Kinder- und Jugendliteratur in Flandern und den Niederlanden (Teil 5)
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Kinder- und Jugendliteratur in Flandern und den Niederlanden (Teil 5)
Flandern & die Niederlande Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2016 Essay-Reihe: Literaturlandschaften Anlässlich des Ehrengastauftritts Flanderns und der Niederlande auf der Frankfurter Buchmesse werden allein 2016 über 250 Titel aus dem Niederländischen auf Deutsch erscheinen, verteilt auf die Genres Romane und Erzählungen, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbuch, Poesie, Theater sowie Graphic Novels. Um Ihnen den Überblick zu erleichtern, haben wir Experten gebeten, jeweils mit einem Essay in die entsprechenden Genres einzuführen, die Autoren, Themen und Besonderheiten Flanderns und der Niederlande vorzustellen. Bislang erschienen Beiträge zum Thema Belletristik (Teil 1 + 2, Stefan Wieczorek), Sachbuch (Teil 3, Mireille Berman und Patrick Peeters) und Poesie (Teil 4, Stefan Wieczorek). Teil 5: Ein Blick zum Horizont. Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden Von Mirjam Noorduijn Ein Land am Meer ist grenzenlos. Oder vielleicht sagt man besser – es scheint grenzenlos zu sein. Die offene See und der weite, unbegreifliche Horizont versprechen Entdeckungslust und Abenteuer. Aber aus der Nähe betrachtet, verursachen die kraftvollen Wellen des salzigen Meeres und der Wind, der immerzu weht, eine ständige Unruhe. Unvermeidlich geht damit der Kampf um Raum einher. Was ist am vernünftigsten? Land gewinnen und eindeichen? Oder dem Wasser freien Lauf lassen? Die Kulturlandschaft der Niederlande und Flanderns, der Lage Landen, als Bühne für die Auseinandersetzung zwischen Grenzziehern und Freigeistern: Das ist eine verführerische Metapher für den am Beginn des 21. Jahrhunderts erneut auflodernden Streit im Land der Kinderbücher – hier findet ein Tauziehen statt um das Prädikat Kinderbuch zwischen Menschen, die sich am Kind orientieren, und denen, die von der Literatur kommen. Bei genauem Hinsehen entsteht der Streit unmittelbar aus der Frage, was Jugendliteratur eigentlich ist. Gibt es sie überhaupt? Und wenn ja, wie verhält sie sich dann zur Literatur für Erwachsene? Ist ein Kinderbuch ausschließlich für Kinder bestimmt und muss folgerichtig Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 2 zielgruppenorientiert geschrieben und auch entsprechend beurteilt werden? Oder ist ein gutes Kinderbuch ein mit literarischen (Stil-)Mitteln geschriebenes Buch, dessen Text und Bildwelt der Kritik unterworfen wird, und das erst erfolgreich ist, wenn auch Erwachsene es wertschätzen? Getreu dem Motto, dass Erziehungsprinzipien und Zielgruppen dem Wesen der Literatur fremd sind? Am Ende des vorigen Jahrhunderts schien der Streit für die Verfechter der Literatur entschieden. Die Kinderliteratur war, nein schien, erwachsen geworden zu sein. Imme Dros, Wim Hofman, Joke van Leeuwen, Bart Moeyaert, Anne Provoost, Toon Tellegen, Kinderbuchautoren also, die ihrer Sprache und Fantasie freien Lauf ließen, wurden bejubelt. Dasselbe gilt für Illustratoren wie beispielsweise Kristien Aertssen, Carll Cneut, Gerda Dendooven und Klaas Verplancke, die durch ihren Mut, über die vertrauten Begrenzungslinien hinaus zu zeichnen, die flämische Illustrationskunst groß gemacht haben. Bis zur Jahrhundertwende hielten sich diese – inzwischen etablierten – Sprach- und Bildkünstler vergnügt in einem grenzenlosen Land am Meer auf, in dem der künstlerischen Qualität ihrer Arbeit hohes Ansehen gezollt wurde. Schließlich waren sich alle einig, dass Kinder keine halben Menschen sind. Dass auch Kinder alle Emotionen kennen, die die Erwachsenen haben. Und dass Kinderbücher daher keine halben Bücher und Kinderbuchautoren keine halben Autoren sind. Sie versuchen, ebenso wie Schriftsteller für Erwachsene, auf ihre eigene poetische Weise „den Raum des ganzen Lebens“ abzubilden, um mit Lucebert (1924-1994) zu sprechen. „Als wäre der Himmel an die Welt genäht“ Was ihre Bücher einzigartig macht und von Büchern für Erwachsene unterscheidet, ist, wie es die kreative Alleskönnerin Joke van Leeuwen ausdrückt, dass sie „von unten geschrieben“ sind. Durch einen subversiven (Kinder-)Blick, der – zumindest gilt das für die Geschichten von Van Leeuwen – eine beachtliche Dosis absurder Logik garantiert, zwingen sie den Leser, die Welt kurz einmal durch andere Augen bzw. mit neuen Augen zu betrachten. Sjoerd Kuyper, dessen Werk in den Niederlanden 2012 mit dem alle drei Jahre verliehenen Theo Tijssen Preis ausgezeichnet wurde, und sein jüngerer, viel gelobter Kollege Edward Van de Vendel schließen sich Van Leeuwens Ansicht an. Ein gutes Kinderbuch ist „mit dem Herzen eines Kindes und der Hand eines Erwachsenen geschrieben“, so Kuyper in seinem Annie M.G. Schmidt-Vortrag, den er 2009 gehalten hat. Die Annie M.G. Schmidt-Vorträge gibt es in den Lage Landen seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts; sie bieten anerkannten Kinderbuchautoren ein Podium, sich über die Entwicklungen in ihrem Fachgebiet auszutauschen, solche institutionalisierte Gelegenheiten sind rar. Van de Vendel fasste in seinem Annie M.G. Schmidt-Vortrag von 2006 zusammen: „Der Atem des Kindes muss durch das Buch wehen“. Das Ziel dieser Kinderbuchautoren stimmt mit dem der Autoren, die für Erwachsene schreiben, überein: Sie möchten mit Worten Staunen und Verwirrung hervorrufen. Auf diese Weise kann man sich auch großen Themen wie etwa dem Tod, widmen, solange die Perspektive des Kindes stimmt und geachtet wird. Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 3 Van de Vendel selbst gelingt das sehr gut. Im Poesie-Band Superguppy (2008) – mit spritzigen Illustrationen von Fleur van der Weel, gezeichnet mit Feder und Tinte – stehen Kindergedichte, die ans Herz gehen, gerade durch ihre trügerische Schlichtheit. Das Gedicht Amsel zum Beispiel: „Eine Amsel / hingefaltet / tot im Bahnhof liegt. / Nicht gewusst, dass es das gibt. / Soviel Menschen ohne Ruh, / keiner, keiner deckt sie zu. / Nicht gewusst, dass es das gibt. / Wie kann das alles sein? / Mama, die so rennt und ruft: / Na los, mach schnell, steig ein!“ Aber auch Kuyper weiß, wie man die Gefühlswelt eines kleinen Kindes klug und aus dessen Innensicht beschreibt. Seine bildreiche Sprache passt perfekt in den Beziehungsrahmen von jüngeren Kindern und führt zu flotten Dialogen und Spiegelungen, die in ihrer Schlichtheit vielsagend sind. Schön ist die Szene in dem von Marije Tolman hübsch in träumerischer Farbgebung gestalteten Was für ein Glück wir haben, Schnuff! (2016, noch nicht erschienen). Es ist Kuypers' neuntes und letztes Buch über den entwaffnenden kleinen Robin. Am Rande des Dorfes, in dem Robin wohnt, erfährt ein Kind die Unermesslichkeit der Welt. Kuypers formuliert das so: Dort, wo das Dorf aufhört, „da kommst du in die Wiesen. Die sind so groß – von deinen Zehen bis zum Horizont. Am Horizont stehen Bäume. Sie wirken klein und dünn wie die Garnfäden, mit denen Mama Knöpfe an Robins Hose festmacht. Es ist, als wäre der Himmel dort an die Welt genäht.“ Die große Masse diktiert Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verändert sich die Welt jedoch rasend schnell. Das Leben steht unter dem enormen Druck von web 2.0 und dem Aufkommen der neuen Medien. Die ganze Welt liegt an der digitalen Infusionsnadel: Wir sind permanent online und dadurch inzwischen dermaßen betäubt, dass wir das digitale Geplärre, das täglich auf uns einstürzt, systematisch mit freier Meinungsäußerung verwechseln. Die Folge ist, dass der Geschmack von der großen Masse diktiert wird, und die Literatur kaum noch einen eigenen Status hat. Selbstverständlich haben diese Entwicklungen auch in der Kinderbuchwelt der Lage Landen ihren Niederschlag gefunden. Die alte Garde konstatiert, dass „das goldene Zeitalter der Jugendliteratur für immer vorbei ist“ und spricht von „einer restaurativen Tendenz, die die sicheren Zeiten von früher wiederherstellen will, als es noch einen unwidersprochenen Unterschied zwischen Kinderbüchern und der Literatur für Erwachsene gab“. Ganz unrecht haben die Kritiker nicht. Ein Kinderbuch als Genre der Literatur einzuordnen, gilt gegenwärtig schon fast als kinderunfreundlich. Die „Diktatur der literarischen Norm“ wird von Lehrern, Eltern, Bibliothekarinnen, Rezensenten und sogar von den Autoren selbst, gefürchtet. Die Verleger entscheiden sich immer seltener für literarische (Jugend-)Bücher – aus Angst vor einem Verkaufsflop. Ein Paradebeispiel für eine nach Rezept geschriebene aktuelle Serie, in der sich alles nur um Whatsapps, Chatten und die eigene Nabelschau dreht, ist Wie überlebe ich ... von Francois Oomen. Mit solchen Bestsellern und Serien lässt sich schlichtweg mehr Geld verdienen als mit literarischen Ausnahmeerscheinungen wie zum Beispiel De gans en zijn broer (2014) [Der Gänserich und sein Bruder, nicht übersetzt] von Bart Moeyaert und Gerda Dendooven oder das zehn Jahre zuvor erschienene Buch Die Nordwindhexe (2006) von Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 4 Doppeltalent Daan Remmers de Vries. Der erste Titel ist ein schmaler Band mit netten kleinen Erzählungen und genauso schönen Illustrationen von zwei Gänsen, die Brüder sind und ungewollt auf die Suche nach dem Sinn ihres Lebens gehen. Der andere Titel ist ein beunruhigendes „Umkehrbuch“: zwei todkranke Elfjährige, die im Krankenhaus zusammen in einem Zimmer liegen, erzählen einander ihre Geschichte und erfinden den Mythos der lebensgefährlichen „Nordwindhexe“, gegen die sie sich auf Leben und Tod verteidigen müssen. Gegen den Strom Obwohl der „Raum des ganzen Lebens“ durch Kommerzialisierung und Angst eingeengt wird, gibt es weiterhin Kinderbuchautoren und Illustratoren, die – in der Nachfolge von Paul Biegels berühmtem kleinen Kapitän – „breitbeinig, die Horizontlinie vor Augen“ gegen den Strom in See stechen, unterwegs in Richtung Horizont und am liebsten darüber hinaus, im Kielsog eine neue, grenzenlose Generation von Kinderbuchmachern. Die Perspektive auf das Schreiben haben diese neue grenzenlose Generation und die ältere allerdings gemeinsam. Beide lassen sich gerne Jugendbuchautoren nennen, fühlen sich aber zuallererst als Schriftsteller. Nur weil Jugend davor steht, heißt das nicht, Erwachsene bräuchten ein Buch nicht mehr zu lesen – so argumentieren sie. Junge, geschätzte und renommierte Autoren wie Gideon Samson und Simon van der Geest glauben, dass Literatur für Kinder und Erwachsene aus derselben Quelle schöpft. So hat Samson in mehreren Interviews erklärt, er denke nicht ans Publikum, wenn er schreibt – ein Kinderbuch zu schreiben, ist für ihn eine künstlerische Ausdrucksmöglichkeit. Ebenso wenig hat Kaatje Vermeire, aktuell eines der großen Illustrationstalente aus Flandern, das Publikum im Kopf, wenn sie zeichnet. Sie bekennt, dass ihr Ausgangspunkt nie die Absicht war, für Kinder zu illustrieren. Auf der Suche nach dem Kern des Lebens will sie in Freiheit Grenzen überschreiten können. Kurz gesagt: Kunst machen. Das gilt gleichermaßen für den Dichter und bildenden Künstler Ted van Lieshout. Für ihn soll jedes Buch ein Kunstwerk sein. In diesem Sinne äußerte er sich unumwunden, als er 2012 den Woutertje Pieterse Preis für Driedelig Paard (2009) [Dreiteiliges Pferd, nicht übersetzt] erhielt – ein faszinierendes und einzigartiges Zusammentreffen von Wort, Bild und Form und zugleich ein Höhepunkt seines 2009 mit dem Theo Thijssen Preis ausgezeichneten Werks. Wunderschöner Grenzverkehr Kinderbücher, die Kunstwerke sind, haben in den letzten Jahren auffallend und beständig an Boden gewonnen. So ernteten die Flamen Peter Verhelst und Carll Cneut viel Lob für ihren prächtigen Bildband Das Geheimnis der Nachtigall (2009). Das Buch ist eine in jeder Hinsicht bezaubernde Nacherzählung von Hans Christian Andersens Märchen Die Nachtigall (1843). Der für Erwachsene schreibende Verhelst und Meister-Zeichner Cneut ergänzen einander perfekt in Bewegung und Rhythmus, gleichsam tanzend erfinden sie eine neue Geschichte mit unvergleichlichen Aussichten. Aber auch Bette Westera – die neue Annie M.G. Schmidt der Lage Landen – und die von Experimentierlust getriebene Sylvia Weve (von Haus aus Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 5 Grafikdesignerin) inspirieren einander in den letzten Jahren auf einem hohen künstlerischen Niveau. Sowohl im Poesieband Aan de kant, ik ben je oma niet! (2012) [Zur Seite, ich bin nicht deine Oma!, nicht übersetzt] – den man ein „papierenes Pflegeheim“ nennen könnte, in dem deutlich wird, dass alt auch einmal jung gewesen ist – als auch in dem viele Tabus brechenden, gelobten Versband Dood-Gewoon (2014) [Ganz gewöhnlich, nicht übersetzt] zeigen sie, wie aus handwerklichem Können und Vorstellungskraft äußerst originelle und fantasievolle Bücher entstehen. Bücher, in denen Ethik und Ästhetik, Betroffenheit und Humor sowie gewagte Gesellschaftskritik auf spielerische Weise zusammenkommen. Jüngst erschienen ist ein wunderschönes Buch, das im Sachbuchbereich einen Höhepunkt darstellt. Evolution oder das Rätsel von allem, was lebt, eine überraschend bildreiche und zugleich klare Wiedergabe der Geschichte der Evolution von Jan-Paul Schutten und dem neuen niederländischen Illustrationstalent Floor Riedel. Übrigens kann man mit Freude feststellen, dass innerhalb der Jugendliteratur dieses Sub-Genre als literarische Kunstform auffallend viel Anerkennung findet und es in vielen Büchern erfolgreich gelingt, durch ein subtiles Spiel zwischen Fakten, Bild und Fantasie für Kinder das Unsichtbare sichtbar zu machen. Ganz sicher verdienen die Verleger dieser schönen Bücher ein Kompliment. Denn wer geht in dieser für die Branche zweifellos schwierigen Zeit ein Risiko ein? Wer wagt es noch, Kinderpoesie auf den Markt zu bringen? Oder Bücher mit Leinenrücken, Lesebändchen und Goldschnitt? Das sind nur wenige. Leider. Denn gerade die mutigen und risikofreudigen Verleger haben in den letzten Jahren bewiesen, dass es durchaus einen Markt für die weniger eingängigen Bücher gibt, und dass Kreativität, Eigensinn und Qualität sich auch in unserer digitalisierten Zeit verkaufen. Ohne einen Verleger wie De Eenhoorn wäre die flämische Kunst der Illustration nie zu dem Besten, was es momentan auf diesem Sektor gibt, herangewachsen. In ihrem Buch Buiten de lijntjes gekleurd (2006) [Jenseits des Schemas, nicht übersetzt] stellt die Jugendliteratur-Kennerin Marita Vermeulen etwa 22 Talente vor, die sich auf der bemerkenswerten Grenze von Illustration und autonomer Kunst bewegen und dabei Bezug nehmen auf die großen Meister der Kunstgeschichte. Die naive Richtung wird u.a. vertreten von Kristien Aertssen, Guido Van Genechten und Ingrid Godon, die sich in ihrem Porträtbuch Ich denke (2015) mit Texten von Toon Tellegen unerwartet als klare autonome Künstlerin positioniert. Der Stil von Klaas Verplancke scheint durch die flämischen Primitiven und von Hieronymus Bosch inspiriert zu sein. Und die herrlichen Bilderbücher rund um den kleinen Otto von Tom Schamp enthalten einige augenzwinkernde Bezüge zum Surrealismus. Das unschuldige Kind ist tot Die Grenzenlosigkeit ist den neuen Kinderbuchmachern des 21. Jahrhunderts gemeinsam. Im Wissen darum, dass alles, jeder und jede gegenwärtig kontinuierlich miteinander verbunden sind, betrachten sie die Welt als ihren Spielplatz. Und warum auch nicht? Warum sollte man Mauern bauen? Das ist sinnlos. Davon wird die Welt nicht sicherer. Kinder rasen noch schneller über die elektronische Autobahn als Erwachsene. Dazu brauchen sie nicht einmal einen Führerschein. Sie fahren, wo sie wollen. Sie halten an, wo sie wollen. Und sie teilen, was sie Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 6 teilen möchten, mit Freund und Feind. Das unschuldige Kind gibt es nicht mehr. Dieser Mythos ist definitiv überholt. Die Erwachsenenwelt ist unwiderruflich in die Kinderwelt und damit ins Kinderbuch vorgedrungen. So schreibt Marjolijn Hof meisterhafte Geschichten über Kinder, die mit komplizierten Fragen von Erwachsenen konfrontiert werden, auf die sie kaum Einfluss haben. Was kann man schon tun, wenn man zehn Jahre alt ist und große Angst um seinen Vater hat, der als Militärarzt in ein gefährliches Kriegsgebiet geschickt wird? Warten, bis er unversehrt zurückkehrt? Oder selbst dem Schicksal ein bisschen nachhelfen, vielleicht sogar wider besseres Wissen? Das widerfährt dem Mädchen Kiek in Hofs viel gelobtem Debüt Tote Maus für Papas Leben (2008). Kriegsgewalt, häusliches Leid, Inzest, Mobbing mit Todesfolge, der geplante Selbstmord eines Pubertierenden, Homophilie: kein Thema, über das gegenwärtig nicht in Kinder- bzw. Jugendbüchern geschrieben wird. Schonungslos geben sich die Autoren, aber sie sind stilistisch stark und haben einen großartigen Blick in die kindliche Psyche. Die kompromissloseste Schriftstellerin ist Floortje Zwigtman, die zuerst mit dem vielseitigen und umfassenden, großartigen Wolfsrudel (2006) und dann mit ihrer Groene-Bloem-Trilogie (2005-2010) [Grüne-Blume-Trilogie] Furore machte. Drei dicke Bücher über den siebzehnjährigen homosexuellen Adrian Mayfield, der im viktorianische London von Oscar Wilde, dem berühmtesten Homosexuellen der Literaturgeschichte, zu überleben versucht und einen existentiellen Kampf am Rande des Abgrunds führt. Gewalt und Blutgier in Wolfsrudel, Erpressung, ostentative Homosexualität und Prostitution in ihrer Trilogie: Zwigtman nimmt keine Rücksichten. Die unangenehmen Seiten des Lebens brauchen ihrer Meinung nach nicht geschönt zu werden, nur weil es sich um ein Kinder- oder Jugendbuch handelt. In vielen Interviews betont sie, wie allergisch sie auf Menschen reagiert, die noch immer glauben, dass Kinder und Jugendliche in einer „heilen Welt“ leben und dass am Ende alles gut wird, mit einer weisen Lektion. Himmel oder Hölle oder beides Dieselbe grenzenlose Entwicklung ist in den Jugendromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg festzustellen, die nach wie vor oft und nahezu unaufhörlich erscheinen. Diese Romane befassen sich nicht so sehr mit dem historischen Plot, sondern setzen sich besonders mit dem inneren Wachstum der jugendlichen Hauptpersonen auseinander, die mit den unmöglichen Dilemmas von Leben und Tod, Verrat und Treue konfrontiert sind. Ein richtig starkes Beispiel ist Als gäbe es einen Himmel (2011). In dieser umfassenden, gekonnt erzählten Geschichte entfaltet Els Beerten – vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs – die Lebensgeschichten von vier flämischen Jungen, die auf dem Grat zwischen Gut und Böse balancieren und zu der schmerzlichen Erkenntnis kommen, dass der Himmel, den jeder auf Erden doch will, sehr hässlich zu sein scheint. Es gibt noch mehr dieser psychologisch starken Kriegserzählungen über menschliches Versagen und Leid. Beeindruckend ist auch Zuletzt die Hunde (2012), das im Ersten Weltkrieg verortet ist. Durch die Augen eines jungen Mannes mit Epilepsie schildert Marita de Sterck das flämische platte Land, Essay-Reihe, Teil 5: Kinder- und Jugendliteratur aus Flandern und den Niederlanden, Seite 7 wo bittere Armut, quälender Hunger und widerlicher Verrat Menschen in wilde Tiere verwandeln. Weniger feindselig, aber ebenso schmerzlich, liest sich Bajaar (2011) [Bajaar = Name eines Pferdes, nicht übersetzt] von Martha Heesen, eine fesselnde, von zwei Kriegen gezeichnete Familiengeschichte aus Brabant über Warten und Hoffen wider besseres Wissen, über einmal, das sich verändert in niemals. Und wer meint, eigentlich sei jede Geschichte über den Zweiten Weltkrieg bereits erzählt und jeder Kriegsroman inzwischen geschrieben, der kennt Unsere goldene Zukunft (2012) von Benny Lindelauf noch nicht. Ein dicht komponierter Roman über sich-entscheiden, nicht-entscheiden und dann doch verlieren, reich an Erzählsträngen, Charakteren und eindrücklichen Bildern, reich an spritzigen Dialogen, Humor und Tragik: Der Krieg forderte in Sittard (Limburg) prozentual die meisten jüdischen Opfer der Niederlande. „Eines Tages musste ich in den Himmel“, so lautet hoffnungsvoll Lindelaufs erster Satz. Letztlich überlebte nur ein Prozent die Hölle. Vielleicht ist Unsere goldene Zukunft der komplexeste Jugendroman der vergangenen zehn Jahre, der zeigt, dass die Jugendliteratur doch noch erwachsen geworden ist. Quicklebendig Wie der Lage-Landen-Streit um die Jugendliteratur auch weitergehen wird und wie düster manche Kritiker der alten Garde sich auch über die künstlerische Zukunft des Kinderbuchs in den Lage Landen äußern mögen, ganz offensichtlich erscheinen in jeder Dekade genügend buchstäblich und auch im übertragenen Sinne prächtige, authentische Bücher in hoher Qualität, die den Beweis dafür liefern, dass das Genre quicklebendig ist. Dass Freigeister stärker sind als Grenzzieher. Dass sich Kreativität nicht einschränken lässt, niemals. Dass „der Raum des ganzen Lebens“ unermesslich und unvorhersehbar ist. Für jedermann. Wir alle, Kinder und Erwachsene, brauchen grenzenlose Fantasie und die Geschichten, die daraus entstehen, auch im 21. Jahrhundert, um den Wechselfällen des Lebens zu trotzen und unser Leben leben zu können, frei und unerschrocken, unseren Blick auf den Horizont gerichtet. Aus dem Niederländischen übersetzt von Carina Becker Mirjam Noorduijn Beiratsmitglied der Niederländischen Stiftung für Literatur, (Jugend-)Literaturkritikerin für De Groene und NRC Handelsblad, Jurymitglied des Dioraphte Jugendliteraturpreises.