GLÜCK VERBREITEN - ARTEFAKT Kulturkonzepte

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GLÜCK VERBREITEN - ARTEFAKT Kulturkonzepte
18.10.2015
GLÜCK VERBREITEN
Bart Moeyaert
Damen und Herren, ich hatte einen Plan.
Ich dachte: Am Ende der Buchmesse sind die Leute müde. Bei der Gastrollen-ÜbergabeZeremonie hängt auch Wehmut in der Luft, weil ein Gastland Abschied nimmt. Aber es gibt
auch Freude, weil ein neues Gastland antritt.
Verwirrend, das Ganze.
Man sitzt in einem Boot. Es schaukelt angenehm auf den Wellen, es schaukelt sehr angenehm,
aber fester Boden unter den Füßen wäre vielleicht noch angenehmer.
Ich dachte: Ich tue etwas, das alle froh macht. In Gedanken sah ich es schon vor mir.
Von allen Seiten würden jetzt — jetzt — etwa zehn sehr schöne junge Menschen aus Flandern
und den Niederlanden reinkommen, die Arme voller Blumensträuße, einen Strauß für jeden
von ihnen. Niemand bleibt unberührt, wenn er Blumen bekommt. Ich höre alle schon entzückt
„Oha!“ rufen und jubeln.
Auf der Stelle lieben alle Flandern und die Niederlande, was für ein Gastland, und danach
setzte ich meine Rede fort mit ein paar bescheidenen Gedanken über die Zukunft und die
Dinge, die uns glücklich machen.
Alle finden meinen Vortrag inspirierend und fragen am Schluss nach dem Titel. Ich antworte
dann ernsthaft: „Der Titel lautet Glück verbreiten“, und die Leute nicken und murmeln: Glück
verbreiten, hm, ja, Glück ist ja tatsächlich sehr wichtig.
Leider muss ich Ihnen erzählen, dass ich den Plan vom Tisch gefegt habe, weil ich vor kurzem
mein Vertrauen in die Schnittblume verloren habe.
Das kam so.
1
Auf dem Markt in Antwerpen, in Belgien, wo ich wohne, kaufte ich vor einer Weile drei Sträuße
weiße Ranunkel. Ich fragte: “Werden die mir Freude bereiten?” Die Blumenfrau sagte:
“Tagelang”, und das klang ungefähr wie eine Woche.
Die Ranunkeln standen wunderbar zusammen in einer Vase. Nach einem Tag ließen sich die
meisten ganz schön hängen. Manche waren auch zusammengeklappt, als würden ihre Knie
nicht mehr mitmachen. Ein paar sind auch erstickt, weil ihr Nacken auf Höhe des Vasenrandes
abgeknickt war, wodurch sie keine Luft mehr bekamen. Meine Damen und Herren, es war
schrecklich anzusehen. Die Ranunkeln waren zu dieser Zeit ziemlich teuer, aber das nur
nebenbei.
Eine Woche später erzählte ich der Frau vom Blumenstand, dass mir meine Ranunkeln wenig
Freude bereitet hatten. „Nicht tagelang“, sagte ich, und ich sorgte dafür, dass es klang wie
dreieinhalb Stunden. Sie antwortete: „Dann hatten Sie dieses Mal kein Glück.“
Ein paar Sekunden war ich baff, aber dann konnte ich völlig akzeptieren, was sie gesagt hatte.
Das Pech trifft uns eben alle mal.
Erst als ich mit drei Sträußen weiße Phloxe von ihrem Stand nach Hause kam und schon einen
Tag später feststellen musste, dass die Phloxe nicht gern bei mir waren, dachte ich über die
Worte der Blumenfrau nach.
„Dann hatten Sie dieses Mal kein Glück.“
Ich habe mir fest vorgenommen, keine Blumen mehr bei ihr zu kaufen. Aber hey: Bitterkeit ist
mir fremd! Für mein Geld habe ich eine Antwort bekommen, die ich mir den Rest meines
Lebens merke und benutzen werde, wenn es mir passt, weil sie nämlich funktioniert. Es ist die
beste Antwort, um jemanden zum Schweigen zu bringen. Ist Ihr Fleisch nicht nach Wunsch? Ist
Ihr Brot altbacken? Leckt Ihr Dach? Ist das Wetter umgeschlagen? Gefällt Ihnen das Buch nicht?
„Dann hatten Sie dieses Mal kein Glück.“
Ich finde die Antwort großartig. Wir gehen einfach davon aus, dass Glück selten und nicht
jedem beschieden ist. Wir hoffen auf das Fleisch, das Brot, das Dach, das Wetter, das Buch von
morgen. Morgen wird alles gut. Und sonst halt übermorgen.
Täuschen Sie sich nicht. Das Glück befindet sich mehr in Reichweite, als sie denken. Das Glück
kann sich sogar in ein paar Worten befinden.
Mirjam Pressler, die deutsche Autorin und wunderbare Übersetzerin aus dem
Niederländischen und Hebräischen, hat mit Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen
Stuhl hinstellen, nicht nur ein sehr schönes Buch über ein Mädchen geschrieben, das in ihrem
Leben noch nicht viel Glück erlebt hat, sondern kann auch Anspruch auf einen der schönsten
Titel der Kinder-und Jugendliteratur erheben. Durch diesen Titel habe ich schon oft gedacht: es
stimmt. Wenn das Glück kommt, muss man ihm einfach einen Stuhl geben.
2
Ich war mal in Japan, in Osaka, im achtstöckigen Yumobashi Shopping Center im lebhaften
Viertel Umida. Über meiner Schulter hing meine Tasche. Ich stand auf der enormen dritten
Etage, wo die Computerabteilung ist. Hunderte und Aberhunderte von Computern konnte man
kaufen, und über jedem Computer hing ein grelles, knallgelbes Schild mit knallroten
japanischen Schriftzeichen, und ich konnte kein einziges von ihnen lesen.
Ein paar Sekunden lang fühlte ich mich verloren. Ein paar Sekunden lang dachte ich: Gleich
löse ich mich in der Atmosphäre auf. Mein Zerebraler Kortex hier oben, das System von
Billionen Nervenzellen, die mein Bewusstsein steuern, mein Beurteilungsvermögen, mein
abstraktes Denken, meine Augen, meine Sprache, waren sekundenlang weg.
Dann aber erinnerte ich mich auf einmal an das Buch in meiner Tasche, ein Buch von J.M.
Coetzee, und ein Gefühl der Euphorie zog sich von meinen Füßen rauf bis zu meinem Scheitel.
Als wäre ich aus einem schaukelnden Boot an Wall gestiegen.
Als ich mich an meine Muttersprache erinnerte, und plötzlich auch auf Niederländisch
nachdachte, mit mir selbst redete, mich beruhigte, verwandelte ich mich in ein Stückchen
Festland in Osaka, Japan.
Die einzigen Wörter, die ich lesen konnte, hatte ich selbst mitgebracht. Es waren englische
Wörter, die Coetzee geschrieben hatte, und Englisch habe ich gelernt. Sprachen machen unser
Festland nur größer. Wie gut, dass wir Sprachen lernen können.
Das Einzige, was ich lesen konnte um mich herum, war ein grünes Piktogramm von einem
Männchen, das hinter einem Pfeil Richtung Ausgang rennt. Geh jetzt nur, Bart, geh nur.
Ich glaube, Besucher der Frankfurter Buchmesse verstehen sehr gut, was mir dort in Japan
passiert ist, in Osaka, im Yumobashi Shopping Center. Vielleicht ist es Ihnen diese Woche auch
passiert, in Halle drei oder Halle fünf, oder vielleicht passiert es Ihnen jetzt, als ik deze
woorden, zoals ze in Vlaanderen en Nederland worden uitgesproken, uitspreek. War es so
schrecklich, sich etwas anzuhören, was Sie nicht verstanden haben? Sind Sie verdampft, im
schwarzen Loch verschwunden?
Sprachen kann man lernen. Kulturen kann man lernen. Neugierig kann man werden.
Das Buch von Coetzee, das ich in Osaka in meiner Tasche hatte, als ich mir vorkam wie eine
Insel in der Computerabteilung, war Mr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe, die Geschichte einer
Frau, die Schiffbruch erleidet und auf Robinson Crusos Insel angespült wird. Eines Abends
fragt sie Cruso, wie viele englische Wörter Freitag kennt.
„So viele wie er braucht“, antwortet Cruso. „Wir sind hier nicht in England, wir brauchen
keinen großen Wortschatz.“
Mrs. Barton ist entrüstet. „Sie tun, als sei Sprache eine der Flüche des Lebens, wie Geld oder die
Pocken. Aber hätte es Ihre Einsamkeit nicht verringert, wenn Freitag des Englischen mächtig
gewesen wäre? Dann hätten er und Sie die ganzen Jahre über die Freuden der Konversation
genießen dürfen; Sie hätten ihm einige Segnungen der Zivilisation näherbringen und einen
besseren Menschen aus ihm machen können. Welchen Nutzen hat ein Leben in
Stillschweigen?“
3
Als ich diese Passage zum ersten Mal las, musste ich lächeln. Ich finde schon seit Längerem,
dass in dieser Welt sehr viel geredet wird. Ich bin dahinter gekommen, dass die Verwendung
vieler Wörter nicht unbedingt dazu führt, dass wir einander jemals besser verstehen werden.
Ich mag den Abstand zwischen den Zeilen in einem Buch sehr gern.
Die Stille ist ein Reichtum, den Mrs. Barton nicht wirklich kennt. Sie denkt nicht daran, dass
gerade das Wort, das nicht ausgesprochen wird, vielleicht die aufschlussreichsten
Informationen beinhaltet. In Abwesenheit von Wörtern müssen alle aufmerksam bleiben, und
der Dauer der Stille Bedeutung entnehmen, ihrem Gewicht, den Worten drumherum, der
Körpersprache, der Stimme des Vorstellungsvermögens, oder gerade seinen oder ihren
persönlichsten, sogar intimsten Erfahrungen. Etwas, was ungesagt bleibt, was wir zunächst
einmal nicht verstehen, müsste uns gerade anziehen, das Unbekannte muss uns gerade
aufrütteln.
Mrs. Barton hat mich auf eine andere Idee gebracht. Eine andere Art, Sie froher als Sie waren in
die Welt zu schicken, mit den Grüßen des Gastlandes im nächsten Jahr, Flandern und den
Niederlanden. Nebenbei bemerkt: Wir werden Sie im nächsten Jahr noch auf andere Weise
überraschen, auf der Buchmesse, in Frankfurt, in ganz Deutschland. Und auch zu Hause — in
Flandern und den Niederlanden — werden wir bekannt geben, was hier im literarischen und
kulturellen Bereich passiert. Ich meine also jetzt: Ich hoffe, dass ich Sie jetzt froher als sie
waren in die Welt schicken kann.
Meine Blumenhändlerin hat dieses Mal kein Glück gehabt. Nächste Woche kaufe ich am Stand
gegenüber ihrem Ranunkel und Phloxe, und wenn sie es nicht von allein merkt, dann winke ich
mit den Blumensträußen. Wenn sie sich traut, was zu mir zu sagen, antworte ich ihr mit
unbewegtem Gesicht, dass ich all den Leuten nach der Gastlandland-Übergabe-Zeremonie in
Frankfurt, als Flandern und die Niederlande die Ehrengastlandrolle von Indonesien bekamen,
pfeifend vor Glück in die Welt geschickt habe. Und dass ich dafür keine Blumen gebraucht
habe.
Ich werde sie neugierig machen. Ich werde von ‘einem Strauß Wörter’ sprechen.
Schnittblumen können hinter den Erwartungen zurückbleiben, dessen bin ich mir bewusst,
und in einem Zimmer kann es zu warm sein, nun gut, und wir behandeln Blumen vielleicht
auch mal so, wie sie nicht behandelt werden möchten, ich weiß, aber eine schreckliche
Geschichte hat immer eine Kehrseite. Ich bin – noch mehr als früher – überzeugt von der
Wichtigkeit von: gutem Boden. Dass wir alle zusammen bestehen wollen aus: gutem Boden,
und dass das Glück unter den besten Umständen gesät werden kann, und verbreitet.
Sprachen kann man lernen. Kulturen kann man lernen. Neugierig kann man werden.
Ich bin froh, dass ich diese Rede, die Glück verbreiten heißt, mit Poesie abschließe. Ein paar
Zeilen aus einem Gedicht eines Dichters aus Flandern und den Niederlanden. Nächstes Jahr
sind wir wieder hier. Mit dem Meer als Thema. Den Schätzen, die die Wellen auf dem Strand
hinterlassen.
Ich hoffe, dass unsere Flaschenpost Ihre Küste erreicht.
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Sehen Sie nur: jetzt geschieht es genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Neben Ihnen taucht
ein schöner junger Mensch aus unserem Team auf, der Sie gerne glücklicher macht.
Das ist die Flaschenpost für nächstes Jahr.
Blumen verwelken. Worte nicht.
Verbreite Glück. Verbreite Worte aus Flandern und den Niederlanden.
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Sonntag.
Die allerbesten Grüße aus Flandern und den Niederlanden.
Alle Presseinformationen finden Sie zum Download unter:
http://www.artefakt-berlin.de/aktuelle-projekte/ehrengast-frankfurter-buchmesse-2016.html
Mit freundlichen Grüßen
Das Presse-Team „Flandern & die Niederlande. Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016“
Damaris Schmitz, Elisabeth Friedrich, Alexander Flöth & Celia Solf
ARTEFAKT Kulturkonzepte
Marienburger Str. 16, D-10405 Berlin
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