikoprämien am
amerikanischen Hypotheken- und Anleihemarkt zeigt, dass die Krise nicht auf geringe Risikoscheu,
sondern auf eine Unterschätzung der Risiken zurückzuführen ist. Die gleichen Faktoren, die das
Versagen der Bankenaufsicht erklären, sprechen dagegen, die diskretionären Eingriffsrechte der
Aufsichtsbehörden zu erweitern. Eine Internationalisierung der Bankenaufsicht, wie sie jetzt in der
Europäischen Union angestrebt wird, hätte die Krise nicht verhindert. Da jedes Land einen
hinreichenden Anreiz hat, die Stabilität seines Finanzsystems zu gewährleisten, ist die Krise nicht
20
durch einen Mangel an internationaler Koordination verursacht worden. Aus dem gleichen Grund
bedarf es auch in Zukunft nicht einer internationalen Regulierung, sondern lediglich eines –
möglicherweise
verbesserten
–
Informationsaustauschs.
Wie
gezeigt
wird,
sind
die
Wirtschaftsprognosen internationaler Organisationen – insbesondere des IWF – sogar besonders
unzuverlässig. Der Staat sollte solvente Banken nicht subventionieren und sich auch nicht an ihnen
beteiligen. Insolvente Banken sollten dagegen von einer staatlichen Auffanggesellschaft
vorübergehend
weitergeführt
und
dann
möglichst
bald
wieder
verkauft
werden.
Die
Eigenkapitalvorschriften müssen verschärft und flexibilisiert werden. Es ist auch Aufgabe des Staates,
den Finanzinstituten Offenlegungspflichten aufzuerlegen.
Summary
The financial crisis is not due to distorted market incentives but to error and government failure. A
comparison of risk premia in the US mortgage and corporate bond markets reveals that the crisis was
not caused by low risk aversion; rather, the market underestimated the risk. The same factors which
explain US regulatory failure in, and prior to, the crisis also throw doubt on current proposals to give
regulators more discretionary powers. The regulations which are now introduced at the EU level
would not have prevented the crisis. Since each country has a sufficient incentive to maintain the
stability of its financial system, the crisis is not due to a lack of international cooperation, and there is
no need for international regulation in the future. However, the exchange of information may be
improved. The paper demonstrates that the economic forecasts of international organisations –
especially those of the International Monetary Fund – are less reliable than those of private and
national institutions. Governments should not subsidise solvent banks, nor should they contribute to
their capital. Insolvent banks, however, should be taken over, restructured and resold by a public
agency. Capital requirements ought to be raised and vary with the business cycle. There is also a case
for rules requiring more transparency.
21
Tabelle 1
Durchschnittliche absolute Prognosefehler für das reale Wirtschaftswachstum
im Folgejahr 1973-85, in Prozent
Land
IWF-Prognose
Nationalstaatliche
Prognose
Private Prognose
USA
1,4 %
1,4 %
1,0 %
Japan
1,8 %
1,2 %
-
Deutschland
1,6 %
1,2 %
-
Großbritannien
1,4 %
-
1,1 %
Frankreich
1,1 %
1,2 %
-
Italien
2,2 %
-
1,9 %
Quelle: Michael Artis (1988)
Erläuterung: kursiv: höchster absoluter Prognosefehler
unterstrichen: niedrigster absoluter Prognosefehler
22
Tabelle 2
Durchschnittliche absolute Prognosefehler für das reale Wirtschaftswachstum,
Herbstprognose für das Folgejahr, 1990 - 2004, in Prozent
OECD NIESR AWF
SVR
Economist
Consensus
Land
IWF
USA
1,2 % 1,2 % 1,2 % 1,2 % 1,2 %
1,1 %
Japan
1,6 % 1,3 % 1,5 % 1,5 % 1,4 %
1,4 %
Deutschland
1,1 % 0,9 % 1,1 % 1,0 % 0,9 %
0,9 %
Großbritannien
1,0 % 0,8 % 0,8 % 0,8 % 0,7 %
0,9 %
Frankreich
1,1 % 0,8 % 0,8 % 0,9 % 1,0 %
0,8 %
Italien
1,2 % 0,9 % 0,8 % 1,5 % 0,9 %
0,8 %
Kanada
1,5 % 1,4 % 1,2 % 1,3 % 1,3 %
1,2 %
andere
ASA/NBER: 1,1 %
IfW:
0,9 %
INSEE:
0,8 %
Durchschnittlicher
1,24 % 1,04 % 1,06 % 1,17 % 1,06 % 1,01 %
Prognosefehler
Quelle:
eigene Berechnungen auf der Grundlage von Aldenhoff (2006)
Erläuterung:
kursiv: höchster absoluter Prognosefehler
unterstrichen: niedrigster absoluter Prognosefehler