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D ossier
Dieter Thomä
Autorschaft zwischen Spontaneität und Liminalität.
Anmerkungen zu Sartre und Foucault
1. Eine erstaunliche Entsprechung
Der Eine sagt:
Je sens à la hâte et puis je développe en mots, je presse un peu par ici, je force un peu par
là et voilà construite une sensation exemplaire, bonne à insérer dans un livre relié. Tout ce
que les hommes sentent, je peux [] le mettre noir sur blanc. Mais non pas le sentir. Je
fais illusion, j’ai l’air d’un sensible et je suis un désert. [] Je voulais écrire, cela n’était pas
en question, cela ne fut jamais en question; seulement à côté de ces travaux proprement
littéraires, il y avait ‚le reste‘, c’est-à-dire tout: l’amour, l’amitié, la politique, les rapports
avec soi-même, que sais je? (Sartre 1983: 82, 95)
Der Andere sagt:
On écrit aussi pour n’avoir pas un visage, pour s’enfouir soi-même sous sa propre écriture.
On écrit pour que la vie qu’on a autour, à côté, en dehors, loin de la feuille de papier, cette
vie qui n’est pas drôle, mais ennuyeuse et pleine de soucis, qui est exposée aux autres, se
résorbe dans ce petit rectangle de papier qu’on a sous les yeux et dont on est maître.
Écrire, au fond, c’est essayer de faire s’écouler, par les canaux mystérieux de la plume et
de l’écriture, toute la substance, non seulement de l’existence, mais du corps, dans ces
traces minuscules qu’on dépose sur le papier. N’être plus, en fait de vie, que ce gribouillage à la fois mort et bavard que l’on a déposé sur la feuille blanche, c’est à cela qu’on rêve
quand on écrit. Mais à cette résorption de la vie grouillante dans le grouillement immobile
des lettres, on n’arrive jamais. Toujours la vie reprend en dehors du papier [], jamais on
arrive à se faire assez mince et assez subtil pour n’être rien d’autre que la linéarité d’un
texte et pourtant c’est à cela qu’on voudrait parvenir. Alors on ne cesse d’essayer, de se
reprendre, de se confisquer soi-même, de se glisser dans l’entonnoir de la plume et de
l’écriture, tâche infinie, tâche à laquelle on est voué (Foucault 2011: 57sq.).
Die Entsprechung zwischen diesen beiden Beschreibungen ist erstaunlich. Hier
wie dort wird der Unterschied zwischen Schreiben und Leben ins Extrem getrieben, hier wie dort entwickelt sich eine Dynamik, wie man sie sonst am ehesten
vom Bumerang kennt: Zunächst führt die Bewegung weg von einem arg durchwachsenen Leben, an dessen Stelle tritt das Schreiben, doch am Ende wendet
sich das Blatt, es kommt zu einem Rückschlag oder zu einer Rückkehr zum Leben, welches sich aufdrängt als ein „Rest“, der „alles“ ist, oder als etwas, das
„außerhalb des Papiers“ wieder hochkommt.
Erstaunlich ist die Entsprechung zwischen den zitierten Passagen auch deshalb, weil sie von den größten Antipoden der französischen Philosophie in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen: von Jean-Paul Sartre und Michel
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Foucault. Fast könnte man sagen, diese Jahrhunderthälfte sei zu klein und eng für
diese beiden Denker gewesen: In einem an boshafter Raffinesse kaum überbietbaren Kommentar bestritt der Jüngere dem Älteren diese Zeitgenossenschaft und
bezeichnete Sartres Denken als „le magnifique et pathétique effort d’un homme du
XIXe siècle pour penser le XXe siècle“ (Foucault 1994: V. I, 541sq.).
Wenn ich die Entsprechung zwischen Sartres und Foucaults Überlegungen zum
Verhältnis zwischen Leben und Schreiben herausstelle, so tue ich dies nicht etwa,
weil ich Gefallen an der Annäherung oder gar Angleichung zwischen beiden Autoren finde. Jene Entsprechung finde ich vielmehr eher irritierend. Im Übrigen gehört
das Foucault-Zitat, das so gut zu dem Sartre-Zitat passt, keineswegs zu dessen
kanonisch gewordenen Selbstauskünften, es entstammt einem erst kürzlich edierten, außerordentlich interessantem Gespräch, das Claude Bonnefoy 1968 mit Foucault geführt hat. Dieses Gespräch ist ein zusätzlicher Anlass, über Sartre und
Foucault neu nachzudenken. Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch
dar, mit der Irritation über die Nähe zwischen beiden Autoren zurechtzukommen.
Irritierend ist nicht so sehr die Tatsache, dass sowohl Sartre wie auch Foucault
von der Tätigkeit des Schreibens – und von der Frage der Autorschaft – fasziniert
sind; diese Faszination versteht sich bei ihnen als „hommes de plume“ eigentlich
von selbst. Irritierend ist eher, dass beide ihre Faszination in das Schema von Welt
und Gegenwelt einpassen: Die Leistung des Schreibens wird nicht etwa in einer
Intervention gesehen, welcher Sartre wie Foucault doch gleichermaßen zugetan
waren, sondern in einer Substitution dessen, was man behelfsweise wirkliche Welt
nennen könnte, durch eine gemachte, konstruierte oder künstliche Welt, sowie in
einer Substitution des Akts des Lebens durch den Akt des Schreibens.
Im Lichte jenes Schemas von Welt und Gegenwelt bekommt die Alternative
‚Schreiben oder Leben‘ eine besondere Form: Das Schreiben schillert zwischen
dem Schrecken der Mortifikation und dem Versprechen der Sublimierung des Lebens. Es schafft Distanz zum unmittelbaren, unverstellten Gefühl, und es stellt
eine kostbare Erfahrung in Aussicht. Bei der Frage, welcher Preis hierfür zu entrichten ist, tritt dann der Bumerang-Effekt ein, mit dem man wieder auf das Leben
diesseits des Schreibens zurückkommt. Verhandelt wird also die Konsonanz und
Dissonanz von Leben und Schreiben.
Im Folgenden möchte ich Sartres und Foucaults Deutungen der Autorschaft vergleichen. Meine Überlegungen lassen sich kurz so resümieren, dass Sartre und
Foucault zwei unterschiedliche, unvereinbare Autorpositionen zuzuschreiben sind.
Sartres Autor setzt, wie sich zeigen wird, auf Spontaneität, Foucaults Autor auf Liminalität.
2. Sartre oder: Die Allmacht des Autors
Am Ende von Les mots verwendet Jean-Paul Sartre ein einzelnes, einziges deutsches Wort, in dem sich die Botschaft dieses Buches in höchster Verdichtung zusammenzieht. „L’homme de plume apparut, ersatz du chrétien que je ne pouvais
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être“ (Sartre 1964: 207sq.). Sartres autobiographisches Buch über seine Kindheit
gipfelt demnach in der Geburt des schreibenden Menschen. Die Rede vom „Ersatz“ lässt sich nicht nur darauf beziehen, dass mit dem „Mann der Feder“ die
Ewigkeit der Schrift an die Stelle der Ewigkeit der Seele tritt. Zuallererst ist das
Schreiben vielmehr ein Ersatz für das Leben. Ein Leben als Schreiben, ein Leben,
das sich Hals über Kopf ins Schreiben stürzt und vollauf mit ihm identifiziert, tritt an
die Stelle eines wirklichen Lebens, das dem kleinen Jean-Paul (oder „Poulou“)
nicht anders als unerträglich ist und vor dem er die Flucht ergreift. Wenn der
Zwölfjährige z.B. von Lisette, die er anhimmelt, wegen seines Schielens gehänselt
wird, so hat er ein unschlagbares Motiv dafür, dieser Welt den Rücken zu kehren.
Befassen wir uns statt mit Sartre zunächst kurz mit dem Ersatz. Wann immer
etwas ersetzt wird, entwickelt sich ein Spiel von Identität und Differenz. Wenn der
Ersatz nahtlos passt (wie bei dem sogenannten Originalersatzteil eines Autoherstellers), dann merkt man gar nicht, dass unter der Haube etwas anders ist als vorher. Doch nicht immer läuft es bei einer Substitution so glatt, nicht immer funktioniert die Homologie zwischen dem Einen und dem Anderen perfekt. Es gibt Ersatzteile, Ersatzprodukte oder Ersatzkandidaten, denen man ihre Behelfsmäßigkeit,
Unzulänglichkeit, Andersartigkeit von weitem ansieht. Beispiele finden sich gerade
dort, wo das Wort „ersatz“ Eingang in die französische und die englische Sprache
gefunden hat, etwa beim „ersatz de café“ oder bei der „ersatz religion“. Gerade der
Ersatzkaffee ist als Kind des Krieges aus der Not geboren; wer dieses Getränk zu
sich nimmt, tut dies im trübsinnigen Wissen darum, dass es zweite Wahl ist.
Erfahrungen, in denen der Ersatz mit einer Differenzerfahrung verbunden ist,
macht man nicht nur mit Produkten, deren Mickrigkeit zum Himmel stinkt, sondern
auch bei anspruchsvolleren gedanklichen Operationen – gerade auch bei der Idee
von der Kunst als Lebensersatz, welche mit Sartres Idee vom Schreiben als Lebensersatz aufs Engste verbunden ist. Hier blüht das Geschäft von Identität und
Differenz in alle Richtungen. Die Kunst als Lebensersatz, das Schreiben, das dem
Leben den Rang ablaufen und sich selbst als Leben ausgeben will, sind gezeichnet von einer Ambivalenz, die gerade bei Sartre dramatische Formen annimmt.
Auf der einen Seite ist die Kunst (wie das Schreiben) vom Makel des Scheins, der
Illusion befleckt. Auf der anderen Seite aber protzt die Kunst (wie das Schreiben)
damit, dass sie in eine schönere oder bessere Welt versetzt. Ab- und Aufwertung
ringen miteinander. Sartres besonderes Verhältnis zum Doppel ‚Leben/Schreiben‘
ist für sein Denken maßgebend – und zwar in einer Weise, wie ich gleich vorweg
annoncieren will, die diesem Denken eher zum Schaden als zum Vorteil gereicht.
Die Faszination, die das Schreiben als Wirklichkeitsersatz auf Sartre ausübt, ist
in seinen Texten allgegenwärtig. Wenn er als Kind den Bildteil eines Lexikons betrachtete, „j’y faisais la chasse aux vrais papillons posés sur de vraies fleurs.
Hommes et bêtes étaient là, en personne: [] je trouvais à l’idée plus de réalité
qu’à la chose“ (ibid., 38sq.). Das Lesen war für ihn wie „mourir d’extase“, wie eine
„abolition“ seiner selbst als eines kleines Jungen und eine Wiedergeburt als Weltschöpfer und Weltherrscher, als Besitzer einer „île aérienne“ (58, 61, cf. 47). Nach
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dem Lesen kam das Schreiben: „Je n’existais que pour écrire et si je disais: moi,
cela signifiait: moi qui écris“ (127). Autor- und Subjektposition fallen zusammen.
Aus der Distanz heraus sagt Sartre: „Pour avoir découvert le monde à travers le
langage, je pris longtemps le langage pour le monde“ (151). In den 1960er Jahren
behandelt er die Verwechslung von Welt und Sprache mit scheinbarer Gelassenheit als Sache der Vergangenheit. Doch er bleibt an diesem Thema hängen wie an
einem Angelhaken. Als er wegen seiner Erblindung nicht mehr schreiben kann,
bemerkt er immer wieder, dass er damit eigentlich seine Daseinsberechtigung verloren habe.
Allgegenwärtig ist die Kluft zwischen Leben und Schreiben in dem Roman La
nausée von 1938: „Pour que l’événement le plus banal devienne une aventure, il
faut et il suffit qu’on se mette à le raconter. C’est ce qui dupe les gens: un homme,
c’est toujours un conteur d’histoires []; et il cherche à vivre sa vie comme s’il la
racontait. Mais il faut choisir: vivre ou raconter“ (Sartre 1975: 61sq., Hervorh. orig.).
Das Leben wählend, drängt der Held dieses Romans darauf, zu „existieren“ und
„les choses“ zu begegnen, die nicht nur Dekor sind, sondern „se sont délivrées de
leurs noms“: „Elles sont là, grotesques, têtues, géantes []. Je suis au milieu des
Choses, les innommables“. Der Held ist unter Dingen, von denen nur zu sagen ist,
„qu’elles existaient“ (ibid., 177, 179). Am Ende dieses Buches findet sich dann freilich eine Spekulation auf eine Form des Erzählens oder eine „histoire, par
exemple, comme il ne peut en arriver, une aventure. Il faudrait qu’elle soit belle et
dure comme de l’acier“. Eine Geschichte, die so hart wie Stahl (oder wie das Leben) ist, wäre allenfalls zulässig oder sogar gerade um des Lebens willen erwünscht (247).
Sartres frühe Texte stehen unter dem Eindruck des Erweckungserlebnisses,
das durch die phänomenologische Parole ‚zu den Sachen selbst‘ ausgelöst wurde
(es fällt in das Jahr 1932; cf. de Beauvoir 1986: 189). Und doch bleibt die Hand,
die nach den Sachen greift, und die Parole, die sie feiert, eine leere Geste, weil
Sartre der Mittel enträt, von diesen Sachen irgendetwas zu sagen, was über die
emphatische Bekundung ihrer Existenz hinausginge. Daneben und dagegen steht
in La nausée eine narrative Umschreibung oder gar Bezeugung der Wirklichkeit,
die sich den Vorwurf zuzieht, von ihr abzulenken. Auf beiden Seiten dieses Unternehmens trifft man also auf Wirklichkeitssuche und -verfehlung.
In diesem doppelseitigen Paradox spiegelt sich die Doppelung von Sein und
Bewusstsein, welche im Zentrum von Sartres philosophischem Hauptwerk L’être et
le néant steht. Dem „être“ als schierer Faktizität steht das Bewusstsein gegenüber,
das als „néant“ an Irrealität leidet und doch nicht von sich lassen kann. Die Selbstdistanzierung von der Realität, die Sartre als Kind zur Perfektion getrieben hat,
wird nun anhand des Rollenspiels der Unaufrichtigkeit, in der berühmten „mauvaise foi“ des Kellners, der den Kellner spielt, analysiert und kritisiert (Sartre 1943:
85sqq.).
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Die Flucht ins Schreiben und der Fluch des Schreibens bleiben in Sartres
Schriften nach La nausée unverändert präsent. „Je suis ligoté à mon désir
d’écrire“,1 notiert Sartre als Soldat am 22.11.1939 – und am 6.3.1940:
J’eusse peut-être été sauvé si la nature m’eût doué de sensualité, mais je suis froid. Me
voilà ‚en l’air‘, sans aucune attache []. Le Castor m’écrit justement que la véritable authenticité ne consiste pas à déborder sa vie de tous côtés ou à prendre du recul pour la juger, ou à se libérer d’elle à chaque instant, mais à y plonger au contraire et à faire corps
avec elle. Mais cela est plus facile à dire qu’à faire, lorsqu’on a trente-quatre ans et qu’on
est coupé de tout, qu’on est une plante aérienne. [] Il faut être fait d’argile et je le suis de
vent (Sartre 1983: 355sq., Eintrag vom 6.3.1940).
Was Kierkegaard in Entweder-Oder über die ästhetische Distanz, den indirekten
Genuss des Genusses gesagt hat,2 bezieht Sartre – ohne freilich auf Kierkegaard
Bezug zu nehmen – in bitterer Selbstanalyse auf sich selbst. Ihm geht es nicht um
das Fühlen selbst, sondern um ein Bewusstsein des Fühlens, er zieht Genuss aus
einem voyeuristischen Verhältnis zu sich selbst und zur Welt (Sartre 1983: 82, Eintrag vom 28.11.1939). Damit tritt die Ambivalenz des Schreibens in ihrer ganzen
Schärfe heraus: Eigentlich ist Sartres ganzer Stolz, was er in oder aus Wörtern
entwickeln kann. Und doch bleibt – gemäß der am Beginn meines Beitrags zitierten Passage – ein „Rest“, der „alles“ ist.
Dem Erzählen kommt in diesem Rahmen eine besondere Bedeutung zu, weil es
an der Nahtstelle steht, an der Leben und Schreiben oder Sein und Bewusstsein
aneinander stoßen. Zu den Leistungen des Erzählens gehört, dass es eine biographische Form über das Leben legen kann, und diese Biographie ist Sartre ungeachtet seiner gelegentlichen Invektiven gegen das Erzählen willkommen. Er preist
sie mindestens zeitweise als Formwerdung des Lebens:
En un sens, j’envisageais chaque moment présent du point de vue d’une vie faite, pour
être exact il faudrait dire: du point de vue d’une biographie. [] C’est que j’aurais voulu que
chaque événement me survînt comme dans une biographie, c’est-à-dire comme lorsqu’on
connaît déjà la fin de l’histoire. C’est cette déception que j’ai exprimée à propos de
l’aventure dans La Nausée. Bref j’étais toujours hanté par l’idée de vie. [] J’ai été
jusqu’aux moelles pénétré de ce que j’appellerai l’illusion biographique, qui consiste à
croire qu’une vie vécue peut ressembler à une vie racontée (Sartre 1983: 103-106, Eintrag
vom 2.12.1939).
Es ist zu beachten, dass Sartre hier eine Position im Rückblick resümiert, die er
meint überwunden zu haben. Ob er diese Distanz zur frühen Faszination wirklich
erreicht, ist allerdings zweifelhaft. Sein ganzes Leben lang bleibt Sartre von Autobiographie und Biographie geradezu besessen. Neben Les mots, den Carnets
1939/40 und den teilweise sehr ausführlichen autobiographischen Interviews der
späten Jahre gehören zum biographischen Teil seines Werkes u.a. die Bücher
über Baudelaire, Genet, Flaubert und der Drehbuchentwurf zu Freud. Im Laufe
vieler Jahrzehnte hat Sartre verschiedene Versionen der narrativen, schreibenden,
ästhetischen Formgebung des Lebens praktiziert und analysiert. Man gewinnt den
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Eindruck, dass Sartre seinen Baudelaire-Essay von 1946 als Gelegenheit genutzt
hat, auch mit einer eigenen Neigung abzurechnen: „Travestir, voilà l’occupation favorite de Baudelaire: travestir son corps, ses sentiments et sa vie; il poursuit l’idéal
impossible de se créer lui-même.“3 Im Buch über Jean Genet 1952 schildert Sartre
ein Leben, das gezeichnet ist von einem schier unerträglichen realen Leiden, dem
man entweder durch das Handeln entkommt oder aber, wenn dieser Weg verbaut
ist, durch die Flucht ins Imaginäre, also durch die Verwandlung des „agent“ in den
„acteur“ (Sartre 1952: 385). Die Flaubert-Studie L’idiot de la famille von 1971/72
schließlich ist geleitet von der These, dass Flaubert sein „programme de vie“ so
habe abwandeln können, dass ihm „une victoire du langage“ gelungen sei (Sartre
1971-72: Vol. 3, 442, Vol. 1, 629). Weitere Beispiele – etwa aus Sartres MallarméDeutung – ließen sich anführen.
Dem Schreiben kommt nach Sartre eine magische Macht zu, mit der man der
Wirklichkeit Herr wird, indem man sie verführt. „Écrire, c’était saisir le sens des
choses et le rendre au mieux. Et séduire c’était la même chose, tout uniment“
(Sartre 1983: 326, Eintrag vom 28.2.1940). Die Strategie besteht hier wie dort darin, sich in etwas hineinzuversetzen und in dessen Innerstes vorzustoßen. So wird
die Wirklichkeit bei Sartre weiblich; sie wird zum Objekt der Begierde, das der Intellekt im voyeuristischen Exzess erobert. Mit diesem Machtgefühl des Schreibenden hängt das Rechthaberische, Dogmatische zusammen, das bei Sartre häufig
durchschlägt. Man muss ihm freilich zugutehalten, dass er im Anschluss an die gerade zitierte Bemerkung hinzufügt: „Je vois avec stupeur la profondeur d’impérialisme qu’il y avait là-dedans“ (ibid., 326sq.). Dass er den Imperialismus seines
Schreibens im Jahre 1939 bereits zu einer Sache der Vergangenheit erklärt, beruht allerdings auf einer Selbsttäuschung.
Sartres Werk erzählt nicht nur von der Erhebung über die Welt durch das
Schreiben oder die Kunst, dieses Werk zeugt auch vom Unbehagen an dieser Art
von Befreiung. Dieses Unbehagen, das in Sartres Selbstkritik wie auch in seinen
Porträts fiktiver und realer Helden zutage tritt, führt zu der Frage: Wie hält man es
in der Realität aus, wie stellt man sich ihr, ohne ihr zu erliegen und von deren
Trägheit verschluckt zu werden? Die philosophische Antwort Sartres erfolgt – sowohl systematisch wie auch chronologisch – in zwei Stufen. Er beginnt mit der
Freiheit und kommt dann – spät und mehr schlecht als recht – zur Moral.
Wenn man die Kunst, das Schreiben, das bloße Bewusstsein nicht als Ausweg,
sondern nur als Ausflucht sieht, dann ist man zurückgeworfen auf die Faktizität.
Für Sartre ist dieser systematische Schritt verbunden mit der Wendung von
Husserl zu Heidegger.4 „L’existence est un plein que l’homme ne peut quitter“,
heißt es in La nausée (1975: 188). In den Tagebüchern greift er diese Wendung
auf: „L’homme est un plein que l’homme ne peut quitter“ (1983: 122, Eintrag vom
4.12.1939). Er ist der Gefahr ausgesetzt, in dieser Fülle zu ertrinken, sich also etwa
mit der Tatsache zu arrangieren, dass er „le produit monstrueux du capitalisme“ ist
(ibid.: 355, Eintrag vom 6.3.1940). Dieser Tendenz, von der Wirklichkeit vereinnahmt und aufgesogen zu werden, stellt Sartre die „liberté“ entgegen, die er im Juli
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1938 in einem Brief an Simone de Beauvoir als große Entdeckung, als neues „sujet“ seines Romans L’âge de raison identifiziert. Mit dieser praktischen – keineswegs nur ästhetischen – Freiheit soll die Überschreitung geschichtlicher Zwänge
gelingen, also gewissermaßen die Entleerung der Fülle des Seins, das bis in den
letzten Winkel des Lebens hineingekrochen ist. Man muss damit beginnen – wie
Sartre sagt –, „à [s]e nettoyer“ oder – wie die deutsche Übersetzung drastisch formuliert, sich „auszumisten“ (Sartre 1950: 125; dt. 1976: 130).
Fast alle Texte, die Sartre nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verfasst,
sind dann in der einen oder anderen Weise darum bemüht, diese Freiheit von dem
naheliegenden Verdacht zu entlasten, sie beziehe sich auf einen individuellen Willkür- und Kraftakt. Zur Selbstkritik sieht er sich auch aufgrund der Vorhaltungen seiner jungen maoistischen Freunde Pierre Victor (alias Benny Lévy) und Philippe
Gavi veranlasst (cf. Sartre et al. 1973). Er will die Freiheit moralisch einordnen und
aufwerten. Entsetzt hört er 1969 eine frühere Aussage von sich, wonach ein
Mensch unabhängig von allen Umständen stets frei sei zu wählen, ob er ein Verräter sein wolle oder nicht, und reagiert darauf mit dem Ausruf:
Je crois qu’un homme peut toujours faire quelque chose de ce qu’on a fait de lui. C’est la
définition que je donnerais aujourd’hui de la liberté, ce petit mouvement qui fait d’un être
social totalement conditionné une personne qui ne réstitue pas la totalité de ce qu’elle a
reçu de son conditionnement (Sartre 1972: 101sq.).
In seinen späten Jahren will Sartre der Freiheit das richtige Maß geben. Mit dem
„petit mouvement“, von dem er – wie gerade erwähnt – spricht, kommt man entsprechend in einen Bereich, in dem die kleinen Schritte oder eben kleinen Bewegungen im Lebenslauf und Lebenswandel einer narrativen Versprachlichung zugänglich werden.
Und doch bleibt Sartres späte Depotenzierung der großen Freiheit fadenscheinig. Es sind gerade nicht die kleinen Bewegungen, sondern die großen Gesten
und dramatischen Auftritte, auf die er sowohl in seinem politischen Handeln wie in
seinen philosophischen Arbeiten – und auch noch im Flaubert-Projekt – fixiert
bleibt. Einerseits dramatisiert er den Zwang, andererseits dramatisiert er die Freiheit als triumphalen Gegenschlag. Die Biographie bleibt bei Sartre der Schauplatz
eines Kräftemessens zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Freiheit. Bei ihm ist eigentlich immer high noon.
So bleibt Sartres Theorie der Freiheit eine Bürde – und zwar eine Bürde, die er
sich selbst im Reich des Ästhetischen, mit seiner Theorie des Autors aufgeladen
hat. In einer Tagebuchnotiz vom 24.11.1939 heißt es: „Revenons à la volonté. Je
constate que sa structure essentielle est la transcendance, puisqu’elle vise un audelà qui ne peut être que dans l’avenir“ (Sartre 1983: 52). Hier wird eine Freiheit
aufgerufen, die den Widerstand der trägen Realität transzendiert. Zugleich wird erkennbar, woher das Exaltierte an Sartres Freiheit kommt. Sie ist ebenjener Urszene entsprungen, in der der kleine „Poulou“ und der junge Mann im Handumdrehen
von dieser Welt, dem Diesseits, in eine ganz andere Welt, ein „au-delà“, meinten
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hinüberwechseln zu können. Ohne sich darüber wirklich Rechenschaft abzulegen,
transponiert Sartre den ästhetischen reality switch, den er beim Jonglieren mit
zwei Welten perfekt einstudiert hat, in das praktische Leben und tut so, als ob sich
dieses Leben zweiteilen ließe, als ob in der Zukunft ein Jenseits, eine ganz andere
Welt und ein ganz anderes Selbst im Handumdrehen zu haben wäre. Das Phantasma des Schreibenden legt sich wie eine falsche Folie über den Lebenswandel
des Menschen, in dem sich Freiheit und Zwang doch nicht so säuberlich trennen
lassen wie Öl und Wasser. Sartres Ideal praktischer Freiheit ist der missratene
Spross einer ästhetischen Allmachtsphantasie.5 Von diesem Schreiben fällt nicht –
wie man sich dies erträumen mag – ein Licht, sondern ein Schatten auf das Leben.
Sartre besetzt eine Autorposition, die sich durch radikale Spontaneität im strengen philosophischen Sinne Kants auszeichnen soll, also durch die Fähigkeit zum
Neubeginn, die einen Schnitt in der Zeit zieht. Am biographischen Projekt – und
entsprechend an der Form der Erzählung – fasziniert ihn nicht die Kontinuität, sondern die Neuerfindung, der Neueinsatz im Hier und Jetzt. Man muss ihm zugutehalten, dass er damit zur Korrektur einer Theorie der Erzählung beiträgt, die ebenjene Kontinuität übermäßig betont; am prominentesten ist sie von Paul Ricœur in
Temps et récit vertreten worden. Sartres Bild der (Auto-)Biographie ist freilich mindestens so verzerrt wie die Bilder, die ihm entgegenstehen. Seine Spontaneität
wirkt geradezu hysterisch, sie ist besessen von der Abwehr des Gegebenen und
Vergangenen. Eine Spontaneität, die tatsächlich über die Bedingtheit des Lebens
erhaben wäre, hätte diese krampfhafte Abwehr gar nicht nötig. Sartre aber sieht
sich ständig bemüßigt zu betonen, dass er mit sich, wie er geworden ist, gewissermaßen fremdelt und über seine Vergangenheit hinweggeht:
C’est la rançon de la liberté, on est toujours dehors. On est séparé des souvenirs comme
des mobiles par rien, il n’est pas de période de la vie à laquelle on puisse s’attacher,
comme la crème brûlée ‚attache‘ au fond de la casserole; rien ne marque, on est en perpétuelle évasion; en face de ce qu’on a été on est toujours la même chose: rien (Sartre 1983:
405).
Die Spontaneität bleibt befangen in einem double bind, in dem der Abwehrkampf
gegen das Gegebene mit der Sehnsucht nach Konkretion konkurriert. Sartres Autorposition führt auf einen theoretischen Irrweg.
3. Foucault oder: Der Autor als Schwellenwesen6
Ich möchte nun auf die eingangs angesprochene Entsprechung zwischen Sartre
und Foucault zurückkommen und herausfinden, wie sich Foucaults Autorposition
im Vergleich zu derjenigen Sartres darstellt. Anhaltspunkt dieses Vergleichs war
der Befund, dass Foucault mindestens so sehr wie Sartre vom Schreiben und von
jener Gegenwelt, die auf ein Blatt Papier passt, fasziniert ist. Dazu gehört bei
beiden ein Unbehagen an dieser Faszination. So schätzt Foucault an der Sprache
das Versprechen der Freiheit und beklagt an ihr ein Realitätsdefizit.
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Diese Ambivalenz bezieht er im Gespräch mit Bonnefoy 1968 auf eine autobiographische Erfahrung, die in seinem Werk, soweit ich sehe, sonst nicht Erwähnung
findet. Als „fils de chirurgien“, als Sohn eines Arztes, der „ne parle pas“, sondern
„agit“, wächst er mit einer „dévalorisation profonde, fonctionnelle de la parole“ auf,
welche sich bei ihm selbst als „une méfiance presque morale“ gegen die Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit der Sprache festsetzt (Foucault 2011: 28,
32sq.). Foucault beschreibt die Hinwendung zum Schreiben, die ihm erst als
Dreißigjährigem gelungen sei, auch als Abwendung von der Herkunft, als Selbstüberwindung. Anhänglichkeit und Abstoßung spiegeln sich in der Art, wie Foucault
selbst dann seinen Schreibakt interpretiert. Er bleibe nämlich, wie er meint, in
gewisser Weise „fidèle à [s]on hérédité“, indem er die Rolle des Diagnostikers
annehme: „J’ai transformé le bistouri en porte-plume []; j’ai substitué à la cicatrice sur le corps le graffiti sur le papier“ (ibid.: 41, 36). Auch Foucault ist angezogen von dem Machtgefühl, das zur Sprache – in seinem Fall: zum Sezieren der
Diskurse – gehört. Doch ihm liegt es fern, den Autor im Sinne Sartres zum Helden
der Spontaneität zu erklären. Wie genau er dessen Status bestimmt, bleibt zu klären.
Es gibt eine weit verbreitete Lesart Foucaults, die ich verwerfen werde, aber
nicht kommentarlos übergehen kann. Diese Lesart kann durchaus auch die eingangs zitierte Bemerkung Foucaults als Beleg für sich in Anspruch nehmen, insbesondere den Satz: „On écrit aussi pour n’avoir pas un visage“. Dieser Satz
scheint sich bequem einzufügen in eine Gegenüberstellung, wonach Sartre den
Autor als Protagonisten der Freiheit feiert, während Foucault den Autor radikal demontiert und anonymisiert. Die Freiheit des Schreibens scheint bei Foucault eine
andere Funktion zu haben als bei Sartre: sie dient der Befreiung von sich selbst.
Der prominenteste Beleg für diese Lesart ist ein von Foucault angeführtes BeckettZitat.
Es ist eine Feststellung, nicht eine Frage, die Samuel Beckett in den Textes
pour rien formuliert. „Qu’importe qui parle“ – das Fragezeichen fällt bei ihm weg.7
Sprache gibt es und Sprechen, aber auf den Sprecher kommt es nicht an. Gerade
weil es Sprache gibt, stößt man auf die Bedeutungslosigkeit, die Belanglosigkeit
dessen, der spricht. Er kann gar keine Bedeutung haben, er bleibt sprachlos hinter
der Sprache zurück. Diese Erfahrung macht er freilich gerade nur in der Sprache.
Als jemand, der der Sprache ausgesetzt ist, empfindet er den Mangel der Sprachlosigkeit oder identifiziert sich als dieser Mangel. So gewinnt die Sprache die
Oberhand: „Tout se ramène à une affaire de paroles“, „je suis en mots, je suis fait
de mots“, „ce qui se passe, ce sont des mots“, so heißt es in Becketts Roman
L’innommable (2004: 81, 166, 98). Was jenseits dieser Worte ist, liegt „au creux de
mon inexistence“ (Beckett 1958: 139). Die Idee, dass ich es sei, der spricht,
stammt nicht von mir, sondern ist „un piège“, in die mich die Sprache lockt:
„Croient-ils que je crois que c’est moi qui parle? Ça c’est d’eux aussi. Pour me
faire croire que j’ai un moi à moi“ (Beckett 2004: 98). Die Anderen halten mich im
Netz der Sprache gefangen oder sind mit mir darin gefangen.
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Überbrücken lässt sich die Differenz zwischen Sprache und Leben nach Beckett
nicht, vor allem nicht in der Weise, wie dies traditionell gehandhabt wird, nämlich
durch eine Geschichte als Lebensgeschichte, die die Fusion von Sein und Sprache verbürgen könnte. Es ist unmöglich „de dire qui je suis, où je suis“ (Beckett
2004: 63). „Il en faut, parait-il, du moment qu‘il y a parole, pas besoin d’histoire,
[] rien qu’une vie“. Mit der Biographisierung begeht man nach Beckett einen
Fehler. „Le tort“ besteht darin, „m’être voulu une histoire, alors que la vie seule
suffit“ (1958: 142). Bei dem Diskurs, der nicht aufhört, der sich immer weiter
fortsetzt, bin ich weder Subjekt im Sinne des Sprechers noch Subjekt im Sinne des
Protagonisten. „Peu importe le sujet, il n’y en a pas“, sagt Beckett (2004: 123).
Kurz ist der Weg von Beckett zu Foucault. Becketts „Qu’importe qui parle“ avanciert zum Schlüssel- und Schlusssatz von zwei wichtigen Texten zur Selbstverständigung, die Foucault in den späten 1960er Jahren verfasst: die „Réponse à
une question“ von 1968, mit der er sich an die Leser der Zeitschrift Esprit wendet,
sowie der Vortrag „Qu’est-ce qu’un auteur?“ von 1969 (Foucault 1994: Vol. I, 695,
812, cf. 792). Was bei Beckett Züge der Verzweiflung trägt, wirkt bei Foucault nun
aber wie ein Befreiungsschlag. Es scheint so, als ergebe sich aus Becketts Ausweglosigkeit ein Ausweg, als münde die Aporie in eine Position. „On peut imaginer
une culture“, so sagt Foucault, „où les discours circuleraient et seraient reçus sans
que la fonction-auteur apparaisse jamais. Tous les discours, quel que soit leur
statut, leur forme, leur valeur, et quel que soit le traitement qu’on leur fait subir, se
dérouleraient dans l’anonymat du murmure“. In einer großen Geste der Erledigung
sagt Foucault, man sei in die neue Lage versetzt, „les questions si longtemps ressassées“ nicht mehr hören zu müssen, etwa die Fragen: „Qui a réellement parlé?
Est-ce bien lui et nul autre? Avec quelle authenticité, ou quelle originalité? Et qu’at-il exprimé du plus profond de lui-même dans son discours?“ (ibid.: Vol. I, 811sq.)
Diese theoretische Provokation wird von Foucault direkt im Diskurs umgesetzt.
Wenn es keine Rolle spielt, „qui parle“, dann heißt dies in letzter Konsequenz: Die
Rolle dessen, der spricht, kann abgeschafft werden. Deshalb experimentiert er damit, hinter der Sprache zu verschwinden, also als „philosophe masqué“ aufzutreten
und in Le Monde 1980 Rede und Antwort zu stehen, ohne selbst als Sprecher in
Erscheinung zu treten (ibid.: Vol. IV, 104). Dieser Ansatz spiegelt sich in dem Satz:
„Où ‚ça parle‘, l’homme n’existe plus“ (ibid.: Vol. I, 544). Die Vorgeschichte dieses
Satzes reicht zurück zu Nietzsches „Es denkt“, welches wiederum ein Einwand
oder – mehr noch – ein Grabstein für Descartes’ „cogito ergo sum“ sein wollte (cf.
Nietzsche 1980: Vol. 5, 31 [„Jenseits von Gut und Böse“, § 17]).
All diese Hinweise könnten so gedeutet werden, dass Foucault eine Strategie
der Selbstanonymisierung oder gar Selbstabschaffung verfolge. Sie hat nicht nur
eine theoretische, sondern auch eine biographische Spitze, die man vorläufig so
formulieren könnte: Die Theorie löst sich vom Autor, vom Sprecher ab, mit ihm versinkt die Person, die diese Rolle übernimmt, ins Dunkle, Bedeutungslose. Was
bleibt, sind Diskurse, deren Macht nicht durch die leere Behauptung einer auktorialen Instanz durchkreuzt werden kann.
55
D ossier
Wenn denn eine Durchkreuzung dieser Diskurse, eine Infragestellung der Macht
erfolgen kann, so gelingt sie gemäß dieser Strategie allenfalls dann, wenn man
sich als subversives Element in ihnen bewegt und mit Bataille „la transgression“
betreibt (cf. Foucault 1994: Vol. I, 233sqq.). Die Freiheit, die Sartre in der Spontaneität des Autors verankert, wird nach dieser Lesart durch die Überschreitung ersetzt. Die Absicht, ihr eine auktoriale Instanz zuzuordnen, wäre auf der Basis der
von Foucault propagierten Anonymisierung ganz abwegig.
Diese Lesart wirkt in sich stimmig. Sie ist mit einer Komplikation konfrontiert, die
sie allenfalls noch bewältigen muss, nämlich mit der Tatsache, dass der späte
Foucault ein notorisches Interesse am Subjekt an den Tag legt. Diese Aufmerksamkeit will zu den frühen Anonymisierungsstrategien nicht recht passen. Es gibt
eine eingängige Interpretation zur Erklärung dieser Divergenz.
Konstatiert wird demnach in einem ersten Schritt ein Widerspruch. Er besteht
zwischen Foucaults früher rhetorischer Frage „Qu’importe qui parle?“ und seiner
späten Hinwendung zu einem Selbst, das sich um sich sorgt (ibid.: Vol. IV, 786),
oder zwischen Foucaults früher These, dass „le sujet qui parle [] sous chaque
mot se trouve renvoyé à sa propre mort“ (ibid.: Vol. I, 249), und seinem späten
Interesse am „sprechenden Subjekt“, das sagt: „Ich bin derjenige, der dieses und
jenes denkt“ (1996: 11). Während Foucault in der Archäologie des Wissens noch
wütend gefordert hat, man möge ihn nicht fragen, „qui je suis“ (1969: 28), hört man
ihn am Ende ziemlich bereitwillig Auskunft geben über sexuelle und andere Vorlieben.8
In einem zweiten Schritt versucht man dann nicht, diesen Widerspruch aufzulösen oder aufzuheben, sondern man führt ihn darauf zurück, dass es beim späten
Foucault zu einem Sinneswandel, nämlich zu einer Wiederkehr des vormals geächteten Subjekts, Sprechers und Autors gekommen sei. Diese Wiederkehr wird
als Bruch mit der früheren Position gewertet und dann – je nach theoretischer
Präferenz – entweder willkommen geheißen oder verworfen.
All dies klingt suggestiv, und doch führt diese gesamte Deutung zu Foucaults
theoretischer Entwicklung in die Irre. Ich bin der Auffassung, dass man Foucaults
über viele Jahre verstreute Überlegungen zur Autorposition und zum Verhältnis
zwischen Schreiben und Leben in einen konsistenten Zusammenhang bringen
kann. Die Tatsache, dass dieser Zusammenhang bei Foucault selbst verdeckt
bleibt – und von ihm selbst verdeckt wird –, hat zu diversen Missverständnissen
geführt, die das Verständnis seines Werkes verstellen. Sowohl die Devise von der
antisubjektiven ‚Transgression‘ der 1960er Jahre wie auch die Empfehlung zur
subjektiven Selbstkultivierung der 1980er Jahre verstehe ich als Rand- und Oberflächenphänomene einer sich durchhaltenden Position: Foucault denkt den Autor –
und das Subjekt – als Schwellenwesen.9
Bevor ich ausführe, was mit dieser Figur des Schwellenwesens oder mit der Liminalität gemeint ist, möchte ich ihr einen markanten Auftritt gönnen. Dieser Auftritt findet statt in einem der zugleich wichtigsten und unbekanntesten autobiographischen Texte Foucaults – und dieser Text findet sich in einem keineswegs unbe56
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kannten Buch, nämlich in Folie et déraison. L’histoire de la folie à l’âge classique.
Vieles ist ungewöhnlich an diesem Buch, und viel ist darüber geschrieben worden
(Foucault 1961; cf. Artières et al. [ed.] 2011). Ein Punkt, der im Wettbewerb des
Ungewöhnlichen gute Chancen auf den Sieg hätte, ist allerdings in Vergessenheit
geraten. Auf der vorderen Umschlagklappe der ersten Auflage von 1961 findet sich
eine kurze biographische Notiz, die all jenen entgangen ist, welche ein Exemplar
ohne Umschlag oder auch eines aus einer späteren Auflage zur Hand nahmen.
Nur ein einziger Interpret, nämlich Didier Eribon, hat sich, soweit ich sehe, kurz mit
diesem Text befasst – freilich nicht in seiner Foucault-Biographie, sondern in einer
späteren Aufsatzsammlung. Darin ist dieser kleine Text, von dem Eribon sagt, er
sei in Vergessenheit versunken, auch abgedruckt – allerdings mit einigen kleinen
Übertragungsfehlern.10 Das Original lautet:
Ce livre est de quelqu’un qui s’est étonné. L’auteur est par profession un philosophe passé
à la psychologie, et de la psychologie à l’histoire. D’avoir été élève de l’École normale
supérieure, agrégé de philosophie, pensionnaire de la Fondation Thiers, d’avoir fréquenté
les hôpitaux psychiatriques (du côté où les portes s’ouvrent), d’avoir connu en Suède le
bonheur socialisé (du côté où les portes ne s’ouvrent plus), en Pologne la misère socialiste
et le courage qu’il lui faut, en Allemagne, pas très loin d’Altona, les nouvelles forteresses
de la richesse allemande, d’être redevenu en France un universitaire, l’a fait réfléchir, avec
un peu de sérieux, sur ce que c’est qu’un asile. Il a voulu savoir, il veut toujours savoir quel
est donc ce langage qui à travers tant de murailles et de serrures se noue, se prononce et
s’échange au delà de tous les partages.
Wenn man diese Notiz liest, kann man sich vor Anspielungen auf Schwellen kaum
retten – seien es nun solche, die überschritten werden, oder solche, die unüberwindlich sind. Der Text ist in geradezu kurioser Weise überdeterminiert: Foucault
bringt Schwellen in sechs verschiedenen Formen ins Spiel. Er beginnt eher traditionell mit dem Staunen, das dem Philosophen zusteht und versäumt nicht die Gelegenheit, gewisse äußere Erfolge wie die erlangte agrégation zu erwähnen. Jeder
Eingeweihte weiß, dass es sich bei dieser Prüfung um einen rite de passage, die
Überschreitung einer besonders hohen Schwelle handelt. Inzwischen ist auch bekannt, dass die agrégation als erste Schwelle, auf die angespielt wird, für Foucault
mit besonderen Qualen verbunden war, die in jener Notiz verständlicherweise
keine Erwähnung finden. Wohl aber werden zweitens die Schwellen erwähnt, die
Foucault beim Wechsel der Disziplinen überschreitet: Sein Weg führt von der Philosophie zur Psychologie und weiter zur Geschichte. Drittens überquert er Ländergrenzen – von Frankreich über Schweden, Polen und Deutschland zurück nach
Frankreich. Viertens schildert er mit Bezug auf diese Länder jeweils Situationen,
bei denen Schwellen im Spiel sind. In Frankreich sind es die Schwellen der Irrenanstalten, die überquert werden.11 In Schweden ist es die Wohlfahrtsgesellschaft,
die keinen Ausgang, keine Ausflucht mehr kennt.12 In Polen geht es um die
Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand. In Deutschland schließlich beobachtet Foucault die sich gegen die Armen verschanzenden Reichen und bringt
mit dem Hinweis, Hamburg liege nahe bei Altona auch noch eine Anspielung auf
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Sartres Theaterstück Les séquestrés d’Altona unter. All diese Erfahrungen (oder
diese retrospektiven Interpretationen von Erfahrungen) münden fünftens in den
Hinweis auf das „asile“, worunter im Französischen zuallererst – aber natürlich
nicht nur – die Irrenanstalt zu verstehen ist, sowie sechstens im Hinweis auf das
Medium, das Verbindungen über Grenzen hinweg schafft: die Sprache. Der kurze
Text endet also mit einer inhaltlich-methodischen Doppelspitze: Foucault setzt in
der Notiz „l’asile“ als Thema, dem sich nicht nur Folie et déraison, sondern auch
diverse andere Bücher Foucaults zuordnen lassen. Darüber hinaus bezeichnet
Foucault mit dem „langage“ und dessen Potential zur Verbindung und Abgrenzung
seinen methodischen Ansatzpunkt.
Man kann anhand der Umschlagnotiz eine Pointe mit Foucault gegen Foucault
setzen: Sie ist nämlich ein Affront gegen die Idee, es komme gar nicht darauf an,
wer spricht. Sie zeigt, dass nicht alles gesagt ist, wenn man sich mit dem Hinweis
auf Foucaults Beckett-Zitat begnügt. Es lohnt sich vielmehr, von diesem Sprecher
zu sprechen. „L’œuvre est plus que l’œuvre: le sujet qui écrit fait partie de l’œuvre“
(Foucault 1994: Vol. IV, 607). Dieser Sprecher erscheint bei Foucault als Autor in
Bewegung, doch geht es ihm nicht darum, „[à] opposer [] le ‚devenir‘ au ‚système‘, ou comme on dit dans une irréflexion bien légère ‚l’histoire‘ à la ‚structure‘“
(Foucault 1969: 23). (Man darf an dieser Stelle mitdenken, dass Foucault sich hier
sowohl von Bergson als auch von Sartre absetzt.) Das Subjekt in Bewegung ist
nach Foucault nirgendwo anders anzutreffen als am Rand oder an der Grenze jener Festlegungen, in denen der Mensch befangen ist. Es gibt ein reiches Vokabular, das Foucault für die Umschreibung dieser Bewegung auf der Schwelle einsetzt. Zu ihm gehören „discontinuité (seuil, rupture, coupure, mutation, transformation)“ (ibid.: 12, cf. 31), „limites“, „expériences-limites“, „attitude limite“, „transgression“, „excès“, „la vivacité de la différence“, „le fait sauvage du changement“
etc. (Foucault 1994: Vol. I, 161; Vol. IV, 574; Vol. I, 236, 244, 677). Der dogmatische Streit um Foucaults Kritik am Subjekt und deren Widerruf ist meines Erachtens fruchtlos. Er verstellt die Tatsache, dass sich Foucault durchweg von einer
bestimmten Version des Subjekts absetzt und einer anderen zuneigt, welche man
anhand dieser spezifischen Bewegung auf der Schwelle identifizieren kann.
Ich möchte nur zwei weitere Auskünfte Foucaults anführen, mit denen sich der
Bogen von den frühen 1960er bis zu den 1980er Jahren schlagen lässt. „On pourrait faire une histoire des limites“, so schreibt Foucault in dem (in späteren Auflagen fehlenden) Vorwort zur ersten Ausgabe von Folie et déraison (Dits et écrits I,
161) – und ebendiese Geschichte hat er tatsächlich geschrieben: „Interroger une
culture sur ses expériences-limites, c’est la questionner, aux confins de l’histoire,
sur un déchirement qui est comme la naissance même de son histoire“ (Foucault
1994: Vol. I, 161). Und wie er sich 1968 „l’analyse de types différents de transformation“ vornimmt (Foucault 1994: Vol. II, 677; Hervorh. orig.), so heißt es dann in
den Entwürfen zu seiner Vorlesung über L’herméneutique du sujet: „Il s’agit en
somme de partir à la recherche d’une autre philosophie critique: une philosophie
qui ne détermine pas les conditions et les limites d’une connaissance de l’objet
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mais les conditions et les possibilités indéfinies de transformation du sujet“
(Foucault 2001: 508).
Philosophiegeschichtlich kann man sagen, dass dieses Motiv der Bewegung
oder Transformation Foucault in den Stand versetzt, sich von dem „verschleppten
Hegelianismus“ zu kurieren, den er an sich selbst diagnostiziert.13 Er spielt hier an
auf die von ihm mehrfach bezeugte Tatsache, dass er sich als Student im Banne
Hegels, in einem „univers dialectique“ befunden habe (Foucault 1994: Vol. I, 613).
Natürlich ist es gerade Hegel, der das ‚Werden‘ und die ‚Bewegung‘ mit aller
Macht in die Philosophie eingeführt hat.14 Wenn Foucault nun bei diesem ‚Werden‘
anknüpft, so verweigert er ihm jedoch die Rückkehr zum ‚Sein‘, die bei Hegel vorgesehen war, also die Ankunft in einer „unité recompensée“ (Foucault 1969: 22).
Das Gegenbild zu Foucaults ‚mobilem‘ Menschen (Rainer Schürmann) ist der
„homo dialecticus – l’être du départ, du retour et du temps, l’animal qui perd sa vérité et la retrouve illuminée, l’étranger à soi qui redevient familier“.15 Wenn Foucault später bei Hegel – und auch bei Marx – anknüpft, so liest er sie beide nietzscheanisch, d.h. im Lichte von Nietzsches Theorie der Selbstüberwindung (cf.
Thomä 2007a), welche bei seiner eigenen Theorie der Transformation Pate gestanden hat. Es sei daran erinnert, dass Nietzsche selbst Hegel dafür lobte, die
Ideen des ‚Werdens‘ und der ‚Entwicklung‘ in die Philosophie eingeführt zu haben
(cf. Nietzsche 1980: Vol. 3, 598sq. [„Fröhliche Wissenschaft“, § 357]).
Besonders deutlich wird diese Konstellation an einer Stelle aus seinem Gespräch mit Trombadori: „Nous tournons là autour d’une phrase de Marx: l’homme
produit l’homme. Comment l’entendre? Pour moi, ce qui doit être produit, ce n’est
pas l’homme tel que l’aurait dessiné la nature, ou tel que son essence le prescrit;
nous avons à produire quelque chose qui n’existe pas encore et dont nous ne
pouvons savoir ce qu’il sera“ (Foucault 1994: Vol. IV, 74). Diese Selbstproduktion
ist nicht als einmaliger Kraftakt zu verstehen, sondern als fortlaufendes Experiment: „L’écriture ça consiste essentiellement à entreprendre une tâche grâce à
laquelle et au bout de laquelle je pourrai, pour moi-même, trouver quelque chose
que je n’avais pas d’abord vu. [] Je ne découvre ce que j’ai à démontrer que
dans le mouvement même par lequel j’écris“ (Foucault 2011: 41). Und 1980 sagt
Foucault: „Une expérience est quelque chose dont on sort soi-même transformé.
[] Je suis un expérimentateur en ce sens que j’écris pour me changer moi-même
et ne plus penser la même chose qu’auparavant“ (1994: Vol. IV, 41sq.).
Wie stellen sich im Lichte dieser auktorialen Bewegung Foucaults changierende
Auskünfte zum Tod, zum Fortleben oder zur Wiedergeburt des Subjekts dar? In
L’archéologie du savoir scheint Foucault nahezulegen, dass die von ihm avisierte
Transformation ohne das Subjekt auskomme, ja geradewegs gegen es gerichtet
sei. Er sagt: „Je n’ai pas nié, loin de là, la possibilité de changer le discours: j’en ai
retiré le droit exclusif et instantané à la souveraineté du sujet“ (1969: 272). Diese
Gegenstellung zwischen Bewegung und Subjekt verschärft sich noch zu der
These, die Überschreitung sei an „la perte“ oder „la disparition du sujet“ gebunden
(1994: Vol. I, 243, 521).
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Manches von dem, was in diesem „discours négatif sur le sujet“ (Foucault 1994:
Vol. I, 615) vorgebracht wird, ist aus meiner Sicht tatsächlich als Selbstmissverständnis Foucaults abzuheften – in dem Sinne, wie er dies selbst im kritischen
Rückblick auf Les mots et les choses markiert, wenn er sagt,
qu’au cœur de leur histoire les hommes n’ont jamais cessé de se construire eux-mêmes,
c’est-à-dire de déplacer continuellement leur subjectivité, de se constituer dans une série
infinie et multiple de subjectivités différentes []. En parlant de la mort de l’homme, de façon confuse, simplificatrice, c’était cela que je voulais dire (Foucault 1994: Vol. IV, 75).
Man kann, wie ich meine, auch an den Texten der 1960er Jahre deutlich machen,
dass Foucault nicht einfach auf anonyme Diskurse setzt. An der soeben zitierten
Stelle aus L’archéologie du savoir richtet sich sein Einwand, genau besehen, nicht
prinzipiell gegen das Subjekt, sondern gegen dessen „souveraineté“. Auch in seinem frühen Text über Bataille, der „Préface à la transgression“, ist beachtenswert,
dass der Überschreitung als „un geste qui concerne la limite“ keine „existence véritable en dehors du geste“ zugebilligt wird, dass Überschreitung und Grenze sich
einander verdanken oder „se doivent“ (Foucault 1994: Vol. I, 236sq.). Die Geste
kann nicht einfach abgelöst werden von den Umständen, auf die sie sich bezieht.
Es geht nicht um einen anderen Zustand, in den man hineingeriete und bei dem
das Subjekt vollkommen vergessen werden könnte, sondern um den Moment der
Überschreitung selbst. Die Schwelle, die man übertritt, ist undenkbar, unerfahrbar
ohne den Raum, in dem sie sich befindet. Später wird Foucault sagen: „On doit
échapper à l’alternative du dehors et du dedans; il faut être aux frontières“ (1994:
Vol. IV, 574). Foucault bringt das Subjekt an diese Grenze oder Schwelle, er verwandelt es, aber er lässt es nicht beiseite – und zwar deshalb nicht, weil sonst die
Grenze und die Bewegung in dem Raum an dieser Grenze gar nicht erfahrbar
wäre.
Man macht sich nicht einer falschen Harmonisierung oder einer Glättung von
Widersprüchen schuldig, wenn man sagt, dass Foucault mit den Auskünften über
Schwelle und Grenze, Bewegung und Transformation, die sich in allen Werk- und
Lebensphasen finden, immer wieder in die gleiche Kerbe schlägt. Dabei handelt es
sich nicht um eine Übung, die etwa der Vorliebe oder dem Gutdünken Foucaults
entsprungen wäre, sondern um die Ausarbeitung eines philosophischen Programms, das grob folgendermaßen umrissen werden kann.
Die Menschen sind in dem Maße, wie sie in die Sprache eingelassen oder der
Sprache ausgeliefert sind, des Ursprungs beraubt, welcher ihnen zu einer souveränen Position verhelfen könnte: „Avant toute existence humaine, toute pensée humaine, il y aurait déjà un savoir, un système, que nous redécouvrons []. Qu’estce que ce système anonyme sans sujet, qu’est-ce qui pense? Le ‚je‘ a explosé“, so
sagt Foucault und fügt in Anspielung auf Heidegger hinzu: „Il y a un ‚on‘“ (1994:
Vol. I, 515). Doch das Wissen, das System, der Diskurs, die Sprache, in denen
man sich bewegt, sind selbst keine geschlossenen Gebilde, sondern Räume mit
offenen Rändern. An ihnen macht man „une expérience qui change, qui empêche
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d’être toujours les mêmes“ (ibid.: Vol. IV, 47). Wenn man sich – so etwa der Einwand Foucaults gegen Lévi-Strauss (ibid.: Vol. I, 615; cf. id. 2001: 506) – in diesem Raum bewegte, als gäbe es gar keine Offenheit, würde man von diesem
Raum und der eigenen Position darin ein Zerrbild liefern.
Mit seiner Theorie des Subjekts und des Autors hat Foucault versucht, eine gute
Beschreibung des Menschen als Schwellenwesen zu liefern. Das Leben dieses
Schwellenwesens rundet sich nicht zu einem Ganzen, das zur biographischen Totalität überhöht werden könnte; insofern steht Foucault auch die „totalisation“ fern,
die Sartre bei Flaubert zu erkennen meint (Sartre 1971-72: Vol. 3, 58, 439). Wenn
man denn von Sartre her in eine Nähe zu Foucault kommen will, so kann man sich
allenfalls an „le petit mouvement“ halten, an dem er (s.o.) in späten Jahren die
Freiheit festmacht. Aus der Folge dieser kleinen Bewegungen ergibt sich auch bei
Foucault so etwas wie der „fil de ma vie“ (Foucault 2011: 29), der sich über
Schwellen zieht, ohne je zu zerreißen. Foucaults Schwellenwesen ist getränkt von
einer Erfahrung der Zeitlichkeit, die übrigens in dem eher plastischen, räumlichen
Bild vom Leben als Kunstwerk, welches im Anschluss an den späten Foucault popularisiert worden ist, unglücklicherweise in den Hintergrund tritt. Vielleicht ergibt
sich anhand von Foucaults „Lebensfaden“ auch eine andere Form biographischen
Schreibens; jedenfalls darf man sich hierfür auf seine Bemerkung berufen, „que
mes livres [sont], en un sens, des fragments d’autobiographie“ (Foucault 1994:
Vol. IV, 747sq.). Damit rückt Foucault in die Nähe jener vielfältigen Experimente
mit der Form des Erzählens (cf. Thomä 2007) – vor allem auch des biographischen und autobiographischen Erzählens –, welche im 20. Jahrhundert unternommen worden sind. (Man denke nur an Marcel Proust, Virginia Woolf, Robert
Musil, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Roland Barthes.)
Statt Foucault zu feiern oder anzuklagen, weil er zur Abschaffung oder Entwertung der Autorschaft beigetragen habe, sollte man ihn dafür schätzen, dass er dem
Autor – anders als Sartre – ein menschliches Maß diesseits ästhetischer Allmachtsfantasien gegeben hat.
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Sartre 1983: 43. Nach wie vor erhellend zur Frage von Schreiben und Leben bei Sartre
ist Walter van Rossum: Sich verschreiben. Jean-Paul Sartre 1939-1953 (1990).
Zum „zweiten“, ästhetischen Genuss, in dem die „Wirklichkeit im Poetischen ertrunken“
ist, cf. Kierkegaard 1956: 328.
Sartre 1988: 144. Sartre hat sich bekanntlich später von diesem Buch distanziert.
Die Wendung von Husserl zu Heidegger lässt sich recht genau auf das Jahr 1938 datieren; cf. Sartre 1983: 224-230, Eintrag vom 1.2.1940.
In der Beschreibung, freilich nicht in der Bewertung, komme ich hier überein mit Peter
Bürger (2007: 76): „Der für Sartres Freiheitsphilosophie konstitutive Akt der Selbstwahl
beruht auf einem Als-ob“.
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In diesem Abschnitt verwende ich einzelne Passagen aus Dieter Thomä: „Das wilde
Faktum der Veränderung. Zum Verhältnis von Theorie und Autobiografie bei Michel
Foucault“, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1, 2013 (im Druck).
Beckett 1958: 129. (Als Entstehungsdatum der „Textes pour rien“ wird das Jahr 1950
angegeben.)
Foucault 1994: Vol. IV, 166, 254, 295, 737-743. Die intimsten Äußerungen zu ‚fistfucking‘, zu den Badehäusern in San Francisco etc. finden sich in einem Interview von
1978, dem Foucault freilich die Autorisierung verweigert hat; es wurde von Jean Le
Bitoux 1978 geführt. Für die engl. Übers. cf. Foucault 2011a: 385-403. Miller stützt sich
in seiner Darstellung der kalifornischen Jahre Foucaults ausgiebig auf dieses Interview;
cf. Miller 1995: 381-412. Millers Buch betreibt einen Reduktionismus des Werks auf das
Leben, vor dem Foucault mit guten Gründen gewarnt hat.
Ich übernehme diesen Ausdruck von der Ritualtheorie Turners, verzichte aber darauf,
den Ähnlichkeiten und Unterschieden, die zwischen Turner und Foucault bestehen, im
Detail nachzugehen. Turner spricht von „liminal entities“, „liminal personae“ sowie
„threshold people“, „Schwellenwesen“, „Schwellenpersonen“ und „Grenzgängern“; cf.
Turner 1982: 94; dt. 2005: 95.
Eribon 1994: 61. In der kürzlich erschienenen instruktiven Darstellung der Publikationsund Rezeptionsgeschichte dieses Buches wird die hier zur Rede stehende Notiz
gleichfalls abgedruckt, aber seltsamerweise nicht weiter kommentiert; cf. Artières/Bert
2011: 17.
Foucault findet noch im späten Rückblick auf seine Lehrjahre Gefallen an der Figur der
Schwelle: „Chacun de mes livres représente une partie de mon histoire. [] Pour
prendre un exemple simple, j’ai travaillé dans un hôpital psychiatrique pendant les années cinquante. Après avoir étudié la philosophie, j’ai voulu voir ce qu’était la folie:
j’avais été assez fou pour étudier la raison, j’ai été assez raisonnable pour étudier la folie“ (Cf. Foucault 1994: Vol. IV, 779).
Übrigens wird Foucault 1968 in einem Interview bemerken, er sei nach Schweden
gekommen mit der festen – ihrerseits auf Schwellen erpichten – Absicht, von nun an aus
zwei Koffern zu leben, um die Welt zu reisen und nie mehr eine Zeile zu schreiben;
Schweden habe ihn von dieser Absicht abgebracht; cf. Foucault 1994: Vol. I, 651.
Foucault 1990: 229-234 (dieser unautorisierte Text findet sich nicht in den Dits et Écrits).
Cf. die eindrucksvollen Überlegungen zur Schwierigkeit, „[à] échapper réellement à
Hegel“, in Foucault 1971: 74.
Hegel (1970: 138): „Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung“; cf. Pippin 2011: 60.
Foucault 1994: Vol. I, 414. Zum „mobilen Menschen“ cf. Schürmann 1986, 459.
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