Erinnerungen von Wolfgang Bohnes - Panzer

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Erinnerungen von Wolfgang Bohnes - Panzer
Erinnerungen von Wolfgang Bohnes, Jg. 1928
Der Krieg kommt näher – mein Weg zum Militär
Die alliierte Invasion an der Westfront hatte die Kriegslage verändert und
amerikanische und französische Truppen marschieren in Paris ein, – da wurde ich, einige Tage vor meinem 16. Geburtstag, am 16.9.44 mit einer HJGruppe zum Stellungsbau an die Nordseeküste abkommandiert.
Über Nacht mußten wir unsere Sachen packen und uns am nächsten Vormittag zur Verabschiedung auf dem Marktplatz in Eutin einfinden. Nach einigen markigen Sprüchen über Heimatverteidigung und Endsieg wurden wir
mit Tornister, Hacken und Spaten auf Lkws verfrachtet und über Plön, Kiel,
Rendsburg, Schleswig, Flensburg nach Enge im Kreis Südtondern (Bannbefehlsstelle Haubold) in die Unterkunft III gefahren.
Wir sind bei einem kleineren Bauern am Ende der Dorfstraße, rechter
Hand, einquartiert und liegen in einem Kuhstall auf Stroh. Wie die Rinder
pennen wir vor der stinkenden Jaucherinne, aber da wir von der täglichen
Schufterei sehr müde sind, löst sich auch das Problem.
Auf der westlichen Seite der Landstraße von Husum nach Niebüll, bei der
Ortschaft Sande, bauen wir den Friesenwall. An die sechshundert Mann heben mit Spaten und Hacke – quer durch Felder und Wiesen – einen Panzergraben von mehr als zwei Metern Tiefe und einer Sohlenbreite von einem
halben Meter aus. Er zieht sich kilometerlang durch die ebene Landschaft,
überall wird gehackt und geschaufelt und wir müssen eine bestimmte Meterzahl täglich ausheben, was zu unterschiedlichem Druck auf die einzelnen
Gruppen führt. Die Oberschüler waren für die schwere Arbeit nur bedingt
tauglich und der Leistungsdruck führte zu Sticheleien, wodurch ich mir beinahe eine Tracht Prügel eingefangen hätte.
Nachdem wir beim Arbeiten an den Stellungs-Gräben von englischen Jagdflugzeugen beschossen wurden, bekamen wir einige schwere Maschinengewehre, die einfach auf einem Holzpfahl, der im Boden eingegraben war, montiert wurden. Für diese MG wurde eine Gruppe Freiwilliger gesucht, die dann
von einem Soldaten an der Waffe eingewiesen wurde. Es kam aber, Gott sei
Dank, nicht mehr zum Einsatz.
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Ich werde als landwirtschaftlicher Experte zum Abernten der von uns abgesteckten Felder eingesetzt und beaufsichtige die Arbeit der Helfer. Es sind
noch große Felder mit Runkelrüben, Karotten und Zuckerrüben im Boden
und alles muß mit Handarbeit geerntet werden. Bei Regen und Wind stehen
wir auf den nassen und matschigen Feldern und beladen die Wagen der Bauern. An meinem Geburtstag, im Oktober 1944, bin ich dort in einen tiefen
Wassergraben gerutscht, ich war tropfnaß und ging in den Stall, um meine
Sachen zu trocknen. In dem dunklen Stall gab es weder einen Ofen noch sonst
ein warmes Plätzchen.
Die Tiere waren noch auf den Weiden und es wurde allmählich Zeit, daß
wir ihnen die Ställe freimachten. Waschen und Pflegen konnten wir uns am
Brunnen hinterm Haus, und manchem war es auch dort zu kalt und es gab
halt eine Katzenwäsche.
In der Unterkunft gab es einen Stubenältesten, der täglich eingeteilt wurde
und für die organisatorischen Dinge verantwortlich war. Ein Kaffeeholer wird
zur Gulaschkanone in das Dorf geschickt und bringt eine Kanne Muckefuck,
damit wir etwas Warmes zu trinken haben. Gegen Abend wurde in der
Dorfmitte in der „Bannbefehlsstelle“ unsere Tagesverpflegung verteilt. Für
die medizinische Versorgung war eine Krankenschwester stationiert.
Da die Verpflegung recht dürftig und mager war, haben ein Kumpel und
ich eine Betteltour unternommen und bei einem Müller nach Brot oder sonst
was Eßbarem gefragt, aber da war nichts zu erben. Beim Weggehen, sahen
wir etwas Helles oben über der Haustür, dort lag auf einem Fensterbrett ein
weißes, eingewickeltes Päckchen. Wir haben später, im Dunkeln das Päckchen mit einer Stange heruntergestoßen und hatten so für einige Tage einen
würzigen Schafskäse als Zusatzverpflegung.
Sieger im Reitturnier!
Eine Woche später haben die Bauern von Enge an einem Samstag (14.4.44)
ein Erntedankfest veranstaltet und uns zu Wettspielen eingeladen. Die Bauern
brachten ihre schlanken, hochgewachsenen Holsteiner Pferde zu einem Ringreiten auf den Sportplatz. Etwa zehn bis zwölf Pferde waren in Reihen nebeneinander aufgestellt, nur mit Zaumzeug, ohne Sattel oder Decke, und wir
konnten uns ein Pferd zum Ritt um den Parcours auswählen. Ich ging zu einem langbeinigen, temperamentvollen, dunkelbraunen Pferd und redete mit
dem Bauern, der das Pferd gebracht hatte. Er meinte, sein Pferd sei gutmütig
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und gut zu führen. Ich habe mich schnell mit dem Pferd angefreundet und
eine Proberunde geritten und war sehr zufrieden, denn ich kam ohne Sattel
besser zurecht, da ich es ja nicht anders kannte.
Der größte Teil der jungen Reiter war im Reit- und Fahrverein von Eutin
und daher gewohnt, im Sattel, und nicht auf dem glatten Fell der Pferde, zu
reiten. Am Start haben sich die ersten mit ihren Pferden der Reihe nach aufgestellt. Der Parcours führte innen im Kreis um den Sportplatz herum, entlang
einem Stangenhag, hinter dem die Zuschauer standen. Auf halbem Weg waren rechts und links je eine etwa zweieinhalb Meter hohe Stange mit einer
Querlatte darüber aufgestellt und in der Mitte der Latte war ein Metallring
von ca. sechs Zentimetern Durchmesser lose eingehängt. Diesen Ring muß
der Reiter mit einer kurzen Lanze im Galopp treffen und aufspießen. Wer
nach dreimaligem Ritt die meisten Ringe hat, wird Sieger.
Die ersten Reiter stiegen auf ihre Pferde, das eine oder andere tänzelt noch
nervös am Start, dann wird der Start freigegeben und Pferd und Reiter streben im Galopp zu der Querlatte, um den Ring mit der Lanze aufzuspießen.
Dem einen oder anderen gelingt es auch, das begehrte Objekt zu treffen, bei
anderen scheuen die Pferde, steigen hoch und werfen den Reiter ab. Es war
ein spannender Kampf gegen die Tücke des Objekts, und nicht allen gelang
es, die begehrte Trophäe zu treffen.
Dann sind wir an der Reihe, und ich galoppiere leicht und zügig den Parcours entlang auf die Stangen zu. Mitten unter der Querlatte, dort wo der
Ring hängt, durchbohrt meine Lanze den Ring, der nur knapp über meinen
Kopf vor mir zu sehen ist. Unmittelbar danach wiederholt sich alles wie beim
ersten Ritt und auch jetzt steckte der Ring auf meiner Lanze. Es begann ein
lautes Hallo, Hüte wurden geschwungen und einer reichte mir seine Kappe,
die ich bei meinem nächsten Ritt als Talisman aufsetzen solle. Auch beim letzten Ritt traf ich den Ring, doch leider sprang er von der Lanzenspitze und
rollte ins Gras.
Keiner der Reiter hatte jedoch ein besseres Resultat erreicht und so wurde
ich zum Sieger erklärt. Es war ein herrliches Gefühl, von den Jungens und
Mädels als Sieger gefeiert zu werden. Hände wurden geschüttelt und auf die
Schultern geklopft, ein Mädchen gab mir ein Stück Rodonkuchen und alle
waren begeistert von der Leistung, die Pferd und Reiter vollbracht hatten. Als
ich dem Bauern das Pferd zurückgab, war er sehr stolz auf sein schönes Holsteiner Warmblutpferd und freute sich mit mir über den gelungenen Ritt.
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Der „Friesenwall“ war nun soweit beendet. Wir machten unser Gepäck fertig, und so wie wir kamen, sind wir nach dem Erntedankfest aus dem Dorf
abgefahren und haben den Rindern und Schafen die Ställe freigemacht. In
Eutin wurden wir noch kurz verabschiedet und alle eilten nach Hause. Als ich
beim Schleuter ankam, lag für die kommende Woche mein Einberufungsbefehl zum Wehrertüchtigungslager (WE-Lager) auf dem Tisch. Ich konnte gerade noch meine restlichen Sachen zusammenpacken und mit dem Zug nach
Duisburg zurück fahren. Mein Vater wurde Ende September zur Luftwaffe
eingezogen, die technischen Büros der Firma DEMAG wurden in Kevelaer
zugemacht und meine Mutter war wieder in Duisburg in unserer Wohnung.
Im Wehrertüchtigungslager
Nach kurzem Aufenthalt fuhr ich am 25. 10. wieder zurück und kam nach
36stündiger Fahrt nach Gudendorf über Meldorf in das WE-Lager II/6. Wir
sind mit fast 500 Hitler-Jungen in diesem großen Barackenlager untergebracht. Das Lager wird von der Waffen-SS geleitet und es herrscht eine strenge Disziplin. Wir werden in graue Uniformen gesteckt und auf die einzelnen
Baracken und Stuben verteilt. Ich bin in Stube 13, die mit fünfzehn Mann belegt ist. Mit dreißig Mann sind wir in der Motor-HJ und werden neben der
vormilitärischen Grundausbildung am Motorrad geschult. Unser Ausbilder in
der Fahrschule, Obergefreiter Rothermund, der uns die Funktion eines Vergasers erklärte, schimpfte bei unseren ersten Fahrversuchen mit einer 125er
DKW mit Fußgangschaltung, wenn wir zum Anhalten nur die Bremsen und
nicht auch die Kupplung betätigten und dann die Maschine abwürgten. Aber
nach einer Weile durften wir auf die Straße nach St. Michaelisdonn fahren. Es
war ein regnerischer November, die Straßen waren glatt und rutschig, aber
sonst war kaum jemand auf der Straße zu sehen und wir kamen alle heil zurück. Leichte Geländefahrten bildeten den Abschluß der Ausbildung, und mit
dem Motorsportabzeichen und dem Führerschein Klasse Vier erhielt ich noch
den Kriegskraftfahrschein.
Während der Grundausbildung im Geländedienst mußte man nach Landkarten und Kompaß marschieren, die Karten einnorden, Marschzahl und
Richtungen festlegen und Nachtmarsch und nächtlichen Spähtrupp gehen.
Exerzieren und Strammstehen, Liegestütz und Häschen Hüpf gehörten ebenso zu unseren Übungen wie den Bahndamm rauf und runter robben, wobei
die drei letzten alles noch einmal wiederholen müssen. Als Mutprobe wird
ein Sprung in eine tiefe nicht einsehbare Sandgrube gefordert. Wer ängstlich,
zu kurz oder zaghaft springt, landet in einem Haufen Weißdorngestrüpp. Die
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Tage und Nächte waren mit allerlei Schikanen angefüllt, Gepäckmärsche von
vielen Kilometern und Dauerlaufübungen bis zum Umfallen. Es war auch
schon recht kalt geworden, der Boden war gefroren und wir hatten alle die
Schnauze voll. Am 25. 11. 44 wurde ich aus dem WE-Lager entlassen und
mußte mich gleich im RAD-Lager einfinden, denn ich hatte meinen Stellungsbefehl im WE-Lager erhalten.
Turbolenzen im RAD!
Ich kam als Arbeitsmann in die RAD-Abteilung 6/77 zum „Reichsarbeitsdienst“ nach Leck in Schleswig. Wir waren einem nahegelegenen Fliegerhorst
unterstellt und der Tagessold von 25 Pfennig wurde um eine Reichsmark aufgebessert, weil wir dort im Kriegseinsatz waren. Unsere Abteilung lag am
Stadtrand von Leck, an der Bahnlinie Flensburg-Niebüll. Das RAD-Lager bestand aus verschiedenen Baracken. Am Eingang lag die Wachbaracke mit einer Arrestzelle, links die Baracke mit der Kleiderkammer und darin einige
Stuben für die Arbeitsmänner, die in der Kleiderkammer, der Küche oder in
der Ordonnanz arbeiteten. Rechts neben dem Eingang lag eine Munitionsund Waffenkammer mit einem betonierten Luftschutz- und Gasübungskeller.
Daran anschließend, vor dem Exerzierplatz, lagen drei Mannschaftsbaracken
mit je drei Stuben für je sechzehn Mann, anschließend kam die Küchenbarakke mit einem Speisesaal für alle Mannschaften, als Abschluß der freien Fläche
lag am Ende vom Platz eine Abortbaracke mit Donnerbalken. Hinter der Küchenbaracke lagen die Waschbaracke und die kleineren Baracken der Offiziere und Ausbilder. Oberstfeldmeister Fergen war der Leiter unserer RADAbteilung, dann folgten die Dienstgrade Oberfeldmeister, Feldmeister, Unterfeldmeister, Truppführer, Vormänner und als letztes Glied die Arbeitsmänner.
Die Holzbaracken waren aus Fertigmontageteilen zusammengebaut und
standen auf Holzpfählen, die im Boden versenkt waren. Der Wind blies durch
die Spalten und Fugen des Holzbodens, die auch unser Wasch- und Putzwasser nach unten durchließen. Der Eingang war mit einem Windfang gegen die
kalten Außentemperaturen gesichert, in der Raummitte stand ein hoher Kanonenofen, der nur abends kurz angeheizt wurde, denn das Brennmaterial
war knapp. Auf beiden Seiten stehen Etagenbetten, dazwischen jeweils ein
Doppelspind für unsere Wäsche. Uniform und Waffen, Stahlhelm und Gasmaske liegen oben drauf, am Fußende der Betten steht ein Schemel. Neben
dem Windfang war ein Schrank angebaut für unser Kaffeegeschirr und die
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Kannen, Eimer und Besen. Am Fenster steht ein Tisch mit einer Schüssel voll
Wasser drauf, damit im Brandfall etwas zum Löschen da ist.
Nachdem wir von der Kleiderkammer unsere Wäsche, Schuhe, Stiefel, Drillich und die zweite Garnitur mit Mantel und Wolldecken, Zeltplane und Bettzeug übernommen hatten, mußten wir alles sauber in den Spind einräumen.
Die Strohsäcke auf den Betten mußten mit Stroh neu gefüllt und gestopft und
mit der blaukarierten Bettwäsche überzogen und exakt und faltenfrei „gebaut“ werden. Nachdem das alles getan war, ging es zum Abendessen, und
alle hofften auf eine ruhige Nacht.
Unsere Verpflegung war im Vergleich zum WE-Lager doppelt so gut. Neben der Wehrmachtsverpflegung es gab zusätzliche eine prima Jugendsonderverpflegung mit Kunsthonig und Margarine oder Wurst. Die Mittags- und
Abendmahlzeiten wurden an langen Tischen in der Küchenbaracke eingenommen.
Morgens nach dem Wecken kam das Kommando „Kaffeeholer raustreten“,
dann ging einer mit einer Alu-Kanne zur Küchenbaracke und brachte heißen
Kaffee, den wir dann mit unserer Tagesration Brot in der Stube aßen. Nach
einem Trillerpfeifen-Signal geht pro Stube ein Arbeitsmann vor die Türe, und
nach dem Kommando „Abzählen“ brüllt man in numerisch aufsteigender
Reihenfolge seine Stubennummer. Nach Kommando werden dann die Befehle an die Arbeitsmänner in den Stuben weitergeleitet, zum Beispiel „Kaffeeholer raustreten“ oder „Raustreten zum Waschen“ oder „Raustreten zur Flaggenparade“. So wurde der tägliche Dienst mit Trillerpfeife und lauten Kommandos in den Stuben und auf dem Exerzierplatz durchgeführt.
Die ersten sechs Wochen der Grundausbildung waren recht hart, wir wurden geschliffen und gedrillt. Einen Monat später wurden wir am 24.12. – an
Heiligabend – vereidigt. Es war ein recht kalter Tag und wir standen über
eine Stunde in Reih und Glied auf dem Appellplatz zur Vereidigung. Plötzlich fiel da und dort einer stocksteif nach vorne um und wurde von den Sanitätern weggetragen. Innerhalb einer dreiviertel Stunde sind sechs Mann ohnmächtig geworden. Das war direkt unheimlich: in der feierlichen Stille fällt
jemand aus der Reihe um, niemand rührt sich und keiner kann eine helfende
Hand reichen. Aber es ging ja um „Führer, Volk und Vaterland“ und nicht
um einen Menschen.
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Auf freier Wildbahn
Eine Treibjagd ist angesagt. Die Offiziere und Feldwebel aus dem nahen
Fliegerhorst und die Feldmeister und Truppführer der RAD-Abteilung 6/77
und 6/76 aus Leck sind von einem Jagdpächter zu einer winterlichen Treibjagd auf Fuchs und Has’ eingeladen worden. Unser Trupp wird als „Treiber“
eingeteilt. Wir haben uns vorsorglich dick angezogen, eine Garnitur lange
Unterwäsche, einen Drillich-Anzug, darüber unsere Uniform mit Hose und
Jacke, den langen Wintermantel, ein paar gestrickte Woll- und Fausthandschuhe, und über die Schultern eine Dreieck-Zeltplane. Wir werden am Waldrand in langen Reihen postiert und mit dicken, langen Holzknüppeln bewaffnet. Auf ein Signal hin laufen wir auf der ganzen Breite durch den Jungwald,
klopfen gegen die Bäume und lärmen und machen gehörigen Krach, damit
das Wild aufgeschreckt vor uns herflüchtet. An den Waldschneisen und freien Flächen stehen die Jäger und Jagdfreunde mit ihren Schrotflinten und warten auf das flüchtende Wild.
Als ich an den Rand der Schonung komme, wo die letzten Bäumchen den
Blick auf die Lichtung versperren, sehe ich im Unterholz, einen Schritt vor
mir, einen Fuchs sitzen, der mich mit geöffnetem Maul anfaucht und zum
Sprung ansetzt. Instinktiv schlage ich mit dem Stock in seine Richtung, und
wie er in die nahe Lichtung rausspringt, stolpere ich hinterher. Im selben Augenblick krachen von rechts zwei Schüsse aus einer Schrotflinte, der Fuchs
überschlägt sich getroffen im Schnee und die restlichen Schrotkugeln bleiben
in meiner Zeltplane, Mantel und dicken Bekleidung stecken.
Kinderkrankheiten
Unser Lager wird von einer Diphtherie- und Scharlachepidemie befallen
und es wurden schon zwei Gruppen gesperrt. Ein Arbeitsmann ist bereits gestorben und wir haben zu seinen Ehren am Grab „Salut geschossen“. Nun
müssen wir jeden morgen unsere Kaffeetasse zum Waschen mitbringen, Gurgelwasser mit Kaliumpermanganat wird verteilt.
Ein Trupp Arbeitsmänner hat uns noch vor unserer Vereidigung verlassen
und wurde zum Militär eingezogen. Ein neuer Trupp kam dann in unsere
Abteilung und wir waren nun die „Alten“ und alles wurde etwas leichter. Es
waren neue Opfer und wir empfanden den Dienst nicht mehr so schwer. Allerdings mußten wir nun am Wachdienst teilnehmen und das Schießen mit
scharfer Munition üben.
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Arbeitskommando
Auf einem nahegelegenen großen Bauernhof werden wir mit einer Gruppe
Arbeitsmaiden zum Korndreschen abkommandiert. Eine große Dreschmaschine wird von einem Lanz-Bulldog angetrieben und wir schleppen die
schweren Roggengarben aus der Scheune und stapeln das gedroschene Stroh
auf hausgroße Stapel. Ein gutes Essen und Trinken entschädigt unsere Anstrengungen. Mit einigen Kameraden wurde ich in das RAD-Lager der Maiden zur Fahrradinstandsetzung abgeordnet. Dort werden wir sehr freundlich
und lustig empfangen und zum Kaffee eingeladen. Nachdem wir die Fahrräder inspiziert und zum Teil repariert hatten, wurden uns dafür mit viel Gelächter die Hosen gebügelt. Einen besonderen Beweis meiner Vielseitigkeit
ermöglichte mir Feldmeister Nissen, als er mich eines Tages in die Privatwohnung zu seiner Frau schickte, um im Holzhof einen Berg Holz zu spalten.
Auch dort wurde ich mit einem Stück Kuchen und Kaffee belohnt.
Feste feiern oder feste arbeiten
Wir haben heute unseren ersten Ausgang und sind gespannt auf die kleine
Stadt und das Kino. Stolz wie Oskar zeigen wir uns mit der erdbraunen Uniform und dem wadenlangen Mantel. Nach einem reichhaltigen Essen mit
Schweinebraten, Rotkohl, Salzkartoffeln, Soße und einer Flasche Bier haben
wir an Heilig Abend die Weihnachtsbescherung bekommen: einen Teller voll
Plätzchen, 23 Zigaretten, ein halbes Päckchen Tabak, fünf Tütchen Bonbon,
einen Kamm und Zahnpasta. Es war noch ein lustiger Abend mit Gesang und
guter Laune.
Der erste Weihnachtstag brachte eine noch größere Überraschung. Nach
der Grundausbildung werde ich als Ordonnanz in der Schreibstube eingesetzt
und bin nun mit drei Kameraden, einem von der Küche und zwei von der
Kleiderkammer, in einer extra Stube in der Kleiderkammerbaracke untergebracht.
Der Küchenjunge wird in aller Frühe von der Wache geweckt, damit er in
der Küchenbaracke die Kaffeekessel anheizen kann. Am Morgen des ersten
Weihnachtsfeiertages kommt er nach kurzer Zeit wieder zurück, weckt uns
drei und führt uns in die Küche und die Speisekammer – doch was wir da
sehen, ist unfaßbar. Der für heute gekochte Pudding, der in Suppenterrinen
gefüllt auf dem Boden der Speisekammer zum Erkalten aufgestellt war, war
mit Kot und Urin beschmutzt, die Terrinen umgeworfen und ihr Inhalt an
Boden und Wänden verschmiert. Das gab noch einen riesigen Wirbel und es
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hieß, die Truppführer und Feldmeister hätten nach was Trinkbarem gesucht
und in ihrem Rausch die Terrinen als Nachttöpfe benutzt.
Bombenurlaub
Kurz nach Neujahr erhielt ich am 4.1.45 eine vorgedruckte Postkarte aus
Duisburg mit einer amtlichen Mitteilung über einen Bombenschaden an unserer Wohnung. Daraufhin bekam ich einen so genannten Bombenurlaub, um
daheim nach dem rechten zu sehen. Gleichzeitig wurde ich als Kurier eingesetzt und habe von unserer Abteilung Wehrstammrollen nach Krefeld ins
Wehrbezirkskommando gebracht.
Für die Reise habe ich von der Kammer eine Ausgehuniform erhalten und
einen „Arsch mit Griff“ – das ist ein steifer Hut mit einem Schild an der Stirnseite wie bei einer Mütze. Der Truppführer macht noch persönlich eine Kleidungskontrolle und setzt den „A... mit Griff“ gerade, den ich schon etwas
schräg und salopp auf meinen Kopf gestülpt habe. So machte ich mich mit
dem Zug auf die Reise nach Duisburg. Nach mehreren Fahrtunterbrechungen
und siebzehn Stunden Fahrt bleiben wir endgültig kurz vor Duisburg am Ende einer Brücke auf den Gleisen stehen.
Der Duisburger Hauptbahnhof liegt im Bombenhagel und kann nicht angefahren werden. Kurz vor Mitternacht steige ich dann in Mühlheim-Speldorf
aus und laufe die sieben Kilometer über die Duisburger- und Mühlheimerstraße zum Marientor. Nach dem Zoo am Kaiserberg lief ich nur noch durch
brennende Häuserblocks, die Flammen lodern aus den leeren Fensterhöhlen
und am rotglühenden Nachthimmel sprühen die Funken wie wilde Ungeheuer und scheinen alles zu verschlingen, was sich in den Weg stellen will.
Die fast menschenleeren Straßen leuchten im Schein der Flammen, die Straßenbahnschienen ziehen eine silberfarbene Spur in der Straßenmitte und von
beiden Seiten der einstürzenden Häuser fliegen Balken und Dachteile herunter und hindern mich am Weiterlaufen. Die Luft um mich herum glüht und
ich kann nur noch in der Straßenmitte laufen. Mein Mantel ist trotz der eiskalten Januarnacht geöffnet, nur das Gesicht habe ich in dem weiten, großen
Mantelkragen als Schutz vor der Hitze verborgen. So renne ich mehr als ich
laufe zur Juliusstraße, in der Hoffnung, meine Mutter noch lebend anzutreffen.
Kurz nachdem ich in die Juliusstraße einbog, empfing mich ein penetranter
Geruch wie in der Speisekammer beim RAD. Dann bemerkte ich auch den
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Dreck unter meinen Schuhen, der auf der Straße verspritzt lag. Ein Bombeneinschlag ein paar Meter neben unserem Hausgiebel landete in einer Abortgrube und hat den Unrat großflächig verteilt. Als ich dann in die offene Haustüre hineingehe und in unsere Wohnung komme, liegt Mutti mit ihren Kleidern auf dem Bett und weint. Sie ist ringsum von Scherben und umgestürzten
Möbeln umgeben, die Fenster waren ohne Scheiben und der rötliche Nachthimmel warf ein bizarres, gespenstiges Licht auf die trostlosen Trümmer.
Da war guter Rat teuer und groß helfen konnte ich in der Nacht auch nicht
mehr. Aber für meine Mutter war es eine große Freude und Trost, daß einer
da war, der ihr zur Seite stand. Es war eiskalt in der Wohnung, der Rauch
und Gestank der brennenden Häuser kroch mit einzelnen Schneeflocken
durchmischt durch die Zimmer.
In der Wohnung stand es nicht zum Besten, aber als der Dreck und die
Scherben am nächsten Tag ausgeräumt und die Möbel wieder an ihrem Platz
standen, sahen es schon nicht mehr so fürchterlich aus. Was ich mit den Fenstern und Roll-Läden, die in Fetzen herunter hingen, machen sollte, wußte ich
noch nicht. Nach einigen Tagen war alles notdürftig mit Sperrholz und Pappe
zugenagelt, so daß die Kälte – aber auch das Licht – draußen blieben.
Besuch bei meinem Bruder in Köln.
Ich fuhr nach Krefeld weiter und brachte die Wehrstammrollen in das dortige Wehrbezirkskommando. Bei der Rückfahrt habe ich am Abend in Köln
Halt gemacht und ging durch die dunkle, menschenleere und von Trümmern
übersäte Stadt zu der ca. sechs Kilometer entfernten Flakstellung von Hans,
nach Köln-Longerich. Ein Gang durch einen nächtlichen Friedhof kommt dem
Gefühl sehr nahe, das man auf einem solchen Weg empfindet. Die Ruinen am
Wegesrand gleichen riesigen überdimensionalen Grabsteinen. Die Trümmerberge ähneln frisch aufgeworfenen Gräbern, und Stille und Dunkelheit liegen
wie ein Leichentuch über der toten Stadt.
Nach einigem Suchen habe ich am 13.1.45 meinen Bruder bei der Flakbatterie gefunden, und da kein Alarm gemeldet wurde, haben wir ein paar Stunden geplaudert, dabei habe ich die geheimen Lichtpausen der Me 262, dem
modernste Düsenjäger der Welt, einsehen können. Hans hatte alle diese Unterlagen, um an seinem Funkmeßgerät Flugzeuge zu erkennen. Zwei Monate
später kommt Hans in Gefangenschaft und wir sehen uns erst sechseinhalb
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Jahre später auf der Rheinbrücke in Breisach, zwischen Frankreich und
Deutschland, wieder.
Am nächsten Tag (14.1.) will ich nach Leck zurückfahren, denn der Urlaub
ist abgelaufen. Da es wieder einen Bombenangriff gegeben hatte, habe ich mir
auf der Standortkommandantur drei Tage Nachurlaub geben lassen. Am Abfahrtstag fiel noch mein Zug aus, diese Verschiebung habe ich mir auf der
Bahnhofskommandantur bestätigen lassen und fuhr erst vier Tage später ab
(17.4.45). Auf dem Marschbefehl werden nämlich alle Abfahrten und
Zwangspausen mit Dienststempel vermerkt, damit keiner Schmu treiben
kann. Als ich dann am nächsten Mittag um dreizehn Uhr in der Abteilung
ankam, gab es noch eine Standpauke wegen eigenmächtiger Urlaubsverlängerung.
Ich muß ins Lazarett
Am Abend des 20.1. konnte ich meinen Wachdienst antreten und saß die
ganze Nacht hindurch im dicken Schaffellmantel und in Filzstiefeln im eiskalten Wachlokal am Schreibtisch und lese ein Buch und warte auf den Morgen,
damit ich mir den Schlaf aus den Augen reiben kann. Als es Tag wird, will ich
meine Füße vertreten und bleibe vor dem schmalen, mannshohen Spiegel in
der Wache stehen. Der Kopf meines Spiegelbildes war unförmig aufgedunsen
und schaute mich fragend an. Der Ziegenpeter hatte mich erwischt und meine
linke Gesichtshälfte war dick angeschwollen. Ich fahre noch am gleichen Tag
mit dem Zug über Niebüll nach Westerland (Sylt) ins Lazarett. Es war schon
Abend geworden und ich laufe auf der Straße in nördlicher Richtung bis zur
Nordseeklinik. Ich habe hohes Fieber und meine Knochen sind wie zerschlagen. In der Klinik komme ich gleich in ein großes, freundliches Zimmer, das
ich mit mehreren verwundeten und kranken Soldaten teile. Es ist schon eine
feine Sache, mal wieder in weißen Betten zu liegen und sich hegen und pflegen zu lassen. Nach einer Woche kann ich am 27.1. wieder zur Abteilung zurück.
Lauter Unfug
Mein Dienst geht wieder seinen gewohnten Gang, und da ich mich morgens nicht mehr bei der Flaggenparade einfinden muß und als Ordonnanz
doch einige Freizügigkeiten genieße, reitet mich bald der Teufel. Wir sind
wieder zum Wachdienst eingeteilt und nach der abendlichen Vergatterung
gehe ich als Wachhabender auf die Wachstube. Einige von uns sind draußen
beim Wacheschieben, die anderen haben sich schlafen gelegt. Ich dachte, jetzt
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kannst du mal den Vati in der Flak-Kaserne in Hamburg-Osdorf anrufen.
Nach kurzem Warten hat das Fernamt eine Verbindung hergestellt und ich
konnte meinem Vater einen kurzen Bericht über die Reise nach Duisburg und
den Lazarett- Aufenthalt sagen.
Als dann in der Verwaltung die Gebührenrechnung auf den Schreibtisch
von Feldmeister Nissen landete, gab es peinliche Rückfragen. Da außer mir
der größte Teil der Arbeitsmänner aus Hamburg stammten, fiel auf mich kein
Verdacht und ich blieb ungeschoren.
Nach etwa einer Woche saß ich wieder in der Wachstube. Es war spät,
schon gegen 23 Uhr, da rufe ich das etwa zwölf Kilometer entfernte Fernamt
in Niebüll an und halte mit einer netten Stimme ein kleines Schwätzchen. Es
dauerte nicht lange, da sagte das Fräulein vom Amt: „Wir haben Luftgefahr
Fünfzehn!“ – das heißt, feindliche Flieger sind im Anflug auf den norddeutschen Raum und es wird Voralarm gegeben. Damit war dann unser Gespräch
beendet. Unbedacht und voreilig nehme ich unsere Handsirene und gebe
dreimal langen Dauerton als Voralarm. Ich rufe nun über unser Feldtelefon
den nahen Fliegerhorst an und frage nach der Luftlage. Dort war nichts von
einem feindlichen Anflug bekannt. In meiner Verzweifelung griff ich wieder
zur Sirene und gab Entwarnung, doch das Schicksal nahm schon seinen Lauf.
Unser Chef, Oberstfeldmeister Fergen ließ sich mit dem Fliegerhorst verbinden und erfuhr, daß blinder Alarm gegeben wurde.
Das schrille, aufdringliche Läuten auf dem Schreibtisch in der dunklen
Wachstube ließ nichts Gutes erahnen. Eine brüllende Stimme befiehlt: „Zum
sofortigen Rapport in die Stube vom Oberstfeldmeister!“. Ich setze den Stahlhelm auf, schultere mein Gewehr, laufe in seine Baracke und bleibe – Gewehr
bei Fuß – nach der Türe im Raum stehen und mache Meldung über meine
Eigenmächtigkeit. Er sitzt in der dunklen Stube in der gegenüberliegenden
Ecke hinter seinem Schreibtisch, eine Petroleumlampe erleuchtet nur schwach
den Raum. Dann kommt ein Donnerwetter und der Hinweis, daß ich mich
morgen früh bei der Flaggenparade einzufinden habe.
Nach der Flaggenparade am nächsten Morgen stehen alle Arbeitsmänner
und Ausbilder in Reih und Glied auf dem Exerzierplatz, da kommandiert der
Oberstfeldmeister: „Arbeitsmann Bohnes, drei Schritte vortreten!“ Rums,
bums, da stand ich und die Stimme dröhnt weiter: „Ich verurteile den Arbeitsmann Bohnes zu 14tägiger Ausgangssperre wegen unerlaubten Alarmierens der Abteilung!“ – das heißt, ich muß meine Ausgehuniform in der Klei12
derkammer abgeben und laufe nun mit meinem Drillichzeug herum. Eine
Unruhe ging durch die Mannschaft und später, als ich die tägliche Post in den
Stuben verteilte, gab es zwar Fragen und Gelächter, doch von dem befürchteten „Heiligen Geist“ blieb ich verschont.
Es waren gerade zehn Tage vergangen, da ließ ich durch meinen Kumpel
auf der Kleiderkammer mir die Ausgehuniform besorgen. Von unserem Stubenfenster gelang ich direkt auf dem Weg zur Stadt. Es dauerte nicht lange
und ich wurde am Abend im Kino entdeckt und wegen Übertretung meiner
14tägigen Ausgangssperre bei der Flaggenparade am nächsten Morgen zu
drei Tagen „Bau“ verknackt. Ich habe an diesem Morgen noch meinen Nachfolger eingearbeitet, die tägliche Post gestempelt und weggebracht, die ankommende Post sortiert und in den Stuben verteilt, danach meldete ich mich
auf der Wache zum Arrest.
Mein Umweg zum Militär
Mit der heutigen Post (26.3.45) war für unsere Truppe die Einberufung
zum Militär eingetroffen. Mein Arrest war somit nach drei Stunden beendet.
Sofort nach der Bekanntgabe der Marschbefehle mußten wir antreten und
unsere Bekleidung für die Kleiderkammer abgeben und unsere ganzen Sachen wie Wäsche, Schuhe, Holzpantinen, Uniform, Bettzeug usw. auf den
Exerzierplatz tragen. Wir stellten uns in großem Kreis auf und legten unsere
Klamotten auf einen Haufen. Der Kammerbulle und seine beiden Arbeitsmänner überwachen die genaue Rückgabe der einzelnen Stücke. Jeder muß
seine Zeltplane vor sich ausbreiten, dann heißt es: „eine Unterhose“ usw. Man
hält sein Stück in die Luft und wirft es auf die Plane, so geht es weiter, bis alle
Sachen nacheinander auf dem Haufen liegen.
Es ist schon dunkel, bis am 26.3.45 der ganze Trupp auf dem Güterbahnhof
in Leck in den bereitgestellten Güterzug eingeladen war. Unser Marschbefehl
lautete nach Delmenhorst in die „Caspari-Kaserne“. Der Güterzug fährt über
Flensburg, Schleswig, Rendsburg und Neumünster. Ich habe Zivilkleidung an
und mein Wehrpaß enthält den Eintrag meiner Entlassung vom RAD. Als wir
in der Nacht einen Aufenthalt im Bahnhof von Neumünster haben - es war
kurz vor Mitternacht, da sehe ich auf dem Nachbargleis einen Eilzug nach
Hamburg stehen. Ich wollte noch einmal meinen Vater sehen und steige in
den Zug ein, der nach Hamburg fährt.
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Am frühen Morgen des 27.3. komme ich in Hamburg an und gehe nach
dem etwa sieben Kilometer entfernten Osdorf in die Kaserne. Dort frage ich
nach meinem Vater und man weist mir den Weg zu einer nahen Baustelle. Ich
entdeckte ihn in der ausgebaggerten Straße unten beim Kabelverlegen, und
die Überraschung war entsprechend groß. Wir gehen gleich in die FlakKaserne und ich warte auf seiner Stube, bis er den Urlaubschein bekommt. Im
Beisein einiger Kameraden unterhalten wir uns noch über meinen abenteuerlichen Weg und sind dann zu einem Bummel in die Stadt aufgebrochen.
Als wir am Abend gegen neun Uhr in die Kaserne zurückkamen, wurde
ich von einem Unteroffizier in der Stube meines Vaters erwartet und zu einem Major zum Verhör mitgenommen. Sie befragten mich über Umstand und
Ziel meiner Reise und anhand meiner Papiere und dem Marschbefehl sahen
sie darin eine unerlaubte Entfernung von einem Militärtransport. Ein Protokoll wurde geschrieben und mir zu Unterschrift vorgelegt. Mein Vater versuchte noch mit dem Major zu reden, aber wir konnten uns nur kurz verabschieden und ich mußte in Begleitung des Unteroffiziers nach Delmenhorst
fahren. Ich war in einer schlimmen Situation und mußte meinen Vater im
Ungewissen zurückgelassen.
Mit dem Zug sind wir von Hamburg über Bremen nach Delmenhorst gefahren und kamen mitten in der Nacht im Bahnhof Delmenhorst an. Wir sind
dann in westlicher Richtung auf der Oldenburger Landstraße zur CaspariKaserne marschiert, als der Unteroffizier plötzlich zu mir sagte: „Hier auf der
linken Seite drüben wohnt meine Frau, du findest den Weg zur Kaserne auch
alleine, immer gerade aus!“ Er reicht mir den Umschlag mit dem Protokoll
und wir verabschieden uns. Ich gehe in der dunklen Nacht weiter, komme an
die Kaserne und melde mich nach Mitternacht, am 28.3. um ca. ein Uhr, auf
der Wachstube.
Der Wachhabende war über mein Kommen sehr erstaunt, denn er wußte,
daß der Transport erst im Laufe des Tages eintrifft. Nachdem ich ihm mein
Mißgeschick erzählt hatte, nahm er den Brief, las das Schreiben und warf alles
in den rotglühenden Ofen in der Wache. Dann meinte er, ich solle mich bis
zum Vormittag in eine leere Bude auf die Pritsche legen und danach zu ihm
auf die Schreibstube kommen. Er werde dann alles in Ordnung bringen.
Als unsere Abteilung am 28.3. gegen Mittag anmarschiert kam, war ich
schon gemeldet und eingekleidet. Es gab keine Nachfragen und ich habe großes Glück gehabt, denn ich bekam ein Soldbuch ausgehändigt. In dem Durch14
einander habe ich meinen Wehrpaß nicht abgegeben, so war darin (mit Datum des 26.3.45) nur die Entlassung vom RAD, nicht aber der Eintritt in die
Wehrmacht eingetragen. Ich hatte also zwei Dokumente bei mir, die noch
großen Vorteil bringen sollten. Mit mir werden aus dem RAD ungefähr
zweimal dreihundert Mann in die Caspari-Kaserne eingezogen. Ich kam als
Panzergrenadier in das 65. Infanterieregiment (22. Division „Bremen“) bzw.
in das Grenadier-Ersatz- und Ausbildungsbataillon 65.
Bei der Einkleidung bekam ich eine „Erste Garnitur“ verpaßt, d. h. eine Paradeuniform, deren Jacke mit Stülpärmel, aufgesetzten Manschetten und Silberlitzen mit Knopf, einem „Gardesoldaten“ ähnlich sah. Die normale feldgraue Uniform war vergriffen und es sah beschämend aus, allerdings mußte
ich diese Unform bei unserem Abmarsch zurücklassen. Anzumerken ist, daß
ich während dieser Zeit in der Caspari-Kaserne keine Erkennungsmarke erhalten habe.
Wir werden wieder zur Grundausbildung herangezogen und geschliffen.
Auf dem Schießstand wird mit dem Karabiner 98 geübt, es wird in seine Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut, geputzt und dann scharf geschossen. Das Laden und Scharfmachen mit zwei Treibladungen und das
Schießen mit der Panzerfaust wird geprobt. Ich werde noch als MG-Schütze
am MG-37 ausgebildet. Wir werden zu Felddienstübungen, zum Stellungsbau
und Tarnen der Stellungen eingesetzt.
Auf einmal werden in dieser geruhsamen Zeit der Grundausbildung am
Sonntag, 8.4., Panzerangriffe südlich oder südwestlich von Delmenhorst (aus
Oldenburg oder Wildeshausen) erwartet. Wir erhielten den Befehl, mit einer
kleinen Gruppe von etwa vier oder fünf Mann, mit Fahrrad und Panzerfaust
einige Kilometer außerhalb von Delmenhorst gegen anrückende Engländer in
Stellung zu gehen. Wir buddelten Ein-Mann-Löcher und warteten auf Feindberührung, gegen Abend kehrten wir ohne Zwischenfall in die Kaserne zurück.
Am Tag darauf, am 9.4., erhielt unser Bataillon völlig überraschend den Befehl zum Abmarsch nach Bremen. Auf einmal wurde es ziemlich hektisch in
der Kaserne. Wir werden auf „Führer, Volk und Vaterland“ vereidigt, dann
wurde unser Regiment feldmarschmäßig ausgerüstet und wir rücken ab. An
einem sonnigen Apriltag (10. April 1945) marschieren wir von Delmenhorst
auf der Landstraße nach Bremen. Es sind ungefähr zweitausend Mann auf
den Beinen, mit Troß und Regimentsstab sind wir aus der Caspari-Kaserne
15
abgerückt. Auch schwere Artilleriegeschütze, die für den Transport zerlegt
sind, begleiten uns. Es heißt, die „Ostfront“ muß gehalten werden, damit der
Russe nicht das „Reich“ überrennt. Also machen wir uns auf den langen Weg
nach „Osten“. Auf dem Marsch nach Bremen werden wir auf offener Straße –
ohne Sicherung durch die eigene Flak – von amerikanischen Tieffliegern, den
Lightnings, angegriffen.
Es geht nach Osten
Nach einem etwa 25 Kilometer langen Marsch kamen wir in Bremen an. In
der Vorstadt lagen quer zur Straße einige umgestürzte Straßenbahnwaggon
und sollten als Panzersperren dienen. Wir marschieren weiter durch die fast
menschenleeren Straßen in den Industriehafen zu einem dort abgestellten Güterzug mit ca. 50 Viehwaggons. Die Wagenböden sind mit Stroh gefüllt und
werden für eine lange Reise unsere Schlaf- und Salonwagen sein. Tornister,
Brotbeutel, Gasmaske, Koppel mit Seitengewehr und Stahlhelm werden mit
Haken an Decke und Wände gehängt. In jeden Wagen kommen 40 Soldaten
mit ihren Sachen hinein. Beim Liegen muß man die Füße seines Gegenübers
mit den eigenen in Einklang bringen, sonst wird es nachts ärgerlich, wenn
einer über die Beine stolpert.
Die erste Nacht bleiben wir noch in Bremen auf dem Verladegleis stehen.
Wir sind am Anfang des Zuges im ersten Güterwaggon untergebracht. Der
lange Zug verliert sich in der Dunkelheit zwischen der Laderampe und den
seitlichen Lagerhäusern. Ich bin noch mit anderen Kameraden zum Wachdienst eingeteilt und laufe auf dem Schotter neben dem Gleis und lausche in
die dunkle Nacht. Der Wind, der von der See in den Hafen bläst, fängt sich
seitlich unter dem Stahlhelm und bleibt mit einem unangenehmen Pfeifen in
den Ohren hängen. Die Augen versuchen ängstlich, die Geräusche zu umgehen und blicken suchend durch die Nacht.
Am nächsten Morgen wird Verpflegung verteilt. Für jeden gibt es ein
Pfund „Schweizer Käse“ von einem großen Käselaib und ein dickes Stück
Butter aus einem Faß, das man auf den Käse drauf legt. Brot gab es keines
dazu, und wer noch ein Stück hatte, paßte gut darauf auf. Der Zug setzt sich
in Bewegung und die Fahrt geht geräuschvoll über Rangiergleise und holprige Weichen durch den Bahnhof Bremen in Richtung Osten.
Wir liegen und stehen in unserem Güterwagen und die Lok stößt und
wackelt uns gehörig hin und her, denn wir befinden uns im vordersten Wa-
16
gen. Das Rolltor ist nur einen kleinen Spalt weit geöffnet und wir können den
vorbeihuschenden Telefonmasten und den sich senkenden und anhebenden
Drähten nachschauen. Die Gegend ist flach und eintönig, der Zug fährt über
Soltau, Ülzen, Salzwedel und Stendal nach Berlin.
Unser Zug hält kurz nach Rathenow vor Berlin auf freier Strecke an (12.4.).
Da sehen wir auf der anderen Zugseite, wie einige Soldaten über das freie
Feld im Laufschritt davon rennen und im Abenddunkel verschwinden, als
hätten der feuchte, sattbraune Ackerboden und die grauen Sträucher sie verschlungen. Wir kommen uns verraten vor, und da ein großer Teil meiner Kameraden in Berlin zuhause ist, sahen wir schon den halben Transport in Berlin zerplatzen.
Wir haben Hunger!
Unser Transport wird in Berlin-Kreuzberg im Gleisdreieck auf dem Rangierbahnhof, in der Nähe einer S-Bahn und einem U-Bahnhof, abgestellt. Am
anderen Morgen (13.4.) gibt es nur Kaffee, wir sind hungrig. Da wir noch
immer kein Brot erhalten haben, gehen einige Soldaten aus unserem Transport auf die Suche nach etwas Eßbarem. Einige Gleise weiter sind einige Güterwagen abgestellt, ein Waggon hat das Rolltor geöffnet und man sieht im
Laderaum Kisten und Koffer hoch aufgestapelt. Der Wagen kam aus Dänemark und hatte Umzugsgut von Wehrmachtsangehörigen geladen. Einige
Soldaten machen sich daran zu schaffen und finden Kartons mit Knäckebrot,
und nach kurzer Zeit sind auch andere Soldaten aus unserem Transport beim
Plündern und schleppen Schachtelweise Knäckebrot in ihre Wagen. Die
Freude währte nicht lange, denn auf einmal standen Bahnpolizei und Feldgendarmerie vor unseren Wagen und durchsuchten diese. Einige Soldaten,
bei denen die Schachteln mit Knäckebrot gefunden wurden, sind verhaftet
und mitgenommen worden und wir haben nichts mehr von ihnen gehört.
Endzeitstimmung
Bei einem Luftangriff über Berlin haben wir uns in einen U-Bahnschacht
gerettet. Dabei habe ich ein kurzes Gespräch mit einigen Männern aus der SSDivision Charlemagne in Französisch geführt, das ich von unseren gefangenen Franzosen gelernt habe. Meine Bemerkung, warum sie sich freiwillig zum
Krieg gemeldet haben, wurde mir fast handgreiflich übel genommen. Heute
verstehe ich gut, daß es keiner hören mag, auf das falsche Pferd gesetzt zu
haben.
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Beim Anblick der vielen Flüchtlinge und verwundeten Soldaten auf dem
Bahnhof war allmählich allen klar, daß wir an die Front fuhren. Es wimmelte
wie im Sommerurlaub und man hatte den Eindruck, alle seien mit Sack und
Pack auf dem Weg nach irgendwo. In diesem Durcheinander spricht mich ein
älterer Eisenbahner an und fragt, ob ich nicht eine Pistole kaufen wolle, denn
er komme von der Front und brauche sie nicht mehr. Als MG-Schütze hatte
ich nur das MG und außer meinem Seitengewehr nichts zu meiner Verteidigung. Ich willigte in den Handel ein und bekam eine belgische 08-Pistole mit
drei Schächtelchen Munition für 120 RM. Ich versteckte sie in meinem Brotbeutel und habe alles an meinen Schlafplatz unter das Stroh gelegt.
KZ-Transport
Am nächsten Morgen des 14.4. suche ich am Rande des Rangierbahnhofs
einen Platz für meine Morgentoilette, da steht plötzlich eine schwarzhaarige
Frau in dunkler, zerlumpter Kleidung vor mir und bittet um ein Stück Brot.
Ich zögere nicht lange und hole aus unserem Waggon ein Stück von meinem
gut gehüteten Kommisbrot und laufe wieder zurück. Als ich der Frau das
Stückchen Brot geben wollte, stand ein schreiender SS-Mann mit gezogener
Pistole bei uns, bedrohte mich und schleppte die Frau weg. Erst jetzt habe ich
den Zug mit den armen Menschen am Rande des Rangierbahnhofs erkannt –
es war ein KZ-Transport und ich konnte sehen, daß die Luken der Viehwaggons mit Stacheldraht kreuz und quer zugenagelt waren.
Wir verlassen Berlin
Wir waren froh, als wir am Abend, gegen 19 Uhr, Berlin verlassen konnten.
Es war doch sehr gefährlich, wenn immer wieder Bombenabwürfe von englischen Mosquitos, die mit ihrer 1 800-Kilogramm-Bombe beladen, die Stadt
zerbombten. Unser Transport fährt über Luckenwalde und Jüterbog an Torgau vorbei nach Dresden. In der Nacht wird der Zug auf freier Strecke abgestellt und wir wissen nicht, was los ist. Die Lok kommt nach einiger Zeit wieder zurück und kracht mit voller Wucht auf unseren unbeleuchtet abgestellten Zug. Ein Teil der an Wänden und Decken aufgehängten Sachen flogen
durch den Wagen und stürzt auf uns herunter. In der Nacht fuhren wir noch
durch Dresden und ahnten nichts von dem Inferno, das vor genau zwei Monaten über die Stadt hereingebrochen war und mehr als 35 000 Menschen den
Tod brachte. Am folgenden Tag, es ist Sonntag, 15. April 1945, haben wir
sonniges, herrliches Frühlingswetter und fahren durch das Elbsandsteingebirge. Bei einem Halt vor der tschechischen Grenze klettern wir auf die Felsen
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und genießen die Ruhe und den herrlichen Ausblick auf die langsam dahinfließende Elbe. Gegen Mittag erreichen wir die Stadt Most (Brüx) am Fuße des
Erzgebirges.
Die ersten Opfer
Der Güterzug hält im Bahnhof unter einer Brücke, die das ganze Bahngelände überspannt. Als wir gerade am Aussteigen waren, gab es Fliegeralarm
und wir mußten sofort in die Wagen zurück, denn ein Regiment Soldaten, das
sich auf dem Bahngelände bewegt, läßt sich nicht übersehen. Schon waren die
Flugzeuge über der Stadt und trafen mit ihren Bomben die Brücke. Eine davon schlug vor unserem Waggon ein, die Splitter zerfetzten die Stirnwand
und verursachten die ersten Verluste in unserer Nähe. Nach dem Angriff haben wir uns vor dem Bahnhof zum Abmarsch aufgestellt, dabei wurden wir
von der sudetendeutschen Bevölkerung mit Applaus und Zurufen freundlich
begrüßt, denn die Stimmung unter der Bevölkerung war von Angst und Sorge um die Zukunft erfüllt.
Wir marschieren in südlicher Richtung durch die Stadt auf eine Anhöhe in
Richtung nach Plzen (Pilsen). Außerhalb der Stadt liegt auf der rechten Straßenseite eine alte, verwitterte Kaserne aus der Zeit der österreichischen Monarchie. Sie ist der Standort des 234. Infanterieregiments, dem wir jetzt zugeordnet werden. Gegenüber der Landstraße liegt ein Barackenlager, in das unsere Einheit einquartiert wird. Ich komme gleich in die erste Baracke neben
dem Haupteingang und der Wachbaracke, es sind kleine Wohneinheiten für
nur sechzehn Mann. Wir machen uns gleich an die Arbeit, räumen unsere
Sachen in den Spind, füllen die Strohsäcke, machen die Betten und reinigen
die Stube.
Wir werden durch eine Explosion von der Arbeit aufgeschreckt und rennen zur Türe, um zu schauen, was los ist. Aus der Baracke der anderen Seite
quoll dichter Rauch aus dem Fenster und ein schwer verletzter Soldat stürzte
aus der Türe und hält seine verstümmelten Hände vor das Gesicht und fällt
tot vor uns auf dem Weg hin. Eine im Ofen versteckte Handgranate hat sich
beim Reinigen entzündet und ist wie eine Bombe explodiert und hat noch
weitere Soldaten im Raum verletzt. Wir sind gewarnt, wir befinden uns im
Feindesland und werden als Feinde und Eindringlinge behandelt.
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Krank im Revier
Ich werde krank und liege am 16.4. mit Fieber, Angina und Mandelabszeß
in der Kaserne auf der anderen Straßenseite in der Krankenabteilung. Unser
Regiment ist inzwischen abmarschiert und ich komme in die Genesungskompanie und kann mich für einige Tage in Brüx und Umgebung umsehen. Die
Tage sind bereits angenehm warm und ich komme bei meinen Streifzügen
auch in den Vorort Sous, eine Arbeitersiedlung inmitten von Braunkohlefeldern. Die Braunkohle liegt zeitweilig an der Erdoberfläche und die Landschaft ist umgegraben und aufgerissen und vernarbt von den vielen Wunden,
die im Laufe der Jahre durch den Abbau entstanden sind. Ich sitze auf den
Abraumhalden und hänge meinen Gedanken nach und wäre froh, wieder
daheim zu sein.
Die vorwiegend tschechischen Bewohner leben in den schmutzigen und
rußigen Häusern, und wenn man als deutscher Soldat alleine durch die Siedlung marschiert, folgt so mancher unfreundlicher Blick. In einem Gespräch
mit einer älteren Frau höre ich sie gegen die sudetendeutsche Bevölkerung
klagen und sie sagte, die „Reichsdeutschen“ seien ihnen immer willkommen,
aber mit den anderen haben sie nur Probleme.
In der Genesungskompanie lerne ich einen Soldaten der Wachmannschaft
kennen, der in einem Gefangenenlager in Sous, einem Vorort von Brüx,
Dienst hat und mich an einem Tag (22.4.) in das Gefangenenlager mitnimmt.
Da ich meine 08-Pistole im Lazarett nicht liegen lassen konnte, mußte ich das
Ding in meiner Manteltasche mitnehmen. Es war mir gar nicht geheuer, in
den Baracken zwischen den Gefangenen mit einer geladenen Pistole herumzulaufen. In einem Gespräch fragte der Wachsoldat, ob ich nicht Lust hätte,
mit ihm in einer Nacht die nur sechzehn Kilometer entfernte Reichsgrenze zu
überqueren, denn der Amerikaner sei auf dem Vormarsch und wir können
dort in Gefangenschaft gehen. Mein Einwand, daß wir dann die eigenen Linien durchbrechen müssen und dabei den Feldgendarmen in die Hände fallen
und erschossen würden, hat uns dann von dem Vorhaben abgehalten.
Führerbefehl vom 24.4.45
Sämtliche noch verfügbaren Kräfte zum Rückzug in die Alpenfestung angeordnet.
Die Alpenfestung umfaßte:
—
—
—
—
Wehrmacht- und SS-Einheiten
Waffenproduktion
Falschgeldproduktion
Festhalten der Sonderhäftlinge (Geisel)
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Die US-Army „Eisenhower“ lenkte daraufhin ihre Armee in Richtung Süden, statt nach Berlin. Dadurch wurde Berlin nur von den russischen Armeen
erobert. Die Alpenfestung war angeblich ein riesiger Bluff; durch diese Zersplitterung wurde das Kriegsende hinausgezögert.
Während eines Fliegeralarms gehen wir in einen nahegelegenen Bergwerkstollen, um Schutz zu suchen. Die Stollen sind eng und feucht, auf dem
Boden läuft ein schmales Eisenbahngeleise, und die schwache Beleuchtung
taucht alles in ein rostiges Braun. Die Frauen und Kinder sitzen auf ihren
Habseligkeiten und warten mit uns auf das Ende des Luftangriffs und die
Entwarnung. Es lag eine gedrückte Stimmung in dem Stollen und die Menschen sahen in uns die Ursache für das Leid und Elend, in das alle nun eingebunden waren.
Gegenbefehl vom Schörner.
Am 3. Mai 45 hat Generalfeldmarschall Schörner angeordnet, daß alle verfügbaren
Einheiten in den Raum Zittauergebirge aufgestellt werden, um den Angriff der
Russen aufzuhalten und die Rückführung der Flüchtlingsströme aus dem Raum
Breslau und Oberschlesien zu ermöglichen.
Der Marsch zur Front
Unsere Tornister werden auf Pferdewagen verladen und wir sind mit
„Sturmgepäck“ unterwegs. Wir haben unseren Brotbeutel mit Feldflasche,
Seitengewehr und Gasmaske an die Koppel umgehängt. Als MG-Schützen
tragen wir abwechselnd das MG-37 oder die Munitionskasten und den Stahlhelm. So voll gepackt marschieren wir am Abend in Dreierreihen durch Brüx
in nördlicher Richtung nach Lobositz (Lovosice) und weiter bis kurz vor
Leitmeritz (Litomerice). Wir kommen morgens gegen 6 Uhr in einem Bauerndorf an und werden einquartiert, bekommen unsere Verpflegung und legen
uns in Heu oder Stroh zum Schlafen, denn der Nachtmarsch von 36 Kilometern hat uns alle ziemlich erschöpft. Bei der Ankunft in dem Bauerndorf treffen wir auf eine russisch sprechende Schar der Wlassow-Armee, die in feldgrauen Uniformhosen und im Unterhemd ihre Morgentoilette an einem
Brunnen verrichtet.
Am nächsten Abend, am 3.5., marschieren wir im Regen weiter. Zum
Schutz hängen wir die Dreiecks-Zeltplane um. Sie hat in der Mitte einen
Spalt, durch den wir den Kopf stecken, die Seiten werden zugeknöpft, damit
der Regen runter läuft. Der Stahlhelm schützt uns mit seiner Regenrinne, damit das Wasser nicht an der Kragenbinde reinläuft Die Augen waren starr
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nach oben gerichtet, man konnte dann einen schmalen Streifen vom dunklen
Nachthimmel erkennen. Die Tannenwälder umhüllen uns wie eine tiefe
Schlucht und die Augen werden müde. Wir haken uns mit den Armen unter,
damit keiner vom Weg abkommt, dann kann der Sekundenschlaf auch mal
einige Minuten dauern. Es ist wie ein Traum, danach geht der Marsch wieder
leichter. In der Nacht überqueren wir die Elbe und marschieren in östlicher
Richtung nach Böhmisch-Leipa (Ceska Lipa) , um dort in einem Bauerndorf
zu kampieren. Bei den Bauern versuchen wir unsere Sachen zu trocknen und
zu schlafen. Bei der Morgentoilette stehen wir um einen Brunnentrog vor dem
Bauernhof. Plötzlich stehen neben uns russisch sprechende Soldaten in deutscher Uniform gekleidet beim Waschen. Es waren Angehörige der WlassowArmee, die ich zum ersten Mal getroffen habe.
Wir holen Verpflegung
Gegen Mittag werde ich mit einigen Kameraden und einem Unteroffizier
zum Verpflegung holen abkommandiert. Wir gehen zum Güterbahnhof und
steigen auf einen leeren, offenen Güterwagen, der Unteroffizier steigt zum
Lokführer und Heizer auf die Lok und wir dampfen in nordöstlicher Richtung zwischen den Berghängen ein Tal entlang.
Wir sind mit drei oder vier Mann in dem offenen Güterwagen und schauen
gelangweilt die vorüberziehende Landschaft und die Telegrafenmasten an,
bis mir der Gedanke kommt, meine 08-Pistole auszuprobieren. Ich krame sie
aus meinem Brotbeutel hervor und versuche während der Fahrt die Telefonmasten zu treffen. Ob es gelang, weiß ich nicht, jedenfalls war es ein beruhigendes Gefühl, angesichts der herannahenden Front „wehrhaft“ zu sein.
Gegen Abend des 5.5. erreichen wir das Heeresverpflegungslager Warnsdorf, ein großer, mehrstöckiger Steinbau mit Gleisanschluß. Wir stehen mit
der Lok und unserem Wagen direkt an der Laderampe vor einem großen
Eingangstor und staunen über die Unmengen an Kisten, Kartons, Säcken, Eimern und Dosen, die bis unter die Decke in Regalen gestapelt waren. Demnach hätte der Krieg noch eine Weile geführt werden können, doch wir kannten nur Hunger und Not.
Wir haben interessiert zugeschaut, wie die Landser voll gepackt aus dem
Lager kamen und ameisengleich die Kartons und Säcke hin und her schleppten. Zahlmeister und Wachpersonal kontrollierten zwar die Warenausgabe,
aber es hatte den Anschein, als ginge alles drunter und drüber.
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Bis wir unsere Ladung übernommen hatten, war es inzwischen dunkel
geworden und nur das schwache Licht im Lager erhellte das geschäftige Treiben. Ich organisierte einen Karton mit kleinen 200 Gramm-Dosen Schweinefleisch als so genannte „Eiserne Ration“. Einige davon bekam der Lokführer,
die er gleich in ein kleines Fach über dem Kessel stellte, damit wir etwas
Warmes zu Essen hatten, bevor wir mit dem offenen Wagen in der Nacht zurückfuhren.
Am nächsten Tag hielten wir uns noch im Dorf auf, dabei habe ich mich
nach Kartoffeln umgeschaut und bin bei einer Frau mit ihren Kindern fündig
geworden. Im Tausch mit einer 650 Gramm Rindfleischdose bekam ich eine
Pfanne voller Bratkartoffeln, gemischt mit meinem Rindfleisch. Es hat der
ganzen Familie gut geschmeckt, doch ich hatte mir den Bauch voll geschlagen, ohne an die Folgen zu denken.
Wir marschieren getrennt weiter
Am Abend haben wir das Dorf verlassen und sind in Richtung Zakupy
und Jablonne (Deutsch Gabel) marschiert. In diesen Tagen des 8. und 9. Mai
kamen uns die zurückflutenden Kolonnen verwundeter Soldaten und Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe entgegen. Wir verspürten ein dumpfes Gefühl in
der Magengrube: Vor uns das Aufblitzen der Geschützfeuer am Nachthimmel, daß sich wie Wetterleuchten in den dunklen Wolken widerspiegelte, und
das dumpfe Grollen der Artillerie, das uns unheildrohend entgegenkam. Auf
den verstopften Straßen war kein Weiterkomme, unsere Marschkolonne setzte seinen Marsch auf Nebenstraßen fort in Richtung Jablonné (Deutsch Gabel).
Ich weiß nicht mehr, ob es die Bratkartoffeln oder das Nahen der Front
war, auf jeden Fall mußte ich nach 29 Kilometern Marsch einmal austreten.
Ich gab meinem Nachbarn das MG-37 und setzte mich in den Straßengraben.
Nachdem ich fertig war, das heißt Jacke und Koppel, Stahlhelm und Seitengewehr und Marschgepäck angezogen, Zeltplane wieder umgehängt hatte,
lief ich der Kolonne hinterher und kam nach einigen hundert Metern an eine
Straßengabelung am Stadtrand von Deutsch Gabel (Jablonné v Podještědí)
und lauschte in die Nacht, um zu hören, wo denn die Marschkolonne abgeblieben war. Da es sehr dunkel war, es war etwa 4 Uhr Früh lief ich an der
rechten Straßenseite und erkannte die Abzweigung nach links nicht. Nach
mehr als einem Kilometer kam ich an eine Querstraße ohne die Kolonne zu
erreichen.
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Da ich niemand von unserer Einheit antraf, mußte ich annehmen, daß diese
schon vorher nach links also in westlicher Richtung abgebogen sind und sich
in den flutenden Verkehr eingereiht hatten. Wenn meine Annahme zutraf,
dann muß die Kolonne schon circa drei Kilometer weiter sein.
Auf mein Winken hat ein Wehrmachts-Lkw angehalten und mich mitgenommen und ich hoffte, unsere Kolonne bald einzuholen. Als ich im Dunkeln
unter die Plane des Lastwagens kletterte, saßen noch einige Landser und andere Leute auf Kisten und Kästen. Aus der Seite heraus hielt ich immer wieder nach unserer Abteilung Ausschau, doch nachdem ich keine Marschkolonne, sondern nur noch Flüchtlinge mit Handwagen, Pferdewagen und
Fahrrädern sah, wurde es mir Angst und Bange. Wir fuhren auf der Straße
Nr. 13 Richtung Zwickau (Cvikov).
Die Flüchtlings- und Militärkolonnen kamen aus dem schlesischen Gebiet,
Liberec (Reichenberg) , Jelenia Gora (Hirschberg) und Wroclaw (Breslau) ,
demnach eine schier endlos lange, die ganze Straße ausfüllende Masse von
Fahrzeuge, wie Lastwagen und Personenwagen und Motorräder auf der linken Straßenseite und in der Mitte. Auf der rechten Seite schoben sich wie ein
zäher Teig, Marschkolonnen, und Fußgänger mit Handwagen, Kinderwagen,
Pferdegespanne hoch aufgefüllt mit Hausrat und Gepäck am äußeren Rand
der Landstraße fort. Alle getrieben von der ständig nachrückenden sowjetischen Armee.
Allmählich wurde es heller und die aufgehende Sonne verkündete einen
schönen Tag. Ängstlich fragte ich einen Unteroffizier, ob die Fahnenflucht sei,
da ich doch meine Einheit nicht absichtlich verlassen hatte, sondern durch
unvorhersehbare Umstände von ihr getrennt wurde und nicht weiß, wo ich
mich melden sollte. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und mich bei
nächster Gelegenheit auf einer Ortskommandantur als Versprengter melden.
Panzerangriff auf Militär- und Flüchtlingskolonnen
Ich war nun etwas beruhigter und beobachtete die ungewöhnliche Situation auf der Landstraße. Alles fuhr in westliche Richtung, ganz rechts liefen die
Flüchtlinge mit ihren Karren, Handwagen und Pferdegespannen, hochbeladen mit Kisten, Koffern, Betten und Möbeln. Alles bewegte sich in einem
langsamen, trägen und zähen Fluß wie erkaltende Lavamassen. In der Straßenmitte, also in zweiter Reihe, fuhren die Lastkraftwagen und waren etwas
schneller, ganz links fuhren Pkws und Motorräder, dabei waren alle eifrig
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bemüht, vor dem Russen, der herannahenden 1. Ukrainischen Front, zu flüchten.
Plötzlich explodieren wie aus heiterem Himmel vor und hinter uns Granaten auf der dichtgefüllten Straße. Rechts vor uns, am Ortsausgang von Röhrsdorf (Svor) stehen auf einer kleinen Anhöhe unterhalb des Berges Klíč russische Panzer, angestrahlt von der aufgehenden Sonne. Die Mündungsfeuer
und die Einschläge auf der Straße lassen das Schlimmste befürchten. Die Kolonne erstarrte, die Pferde scheuten und die Menschen liefen in panischer
Angst von der Straße in die Felder oder legten sich in den Straßengraben, um
den Granatsplittern zu entgehen.
Etwa hundert Meter voraus biegen die Autos und Lastwagen sofort in einen auf der linken Straßenseite liegenden Feldweg und wir folgen den anderen Fahrzeugen in den aufgewirbelten Staub, ich springe von der Pritsche
und stelle mich auf das Trittbrett an der Fahrerseite. Nach einiger Zeit in südlicher Richtung erreichen wir die schützenden Wälder, der Weg wird besser
und alles hat sich etwas beruhigt. Vor uns bleibt ein Fahrzeug auf dem Weg
stehen und kann nicht mehr flottgemacht werden, die nachfolgenden Fahrzeuge schieben es zur Seite, damit der Weg frei bleibt.
Die Fahrt findet auf schmalen unbefestigten Wegen statt, in den lichten
Wälder um uns herum sieht man noch größere Mengen Munition und
Kriegsgerät lagern, es war aber das Ende vorhersehbar.
Nach geraumer Zeit mündet unser Weg im Wald vor Reichstadt (Zákupy)
in die Landstraße von Böhmisch Leipa (Ceska Lipa) nach Jungbunzlau (Mladá Boleslav). Es dauert eine Weile, bis wir uns in den Querverkehr einreihen
können, wir treffen hier wieder auf Vorhut der Kolonne, die wir beim Panzerangriff in Svor (Röhrdorf) verloren haben. Es ist auch möglich, daß unsere
Kolonne den Weg über Benesov (Bensen) , Decin (Tetschen) , Most (Brüx)
nach Karlovy Vary (Karlsbad) und Cheb (Eger) zur Us-army gefunden hat.
So ein Pech, der Motor unseres Lkws will nicht mehr anspringen. Der
Lkw-Fahrer hat ein langes Drahtseil vorne an die Stoßstange gebunden, ich
nehme das Drahtseil und gehe dem von rechts heranfahrenden Panzer entgegen und hänge das Drahtseil ein. Mit einem gewaltigen Ruck wird der Lkw
zur Seite gerissen, der Motor läuft wieder und wir können unsere Fahrt fortsetzen. Ich habe großen Durst, die Sonne brennt vom strahlend blauen Him-
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mel herab und der Fahrtwind und die staubige Straße haben meine Kehle
ausgetrocknet.
Der Krieg ist zu Ende, das große Elend beginnt
Die ganze Kolonne wird kurz vor Jungbunzlau (Mladá Boleslav) von bewaffneten Freischärlern in Zivil gestoppt (am 9. Mai gegen 11 Uhr) , die Offiziere verhandeln mit ihnen und es heißt, die Deutsche Wehrmacht habe kapituliert und wir müssen unsere Waffen abgeben. 1 Ich gehe nach hinten an den
Lkw und frage, ob jemand was zu essen und zu trinken hat. Jemand gibt mir
eine handvoll Pfeffernüsse und aus einer Kanne bekomme ich meinen Kochgeschirrdeckel mit Weinbrand gefüllt. Wir stehen mit unserem Lkw auf einer
kleinen Bogenbrücke, die die Iser (Jizera) überquert; ich nehme meine 08Pistole auseinander, werfe sie in den kleinen Fluß und bin entwaffnet.
Bei der Entwaffnung, auf einem freien Platz nach der Brücke, wurden auch
die Brustbeutel durchsucht. Ein junger Soldat hatte noch einen Rahmen Gewehrmunition vergessen. Der Tscheche schlug dem Soldaten den Brotbeutel
mit der Munition mehrmals ins Gesicht. Dann fahren wir weiter und ich bin
richtig kaputt. Die Pfeffernüsse machen noch mehr Durst und der Schnaps
gibt mir den Rest. Mitten auf dem Marktplatz bleibe ich auf dem Trittbrett
eines Autos sitzen und schlafe ein. Ein deutscher Offizier spricht mich an und
ich sehe noch seine schlanken Stiefel vor meinen Augen. Ich muß mich erbrechen und schlafe weiter.
Meine Gefangennahme
Im Halbschlaf höre ich ganz in der Nähe Bombeneinschläge und einstürzende Häuser, aber ich war zu blau und müde, um daran aufzuwachen. 2 Erst
die unsanfte Hand eines Mannes, der mir eine Pistole vor das Gesicht hielt,
ließ meine Müdigkeit verfliegen. Hinter dem schwarzen Loch der Pistolenmündung stand ein Soldat in brauner Uniform mit rotem Kragenspiegel und
stieß mich in Richtung der eingestürzten Häuser, damit ich beim Bergen der
Verschütteten helfen soll. Auf den Trümmern liefen einige Tschechen mit gezogener Pistole herum und trieben die Deutschen zur schnelleren Arbeit an.
Bereits am 5. Mai 1945 hatte die deutsche Stadtkommandantur die Stadt kampflos an die
tschechische Miliz übergeben.
2 Am selben Tag wurde Prag von deutschen Fliegern bombardiert und die Brücke von Melnik
mit Bordwaffen angegriffen. Ich vermute, daß es von dem Geschwader „Rudel“ kam. Denn
es war bekannt, daß die Stadt Jungbunzlau kampflos übergeben worden war.
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Im Hof stand ein Eimer voll Wasser, den habe ich mir über den Kopf gegossen, damit ich wieder klarer aus den Augen sehen konnte. Inzwischen
wurden die Verletzten auf Tragen aus den Trümmern geborgen.
Am Nachmittag wurden alle entwaffneten Soldaten vom Marktplatz aus in
westlicher Richtung durch die Stadt geführt. Rechts und links standen die
Einheimischen mit den Pistolen und Gewehren bewaffnet, die unsere Landser
am Morgen weggeworfen hatten und zielten auf die Vorübergehenden. Es
war ein schauriges Gefühl und wir waren machtlos der Willkür ausgeliefert.
Am Ortsrand von Čejetice, einem Vorort von Jungbunzlau, wurden wir auf
ein Fabrikgelände mit zwei parallel liegenden Gebäuden geführt und mußten
in Dreierreihen vor dem nördlichen Fabrikgebäude Aufstellung nehmen.
Angst vor dem Tod
Vor uns waren zwei Maschinengewehre russischer Bauart, Maxim Gorki
aufgebaut und es sah aus, als würden wir hier exekutiert. Wir mußten unser
Soldbuch abgeben, dann Brotbeutel, Feldflasche, Gasmaske, Seitengewehr
und alles was sonst noch an die Koppel hing, auf einen Haufen werfen. Es
wurde auf einmal leicht um Schultern und Hüften, aber die Angst verschnürte mir den Hals und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich nahm meine Brieftasche und besah noch die Fotografien meiner Eltern, drehte mir von
meinem Tabak eine Zigarette, gab meinem Nebenmann eine und wartete der
Dinge, die da kommen.
Die erste Flucht
Es wurde allmählich dunkel und wir standen seit drei Uhr nachmittags
noch immer auf dem Fabrikhof und starrten auf die besetzten Maschinengewehre. In mir regte sich ein Überlebenswille, und da unsere Hausseite bereits
im dunklen Schatten des Gebäudes lag, kletterten wir, ein Flaksoldat, ein
Mann von der Organisation Todt und ich, von der hinteren Reihe aus unbemerkt am Gebäudesockel entlang auf dem Boden kriechend am Gebäudeende
auf die angrenzende Straße, in die angrenzenden Felder. Der Raps stand
schon in voller Blüte und war so hoch, daß wir darin untertauchen und ungesehen in die Nacht verschwinden konnten.
Die Orientierung in der sternenklaren Nacht war sehr einfach, denn wir
wollten schnellstens nach Westen und hatten den Polarstern immer über dem
rechten Ohr, der uns die Richtung zeigte. Da die Russen noch nicht in diesem
Gebiet waren, hofften wir ungehindert voranzukommen, haben aber trotz27
dem um größere Ansiedlungen einen Bogen gemacht und meistens nur
Waldwege benutzt. Als endlich der neue Tag anbrach und wir schon weit von
Jungbunzlau entfernt waren, trafen wir an einer Abzweigung im Wald einen
jungen Mann. Der Flaksoldat fragte ihn nach dem Weg und ich griff, aus
Angst und aufgrund der gestrigen Erfahrung mit der bewaffneten Bevölkerung, an seine Jacke, um zu sehen ob er eine Waffe bei sich trage. Ich wollte
verhindern, daß wir wie Hunde abgeknallt werden, denn solche Übergriffe
sind ja vorgekommen.
Meine Begleiter teilten meine Vorsicht nicht und waren der Meinung, daß
der Tscheche uns jetzt erst recht verraten werde. Daraufhin habe ich mich von
ihnen getrennt und bin meinen Weg alleine gegangen. Etwa fünfzehn Kilometer vor Melnik kam ich auf eine Landstraße, auf der schon eine ganze Menge
Flüchtlinge und Landser unterwegs waren, so daß ich mich ein wenig sicherer
fühlte und mit ihnen auf der Straße weitermarschierte.
Da ich nichts zu essen und zu trinken hatte – Feldflasche und Brotbeutel
gab es nicht mehr – habe ich mich mit einem Auge immer nach etwas Genießbarem umgeschaut, entdeckte aber nichts außer einem Schächtelchen
„Maggi-Suppe“. Auch sonst war jeder nur bemüht, so schnell wie möglich
nach Melnik zu kommen, denn angeblich sollte die Elbbrücke bis neun Uhr
frei sein. Als wir dann auf der östlichen Seite von Melnik, kurz vor dem
Ortsteil Chloumek, in die Nähe einer Rundfunkstation kamen, wurden alle in
einem rechts an der Straße gelegenen Waldstück gesammelt, um angeblich
gemeinsam über die Brücke zu gehen.
Gefangenenlager Melnik
Es war 10. Mai und wir wollten alle bis um neun Uhr über die Elbbrücke,
aber es wurde immer später und die Zeit verrann, und erst nachdem eine
größere Gruppe versammelt war, wollten wir zur Stadt hinunter bis kurz vor
die Elbbrücke. Da hieß es auf einmal, daß dort Befestigungen aufgebaut und
Maschinengewehre in Stellung gebracht worden seien, so daß man nicht über
die Brücke könne.
Unsere Gruppe wurde nach links, südwestlich an das Ende der Stadt weitergeleitet. Dort kamen wir in einen mit hohen Drahtzäunen umgebenen Lagerplatz einer Zuckerfabrik in Melnik-Rousovice seitlich an einem Industriegleis. Im Laufe des Tages wurden immer mehr Soldaten hereingebracht und
es waren schon über tausend Gefangene auf dem Platz. Wir setzten uns auf
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den gepflasterten Boden und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Außer „Scheißhaus-Parolen“ gab es nichts zu essen und zu trinken, und wer selber keinen Vorrat hatte, war arm dran. Unsere Bewacher, die nur außen am
Zaun entlang liefen, machten keine Anstalten, unsere Lage zu mildern.
Als es Abend wurde, haben wir uns für die Nacht nebeneinander auf den
gepflasterten Boden gelegt. Ein Kamerad hat seinen Mantel mit mir geteilt,
damit ich mich etwas zudecken konnte. Meine Mütze hatte ich als Kopfkissen
unter meinen Kopf gelegt und hoffte, die Nacht zu überstehen. Die Bewacher,
tschechische Milizen und einige KZ-Leute, die in ihrer weiß-grau gestreiften
Häftlingskleidung bis an die Zähne bewaffnet um den Zaun liefen, hatten zur
Überwachung des Lagers an mehreren Stellen kleinere Feuer außen am Zaun
entzündet.
Einige Male wurden Leuchtpistolen in niedriger Höhe über unseren Köpfen abgeschossen und das brennende Magnesium fiel auf die liegenden und
schlafenden Menschen herab und es gab Verletzungen und Verbrennungen
und einige tumultartige Proteste, aber es half nichts. Als wir am nächsten
Morgen die Sonne aufgehen sahen, waren wir wieder voller Hoffnung und
hatten die Nacht schnell vergessen. In der Sonnenwärme krochen auch die
Kleiderläuse aus den Nähten der Jacken und Hosenbeine und begannen wieder aktiv zu werden. Wir jagten die lästigen Plagegeister und zerdrückten die
Läuse und Nissen und schauten immerzu mit hungrigen und durstigen Augen zum Haupteingang und hatten die Hoffnung, verpflegt zu werden. Aber
es wurden ständig mehr Gefangene durch das Tor hereingebracht und der
Lagerplatz füllte sich in immer größerem Ausmaß. Im hinteren Bereich waren
einige Gefangene mit dem Ausheben einer Grube beschäftigt und ich dachte
schon an Massengräber, doch es waren Latrinen, die dort gebuddelt wurden.
Ich habe in der Nacht arg gefroren und meine Blase entzündet und nun
andauernd das Gefühl, ich „müßte“ – und kann doch nicht, da ich nichts zu
Trinken habe. Was soll aus der ganzen Misere noch werden? Aber irgendwie
mußte es doch weiter gehen.
Die Bewacher befahlen, uns in Landsmannschaften einzuteilen, und zwar
immer zu hundert Mann. Dadurch bilden sich neue Gruppen und ich melde
mich zu den Westfalen und bin erstaunt über eine Gruppe „Austria“, die mit
rot-weiß-roter Fahne etwas Besonderes zu sein scheint – bis dahin kannte ich
„Austria“ nur als Zigarettenmarke. So entfernten sich die Einen und die Anderen von dem großdeutschen Reich.
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Die Russen kommen
Nach etwa drei oder vier Tagen ohne Essen und Trinken werden wir am
13. Mai durch ein Dröhnen und Rattern von russischen Panzern aufgeschreckt, die vorne am Haupteingang Halt machen. Einige Soldaten springen
von den Panzern und wollen Brot gegen Uhren tauschen, eine Uhr für ein
halbes Brot – ich habe keine Uhr, also was soll’s.
Da nun die Russen hier sind, haben wir Hoffnung, etwas zu Essen zu bekommen. Am nächsten Tag, es ist bereits der 14. Mai, bringt ein Tankwagen
Wasser und von einem Lkw wird Brot abgeladen, für zwanzig Mann ein Brot
– und eine Dose Wasser! Das war wie warmer Regen nach meinem letzten
Bratkartoffelessen, doch wie mag es weitergehen, denn solche Strapazen kann
man nicht lange aushalten. Es wurden einigen Soldaten und Offizieren die
Stiefel abgenommen, ein Offizier mußte auf graue Socken dort herumlaufen
und suchte nach was Eßbarem.
Am selben Tag machen wir uns zum Abmarsch fertig, stellen uns in Fünferreihen auf und langsam setzt sich die Kolonne in Bewegung. Wir sind ca.
5 000 Mann, eine lange Schlange von einem Kilometer, die sich mühsam
durch die Landschaft bewegt. Die russische Begleitmannschaft sitzt teilweise
auf Fahrrädern, sie fahren lärmend neben uns her und brüllen „Dawai, dawai“ und „Brava, brava“, was so viel wie „Weiter, weiter“ und „Rechts bleiben“ heißen soll.
Ich laufe an der Außenseite unserer Gruppe und blicke dauernd den Straßengraben entlang, ob sich nichts Eßbares darin befindet. Es ist sehr heiß und
die Sonne scheint unbarmherzig auf die Gefangenen. Wenn die Kolonne Halt
macht, müssen wir auf dem heißen Straßenbelag bleiben und dürfen nicht in
den Straßengraben oder gar in die angrenzende Wiese zum Ausruhen. Erst
am Abend bilden wir ein großes Areal und legen uns in die nasse Wiese zum
Schlafen. Die russischen Bewacher sitzen in ihren langen Mänteln eingehüllt
und mit dem Gewehr im Arm vor kleinen Lagerfeuern und träumen von
Frieden und Heimat und sind froh, daß der unselige Krieg für sie zu Ende ist.
Wir haben jedoch eine ungewisse Zukunft und der Weg, der vor uns liegt, ist
noch schwarz und dunkel.
Der Weg nach Prag
Am Morgen des 15. Mai machen wir uns weiter auf den Weg nach Prag
und sehen rechts der Straße die feuchten Niederungen der Elbe mit Sträu30
chern und Gebüsch und einem unwegsamen Gelände. Doch wer hat schon
ein Auge für die Schönheit der Natur, wenn über der Auenlandschaft ein russisches Aufklärungsflugzeug 3 auftaucht und nach einigen Runden ins Trudeln kommt und knapp einen Kilometer von der Straße entfernt in den sumpfigen Boden stürzt.
Ein Raunen geht durch die Kolonne und ich glaube, ein schadenfrohes Lachen zu hören. Das Glück wechselt schnell und plötzlich werden wir aus heiterem Himmel mit Gewehrfeuer belegt, das aus einem größeren Gebäudekomplex kommt, der etwa einen Kilometer rechts von der Straße am Ortsrand
von Klei (Kly) zu sehen ist 4 . Alles verkriecht sich auf der linken Straßenseite
im Graben und im Acker, Russen und Deutsche liegen einträchtig auf dem
Bauch und warten, bis es Nacht wird, um dann den Rückmarsch anzutreten.
Das Gebäude sah aus wie ein großes Kloster, aus roten Ziegel erbaut und
nur zwei bis drei Stockwerke hoch. Es stand einzeln auf weiter Flur inmitten
der Aue zwischen Elbe und Moldau, und man munkelte, daß die Waffen-SS
das Gebäude besetzt habe, um uns zum Abschied eine Lektion zu erteilen.
Nach kurzem Marsch haben wir wieder in einer sumpfigen Wiese unser
Camp aufgeschlagen und uns ins nasse Gras zum Schlafen gelegt. Die Brotration war schnell gegessen und die Nacht kalt und unendlich lang.
Schmalzgebackenes
Unsere Kolonne befand sich wieder auf dem Weg zurück nach Melnik,
aber die Beine waren schwer und der Hunger groß und wir kamen nicht
mehr so schnell weiter. Unsere Kolonne biegt von der Straße ab und wir gehen in ein Barackenlager, das noch von der Wehrmacht oder vom RAD
stammte. Ich komme in eine kleinere Stube und schaue als erstes in die Holzkiste neben dem Ofen. Darin finde ich einige „schmalzgebackene Küchle“,
leicht verstaubt und angeschimmelt – welche Freude!
Der nächste Tag führt uns wieder nach Melnik auf den gepflasterten Lagerplatz derselben Zuckerfabrik. Dort waren inzwischen neue Gefangene
eingetroffen und es war schon sehr bedrückend, was sich in der einen Woche
so alles abgespielt hat. Am Tag darauf mußten wir wieder auf die Straße,
Das Aufklärungsflugzeug, eine Polikarpov PO2, war bekannt unter den Namen „Nähmaschine“ oder „Kukuruznik“. Ein segeltuchbespannter leichter Hochdecker mit einem Motor,
der ähnlich einem Nähmaschinengeräusch brummt.
4 Möglicherweise hängt der Absturz des russischen Aufklärungsflugzeug mit diesem Beschuß zusammen.
3
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diesmal ging es in nördlicher Richtung etwa sechs Kilometer dem Elbtal entlang bis Liboch (Libéchov), dort zweigt die Straße nach Norden ab in Richtung Dauba (Dubá). Wir machen unser Nachtlager auf einer nassen Wiese
und frieren jämmerlich
Beim Marsch an der Labe (Elbe), auf einer gut ausgebauten Landstraße,
gingen wir in Fünferreihen, dabei fast die ganze Straßenbreite einnehmend,
auf der Allee. Auf der linken Straßenseite fuhren unsere Bewacher auf klapprigen Fahrräder und riefen ständig „Dawai, Dawai” und „Brava, Brava”, was
heißen soll schneller laufen und rechts bleiben.
Ein Militärlastwagen überholte unsere Kolonne, unter seine Plane standen
Soldaten in Uniform der Afrikatruppen. Ich nahm an, daß es sich Alliierte
Truppenteile handelt und hoffte auf eine Besserung unserer Lage. Wie ich
später erfahren habe, hat sich die tschechische Miliz aus den deutschen Militärbeständen eingekleidet.
Meine zweite Flucht geht mir durch den Kopf
Ich befinde mich in der Gruppe der Westfalen und laufe seit einigen Tagen
neben einem Kameraden aus Osnabrück, etwa achtzehn Jahre alt, und bespreche mit ihm die Möglichkeit einer Flucht. Mir war aufgefallen, daß uns ab
und zu Männer entgegen kamen, die durch Uniformteile noch als Wehrmachtsangehörige zu erkennen waren. Warum sie nicht aufgegriffen wurden,
oder ob es sich um Sudetendeutsche oder Tschechen gehandelt hat, konnten
wir nicht erfahren, aber der Gedanke lag nahe, selber ohne Uniformjacke und
Mütze laufen, wodurch es vielleicht gelingen könnte, zu fliehen. Ebenso war
mir aufgefallen, daß Leute hin und wieder mit Wasser gefüllte Eimer am
Straßenrand aufstellten, damit wir etwas zu Trinken hatten. Die russischen
Bewacher haben die Eimer zwar ab und zu umgestoßen, aber ich hatte die
Hoffnung, bei den Bewohnern Menschen anzutreffen, die uns vielleicht helfen könnten.
Während der Rast saß ein junger russischer Bewacher unweit von mir an
der Straßenböschung und hat ein Stück Brot gegessen. Auf meine Bitte, ob er
mir auch ein Stück (Chleb) Brot abgeben könne, brach er es halb durch und
reichte es mir. Ich denke, so schlimm würden sie wohl nicht sein, wenn sie
mich wieder einfangen sollten.
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Es ist soweit
Am nächsten Tag, am 20. Mai, etwa acht Kilometer vor Böhmisch-Leipa –
machte unsere Kolonne am späten Nachmittag plötzlich Halt. Rechts der
Straßenböschung war ein größerer Bach, der die Straße unterquerte 5 . Erst liefen ein paar Männer, dann immer mehr die Böschung herunter, um zu trinken oder sich in dem Bach zu waschen. Es entstand eine große Unruhe und
die Russen waren mit ihrem ständigen „Dawai, Dawai“ bemüht, die Gefangenen weiterzutreiben.
Diese Gelegenheit haben wir mein Kamerad aus Osnabrück und ich benutzt, um unsere Jacken und Mützen zu verstecken und unweit der Straße in
einem größeren Brennesselhaufen unterzutauchen. Dort haben wir den Abmarsch der Kolonne abgewartet, bis wir uns dann vorsichtig herauswagten.
Was geschehen wäre, wenn man uns erwischt hätte, konnte man an den
Kranken und den am Ende der Kolonne Liegengebliebenen sehen, sie wurden
einfach erschlagen oder durch Kopfschuß getötet. Unser Zustand konnte sich
auf Dauer nur verschlimmern, daher lieber ein Ende mit Schrecken, als ein
Schrecken ohne Ende.
Wir wollten in der Nähe ein besseres Versteck suchen und standen plötzlich zwei Jungens im Alter von etwa zehn Jahren gegenüber, die uns auf
Deutsch ansprachen. Ich bat sie um ein Stück Brot und kurz darauf kamen sie
aus einem an der Straße liegenden Haus und brachten jedem eine Scheibe
Brot mit Schmalz. Dann zeigten sie uns eine kleine Erdhöhle, die sie im Sand
an einer Uferböschung gebaut hatten und meinten, wir könnten dort bis zum
Abend bleiben.
Wir sind dann zwischen dem 20. und 21. Mai die ganze Nacht durch Waldund Feldwege in nordwestlicher Richtung gelaufen und kamen bei Bensen
(Benesov) wieder auf eine Landstraße, die nach Tetschen zur Elbe führte. Eine
Orientierung durch Straßenschilder war jetzt schwierig, denn die Russen hatten die alte Beschilderung durch blaue Schilder mit kyrillischer Schrift ersetzt.
Nur meine sehr guten Geographiekenntnisse und das Abzählen der fremdartigen Buchstaben hat uns erraten lassen, welche Stadt gemeint sein könnte.
Wir befinden uns am Rande des Naturschutzgebiets des Hirnsener Großteichs (Novozámecký rybník) , das rechts von der Straße liegt. Die etwas westlich vereinigten Bäche Bobri p. und Polsky p. unterqueren die Straße und fließen in den Hirnsener Großteich. Dieser
See war im 15. Jahrhundert für Fischereizwecke angelegt worden.
5
33
Der Hunger war unser Reisebegleiter, denn wir konnten nirgends nach etwas Eßbarem fragen. Als wir eine Wiese überquerten, sah ich auf einem verlassenen Lagerplatz im Gras ein Einmachglas liegen, das auf einer Seite zerschlagen war. Das gekochte Schweinefleisch war grün angelaufen, aber das
Schmalz lag noch schön weiß daneben. Ich habe es vorsichtig abgeschabt und
gegessen und dabei an die Pfütze gedacht, aus der ich ganz langsam und mit
zusammengebissenen Zähnen Wasser getrunken habe.
Bei dem Wort „Wasser“ kam auch schon der Gedanke: Wie überqueren wir
bloß die Labe (Elbe)?! – Die Brücke ist sicher stark bewacht und kann man
eine Festnahme so einfach riskieren? – Oder ist es besser, den Fluß schwimmend zu durchqueren? – Das Wasser ist bestimmt kalt, circa 8-10 Grad. – Unsere Kraft ist nach den Tagen der Entbehrung sehr geschwächt. – Also wagen
wir den Versuch? Doch wenn die Not am größten, ist Hilfe am nächsten!
Ein SA-Mann hilft uns weiter
Am 21. Mai, gegen Mittag, wurden wir von einem Mann überholt, der uns
mit den Worten ansprach: „Es war gut, daß ihr eure Uniformjacken weggeworfen habt, sonst hätte man euch wieder geschnappt“. Es war uns schon
nicht ganz geheuer, aber er sagte weiter, er sei Parteigenosse gewesen und
habe in dem Nachbarort Beneschau (Benesov) die Kartei der NSDAP vernichtet und sei jetzt auf dem Heimweg und wir könnten schon mit ihm nach Hause gehen.
Wir konnten die Hilfe nicht abschlagen, denn das größte Problem stellte
die Elbbrücke nach Bodenbach da, die als Nadelöhr von den Russen stark
bewacht wurde – und die lag bald vor uns. Als wir uns der Brücke nähern,
eine Stahlkonstruktion mit einem Bogenträger, sehen wir in der Brückenmitte
mehrere russische Posten stehen. Einige Personen befanden sich zu diesem
Zeitpunkt auf der Brücke und liefen herüber und hinüber und alles sah recht
friedlich aus.
Etwa dreißig Meter vor uns lief eine Bauersfrau mit einer Kruke auf dem
Rücken in der gleichen Richtung über die Brücke wie wir. Als sie bei den
Wachposten ankam, wollten diese den Inhalt des Korbes kontrollieren, doch
die Frau lief schnell weiter und die Russen hinterher. Diesen Umstand haben
wir genutzt und sind im Sturmschritt gerannt, haben die keifenden und
schimpfenden ungleichen Paare überholt und sind am anderen Ufer der Elbe
angekommen. Die Straße biegt nach links und rechts ab, denn geradeaus liegt
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die Eisenbahn direkt vor einem im Hintergrund steil ansteigenden Berg. Wir
gehen auf einem Fußweg über die Bahnlinie hinweg und steigen den steilen
Berg hinauf, um in die Siedlung zu kommen, wo unser Begleiter sein Häuschen hat.
Auf der Dorfstrasse ist alles gemütlich und freundlich, Frauen sitzen vor
den Häuser und nähen von Hand große tschechische Fahnen in rot-weiß mit
einem blauen Dreieck am schmalen Ende. Der Weg wird immer steiniger und
steiler, wir lassen den Wald hinter uns und gehen in sein Einfamilienhaus.
Das Haus steht am Waldrand auf einer schräg abfallenden Böschung. Mein
erster Weg ist ins Untergeschoß in die Waschküche; meine restliche Uniform,
meine Läuse, der Dreck und meine Angst werden abgewaschen. Mein Blick
geht durch die Kellertüre in den Garten und ich sehe die so ersehnte Freiheit.
Es hat geklappt!
Endlich haben wir ein Dach über dem Kopf und können uns beruhigt hinsetzen. Was habe ich alles in den zehn oder elf Tage erleben müssen und wo
sind die Kameraden hingekommen? Oder ist das alles nur ein Traum? Nein,
die Wirklichkeit sind meine Kleiderläuse und ich bin überglücklich, daß ich
mich in einem Holzzuber in der Waschküche säubern und waschen kann. Die
Hausfrau gibt uns Zivilkleidung, ich habe nun eine kurze Hose, ein Hemd
und eine blaue Baskenmütze. Auf die Hemdtasche nähen wir ein blau-weißrotes Emblem, und mit einigen Brocken Französisch hoffe ich über die tschechisch-deutsche Grenze zu kommen.
Wir bleiben eine Nacht, und am zweiten Tag machen wir uns frühmorgens
auf den Weg zu nahen Grenze, die nur fünf oder sechs Kilometer entfernt
liegt. Leichter Nieselregen und tiefliegende Wolken hingen über den dunklen
Tannenwäldern des Erzgebirges – genau das richtige Wetter für uns. Wir laufen auf einem zerfurchten Waldweg leicht bergan und sind sehr vorsichtig,
keinem Menschen zu begegnen. Am Weg finden wir stehengelassene Kriegsgeräte, ein Kettengrad lädt zum Fahren ein.
Wir sind in Deutschland
Nachdem wir die „grüne Grenze“ ohne Probleme überwunden haben, sind
wir guten Mutes und laufen über Stock und Stein bergauf und bergab durch
Tannenwälder immer „Go West“ und haben schon die Russen fast vergessen,
die doch als Besatzungsmacht hier stationiert waren. So laufen wir einen recht
steilen, bewaldeten Berghang ins Tal hinunter und stehen unvermittelt vor
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einer Gruppe von drei bis vier russischen Soldaten, die zwischen den Bäumen
am Waldrand standen. Mit dem Gruß „Strasduje Pan“, was so viel wie „Guten Tag, mein Herr“ heißen soll, habe ich die Situation gerettet und wir gingen anstandslos weiter, nicht ohne ein klammes Gefühl im Rücken.
Neben dem Straßenrand stand ein Pkw in einer Wiese und ich gehe hin um
zu schauen, ob es darin etwas Brauchbares gibt. Bei näherem Hinsehen finde
ich unter dem Sitz eine Zigarette, und da wir keine Streichhölzer hatten, wurde auch nicht geraucht und wir marschierten weiter auf der Straße. Auf einmal kam hinter uns ein Pferdegespann mit einer Kutsche gefahren, zwei
Russen saßen auf dem Bock. Als sie auf unserer Höhe waren, habe ich sie um
Feuer für unsere Zigarette gebeten. Zusätzlich zum Feuer luden sie uns ein
mitzufahren, und so stellten wir uns auf die Hinterachse und hielten uns oben
an der Rücklehne fest. Als sie nach links in einen Weg abbogen, bekamen wir
aus einer Milchkanne, die zwischen ihnen stand, einen Schnaps eingeschenkt
und wurden mit „Hitler kaputt“ verabschiedet.
Nachtruhestörung
Am Abend kamen wir in der Nähe von Gottleuba auf einen Bauernhof und
baten dort um Essen. Wir bekamen Pellkartoffeln mit etwas Leberwurst und
durften in der großen Küche auf dem Sofa übernachten. Nachts werden wir
durch ein Gepolter und Gegröle geweckt und sehen im Dunkel der Stube einige Russen laufen, die dauernd „Panjenka, Panjenka“ rufend in mein müdes
schlaftrunkenes Gesicht leuchten und auf meine Antwort „Nix Panjenka“
wieder verschwanden. Welch ein Schrecken, jetzt war auch klar, warum der
Bauer in der Küche für uns ein Nachtlager gemacht hatte, denn die Haustüre
führte direkt in die Küche und die Eindringlinge wurden sofort bemerkt. Was
mag sich da schon alles abgespielt haben?
Wir sind recht früh aus dem gastlichen Haus aufgebrochen und marschierten weiter in Richtung Liebstadt, bergauf und bergab durch grüne Wälder
und schmale Täler, bis wir am Waldrand eine Feldtelefonleitung sahen, die,
an langen Stangen eingehängt, am Waldrand entlang führte und uns warnte,
daß in der Nähe Russen stationiert sein können.
Es geht schon wieder los
Wir befinden uns etwa vierzehn Kilometer südlich von Pirna, da werden
wir durch den Zuruf „Ruki werch!“ (Hände hoch) aufgeschreckt und von einer russischen Patrouille festgenommen und zu einer Sammelstelle in das
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nahe Börnersdorf gebracht. Dort werden wir von der Bevölkerung mit einem
Teller Eintopf aus einer Milchkanne versorgt. Ich werde in eine Waschküche
eingeschlossen und bin alleine. Auf dem gemauerten Waschkessel steht eine
Flasche Weinbrand, und auf den Schrecken hin genehmige ich mir einen
Schluck. Aber ich war zu voreilig und habe den Mund voller Petroleum – ha,
was es nicht alles gibt.
Meinen Wehrpaß, in dem meine Entlassung aus dem RAD, nicht aber mein
Eintritt in die Wehrmacht eingetragen ist, habe ich noch immer bei mir. In der
Vernehmung kann ich den Russen auf diesen Umstand hinweisen und es
schien alles in Ordnung, aber ich muß noch bleiben und werde später in die
Wagenremise eines Bauernhofes eingesperrt. Meinen Kameraden aus Osnabrück habe ich nicht mehr gesehen, ich glaube es sind einige mit einem Lkw
abtransportiert worden.
Mein Pferdeverstand bringt mir Glück
Die russische Kompanie, die im Dorf bei den Bauern einquartiert war, hatte
eine ganze Menge Panje-Pferde in dem Obstgarten neben dem Bauernhaus.
Ich konnte mich frei bewegen und habe für die Pferde eine Futterkrippe gebaut und sie mit Heu und Hafer gefüttert. Es waren drollige Pferde mit dichtem, langhaarigen Fell und zotteliger Mähne. In der Nähe der Tiere habe ich
mich richtig wohl gefühlt und hatte nicht das Gefühl einer Gefangenschaft.
Meine Bewacher wurden von einem russischen Feldwebel kommandiert.
Er war nicht mehr jung und seine Schulter hing auf einer Seite stark nach unten. Ich war ihm sympathisch und er hat mich zu einem gemeinsamen Essen
eingeladen. Unter einem größeren Baum im Obstgarten saßen etwa sechs bis
sieben Soldaten im Kreis um einen großen Topf mit dicker Gemüsesuppe, viel
Fleisch und einer fetten Brühe. Dazu bekam jeder ein großes Stück Brot und
ein Wasserglas voll Schnaps.
Die russischen Polizistinnen, die in dieser Gruppe Dienst machten, haben
mich zusätzlich mit eingemachtem Obst und Spiegeleiern versorgt. Es war ein
Tag, wie man ihn sich nicht vorstellen kann. Nach Wochen der Strapazen,
Entbehrungen und Gefahren glaubte man sich in den Himmel versetzt, selbst
die blühenden Bäume und Sträucher und der strahlend blaue Himmel tun
das ihre dazu – es war ein Glückstag.
Es war Pfingsten und die Russen feiern heute ihren Sieg, daher die frohen
und freundlichen Gesichter. Es wird bis in die späte Nacht getrunken, gesun37
gen und zur Musik einer Ziehorgel getanzt. Ich liege in der Wagenremise auf
einem Haufen Stroh, die Ziehorgel spielt ständig das gleiche monotone, aufreizende Lied und nicht weit entfernt tanzen die Russen, bis der Boden
dröhnt. Ich versuche einzuschlafen und werde auf einmal durch Schüsse aus
Gewehren und Maschinenpistolen geweckt, daß ich meine, die Dachziegel
der Wagenremise fallen auf mich herunter.
Aller guten Dinge sind drei
Das war mir dann doch zuviel und mein Entschluß schnell gefaßt. Da die
Bewachung nicht sehr intensiv schien, habe ich unter der Bretterwand ein
Loch gebuddelt, bin rausgeschlüpft und in die Nacht verschwunden. Ich
wollte meine neue Freiheit nicht nochmals gefährden und bin sehr vorsichtig
durch die dichten Wälder der „Sächsischen Schweiz“ in Richtung „Osterzgebirge“ marschiert.
Bei meiner Wanderung kam ich an eine Bahnlinie und hoffte in ihrer Nähe
vielleicht einen Zug zu erwischen. Auf einem Abstellgleis stand ein Güterwaggon mit offenem Rolltor, der Waggon war halb voll mit Brillengläsern. Es
kann sein, daß sie aus dem nahen Zeiss-Werk in Jena stammten.
Bald kam ich in eine kleinere Stadt, und als ich auf dem Bahnhof nachfragte, hieß es, daß ein Güterzug nach Leipzig fahren würde. Wie die anderen
stieg ich auf das Dach eines Güterwaggons, setzte mich auf ein Bremserhäuschen und schon ging die Fahrt zügig voran. Plötzlich sehe ich hinter meinem
Rücken eine Brücke auf mich zurasen und konnte nur durch schnelles Bücken
einen Unfall vermeiden. Vom Güterbahnhof aus liefen wir dann in den
Hauptbahnhof, von dem nur noch die Fassade und das eiserne Gerippe standen.
Es war ein warmer, sonniger Tag und ich fühlte mich unter den Menschen
auf dem Bahnhof relativ sicher, obwohl es immer noch die russisch besetzte
Zone war. Bis zur Grenzlinie der amerikanischen Zonen waren es noch etwa
sechzehn Kilometer, die Reichsautobahn Nürnberg-Berlin bildete die Trennlinie zwischen den Russen und Amerikanern. Ich mußte ja über dieses Hindernis hinweg und wollte deshalb soviel wie möglich über einen günstigen
Schleichweg erfahren. Während eines Gesprächs im Leipziger Bahnhof – ich
stehe mit einem Fräulein an einem Bretterzaun am Ende des Bahnsteigs –
peitschte ein Karabinerschuß einen Handbreit an meinem Kopf vorbei in die
Bretterwand!
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Also nichts wie weiter
Gegen Abend bin ich müde, krank und entnervt auf dem Weg zur Demarkationslinie, um den Sprung in die Freiheit zu wagen. Ich laufe durch die
Hauptstraße von Schkeuditz in Richtung Halle/Saale. Da ich eine eitrige
Mandelentzündung habe, frage ich in einem Haus nach Wasser, um meinen
Mund auszuspülen. Eine Frau bietet mir ihre Wohnung zum Übernachten an,
so konnte ich seit langem wieder auf einem Sofa neben einem kleinen Radio
einschlafen. Nach einem Frühstück und einer Wegzehrung machte ich mich
am nächsten Morgen auf die Suche nach einem günstigen Überweg.
Nach der Autobahn wurde ich von der US-Army aufgegriffen und mußte
bis zu meinem Abtransport in einem kleinen Zwei- oder Dreimannzelt warten
und durfte die ölige und fettige Tomatensoße aus dem Eßgeschirr spülen, das
vom Mittagessen da stand. Einer hatte auch eine Gitarre im Zelt an seinem
Feldbett stehen, da habe ich richtig gestaunt, wie die Amis ausgerüstet waren,
es ging zu wie auf einem Campingplatz. Am Nachmittag wurde ich auf einen
Lkw verladen und zur Vernehmung nach Eisleben in die Lutherstadt gebracht.
Dort mußte ich vor einem größeren Gebäude auf meine Vernehmung warten und lief und stand im Hof herum. Aus einem Nebengebäude trat ein Ami
heraus, der auf einem Pappteller ein Tortenstück trug, ein schönes buntes
Stück, wie ein „Holländer Schnittchen“. Als er mich sah, streckte er es mir hin
und da ich nur verdutzt geschaut habe, machte er eine wegwerfende Handbewegung. Da ließ ich mich nicht zweimal nötigen und aß, glaube ich, das
erste Tortenstück in meinem Leben.
Ein Mann mittleren Alters und in Zivilkleidung stand an der Außenmauer
des Hauses mit dem Kopf zur Wand, um auf seine Vernehmung zu warten.
Ich glaube, es war ein Nazi, den sie da eingefangen hatten, und wahrscheinlich konnte er nicht verstehen, daß ich von einem „Feind“ ein Stück Torte genommen habe. Aber so verrückt war die Zeit und mit ihr auch die Menschen.
Der Dolmetscher des Vernehmungsoffiziers sprach mich in einem rheinischen Dialekt an und es war für mich ein komisches Gefühl, von einem
„Deutschen“ derart vor dem „Feind“ ausgefragt zu werden und meine Aussagen waren entsprechend stockend. Ich erzählte ihnen natürlich nicht, daß
ich schon Soldat war und aus russischer Gefangenschaft geflohen sei, sondern
konnte glaubhaft versichern, daß ich schon seit längerem Zivilist bin, und da
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ich meinen Wehrpaß vorzeigen konnte, den ich ja seit meiner Entlassung aus
dem Reichsarbeitsdienst (RAD) behalten habe, wurde ich freigelassen. Der
Vernehmungsoffizier fragte noch den Dolmetscher, was ist „RAD?“ Als Antwort sagte er: „Eine Naziorganisation“. Ich kam mir aber gar nicht wie ein
Nazi vor, doch was sollte ich noch sagen! Nach einem Eintrag in den Wehrpaß „Checked by US-Army“ und mit Datum 26. Mai 1945 wurde ich als frei
entlassen.
Frieden und Freiheit: Ich bin frei!
Ich habe mich auf dem Rathaus in Eisleben gemeldet und das Einwohnermeldeamt hat mich zu einem älteren Ehepaar in die Zeppelinstraße eingewiesen. Ich habe den Unmut der alten Leute gut verstehen können, denn ich kam
daher wie ein Penner: dreckig, verlaust, krank und abgemagert, und soll in
ein weiß überzogenes Bett und in ihrer heilen Welt Einzug nehmen. Aber ich
habe mich dann gebadet und entlaust und sah wieder menschlicher aus. Da
ich jetzt eine Lebensmittelkarte hatte, konnte ich mir ebenfalls etwas besorgen
und erinnere mich noch genau, daß ich in einem Milchgeschäft in der Nähe
täglich einen halben Liter Magermilch bekam.
Ich will nach Hause
Nach drei oder vier Tagen habe ich mich wieder auf die Socken gemacht
und bin über Sangerhausen, Nordhausen, Heiligenstadt nach Witzenhausen
getrampt. Wenn ich von einer Tagesetappe von ca. vierzig Kilometern ausgehe, dann bin ich die Strecke in etwa drei Tagen gelaufen. In Witzenhausen
wollte ich mal zur Kolonialschule gehen, um als Farmer nach „DeutschSüdwest-Afrika“ auszuwandern. Aber davon war jetzt keine Rede mehr.
Vor Witzenhausen traf ich eine ältere Frau mit ihrer Tochter, die sich mit
ihren Taschen an den Armen auf der Landstraße herumschleppten und als
Flüchtlinge auf dem Heimweg nach Düsseldorf-Oberkassel waren. Die Mutter war sehr unbeholfen, und ihre Tochter, trotz ihrer zweiundzwanzig oder
vierundzwanzig Jahren, auch nicht viel selbständiger. Mit meinen wenigen
Kräften habe ich einen Teil ihres Gepäcks getragen und ihnen die Wege und
Schlupfwinkel gezeigt, die notwendig waren, um ungeschoren weiterzukommen. Doch ich hatte immer die anderen Menschen vor Augen, die mir
Hilfe und Unterstützung auf meinen langen Wegen gaben und ohne die ich
vielleicht nicht nach Hause gekommen wäre.
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Ich bekam vom Bürgermeisteramt in Witzenhausen einen Passierschein,
der von Witzenhausen nach Kassel ausgestellt war, außerdem ein Stück von
einer Straßenkarte, damit ich mich frei bewegen konnte. Die Straßenkarte habe ich auf der Landstraße vor Kassel an einen schwarzen US-Soldaten gegen
eine kleine Schachtel Zigaretten getauscht, der mit seinem „Dodge-ArmeeLkw“ nach dem Weg gefragt hat. Den Passierschein habe ich dann in einem
Geschäft geändert und mit einer Schreibmaschine den Zielort von „Kassel“ in
„Düsseldorf“ umgeschrieben.
Nachdem wir Kassel verlassen hatten, wurde das Wetter schlechter und
leichter Nieselregen machte uns das Leben schwer. Wir waren in den Bergen
und Wäldern der Briloner Höhen, und die tiefhängenden Wolken und die
dunklen Tannen wollten keine gute Stimmung aufkommen lassen. Doch wir
hatten großes Glück. Vor uns auf der Straße stand ein Lkw mit Reifenpanne
und der Fahrer war über sein kaputtes Rad gebeugt und versuchte, den Reifen zu montieren. Er war dann von meiner Mithilfe so erfreut, daß er uns auf
den Lkw aufsitzen ließ und bis Hagen in Westfalen mitnahm.
21. März 2007
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