Ohne Titel - Stadt Buchholz
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Ohne Titel - Stadt Buchholz
Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, „27. Januar? Ist das nicht schon wieder irgend so ein Nazi-Gedenktag? Ich kann es nicht mehr hören. Irgendwann ist mal gut. Die Verbrechen waren schrecklich. Ja, ja. Aber das ist lange her und was habe ich damit zu tun? Nichts. Ich habe jetzt ganz andere Sorgen.“ Kommen Ihnen diese Aussagen bekannt vor? Hat der ein oder andere von Ihnen das auch schon einmal so oder so ähnlich gedacht? Und wenn - ist das nicht nur zu verständlich? Haben wir nicht genug Sorgen, Probleme, Nöte? Und muss Geschichte nicht endlich auch mal Geschichte sein? Es gibt auf diese Frage nur eine Antwort. Meine Damen und Herren, vor 65 Jahren betraten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Die Befreier stießen in dem kurz zuvor von der SS evakuierten Komplex auf 7600 von Hunger und Auszehrung gezeichnete Menschen, auf 650 Leichen - und auf die Hinterlassenschaft hunderttausender weiterer Opfer. Auschwitz, meine Damen und Herren, ist zum Synonym geworden, zum Synonym für millionenfachen Mord, für Folter und Menschenversuche vor allem an Juden aber auch an Sinti und Roma, an Homosexuellen, Behinderten, Zeugen Jehovas, politisch Andersdenkenden. Auschwitz steht für eine bis ins letzte Detail geplante mit industrieller Effizienz arbeitende Menschenvernichtungsmaschine. Es waren Deutsche, unsere Eltern, Groß- und Urgoßeltern, die diese Maschine in Gang setzten und bedienten. Diese Tatsache wirft Fragen auf. Warum wurden diese Deutschen zu willigen Werkzeugen? Wie konnten intelligente Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf Frauen, Kinder und Alte schießen, - und sich zum "Feierabend" an Versen Goethes oder Mozarts Musik erfreuen? Wie geht das zusammen in einem Kopf? Woher kam dieser mörderische Gehorsam? Was waren das für Menschen? Und - kann so etwas wieder passieren? Meine Damen und Herren, nicht alle SS-Leute waren von Anfang an bereit zu töten. Sie wurden zu Mördern gemacht, sie lernten das Töten in der Mörderschule - im KZ Dachau. Hier wurden die SS-Männer systematisch entmenschlicht. Ihr Ausbilder hieß Theodor Eike. Er baute Dachau in fünf Jahren zum Zentrum für das Spinnennetz der Lager aus - ein Apparat zur Zermürbung und Vernichtung von Menschen durch Zwangsarbeit, Hunger, Krankheit, Folter, Mord. „Eicke war der Architekt der Lagerwelt, er rekrutierte die Täter“, schreibt der Historiker Guido Knopp in seinem Buch „Die SS“. Wer waren diese Menschen? Karl Stojka, Wiener Zigeuner, 1943 nach Auschwitz deportiert, kennt sie genau: „Nicht Hitler, Göring, Goebels, Himmler und wie sie alle hießen haben mich verschleppt und geschlagen. Nein, es war der Schuster, der Nachbar, der Milchmann. Und dann haben sie eine Uniform bekommen, eine Binde bekommen und eine Haube, und dann waren sie die Herrenrasse.“ Und diese Herrenmenschen gehorchten. Als Heinrich Himmler Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, erklärte Hitler habe die „Endlösung“ der Judenfrage befohlen - und die SS hätte sie auszuführen, sagte Höß: „Ich hatte nichts zu sagen; ich konnte nur ,Jawohl!‘ sagen.“ Was hätten wir gesagt? Wären wir gehorsame Mörder geworden? Hätten wir den Befehl verweigert? Meine Damen und Herren, eine schreckliche Antwort gibt das Milgram-Experiment. Vor gut zehn Jahren haben österreichische Wissenschaftler es wiederholt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt: Wie wie weit gehen Menschen, wenn ihnen eine Autorität Befehle erteilt? Dazu wurden 20 harmlose Männer und Frauen von einem falschen Wissenschaftler aufgefordert, einen Fremden mit Stromstößen zu bestrafen. Neun von zehn gehorchten. Jeder zweite hätte das angebliche Opfer schwer verletzt - oder umgebracht. Es gilt das gesprochene Wort Die Moral von der Geschichte hat Guido Knopp so formuliert: „Jeder hätte Täter werden können. Jeder ist gefährdet, wenn ein krimineller Staat die Schranken zwischen Recht und Unrecht bricht. Die menschliche Natur ist schwach. Ein Himmler und ein Mengele, ein Eichmann und ein Heydrich stecken in uns allen.“ Wir alle wissen, wie brüchig zivilisatorische Werte sind und wie wichtig es ist, den Menschenrechten immer wieder neu Geltung zu verschaffen. Wir müssen wachsam sein und den Anfängen wehren. Dafür gedenken wir und dafür denken wir nach. Das ist die Botschaft dieses Tages. Wir haben diesmal aber auch einen ganz konkreten Anlass, den Anfängen zu wehren. Für Anfang Dezember hatte die Lüneburger NPD zu einer Demonstration in Buchholz aufgerufen. Der Aufmarsch wurde kurzfristig wieder abgesagt - und mit der Ankündigung verbunden, Anfang des neuen Jahres einen neuen Anlauf zu machen. Der Rat der Stadt hat sofort reagiert und einstimmig eine Resolution gegen Gewalt von rechts und links verabschiedet. Zurzeit spielt uns das Wetter in die Hände. Vielleicht haben wir Glück und die neuen Nazis lassen von uns ab. Aber wir bleiben wachsam. Auch dazu dient dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Denn auch in Hamburgs Speckgürtel hat Brechts Wort noch immer Bestand: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Meine Damen und Herren, diese Erkenntnis zeigt: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir gehen den Rattenfängern nicht mehr auf den Leim. Wir kennen und erkennen den Ungeist. Und auch wenn es schwer fällt und schmerzhaft ist - wir halten ihn aus. Aushalten bedeutet freilich nicht, ihn zu ignorieren. Ganz im Gegenteil. Freiheit und Demokratie sind stark in unserem Land und unserer Stadt. Die Buchholzerinnen und Buchholzer stellen sich den Feinden der Freiheit entgegen. Wir tun das jüngst mit einem Bündnis gegen Gewalt und Extremismus. Und wir tun das seit Jahren, indem wir uns - als eine der wenigen Städte in Deutschland - auch und gerade diesen Gedenktag jedes Jahr aufs Neue zu eigen machen. Jedes Jahr erfüllt ihn ein Buchholzer Verein oder eine Institution mit Inhalt. Heute gilt dem Parabol-Theater unser Dank, das den Gedenktag für die Stadt Buchholz gestaltet. Im kommenden Jahr, das steht bereits fest, werden sich Jugendzentrum und Stadtjugendpflege dieser Aufgabe stellen. Auch das ist eine Methode, den Ungeist zu überwinden. Vielen Dank.