Essay – eine journalistische Darstellungsform

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Essay – eine journalistische Darstellungsform
Ulrich Pätzold
Essay – eine journalistische Darstellungsform
I. Essay in der Entwicklung des Journalismus
Merkmale für eine Definition:
Ein Essay („Probe“, „Versuch“) ist eine kurze, zu Gedanken und Erkenntnissen
(Hypothesen) führende Abhandlung. In ihr verknüpft ein Autor Wahrnehmungen
und Betrachtungen zu kulturellen oder gesellschaftlichen Zuständen (Recherchen) argumentativ zu einer individuellen Sichtweise (Perspektive). Stilistisch
verschwimmen im Essay ähnlich wie in der Reportage und im Feature Grenzen
zwischen literarischen und journalistischen Ausdrucksformen.
Essays nutzen Beobachtungen und Recherchen relevanter Interpretationen
und verknüpfen sie mit
Logik, Argumentation und Deutungen
zu einer These über ein Thema öffentlicher Relevanz.
Essays entwickeln zu ihren Themen eine ausgewiesene Perspektive.
Sie beleuchten Fakten, Szenen und ihre Interpretationen
experimentell im Spiel mit Assoziationen und Gedanken
und weisen auf Folgen hin, die Deutungsansprüche
für den einzelnen Menschen, für Gruppen und für die Gesellschaft haben.
Das journalistische Grundmuster gilt auch für den Essay,
Texte informativ, unterhaltend und spannend zu gestalten.
Das Publikum soll auf Sachverhalte und Deutungen gelenkt werden.
Es soll den Autor dabei begleiten, wie er Bilder findet und sich Gedanken über
das Thema macht und diese zu einer klaren Hypothese zusammen führt.
Rückblick und Bestandaufnahme:
Der Essay entstand als eine literarische Form im 18. Jahrhundert. Er eignete sich
für die Schriftsteller in den neuen literarischen, politischen und kulturellen Zeitschriften. Der Essay war im beginnenden Zeitalter des Journalismus eine „freie“
Darstellungsform der Autoren, die für ein „gebildetes Publikum“ schrieben. Heute
würde man sagen, der Essay hatte die Funktion, Meinungsführerschaft zu bilden
oder auszudrücken. Wer Rang und Namen in der Kultur, in der Wissenschaft oder
in der Politik hatte, den drängte es in die Medien mit Essays.
Im Essay hatte der Name des Autors ebenso Gewicht wie die Gedanken, die über
ihn in die Öffentlichkeit gelangten. Der Essay war deshalb ursprünglich eine Möglichkeit der Selbstdarstellung von Eliten. Erst in seiner journalistischen Anwen-
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dung, die mit der Zeit die Gewichtung vom Autor zur Redaktion verlagerte, verlor
der Essay seine elitäre Sonderstellung im Medium und wurde zu einer allgemeinen Darstellungsform der „intelligenten“ Meinungsbildung.
Von der Zeitschrift fand der Essay im 19. Jahrhundert in die Zeitungen - meistens in Beilagen oder im Feuilleton angesiedelt. Später im 20. Jahrhundert entstanden die Essayformen im Radio, die bis heute in den Kulturprogrammen überlebt haben. Der Fernsehessay ist schwer zu verorten. Er hat sich rund um den
Dokumentarfilm gruppiert, hat aber auch Spuren im Kabarett hinterlassen. Im
Internet verliert der Essay seine formale Strenge. Durch die Bedeutung der Autorenrolle werden wahrscheinlich inzwischen mehr essayistische Beiträge ins Netz
gestellt als Reportagen oder Feature. Große Teile der Blogs sind Essays, ebenfalls
eine nicht zählbare Vielzahl an Videobeiträgen (you tube z.B.). Je stärker Printmedien und Blogs auf Autorenbeiträge setzen, desto stärker wird der neue Journalismus essayistisch geprägt.
Essay als Bausteine des crossmedialen Journalismus:
Der Spiegel geht am 25.10.1994 online. Beim damaligen Internetpionier klingelte
das Modem mit 9600 Bit pro Sekunde seltsame Töne und auf dem Bildschirm
blinkte aufgeregt jedes neu eintröpfelnde Datenpaket. Als die ersten Videos im
Daumennagelformat ins Netz gestellt wurden, ruckelten sie noch über die Monitore. Homepage-Ladezeiten von fünf, zehn oder fünfzehn Minuten wurden mit
dem Gang zur Kaffeemaschine überbrückt. Die meisten Menschen nahmen damals diese Techniken der Informationsvermittlung und der amateurhaften
Selbstdarstellung von Autoren nicht ernst. Dabei war das Web von Anfang an
bunt, wild und kreativ.
Selbst horrende Kosten von zehn Mark pro Stunde waren den Nutzern nicht zu
teuer – Hauptsache, man war dabei. Suchen und Finden waren purer Spaß, gemischt mit einem Schuss Entdeckerlust, Google gab’s noch nicht, und den LinkKatalog von Yahoo konnten sich Papier-Liebhaber noch komplett auf etwa fünfzig
A4-Seiten ausdrucken. Lange ist’s her. Heute ist alles ganz anders. (Die Sätze
dieser beiden Absätze sind eine Essay-Sequenz).
Das Web formatiert den Journalismus neu:
Das Web hat sich dramatisch gewandelt, ist in alle Lebensbereiche vorgedrungen
und verwandelt das Medienverhalten immer weiter. Das Web ist konventioneller
geworden, dafür aber auch schneller, facettenreicher, crossmedialer. Wer heute
etwas wissen will, wer eine Frage hat, geht ins Web und holt sich die Antwort.
Und zwar schnell. Per Google oder auf Facebook, über you tube und wie auch
immer die Plattformen heißen mögen. Nicht nur über den Rechner zu Hause ist
das Web präsent, sondern auch über Laptops oder per App auf im Smartphone.
Das Web ist bei mehr und mehr Menschen im Alltag immer und überall präsent.
Die Egobotschaften prägen einen großen Teil der Kommunikation. Mit ihnen erlebt das essayistische Publizieren eine Renaissance.
Eine erste Generation ist mittlerweile mit dem Internet groß geworden. Für sie
stehen die lange etablierten Funktionen der tradierten Medien Print, Hörfunk und
Fernsehen grundsätzlich auf dem Prüfstand. Wer junge Menschen nach der Nut-
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zung klassischer Medien fragt, bekommt nicht selten Gegenfragen gestellt:
„Warum soll ich die Nachrichten von gestern noch einmal auf Papier lesen?“
Oder: „Warum soll ich meinen Tagesablauf auf die Sendezeiten von ARD, ZDF,
RTL oder Sat1 einrichten?“ Die Mediennutzungsgewohnheiten ändern sich, die
Print-Reichweite beispielsweise sinkt beständig. Sicher ist: Mit dem Aufkommen
des Internets ist vieles denkbar geworden, was bislang als undenkbar galt. Das
Internet ist kein neues Medium im althergebrachten Sinn, das der Medienpalette
einfach einen neuen Modus hinzufügt, wie es beim Kino (stationär vertontes Bewegtbild), beim Radio (Ton) oder beim Fernsehen (gesendetes, vertontes Bewegtbild) der Fall war. Es ist vielmehr eine neue technische Plattform, auf der
alle bekannten Medien-Modi, von der Schrift über den O-Ton bis hin zum Bewegtbild nebeneinander und in beliebigen Verknüpfungen stattfinden. Es ist mit
seinen unterschiedlichen Diensten und Plattformen ein Medium ganz eigener Art.
Es erweitert die Reihe der klassischen Medien nicht um einen zusätzlichen Vermittlungsmodus, sondern überdeckt die alten Medien mit einer in einer JetztHier-Alles-Kommunikationstechnik.
Dabei werden spielerisch Erfahrungen aus alten Medien mit ihren Ausdrucksformen für das Web übernommen, von denen man sich die größten Effekte verspricht. Saubere Trennungen der Darstellungsformen gibt es kaum noch. Auch
Formen des Essays sind allgegenwärtig, oft auch als Mittel, das subjektive Ich
deutlich in den Vordergrund zu rücken. Durch diese Entwicklung sterben nicht die
alten Medien. In ihnen passen sich aber die Journalisten an die neuen Kommunikationsmuster im Web an. Der essayistische Stil ist vor allem in den alten Zeitungen zu einem neuen Merkmal des Journalismus geworden. Allerdings ist das
Papiermedium der deutlichste Verlierer der Medienevolution. Vorstellbar ist
durchaus, dass die Zeitung auf Papier irgendwann ein Dasein als elitäres Nischenprodukt fristen wird. Die Zeitungsverlage stehen vor einer langen Reihe
neuer Herausforderungen. Die Frage nach tragfähigen Geschäftsmodellen mit
dem Web ist für viele Medienanbieter überlebenswichtig geworden.
II. Exkurs Journalistik:
Das Web lässt sich kaum verstehen, wenn es einfach neben die klassischen Medien gestellt wird und als deren logische Fortsetzung interpretiert wird. Für Journalisten führt es weiter, sich das Internet als ein All-Medium vor Augen zu führen, in dem sämtliche bislang bekannte Kommunikationstechnologien und Kommunikationsformen zusammen fließen. Ob Brief oder Telefonat, ob Zeitung oder
Zeitschrift, ob Radio oder TV-Sendung, ob Podiumsdiskussion oder PowerpointPräsentation, ob Katalog oder Lexikon, ob CD oder DVD, ob Stadtplan oder Straßenkarte – das Web saugt sie alle auf und verknüpft sie miteinander. So entstehen neue Kommunikationsstrukturen, in denen Formen wie Nachrichten oder Essays neue Funktionen erhalten. Die Frage, wie Beobachtungen, Wissen und Ereignisse zu Deutungen, Sinnbehauptungen und Urteilen führen, wird im Internet
ganz anders vorgeführt als wir es aus den linearen Darstellungswelten aus dem
Zeitalter der Autoren früherer Jahrhunderte kennen gelernt haben.
Der Journalist als Gatekeeper ist aus dem Spiel genommen. Die vertrauten Vorstellungen vom Journalisten als den Gatekeeper der öffentlichen Meinungsbildung
(siehe Kursanfang „Nachrichten“) reichen nicht mehr aus, um Journalismus als
Profession im Internetzeitalter begründen zu können. Die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der Journalisten waren ebenso wie ihre kommunikativen Funk-
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tionen durch eine klare Rollenverteilung zwischen Redaktionen und Publikum definiert. Journalismus hatte die gesellschaftliche Funktion, in komplexen Gesellschaften eine Nachfrage nach Chronik, nach Übersicht und Einordnung des tagesaktuellen Geschehens zu befriedigen. Dafür brauchte man Profis, die dafür
Geld bekamen zu recherchieren, zu filtern und dann in ansprechenden Formen zu
publizieren. Leser, Hörer und Zuschauer zahlten dafür als Medienkunden.
Mit dieser professionellen Funktion gewannen Journalistinnen und Journalisten
als Berufsgruppe eine vielfach hinterfragte Macht als kaum zu umgehende FilterInstanz: Sie bestimmten darüber, was in den Blättern und auf den Sendern zum
Thema gemacht werden konnte und gemacht wurde – und was nicht. Sie setzten
in erheblichem Maße die öffentliche Agenda und waren die Schleusenwärter für
die veröffentlichten Informationen. Publizistische Teilhabe des Publikums erschöpfte sich in Leserbriefen und Zuschaueranrufen.
Das Web hat diese Gatekeeper-Funktion des Journalismus inzwischen gründlich
erschüttert. Das hierarchische Gefälle zwischen den Informanten da oben und
den Informierten da unten ist auf vielen Feldern zumindest deutlich flacher geworden, wenn nicht sogar unwiderruflich eingeebnet. Im Web begegnen sich
Journalisten und Nutzer auf Augenhöhe: Jede publizierte Information, jede Meldung, jeder Bericht kann prinzipiell von jedermann überprüft, kommentiert, gegebenenfalls ergänzt oder korrigiert werden. Das in den Redaktionen individuell
erworbene, in vielen professionellen Recherchen gewachsene Zugangswissen –
lange Zeit die Basis der journalistischen Informationsvorsprünge – steht heute
täglich ebenso unter massivem Kontrolldruck wie das an Rolle und Status gebundene Interpretationsprivileg, das die Geschichte des Essays geprägt hat.
Nicht nur im Nachrichtenjournalismus findet ein massiver Funktionswandel statt.
Er gilt ebenso für die engeren, die Meinungen bildenden Funktionen des Journalismus, also für Kommentare, für Reportagen und vor allem für die Darstellungsformen, die man im weiten Sinne als Essay bezeichnen kann. Auch hier gibt es
keine Exklusivfunktionen für Journalisten mehr. Am deutlichsten wird das in der
neu entstandenen Blogosphäre, in den vielen Plattformen für die Blogger. Nicht
nur zufällig tummeln sich dort auch viele Journalistinnen und Journalisten. Die
Blogosphäre ist die eigentliche Renaissance des Essays. In ihr wird nicht nur kontrolliert, was an Informationen zu bestimmten Themen öffentlich wird. Sie ist vor
allem eine Bühne für eigenständige Autorenstatements, meist in selbstbewusster
Tonart. Selbst der anonyme Nick äußert sich als Persönlichkeit, um seine Sicht
der Dinge, also seine Sinnkonstruktionen entschieden vorzustellen, nicht selten
sogar mit journalistischen Qualitätsstandards, also professionell.
Berufsintern wird kontrovers darüber diskutiert, ob Blogger Journalisten seien
oder nicht. Für das Internet muss gelten: Wenn engagierte Menschen Zeit investieren, skeptisch Quellen prüfen, hohen Aufwand für das Recherchieren investieren und ihr Wissen mit gut begründeten Deutungen verbinden, dann beweisen
sie journalistische Leistungen, die für Profiredaktionen oft unwirtschaftlich wären.
Wenn sie dann auch noch unter Beweis stellen, sicher mit der Sprache und anderen Ausdrucksformen umgehen zu können, entgrenzen Blogger das klassische
Verständnis vom Journalismus als Profession. Wenn sie denn auch noch mit solchen Leistungen Geld verdienen, gibt es keinen Grund, diese neuen Essyaisten
nicht dem Berufssystem Journalismus zuzuordnen.
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Neue Rollen des Berufs:
Journalismus ist heute die Gesamtheit einschlägiger Kommunikationsleistungen,
die das Ziel haben, regelmäßig, verlässlich, kritisch, in der Meinungsrichtung unabhängig und inhaltlich plausibel über öffentlich relevante Ereignisse und Themen zu informieren, um damit möglichst auch Geld zu verdienen.
Dazu gehört auch, die Form des Essays für den Journalismus wieder zu entdecken. Der essayistische Journalismus entsteht überwiegend außerhalb einer Medienredaktion und er wertet den Journalisten als Autor auf. Nur im günstigen Fall
ist heute der Journalist noch in eine Medienredaktion eingebettet und kann
gleichzeitig ein kreatives und konstruktives Verhältnis zur Blogosphäre entwickeln. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, hat
dazu in einem Artikel zur Zukunft des Journalismus 2010 mit feiner Ironie angemerkt: „Professioneller Journalismus erklärt verlässlich, was passiert – nach professionellen Kriterien. Wenn ein Möbelverkäufer oder ein Fitnesstrainer das aus
irgendwelchen Gründen auch kann, dann – herzlichen Glückwunsch.“
Neue journalistische Aufgaben:
Die journalistischen Aufgaben verändern sich nicht in ihrem Anspruch. Was für
den Journalismus insgesamt gilt, gilt auch für journalistische Essayisten: Informationen zu sammeln und sie in Zusammenhängen mit anderen Informationen
zu gewichten; das öffentliche Geschehen auszuleuchten, nach dem Sinn des Geschehens im Einzelnen zu fragen und nach Antworten auf gestellte Fragen zu suchen; anregend mit allen Ausdrucksmitteln ein möglichst großes Publikum anzusprechen.
Seit dem Internet gewinnen quantitativ die Anteile im Journalismus, in denen aus
einer erkennbaren individuellen Perspektive Beiträge erstellt werden, in denen
die unterschiedlichen Teilaufgaben des Journalismus ganzheitlich zusammen gefasst werden. Das Nebeneinander von Nachricht und Kommentar, von Reportage
und Hintergrundbericht wird zu einem einheitlichen meinungsbildenden Miteinander verwoben. Die Funktionen dieser verbindenden Beitragsformen sind neben
der Information vor allem die Orientierung. Solche orientierende journalistische
Beitragsformen sind Essays. Der mit ihnen einhergehende Funktionswandel mit
der bewussten Ausprägung des Subjekts in der öffentlichen Kommunikation wird
in den USA als „New Journalism“ mit einem eigenständigen Qualitätsmerkmal
beschrieben. Journalisten werden im New Journalism zu Flaneuren der Zeitgeschichte.
Mit dem Internet hat sich aber auch die Rolle des Essayisten geändert. Das journalistische Subjekt ist nun autonomes Subjekt auf den Plattformen. Der Essay ist
im Internet nicht mehr wie früher eingeordnet in eine mediale Welt, die den öffentlichen Kommunikationsprozess hierarchisch redaktionell von oben nach unten
organisiert hat. Im Internet muss sich journalistische Professionalität auf gleicher
Augenhöhe mit dem Publikum behaupten. Journalistische Leistungen müssen
diskutierbar werden, sollen eine Anschlusskommunikation erzeugen. Erst mit
dieser Diskursivität belegt der professionelle Journalismus seine Orientierungsfunktion.
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Der Essay ist für diese Funktion geradezu geschaffen. Er nutzt die Kompositionsmöglichkeiten von Informationen und ihrer Verknüpfungen zum Aufbau von
Argumentationsmustern. Informationen bekommen auf diese Weise eine Zuordnung, einen Stellenwert. Auf dem Ozean der Informationen im Internet ist das
eine journalistisch wichtige Leistung. Er bündelt aber nicht nur Informationen
sondern koppelt sie mit Bedeutungen, die sie für Einzelne, Gruppen und ganze
Gesellschaften haben. Er verbindet also Informationen mit Machtpositionen und
Machtansprüchen. Durch Bündelung und Verbindungen der Informationen entsteht das intellektuelle und argumentative Potenzial eines Essays. Essays sind
heute nicht mehr in erster Linie die ästhetischen und literarisierenden Meisterleistungen von Autoren. Sie sind Beitragsformen, die aktuelle Ereignisse un aktuellen Themenfeldern von allgemeinem Interesse verbinden und diskutierbar machen. Die dazu notwendigen Informationen und Gedanken ordnen sie, strukturieren sie und stellen sie in Sinnzusammenhänge. Sie sind Knotenpunkte und Verdichtungszonen in einer Umgebung, die Übersichten und Deutungen immer
schwerer machen.
III. Essays – in der journalistischen Praxis
Der Einstieg als Ergebnis der Vorbereitung:
Von Anfang an verbindet die Arbeit am Essay das Thema mit dem Autor. Der Autor hat eine Vorstellung im Kopf, was er mit dem Thema aussagen will. Seine
Recherchen, seine Verknüpfung der einzelnen Informationen, seine Suche und
Auswahl der Bilder sind mit dem Ziel verbunden, dem Ganzen einen Sinn zu geben, eine Geschichte zu erzählen, die eine Deutung zulässt, was im einzelnen
erzählt wird. Bevor man sich an das Schreiben macht, wird bereits eine allgemeine These als Aussageziel im Kopf sein.
Der Flaneur der Zeitgeschichte hat seine Ahnen im journalistischen Flaneur des
Feuilletons aus alten Zeiten. Der betrat die journalistische Bühne im Zeitalter der
Industrialisierung und des schnellen Wachsens der Städte, als die Lebensverhältnisse immer unüberschaubarer wurden und das Tempo der Veränderungen immer schneller. Der große Essayist Walter Benjamin hat die Formel aufgestellt:
„Nur was uns anschaut, sehen wir.“ Der Journalist macht sich auf den Weg und
sieht, wie einen die Dinge und ihre geistige Verarbeitung anschauen. Er stellt
sich ihnen gegenüber, beobachtet und macht sich von ihnen ein Bild. Erst danach
ist er in der Lage, zu beschreiben, was und wie er etwas sieht. Das unterscheidet
ihn diametral vom Nachrichtenjournalisten, der nicht abwarten kann, bis sich ein
Ereignis ihm in seiner ganzen Bedeutung erschlossen hat.
Die Vorstellung eines Ganzen ist im Essayjournalismus die Voraussetzung, um
den ersten Satz formulieren zu können. Je klarer die Vorstellung des Ganzen für
den Autor ist, desto leichter fällt es ihm, das Material zu ordnen, es in die spannenden Bewegungen des eigenen Argumentierens einzubauen.
Formen des Essays:
Allgemein wird zwischen dem argumentierenden und dem literarischen Essay
unterschieden. Nach der Logik des journalistischen Arbeitens ist sicher der argu-
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mentierende Essay zu bevorzugen. Er ist eingebettet in die Aktualität von Ereignissen und Diskussionen, die sich auf aktuelle Entwicklungen beziehen. Er bedient sich also eines journalistischen Informationsumfelds, das durch die anderen
journalistischen Darstellungsformen zeitlich gerade erschlossen wird.
Logik und Argumentation müssen nicht wissenschaftlich sein und sind im Essay
auch nicht so trocken linear aufgebaut wie im Kommentar. Zur Essayform gehört, dass auch mit Bildern, Assoziationen, Reportageelemente gearbeitet werden kann, aus deren Abfolge eine bestimmte Sicht, eine bestimmte Bedeutungszuordnung nahe gelegt wird. Überwiegt im Kommentar die induktive Logik, gewinnt der Essay seinen Reiz durch die deduktive Logik.
Der Essay, entstanden aus dem Feuilleton, hat die „Freiheit“ behalten, nicht
durch feste Darstellungsregeln in eine feste Form gepresst zu sein wie zum Beispiel Nachrichten und Berichte. Der Regelungsbedarf für eine Darstellungsform
ist im Journalismus umso größer, je geringer die Autorenrolle für das journalistische Arbeitsprodukt ist. Mit dem Essay stellen sich Journalisten in einen (Mittel)punkt, von dem aus sie versuchen, die Welt in ihren Bedeutungen und alltäglichen Veränderungen zu begreifen. Es kommt also entscheidend darauf an, welche Position sie als Autoren beziehen. Aus Beobachtungen entstehen kraft der
Verknüpfung mit Begriffen die Gedanken, die einen Essay auszeichnen. Es sind
nicht die abstrakten Begriffe und Gedanken, die eine wissenschaftliche Argumentation auszeichnet, sondern die Auseinandersetzung mit dem, „was einen anschaut“. Der Autor ist somit Zeuge, der Essay Zeugnis einer individuellen Betrachtungsweise. In einer kommunikativen Umwelt, in der Individualität von der
Auflösung bedroht ist, kann ein Essay Individualität beweisen und stärken. Das
ermutigt und ist eine kulturelle Funktion des essayistischen Journalismus.
IV. Schreiben eines Essays
Journalistischer Grundsatz:
Es gibt Essays in der Literatur und in der Philosophie. Philosophen entwickeln
Gedanken so losgelöst wie möglich von konkreten Ereignissen, um die reine
Form der Idee oder eines Urteils zu präsentieren. Literaten betten die Ideen in
eine erfundene oder eine ihrem Aussageziel angepasste Geschichte ein. Nicht so
der journalistische Essay. Er macht das Anschauen und Beobachten zum bestimmenden Sinn. Er sucht die Wirklichkeit, wie sie ihn anschaut, recherchiert die
Fakten, die sie verständlich machen, prüft Verbindungen und Logik nach Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit.
Der journalistische Essayist braucht einen Standpunkt, der ihm einen Blick auf
Außenstehendes möglich macht. Der journalistische Grundsatz der Distanz, aus
der beobachtet wird, und aus der das Denken über das Beobachtete entsteht, gilt
auch für den journalistischen Essayisten. Nur aus der Distanz entsteht die Individualität des Begreifens und Verstehens der Alltagswelt, in der sich auch der journalistische Essayist ständig aufzuhalten hat.
Mit diesem Grundsatz gewinnt der journalistische Essayist aber auch Freiräume,
das Publikum mit zu nehmen, es auf spannende Weise mit sich als Autor auf die
Reise des Erschließens eines sinnvollen Denkens zu begeben. Der distanzierte
Blick auf die Alltagswelt bleibt das Vermittlungskapital des Journalismus gegen-
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über allem, was auch sonst in dieser Alltagswelt kommuniziert werden mag. Dieses Kapital ist zu nutzen und kann selbst gegenüber denen spannend in die Arbeit eingebracht werden, die in der beobachteten Alltagswelt leben und sie besser zu kennen glauben als Journalisten. Je näher der Essay den Alltagswelten der
Menschen ist und je klarer der Standpunkt wird, der die Distanz hält, desto größer ist das Potenzial für den publizistischen Erfolg eines Essays.
Tipps für die Werkstatt Essay – So kann es gemacht werden:
Die Aufgabe ist gestellt, im Zeitrahmen einer Woche einen Essay aus dem Themenfeld „Wie politisch ist Religion?“ zu schreiben. Die wichtigsten Weichenstellungen, das Ziel zu erreichen, werden in der Redaktionskonferenz und in den Arbeitsteams erfolgen. Sehr schnell wird deutlich werden, dass unterschiedliche
Vorstellungen mit dem Thema verbunden sind, dass Recherchen und gedankliche
Verbindungen von Informationen zu unterschiedlichen Richtungen in der Beantwortung der Themenfrage führen.
Es gibt keine so klaren formellen Richtlinien für den argumentativen Essay wie
für Nachrichten oder Berichte. Das bedeutet nicht, dass man ihn im Kopf entwerfen und dann schreiben kann, wie es einem gerade in den Sinn kommt. Journalistische Essays sind keine Besinnungsaufsätze! Aus dem allgemeinen theoretischen Teil können einige Schlüsse auf den praktischen Teil für die Umsetzung
eines Essays gezogen werden. Ein Tipp ist keine Gebrauchsanweisung. Tipps
werden hier verstanden als Hilfestellung zum Ausarbeiten und Schreiben eines
Essays. Hilfreich ist ein Tipp, wenn man ihn theoretisch verstanden hat und seine
praktische Befolgung opportun ist.
Noch einmal der Einstieg:
Man hat sich mit seinem Thema auseinandergesetzt, hat eine Situation gesucht,
in der man möglichst direkt mit dem Thema konfrontiert wurde, hat Informationen geordnet, verknüpft gedanklich strukturiert. Wie lautet nun die These, die
man im Essay rüber bringen möchte? Sie steht am Anfang des Schreibens als
Aufgabe für den Umsetzungsprozess. Fragt man sich, wie man zu seiner These
kommt, findet man Kerne der eigenen Persönlichkeit, merkt, wie man durch inneres Philosophieren zur Erkenntnis gelangt ist. Im Essay zählt nicht nur die Erkenntnis, sondern vor allem der Prozess, wie sie entsteht. Der Essay soll deshalb
schriftlich diesen inneren Erkenntnisprozess dingfest machen, mit dem die These
entstanden ist. Das setzt die klare Aussage voraus: Wie lautet die These?
Freies Philosophieren und Schreiben:
Einen Denkprozess zu einer Geschichte zu machen, was zu sehen ist, wenn einen
etwas anschaut, ist leichter zu fordern als einzuhalten und bedarf der Einübung
in eine eigene persönliche Handschrift. Ein Essay soll unterhalten; es soll Spaß
machen, ihn zu lesen. Er darf nicht gedankenschwer und intellektuell abgehoben
geschrieben sein.
Früher sagte man, ein Essay zeichne Esprit aus, er schaffe Lesevergnügen durch
die Leichtigkeit im Stil und durch Formulierungen, die überraschen, sogar iro-
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nisch oder witzig sein können. Sprachliche Attribute im Essay sind auch heute
noch die wirksamsten Instrumente für die Wirksamkeit von Überzeugungen. Sie
sind im Essay erlaubt und gewünscht. Deshalb gilt für ihn nicht das Korsett der
Formvorgaben anderer journalistischer Darstellungsformen. Wie ist Esprit zu erreichen?
Schreiben, Schreiben! Szenen können beschrieben werden, Menschen können
beschrieben werden, Gedanken sollen beschrieben werden, Grundsätze müssen
beschrieben werden, aus denen man sich seine Bilder von der Welt und von
Menschen macht. Man kann im Zusammenhang eines Essays unendlich viel
schreiben, wenn man die Zeit dazu hat. Stets wir man etwas entdecken, das den
schmalen Text bereichert, der am Ende ein Essay wird. Bei keiner anderen journalistischen Darstellungsform ist so produktiv und kreativ nachzuforschen, was
einem schon immer mehr oder minder klar durch den Kopf gegangen ist. Das
freie assoziative Schreiben im Umfeld eines Essays schafft einen Fundus für die
klare Richtung, mit der man zu einem Thema seine gedankliche Position schafft.
Die Gedanken ordnen - Argumente extrahieren:
Dieser freie Prozess des Schreibens muss wieder eingefangen werden. Sobald die
Gewissheit erreicht ist, dass die These/die eigene Position steht, dass in der Sache genug Material angehäuft ist, dass keine neuen Gedanken mehr entstehen,
dann muss Ordnung geschaffen werden. Manche persönlichen Reflexionen erscheinen dann kindlich oder allzu privat. Manche Notizen der Beobachtungen zu
überzogen oder wenig überzeugend. Ordnung gewinnt man, wenn man die nun
wichtigsten Argumente markiert, die zur These führen, die geeignet sind, die eigene Position zu stärken.
Außerdem sucht man nach einprägsamen Formulierungen, die den Argumenten
und der Eigenpositionierung zugeordnet werden können. In diesen Schritten der
Auswahl nach Wichtigkeit und der Zuordnung der ästhetischen Verpackung entsteht der Essay, der nun durch die Abfolge seiner einzelnen Elemente seine
zwingende, logische Aussagestruktur erhält. Noch eine gute möglichst szenische
Einführung und einen damit korrespondierenden Schluss, und schon steht der
Essay.
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