Forms and Functions of Unreliable Narration in Peter Carey`s

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Forms and Functions of Unreliable Narration in Peter Carey`s
Forms and Functions of Unreliable Narration
in Peter Carey’s Illywhacker
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Textinterne Signale für unreliable narration
2.1
Narrator & liar: eine explizite Selbstcharakterisierung
2.2
Weitere intertextuelle Signale der unreliability des Erzählers
2.3
Fremdcharakterisierung durch Nebenfiguren
3. Metafiktionale Elemente der unreliable narration in Illywhacker
3.1
Herbert Badgery als fiktiver Autor
3.2
Leahs Eingriffe in den Text
3.3
Fiktion in der Fiktion: M.V. Anderson
4. Paratextuelle Elemente der unreliable narration
5. Schlussbetrachtung
Bibliographie
3
1. Einleitung
Das literarische Genre der unreliable narration ist bereits in vielen Forschungsarbeiten
thematisiert und behandelt worden, jedoch gibt es keinen wirklichen Konsens darüber,
wodurch sich eine unreliable narration universell auszeichnet. Dass die Meinungen über die
Kategorisierungen des Phänomens und seiner Signale dabei teilweise sehr stark differieren
liegt an der Vielzahl und Vielfalt der Texte, die als unreliable narration konzipiert sind.
Vergleicht man beispielsweise den Erzähler in Edgar Allan Poes The Tell-Tale Heart mit dem
Erzähler in Peter Careys Illywhacker, so stellt man fest, dass sich das Kriterium des mad
monologist – das in diversen Abhandlungen über unreliable narration als Indikator genannt
wird – zwar auf The Tell-Tale Heart anwenden lässt, für Peter Careys Illywhacker jedoch nur
bedingt brauchbar ist, obwohl es sich in beiden Fällen um einen first person narrator handelt
der über sein Leben, bzw. einen Ausschnitt davon berichtet. Neben diesen textinternen
Signalen kommen noch die Wirkungsabsichten des Autors, die literarischen und kulturellen
Voraussetzungen in denen ein Text gelesen wird und somit schließlich auch die jeweils
individuellen und gesellschaftlichen Normen- und Wertesysteme hinzu, die der Leser als
Schablone an den Text anlegt. Durch die unterschiedlichen Kombinationen und
Gewichtungen dieser Einzelelemente ergeben sich unterschiedliche Sets von Merkmalen für
unreliable narration, die aber nicht universell gültig sind, sondern häufig nur textspezifisch
angewendet werden können.
Gegenstand dieser Arbeit ist nun die Herausarbeitung der verschiedenen Formen und
Funktionen von unreliable narration mit denen sich der Leser im Verlaufe von Peter Careys
Illywhacker (1985) konfrontiert sieht. Der Eindruck von unreliability wird dem Leser in
diesem Text auf sehr unterschiedliche Arten vermittelt. Sehr direkt geht vor allem der
Erzähler vor, der sich selbst und seine Lügen explizit charakterisiert und kennzeichnet und
somit den Leser auf die unreliability des Erzählten hinweist. Darüber hinaus bietet der Text
aber auch weniger explizite Hinweise auf unreliability, die sich erst durch den Kontext
erschließen lassen oder durch erst später im Text erscheinende Passagen, die vorangegangene
erläutern. Hinzu kommt die eventuell schon von vornherein vom Rezipienten gegebene
Erwartung einer unreliable narration, da sowohl Titel als auch Klappentext eine solche
Erzählung andeuten. Alle diese Elemente werden in den folgenden drei Kapiteln analysiert
und auf ihre Spezifität hin untersucht. Mit Hilfe der von Ansgar Nünning herausgegebenen
Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen
Erzählliteratur werden zunächst die textinternen Signale behandelt, dann die metafiktionalen
Elemente und den Abschluss bilden schließlich die paratextuellen Merkmale. Dabei werden
hauptsächlich die Theorien von Dagmar Busch und Gaby Allrath aber auch die einleitenden
Bemerkungen von Ansgar Nünning als Grundlage verwendet und als mögliche Sets von
Merkmalen für unreliable narration auf Peter Careys Illywhacker angewendet.
2. Textinterne Signale für unreliable narration
Unreliable narration kann auf verschiedenen Textebenen auftreten. Die prominenteste
und in der Forschungsliteratur am ausführlichsten behandelte ist dabei die intertextuelle
Ebene. Gaby Allrath widmet sich beinahe ausschließlich diesem Thema und auch in Ansgar
Nünnings Auflistung von Signalen für unreliable narration nehmen die textinternen Signale
den weitaus größten Teil ein. In diesem Kapitel wird nun eine Auswahl der Merkmale, die auf
Illywhacker zutreffen, vorgestellt und ihre Funktion in Bezug auf den Gesamttext und die
Rezeption durch den Leser erläutert.
Herbert Badgery ist der Erzähler des Textes und somit die erste Instanz die bei der
Analyse der Merkmale von unreliable narration in Illywhacker berücksichtigt werden muss.
Die unreliability die durch seine Figur ausgedrückt wird ist dabei sehr vielschichtig, genau
4
wie die Themen auf die sich die Unverlässlichkeiten beziehen. Zum einen ist Herbert Badgery
in seiner Ausdrucksweise sehr explizit 1 , indem er an verschiedenen Stellen seine Lügen als
solche offen legt, in anderen Fällen erschließt sich die unreliability erst durch die
Nebenfiguren oder den Kontext. Allerdings nimmt Herbert Badgery gerade durch seine
Perspektive eines first person narrator den größten Raum innerhalb der textinternen Signale
für unreliable narration ein, weshalb ihm auch ein Großteil dieser Arbeit gewidmet ist.
2.1. Narrator & liar: eine explizite Selbstcharakterisierung
Ein Merkmal, das in beinahe allen Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit unreliable
narration genannt wird, ist die Erzählperspektive. Besonders häufig wird dabei die des IchErzählers als hochgradig unreliable gekennzeichnet. Dagmar Busch kommt sogar zu dem
Ergebnis, dass innerhalb dieser Erzählperspektive wiederum Unterschiede ausgemacht
werden können und manche Ich-Erzähler eine stärkere unreliability ausdrücken als andere,
abhängig vom „Grad ihrer Teilnahme am fiktiven Geschehen […] Unverlässliche Erzähler
sind meistens autodiegetische Erzähler“ 2 So auch im Fall von Peter Careys Illywhacker, denn
Herbert Badgery ist nicht nur der Erzähler des Textes, sondern nimmt auch noch aktiv auf der
Ebene der Figuren am Geschehen Teil. Gerade bei diesem Erzählertyp kommt es laut Ansgar
Nünning zu einer „Häufung von subjektiv gefärbten Kommentaren, interpretatorischen
Zusätzen und weiteren persönlichen Stellungnahmen des Erzählers sowie von
Leseranreden“ 3 . Alle diese von Nünning genannten Merkmale treffen auch auf den Erzähler
in Illywhacker zu, allerdings geht Herbert Badgery noch darüber hinaus. Er verwendet die von
Nünning angesprochenen Aspekte um dem Leser die unreliability des im Folgenden von ihm
Erzählten zu verdeutlichen und ihm somit auch direkt den Leseauftrag zu vermitteln. So
wendet er sich folgendermaßen im Eingangskapitel an den Leser:
I am a terrible liar and I have always been a liar. I say that early to set things
straight […] lying is my main subject, my speciality, my skill. It is a great relief to
find a new use for it. […] But my advice is to not waste your time with your red
pen, to try to pull apart the strands of lies and truth, but to relax and enjoy the
show 4 .
In diesem kurzen Abschnitt wendet sich Herbert Badgery nicht nur direkt an den Leser,
sondern er gibt auch eine subjektive Selbsteinschätzung, sowie einen persönlichen
Interpretationsansatz. Er versteht sich als „ehrlichen Lügner“, der seine Eigenschaft offen
eingesteht. Doch gerade durch dieses vermeintliche Eingeständnis beraubt sich Herbert
Badgery bereits im sechsten Satz des Textes seiner reliability, denn durch das Paradox, dass
die Aussage „I am a liar“ niemals wahr sein kann ohne gleichzeitig falsch zu sein, führt er
sich selbst ad absurdum noch bevor seine Erzählung wirklich begonnen hat. Nichtsdestotrotz
1
Vgl. Nünnings Definition eines unreliable narrator: „Begriff für einen expliziten Erzähler, dessen Wiedergabe
der Ereignisse oder Interpretationen des Geschehens dem Leser Anlass gibt, seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu
ziehen“ In: Nünning, Ansgar. Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett.
2002. S. 197.
2
Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches
Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis
unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.43.
3
Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie
und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur
Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998.
S.6.
4
Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. S.16. Direkte Zitate aus dem Roman werden im
Folgenden ohne Fußnote durch die Angabe der Seitenzahl in Klammern hinter dem Zitat angegeben. Alle dem
Roman entnommenen Zitate beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebene Ausgabe.
5
ist er sogar noch stolz auf seine Fähigkeit, die er als „speciality“ und „skill“ tituliert. Die
unreliability seiner Erzählung sieht er somit beinahe sogar als künstlerisches Erzählverfahren
an. Für diese Annahme spricht auch der Rat an den Leser die „show“ zu genießen, ohne den
Versuch Wahrheit und Lüge voneinander trennen zu wollen. Bereits an dieser frühen Stelle
muss sich der Leser also entscheiden, ob er Herbert Badgerys Rat folgen will, nicht weiter zu
versuchen, dessen unreliability aufzudecken, oder ob er den folgenden Text mit einer
besonders kritischen, beinahe misstrauischen Einstellung betrachten soll. Gelingt es dem
Erzähler den Leser zu überzeugen, so hätte dies zur Folge, dass die unreliability nicht mehr
länger im Fokus steht. Vielmehr rückt das Geschehen in den Vordergrund, dem sich der Leser
unvoreingenommen widmen kann. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass genau das Gegenteil
eintritt, indem der Leser gerade durch den Appell nicht zwischen Realität und Fiktion zu
unterscheiden eben dieses versucht und den Text nur noch auf seinen Wahrheitsgehalt hin
untersucht. Diese Meinung vertritt auch Nünning, wenn er schreibt: „Das allgemeine Resultat
des als unreliable narration bezeichneten Phänomens besteht somit darin, die
Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Ebene des Geschehens auf den Sprecher zu
verlagern […] Nicht die Handlung steht somit im Zentrum, sondern die Perspektive und die
Normabweichungen des Erzählers“ 5 . Indem Herbert Badgery seine unreliability in direktester
Form eingesteht, tut er nichts anderes als den Rezipienten auf eben diese zu fokussieren. Sein
Rat „enjoy the show“ (S.11) muss also als Aufruf gesehen werden, seine Lügenkünste
bewundernd zur Kenntnis zu nehmen. Der Rezipient muss davon ausgehen, dass es sich bei
Herbert Badgery um einen professionellen Lügner handelt, der die Lüge zu seinem
Lebensinhalt gemacht hat.
2.2 Weitere intertextuelle Signale der unreliability des Erzählers
Neben dieser expliziten Selbstcharakterisierung erfüllt die Figur Herbert Badgery noch
weitere – weniger explizite – Bedingungen um als unreliable narrator klassifiziert werden zu
können. Nach Dagmar Busch liegt es bei unverlässlichen homodiegetischen Erzählern nahe,
„dass sie Privilegien der ,Allwissenheit’ in Anspruch nehmen, die ihnen nicht zustehen […].
Ein besonders beliebter Verstoß gegen diese Grenzen des homodiegtischen Erzählers besteht
darin, daß ein Erzähler vorgibt, die Gedanken anderer Figuren zu kennen“ 6 . In Illywhacker
werden die Gedankengänge anderer Figuren häufig durch den Erzähler wiedergegeben, ohne
dass dieser die Quelle seiner Information nennt. Nur im Falle seiner Geliebten bzw. seiner
Frau Phoebe erklärt er weshalb er ihre Gedanken schildern kann: „Phoebe looked into those
blue clear eyes and thought I was the devil. There was nothing soft about me, she thought, no
soft place, just this cold blue charm. She wrote all this in her book. Sometimes she showed it
to me“ (S.91). Auch wenn die Einsichtnahme in Phoebes Tagebuch die Kenntnis ihrer
Gedanken erklärt und der Rezipient Phoebes Briefen die Herbert später erwirbt, eine ähnlich
Funktion wie ihrem Tagebuch zugesteht, werden die Schilderungen der Gedanken der übrigen
Figuren wie Molly, Leah, Jack, Goon, Charles und Hissao nicht belegt. Für den Rezipienten
entsteht der Eindruck, dass Herbert Badgery ohne Umstände über die Gedanken und Gefühle
seiner Mitmenschen berichten kann. Tatsächlich ist dies aus der Perspektive eines first person
narrator aber nicht möglich. Zwar wird das Buch als fiktive Niederschrift vorgestellt (vgl.
Kapitel 3), jedoch kann sich der Erzähler nicht lückenlos über Gedanken und Emotionen aller
5
Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie
und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur
Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998.
S.19.
6
Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches
Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis
unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.44.
6
Nebenfiguren informiert haben, bevor er sich zur Niederschrift seines eigenen Lebens
entscheidet, da seine Erzählung bis zum Ende des Buches fortlaufend als work in progress
geschrieben ist, die auf die „interesting times ahead“ (S.600) verweist. Somit stellt sich für
den Rezipienten die Frage, ob der Erzähler tatsächlich heterodiegetische Fähigkeiten hat, oder
ob es sich vielmehr bei seinen Schilderungen um erdachte Gedanken seine Mitmenschen
handelt. Da er aufgrund seiner Erzählperspektive eigentlich keinerlei Einsicht in das
Innenleben der anderen Figuren haben kann, muss es sich also wiederum um subjektive
Einschätzungen und Erfindungen handelt, die keineswegs als verlässlich gelten können und
somit als eindeutigen Hinweis auf unreliable narration seitens des Erzählers gesehen werden
müssen.
Zudem gestaltet sich Herberts Verhältnis zum Lügen mehr und mehr problematisch; die
Grenze zwischen eingestandener und unfreiwilliger unreliability verwischen. Die „show“ des
Selbstdarstellers Herbert Badgery nimmt mehr und mehr zwanghafte Züge an, die ihren
Ursprung in der Kindheit zu haben scheinen. So scheint ihn besonders das Verhältnis zu
seinem Vater zu belasten, denn in der Rückschau auf seine Kindheit berichtet er wie folgt von
einem prägenden Ereignis: „there I was at ten years old telling lies, saying my father was
dead“ (S.41). Das Lügen als Lebensinhalt beginnt für Herbert also bereits im Alter von 10
Jahren. Im Erwachsenenalter scheint sich jedoch seine Angewohnheit so sehr gefestigt zu
haben, dass er nicht länger in der Lage ist, sie zu kontrollieren. Er gesteht ein, dass er sogar
sich selbst belügen kann: „it was no trouble to lie. I always lied about snakes. I always lied
about women. It was a habit. I did it […] charmingly. I was so enthusiastic that I could
convince myself in half a sentence” (S.27) und dass er lügen muss um gesellschaftsfähig zu
sein: „It was the trouble with the world that would never allow me to be what I was. Everyone
loved me when I appeared in a cloak, and swirled and laughed and told them lies. They
applauded. They wanted my friendship. But when I took off my cloak they did not like me”
(S.79). Besonders im letzten Statement tritt die Zwanghaftigkeit des Lügens in den
Vordergrund.
Mit der Zwanghaftigkeit geht auch der Eindruck fortschreitender madness einher, die
Gaby Allrath in ihrer Abhandlung fokussiert thematisiert hat. Sie stellt fest: „Dabei fällt
besonders die starke Ich-Fixierung zahlreicher ,mad monologists’ auf; ihre Sicht der
Wirklichkeit steht im Zentrum ihrer Rede, ihr Monolog umkreist nur ihre eigenen
Erfahrungen und Ansichten, durch deren Darstellung sie ihr Verhalten zu rechtfertigen
suchen“ 7 . Demnach wäre die mehr und mehr unkontrollierten Lügen des Erzählers eine
Schutzfunktion um sich die Mitschuld am Tod von Jack, dem Verschwinden seiner Tochter
Sonja, dem Scheitern seiner Beziehung, sowie des Mordes an Goon nicht eingestehen zu
müssen. Die Lüge und somit die unreliability dient in Herbert Badgerys Leben also nicht nur
seiner Selbstdarstellung, sondern auch dem Selbstschutz. Das Lügen ermöglicht ihm die
Flucht in andere Welten, die für ihn weniger bedrohlich sind als die Realität mit der er sich
konfrontiert führt und die aufgrund der terra nullius Lüge und ihrer Konsequenzen ebenso
unreliable ist, wie Herberts Erzählung selbst.
2.3 Fremdcharakterisierung durch Nebenfiguren
Doch nicht nur Herbert Badgery gibt Hinweise auf seine unreliability, auch die ihn
umgebenden Nebenfiguren weisen mehr oder weniger stark darauf hin. Besonders auffällig ist
dabei, dass er von beinahe jeder dieser Nebenfiguren zumindest einmal in irgendeiner Form
als Lügner bezeichnet wird, wie die folgende Auflistung zeigt:
7
Allrath, Gaby. „,But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable
narration”. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis
unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.66.
7
Phoebe: „You are what they call a confidence man. You can be anything you want (S.91)
Leah: „who could believe you?” (S.328)
Annette: „He is a confidence man […] It is there for anyone to see” (S.152)
Goon: „You made up stories all the time“ (S.369)
Cocky Abbot: „you’ve done me a favour by showing me what a ratbag you are” (S.140)
Die Frage die sich dem Rezipienten aufdrängt ist weshalb Herbert Badgery solche
Charakterisierungen seiner Person in „sein“ Buch, als dessen fiktiver Autor er sich ausgibt
(Vgl. Kapitel 3.1), aufnehmen sollte, da sie ihn allesamt in kein gutes Licht rücken. Zum
einen mag dies geschehen um den Anschein von Authentizität zu erwecken, indem er sich
nicht immer nur selbst als „King of Liars“ (S.304) bezeichnet, sondern auch in den
Kommentaren der anderen Figuren Bestätigung sucht.
Zum anderen zeigt sich an der dichten Thematisierung der Lügen durch die anderen
Charaktere auch die Wichtigkeit des Motivs in Bezug auf die Gesellschaft. Herbert Badgerys
gesamtes Umfeld scheint sich auf dem Feld des Lügens bestens auszukennen, so dass die
Gesellschaft als verlogen oder zumindest als hochgradig unreliable dargestellt wird. Im
Gegenzug auf die oben aufgeführten Zitate bezeichnet Herbert Badgery seinerseits Phoebe
und Leah als Lügner (S.204: „She was a liar“; S.395: „Honest Leah had become Lying
Leah“). Positive Aspekte kehren sich in negative um und für Herbert Badgery bedeutet es das
Ende seiner zwei Beziehungen. Phoebe, die ihn einst noch wegen seine Lügenkünste
bewunderte (You have invented yourself, Mr Badgery, and this is why I like you“ S.91)
verlässt ihn und reißt ihn damit ebenfalls aus seiner gedachten Welt. Ebenso konfrontiert ihn
auch Leah mit der Wirklichkeit, wenn sie sagt: „It’s all lies, Mr Badgery“ (S.292). Mit „all“
drückt Leah dabei sämtliche Thematiken aus, die der unreliability des Erzählers anheim
fallen. Zum einen referiert der Ausdruck zurück auf persönliche Beziehungen, die Herbert zu
andere Figuren knüpft bis hin zur Familiengründung. Darüber hinaus betrifft die unreliability
aber auch die Identität nicht nur des Erzählers, sondern aller Figuren des Romans. Aufgrund
der noch jungen Geschichte des „weißen“ Australiens können Herbert, Leah und Phoebe auf
keinerlei Traditionen zurückgreifen, mit denen sie eine eigene gefestigte Identität begründen
könnten. Selbst das Land, das sie bewohnen ist durch die terra nullius 8 Lüge unsicher und
unbeständig. Stattdessen flüchten sich alle Beteiligten in Geschichten und Erzählungen, in
denen sie ihre eigene Wirklichkeit und Identität kreieren. Leah geht dabei so weit, dass sie
dem Erzähler jahrelang eine andere Wirklichkeit vortäuscht und selbst längst verstorbene
Personen darin lebendig erhält. Auch Phoebe flüchtet in eine andere Welt, die sie in ihren
Gedichten zum Ausdruck bringt. Somit ist die von Herbert Badgery vorgeführte unreliable
narration nichts anderes als ein Spiegel des australischen sozio-kulturellen Empfindens seiner
Zeit. Mit seinem Ausruf „To wife and child […] To aviation, to Australia“ (S.187) bezeichnet
er alles worauf er sich eben nicht verlassen kann: seine Beziehungen, Familie, Beruf und
Land. Der Rezipient muss davon ausgehen, dass alle Schilderungen, die diese Thematiken
einschließen hochgradig unreliable sind und aufgrund der Vorraussetzungen auch gar nichts
anderes sein können.
3. Metafiktionale Elemente der unreliable narration in Illywhacker
Neben den intertextuellen Signalen für unreliable narration bietet sich für den
Rezipienten auch die Möglichkeit unreliability auf einer übergeordneten Ebene, der
metafiktionalen ,zu analysieren. Auch hier gibt es viele Formen in Illywhacker, die sich
unterschiedlich auf den Text auswirken. Zum einen kann schon die first person narratorPerspektive als Metafiktion identifiziert werden, da sie mit der Behauptung einhergeht
8
Vgl. Stohscheidt, Elisabeth. „Auswirkungen der britischen Eroberung auf das Leben von Aborigines und
Torres Strait Islanders.“ In: Bader, Rudolf (Hg.). Australien. Eine interdisziplinäre Einführung. Trier: WVT.
2002. S.69.
8
Herbert Badgery sei der Autor des Textes. Zum anderen greift dann auch noch eine
Nebenfigur als Autor in den Text ein und zwar so, dass Herbert Badgery keinen Einfluss auf
ihre Textpassage nehmen kann. Schließlich zeigt sich noch als dritte Form der Metafiktion die
„Fiktion in der Fiktion“ bzw. „das Buch im Buch“, denn Herbert Badgery zitiert mehrfach aus
dem rein fiktiven Werk. Aufgrund dieser gehäuften metafiktionalen Elemente gewinnt die
Interpretation des Rezipienten an Tiefe, da ihm hierdurch neue Aspekte aufgezeigt werden,
die auf der textimmanenten Ebene eventuell nicht zugänglich sind. Somit gewinnt der
Rezipient nicht nur Distanz zum Erzählten und kann es auch aus einer ganz anderen
Perspektive betrachten; das Verhältnis von Text und Erzähltem kann dadurch entscheidend
beeinflusst werden.
3.1 Herbert Badgery als fiktiver Autor
Herbert Badgery gibt sich als fiktiver Autor des Textes zu erkennen und betont seine
schriftstellerische Tätigkeit fortlaufend. Durch diese Metafiktion gesteht der Erzähler in
besonderem Maße seine Subjektivität ein, da er seine Lebensgeschichte aus seiner
Perspektive in seinem Buch niederschreibt. Die Handlung und die beteiligten Personen
unterliegen dabei seiner Einschätzung und Darstellung, was Jonathan Culler als „narrative
Autorität“ bezeichnet 9 . Lediglich die historischen Fakten lassen sich auch in einer solchen
Erzählperspektive nicht verleugnen. So ist es nicht weiter verwunderlich dass gerade diese
Fakten nur am Rande erwähnt werden. Sein besonders Verhältnis zur Geschichte thematisiert
der Erzähler, indem er sagt „I would rather fill my history with great men and women,
philosophers, scientists, intellectuals, artists, but I confess myself incapable so vast a lie. I am
stuck with Badgery & Goldstein […] arguing about the nature of life and our place in the
world“ (S.326). An dieser Stelle wird das Fehlen einer Australischen Geschichte jenseits der
Aboriginal Kultur deutlich in Bezug zur unreliability des Textes gesetzt. Aus der
Notwendigkeit heraus eine eigene Identität konzipieren zu müssen gestaltet Herbert Badgery
die Welt in „seinem“ Buch nach seinen Vorstellungen.
Problematisch wird die Glaubwürdigkeit der von Badgery geschaffenen Welt immer dann
wenn die Darstellungen des Erzählers ins Unrealistische abdriften. Zu nennen wären hier zum
einen die Vorgänge um das Verschwinden Goons, dass entweder tatsächlich als Magie oder
aber realistisch als Mord gesehen werden kann, das Verschwinden der Tochter Sonja, die
Geistergeschichte nach Jacks Tod, sowie das Alter des Erzählers. Alle diese von Herbert
Badgery aufgeführten Vorfälle kollidieren so stark mit dem Werte- und Normensystem des
Rezipienten, dass hier die unreliability besonders deutlich belegt wird, jedoch nimmt diese
mehr und mehr unkontrollierbare Züge an. Der Rezipient kann sich nicht länger sicher sein,
ob er immer noch Teil der Show ist, die Herbert Badgery im Eingangskapitel angekündigt hat,
oder ob sich dieser allmählich zu einer Art mad monologist entwickelt, der sich seiner eigenen
unreliability nicht länger bewusst ist. Zudem kommen noch der eingestandene hohe
Alkoholkonsum
(S.318),
bewusste
Wahrnehmungsstörungen
(S.331;
S.510),
Erinnerungslücken (S.81) und erhebliche Stimmungsumschwünge (S.29). Durch die
metafiktionale Behandlung dieser Erzählschwierigkeiten wird die unreliability besonders
hervorgehoben und zwar jede ihrer Formen, sowohl die unbewusste als auch die bewusste,
das Vertrauen in den Erzähler und somit in das Erzählte überhaupt sinkt drastisch ab und wird
durch Leahs „Korrekturen“ nur noch mehr erschüttert.
9
Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Stuttgart: Reclam. 2002. S.128.
9
3.2 Leahs Eingriffe in den Text
Besonders ausführlich tritt die Metafiktionale Ebene auf den Seiten 548-551 in den
Vordergrund. Hier übernimmt Leah Herberts Stelle als fiktiver Autor und schreibt nun
ihrerseits den Text weiter. Dabei erhebt sie den fiktiven Anspruch den bisherigen Teil des
Buches schon gelesen zu haben und greift hier nun ein um Herbert Badgery des Plagiates zu
bezichtigen und seine Sicht der Dinge zu kritisieren und nach ihrer Meinung richtig zu stellen.
Dass auch diese Passage als unreliable angesehen wird, liegt daran, dass Leah in ihrer
vorübergehenden Funktion als Erzähler die gleichen Merkmale von unreliability aufweist wie
Herbert Badgery. Sie ist emotional in das Geschehen involviert, in keiner guten körperlichen
Verfassung, alkoholabhängig und psychisch belastet. Somit wirkt sich die Metafiktion nicht
nach ihrer Absicht aus, dass der Rezipient über Herberts schlechten Charakter aufgeklärt
wird, sondern stattdessen gewinnt die unreliability des gesamten Textes an Stärke. Statt einem
unreliable narrator sind nun schon zwei an der Niederschrift ihre Lebensgeschichte beteiligt,
die unreliability entwickelt sich allmählich zum allumfassenden Gesellschaftskonzept.
Die Vielfältigkeit der Erzähler (Herbert, Leah), Erzählformen (Geschichte, Lyrik, Briefe,
Passagen anderer Figuren als Erzähler), sowie des Erzählten (Lebensgeschichte,
Landesgeschichte, ökonomische Entwicklung, etc. ) und die daraus entstehenden Formen der
unreliability (subjektive, rezipientenbezogene, historische, etc.) werden auf der
metafiktionalen Ebene zusammengeführt und unterstreichen den ganzheitlichen Eindruck des
Textes 10 .
3.3 Fiktion in der Fiktion: M. V. Anderson
Aber es sind nicht nur Zusätze anderer Figuren zum Text, die Herbert Badgerys Fiktion
aufbrechen, sondern auch er selbst erweitert die Ebene des fiktiven Autors (M. V. Anderson)
um eine weitere: Er führt einen weiteren fiktiven Autor an, auf dessen Werk er sich und seine
Lügenkünste stützt. Er zitiert M. V. Anderson, der seine Vorfahren aufgrund der terra nullius
Lüge explizit als „liars“ (S.456) bezeichnet und Herbert Badgery schließt daraus für sich „that
a liar might be a patriot“ (ebd.). Durch Andersons fiktiven Buchauszug versucht der Erzähler
seine eigenen Gedanken als die eines anderen darzustellen und beansprucht somit einen
gewissen Wahrheitsgehalt für seine Aussagen. Der Rezipient soll glauben, dass es sich bei M.
V. Anderson um einen verlässlicheren Autor handelt als Herbert Badgery und dass dieser da
er sich auf Anderson bezieht dadurch ebenfalls an reliability gewinnt. Bekräftigt wird dieses
Vorhaben durch die Tatsache, dass Herbert Badgery betont, dass es sich bei dem Buch um ein
Schulbuch handelt, also ein Buch das für Bildungszwecke autorisiert ist. Jedoch nennt er an
keiner Stelle den Titel des Buches, so dass dessen Existenz schließlich nicht nachprüfbar und
belegbar ist.
Herbert Badgery gewinnt aus dem Buchauszug jedoch keinen verlässlichen Bezug zur
australischen Geschichte, sondern vielmehr findet er darin einen Vorwand seine zahlreichen
Lügen und erdachten Geschichten zu legitimieren 11 . Für ihn ist das Lügen gleichsam wie für
M. V. Anderson eine Möglichkeit sich eine eigene australische Geschichte zu konzipieren und
mit ihr eine eigene Identität. Die doppelte Fiktion in Peter Careys Illywhacker dient also dazu,
die unreliability des fiktiven Autors Herbert Badgery einerseits zu erklären und zusätzlich zu
rechtfertigen.
10
Vgl. Antor, Heinz: „the various levels […] interact in the novel” zitiert aus: “Australian Lies and the Mapping
of a New World: Peter Carey’s Illywhacker as a Postmodern Postcolonial Novel“. In: Anglistik: Mitteilungen des
Verbandes Deutscher Anglisten. 9:1. 1998. S.155.
11
Vgl. Allrath, Gaby. „,But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von
unreliable narration”. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis
unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.71
10
4. Paratextuelle Elemente der unreliable narration
Gerade im Bereich der paratextuellen Ebene bieten sich zahlreiche Indikatoren für
unreliable narration. Besonders hervorzuheben ist in erster Linie dabei vor allem der Titel
„Illywhacker“. Dass damit eine Art Spieler, Trickbetrüger oder Gauner bezeichnet wird, kann
bei australischem bzw. englischsprachigem Publikum zwar als bestehendes Weltwissen
vorausgesetzt werden, nicht jedoch notwendigerweise bei Rezipienten, deren Muttersprache
nicht Englisch ist. Jedoch ist das Verständnis des Titels von elementarer Bedeutung für die
Interpretation der Erzählung, da so bereits vor Beginn des Textes auf seine Unverlässlichkeit
hingewiesen wird. Carey impliziert somit bereits die Konzeption einer unreliable narration,
indem er sich eines landestypischen Ausdrucks bedient. Dieser ist sogar von so großer
Bedeutung, dass vor dem eigentlichen Text eine Zusatzinformation in Form von Ausschnitten
der Begriffserklärung aus dem Dictionary of Australian Colloquialisms gegeben wird:
illywhacker A professional trickster, esp. operating at country shows [derived
by Baker (1945) from spieler]
1941 Kylie Tennant The Battlers 183-4: An Illywhacker is someone who is
putting a confidence trick over, selling imitation diamond tie-pins, new style
patent razors or infallible “tonics”… “living on cockies” by such devices, and
following the shows because money always flows freest at show time. A man
who “wacks the illy” can be almost anything, but two of these particular
illywhackers were equipped with a dart game.
1943 Baker 40: Illywhacker A trickster or spieler.
1975 Hal Porter The Extra 15: Social climber, moron, peter-tickler, eeler-spee,
illy-wacker. 12
Durch diese Lexikonauszüge wird sichergestellt, dass sich auch ein Rezipient, der nicht
direkt mit dem Ausdruck „Illywhacker“ 13 vertraut ist, über die Bedeutung des Titels bewusst
ist, bevor er den eigentlichen Text zu lesen beginnt. Bereits davor hat der Leser sich
wahrscheinlich zusätzlich schon mit dem Klappentext beschäftigt, in dem ebenfalls erklärt
wird: “In Australian slang, an Illywhacker is a country fair con man, an unprincipled seller of
fake diamonds and dubious tonics. And Herbert Badgery, the 139-year-old narrator of Peter
Carey’s uproarious novel, may be the king of them all“ 14 . Diese Erklärung in den
verschiedenen Teilen des Buches ist besonders wichtig: “[it] explains and eliminates tensions,
incongruities, contradictions and other infelicities the work may show by attributing them to a
source of transmission“ 15 .
Somit liegt eine dreifache Rezipientenbeeinflussung vor Beginn der eigentlichen
Erzählung und jedes Mal steht der „Illywhacker“ im Vordergrund. Der Schwerpunkt der
Rezipientenlenkung liegt also bereits im Vorfeld auf der Verdeutlichung der unreliability des
Textes. Die paratextuellen Signale, die im Falle von Peter Careys Illywhacker vorliegen
weisen also überdeutlich auf das Vorliegen einer unreliable narration hin. Neben Herbert
Badgerys expliziter Selbstcharakterisierung als permanenter Lügner sind Titel, Klappentext
und Epigramm wohl die eindeutigsten Signale der unreliability, was Peter Careys Roman
besonders auszeichnet, denn nur selten sind die paratextuellen Signale so prominent wie in
diesem Fall.
12
Wilkes, G.A. A Dictionary of Australian Colloquialisms. Sydney. 1978. In: Carey, Peter. Illywhacker. New
York: Vintage. 1996.
13
Den Begriff der „maximal relevancy“ beschreibt u.a. Perry, Menakhem. „Literary Dynamics. How the Order
of a Text Creates Its Meaning“. In: Poetics Today. 1.1. 1979. S.45.
14
Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. Klappentext.
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Yacobi, Tamar. „Fictional Reliability as a Communicative Problem“. In: Poetics Today. 2:2. 1981. S.119.
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Bezeichnend ist, dass eben diese ohnehin schon dominanten paratextuellen Signale
zusätzlich später im Text selbst beinahe wörtlich als testinterne Signale wieder aufgenommen
werden. Auf den Seiten 245 und 246 bezeichnet Leah Herbert Badgery wortgetreu als
„illywhacker“ und erklärt auf die Frage von dessen Sohn Charles Badgery, ein „Illywhacker“
sei „A spieler […] A trickster. A quanding. A ripperty man. A con man“ (S.245). Diese
Wiederaufnahme und Umwandlung eines paratextuellen Elementes in ein textinternes durch
Leah, die das Buch als solches zu kennen vorgibt, verbinden schließlich alle drei Ebenen von
unreliable narration, die in Peter Careys Illywhacker bedient werden und gewinnen dadurch
an Ausdrucksstärke.
5. Schlussbetrachtung
Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass Peter Careys Roman Illywhacker eine
Vielzahl von Kriterien erfüllt, die für eine unreliable narration maßgeblich sind. Diese
Kriterien wurden dabei auf unterschiedlichen Ebenen untersucht. An erster Stelle steht
innerhalb der unreliable narration Herbert Badgery, der Erzähler, der das Lügen als seine
größte Fähigkeit herausstellt. Da es sich bei unreliability immer um ein graduelles Phänomen
handelt, muss aber nicht nur seine explizite Selbstcharakterisierung berücksichtigt werden,
sondern auch die impliziteren Hinweise, die im Text gegeben werden. Zum einen stammen
diese Impulse direkt vom Erzähler, zum anderen weisen aber auch die Nebenfiguren auf die
unreliability des Erzählten hin. Durch dieses Zusammenspiel ergibt sich schließlich das Bild
einer hochgradig unverlässlichen Gesellschaft, die sich wechselseitig ihre unreliability
vorwirft. Die literarische Form der unreliable narration dient in Peter Careys Illywhacker als
Möglichkeit der Spiegelung der kulturellen und sozialen Verhältnisse des Nicht-AboriginalTeils der australischen Gesellschaft und dessen noch relativ jungen Geschichte.
Auf einem den textinternen Signalen übergeordneten Level, der metafiktionalen Ebene,
wiederholt sich dieses Muster. Herbert Badgery vermittelt den Text als etwas das er nicht ist:
sein Buch. Mit der fingierten Autorschaft verliert der Text insgesamt an Glaubwürdigkeit, da
er als das vorgetäuschte Werk eines unreliable narrator gelesen werden muss. Darüber hinaus
nehmen auch weitere Figuren Anteil am Text wie Leah und auch Phoebe mit ihren eigenen
Textpassagen bzw. Gedichten. Und schließlich öffnet Carey noch eine weitere Dimension,
indem er Herbert Badgery ein Buch zu lesen lassen scheint, das wiederum nur fiktiv ist. Somit
bietet sich auf dieser Ebene ein fiktiver Autor, der „seinen“ Text auf das Eingangskapitel
eines Werkes eines weiteren fiktiven Autors stützt. Die reliability des Textes wird somit auf
der metafiktionalen Ebene in dreifacher Hinsicht gesenkt. Die textinternen Signale der
unreliability erhalten durch die fortgeführte unreliability auf der zweiten Ebene größere
Ausdruckskraft und einen tieferen Bedeutungsgehalt. Die unreliability liegt nicht mehr länger
nur beim Erzähler, sondern betrifft darüber hinaus den gesamten Text als solchen.
Ebenso wie auf der intertextuellen und auf der metafiktionalen Ebene findet sich auf der
paratextuellen Ebene die Entsprechung der unreliability. Hier wird der Rezipient explizit
darauf hingewiesen, dass es sich bei Peter Careys Illywhacker um eine unreliable narration
handelt. Sowohl Klappentext als auch Titel und Lexikonauszüge im Innenteil des Buches vor
Beginn des eigentlichen Textes drücken in aller Deutlichkeit den Charakter des Erzählers und
seines Erzählten aus. Dafür spricht auch dass der Titel gleich dreifach definiert wird, zum
einen durch den Autor des Klappentextes, dann durch den Lexikoneintrag und schließlich
erneut im Text durch eine literarische Figur.
Somit zeigt sich an Peter Careys Illywhacker, dass unreliable narration anhand vieler
verschiedener Faktoren bestimmt werden kann und sich daraus eine Vielzahl
unterschiedlicher Formen ergibt. Doch trotz der unterschiedlichen Ebenen auf denen sich die
unreliability im Roman zeigt ergibt sich für den Leser ein ganzheitlicher Gesamteindruck. Die
Wechselwirkung, das Zusammenspiel und die Durchlässigkeit der Ebenen ermöglichen
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schließlich auch den Transfer auf die Wirklichkeit. Peter Careys Australien ist aufgrund seiner
noch jungen Geschichte und dem damit einhergehenden Identitätsproblem ebenso unreliable
für seine Bewohner wie die Welt in Illywhacker für Herbert Badgery.
Bibliographie
Primärliteratur
Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996.
Sekundärliteratur
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von unreliable narration“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Unreliable Narration. Studien zur
Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen
Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.59-79.
Antor, Heinz. “Australian Lies and the Mapping of a New World: Peter Carey’s Illywhacker
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Deutscher Anglisten. 9:1. 1998. S.155-178.
Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein
erzähltheoretisches Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Unreliable Narration.
Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen
Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.41-58.
Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Stuttgart: Reclam. 2002.
Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitivnarratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar
(Hg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens
in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.3-39.
--- Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett. 2002.
Perry, Menakhem. „Literary Dynamics. How the Order of a Text Creates Its Meaning“. In:
Poetics Today. 1.1. 1979. S.35-64.
Stohscheidt, Elisabeth. „Auswirkungen der britischen Eroberung auf das Leben von
Aborigines und Torres Strait Islanders.“ In: Bader, Rudolf (Hg.). Australien. Eine
interdisziplinäre Einführung. Trier: WVT. 2002. S.63-91.
Yacobi, Tamar. „Fictional Reliability as a Communicative Problem“. In: Poetics Today. 2:2.
1981. S.113-126.
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