Esmas Geheimnis - Grbavica (GRBAVICA) - I

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Esmas Geheimnis - Grbavica (GRBAVICA) - I
Esmas Geheimnis - Grbavica (GRBAVICA)
Bosnien-Herzegovina/Kroatien/Österreich/Deutschland, 2006
Produktionsfirma: Coop 99/Deblokada/noirfilm/Jadran Film
Verleih: Kino: Ventura; DVD: good!movies (1:1,85/16:9/Dolby Digital 2.0)
Länge: 95 Minuten
FSK: ab 12; f
Erstaufführung: 6.7.2006/8.1.2007 DVD
Produktion: Barbara Albert, Damir Ibrahimovic, Bruno Wagner, Boris Michalski,
Damir Rihtaric
Buch/Regie: Jasmila Zbanic
Kamera: Christine A. Maier
Musik: Enes Zlatar
Schnitt: Niki Mossböck
Darsteller: Mirjana Karanovic (Esma), Luna Mijovic (Sara), Leon Lucev (Pelda), Jasna
Ornela Berry (Sabina), Dejan Acimovic (Cenga), Bogdan Diklic (Saran), Emir
Hadzihafizbegovic (Puska)
Kurzkritik
Eine Bosniakin in einem Stadtteil Sarajevos, der während des Jugoslawien-Kriegs
heiß umkämpft war, verschweigt ihrer zwölfjährigen Tochter, dass sie das Kind einer
Vergewaltigung durch feindliche Soldaten ist. Erst im Vorfeld einer geplanten
Klassenfahrt und unter dem Druck der Geldbeschaffung bricht die Wahrheit aus ihr
heraus. Der einfühlsam inszenierte, in den Hauptrollen brillant gespielte Film
beschwört die Kraft der Liebe, durch die Hass und Gewalt überwunden werden
können und eine Versöhnung zwischen Feinden von einst möglich erscheint. Dabei
rückt er den steinigen Weg der Wahrheitsfindung in den Mittelpunkt, durch die das
Prinzip Hoffnung erst eine Chance erhält. (Kinotipp der katholischen Filmkritik, Preis
der Ökumenischen Jury, Berlin 2006; auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Kritik - Langfassung
Sarajevos Stadtteil Grbavica wurde während des Krieges zwischen der
„Jugoslawischen Volksarmee“ und der bosnisch-herzegowinischen Armee zum
Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Während der Besetzung des Viertels
durch die serbisch-montenegrinisch dominierten Truppen kam es zu systematischen
Vertreibungen, Folterungen und Vergewaltigungen. Mehr als zehn Jahre nach dem
Krieg lebt hier die alleinerziehende Bosniakin Esma mit ihrer zwölfjährigen Tochter
Sara. Das Mädchen wurde bei einer der Massenvergewaltigungen in einem
Gefangenenlager gezeugt – eine brutale Wahrheit, vor der Esma ihre Tochter bisher
geschützt hat. Stattdessen erzählt sie Sara, dass ihr Vater als „Schechid“, als
Kriegsheld, gestorben sei. Mit einer entsprechenden behördlichen Bescheinigung
würde Esma eine Ermäßigung für die heiß ersehnte Klassenfahrt ihrer Tochter
bekommen. Um sich selbst und ihre Tochter vor den Wunden der Vergangenheit zu
schützen, erfindet sie aber die Legende, dass die Leiche des Vater nie gefunden
worden sei. Doch von den Mitschülern wird Sara mit misstrauischen Fragen
konfrontiert, bis sie schließlich ihre Mutter zur Rede stellt. Um Sara die Teilnahme an
der Reise zu ermöglichen, nimmt Emsa eine Stelle als Kellnerin in einem Nachtclub
an. Nervlich ausgezehrt, bricht die Wahrheit eines Tages aus ihr heraus.
Jasmila Zbanic spricht in ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm ein Thema an, das in
ihrer bosnischen Heimat in den letzten Jahren zunehmend in Vergessenheit geriet:
die psychologisch wie materiell tragische Situation der im Krieg von gegnerischen
Soldaten vergewaltigten Frauen. Auf der „Berlinale“ 2006 wurde „Esmas Geheimnis –
Grbavica“ mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet, was einige serbische
Kommentatoren veranlasste, von einer „politischen Preisvergabe“ zu sprechen. Dabei
umgeht
Zbanic in ihrer sensiblen psychologischen Studie jede ethnisch motivierte
Etikettierung. Lediglich in der Schlüsselszene, als Esma sich ruckartig öffnet und ihre
Tochter mit der Wahrheit konfrontiert, bricht im Affekt das Wort „Tschetnik“
(„Bastard“) aus ihr heraus – die Bezeichnung königstreuer Nationalisten, in deren
Tradition sich die serbischen Milizen der 1990er-Jahre sahen.
Der Film lebt von einer unaufdringlichen Kameraführung, die Esmas Gratwanderung
zwischen unterdrückter Emotion und mühsam aufrechterhaltener Distanz kongenial
in Szene setzt. Ein Seelenzustand, in dem sich auch die Tochter befindet – die
angesichts der Vergangenheit fast aussichtslose Suche nach menschlicher Würde
beschäftigt auch die nachfolgende Generation. Damit liefert Zbanic einen tieferen
Einblick in die kollektive Psyche des noch immer traumatisierten Balkans als
erfolgreiche Komödien wie Danis Tanovics „No Man’s Land“ (fd 35 824) oder Pjer
Zalicas „Kurzschluss“ (2003), die mit ihrem ebenso treffsicheren wie versöhnlichen
schwarzen Humor den Weg für einen Dialog im Umgang mit der jüngsten
Geschichte geebnet haben. In erster Line ist „Esmas Gemeimnis“ ein
Schauspielerinnen-Film. Das ungewöhnliche Duo aus der erfahrenen serbischen
Schauspielerin Mirjana Karanovic, die 1984 in Emir Kusturicas „Papa ist auf
Dienstreise“ (fd 25 285) bekannt wurde, und der 1991 geborenen Laiendarstellerin
Luna Mijovic spielt jede Nuance des zwischen Liebe und Konflikt pendelnden MutterTochter-Verhältnis mit distanzierter Körpersprache. Selbst in jenen Momenten, wenn
der unter der Oberfläche brodelnde Vulkan ausbricht, wird jene Theatralik
vermieden, durch die ähnliche Produktionen oft unglaubwürdig werden, was vor
allem ein Verdienst der vom Dokumentarfilm geprägten Zbanic ist. Ihre Inszenierung
legt Wert darauf, hinter der nüchternen Fassade die Narben der Vergangenheit
Schicht für Schicht abzutragen und ihre Geschichte mit detaillierter Körpersprache
statt mit prätentiös inszenierter Dramatik zu erzählen. So erst wird die alltägliche
„Normalität“ von Esmas Drama nachvollziehbar.
Am Ende hat Esma das Geld für die Klassenfahrt zusammen. Sara fährt, ihrer Mutter
nach dem Streit unbeholfen winkend, im Schulbus aus der Stadt. So haben in den
1990er-Jahren Zehntausende ihre Heimat im früheren Jugoslawien verlassen. Doch
in diesem Fall ist es eine Reise mit Wiederkehr, und durch den kraftvollen Song
„Sarajevo My Love“ gewinnt „Esmas Geheimnis“ auch ein nahezu euphorisches Ende,
in dem das Prinzip Hoffnung um die Lehre vom steinigen, aber notwendigen Weg der
Wahrheitsfindung eindrucksvoll ergänzt wird. Ein Weg, der im benachbarten
Serbien, wo sich ein großer Teil der Filmemacher wie auch der Gesellschaft kritisch
mit der Ära Miloševic auseinandersetzt, indes umstritten ist: Während der
Vorführung von „Esmas Geheimnis“ in Belgrad kam es zu heftigen Wortgefechten,
und in Banja Luka wurde die Premiere vom Kinobetreiber gleich ganz abgesagt – aus
Furcht, dass sein Kino demoliert würde. Der Preisregen der „Berlinale“ – neben dem
Hauptpreis erhielt „Esmas Geheimnis“ den Friedensfilmpreis und den Preis der
Ökumenischen Jury – wird der kleinen, international aber gut vernetzten bosnischen
Filmszene weiteren Auftrieb geben. Schön wäre es, wenn die Suche nach Wahrheit,
auf der das hinter allen Wunden und inneren Konflikten doch spürbare
Selbstbewusstsein aufbaut, Schule macht würde.
Bernd Buder
Kritik aus film-dienst Nr. 14/2006
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