Tod und Ästhetik Ein Vergleich von Thomas Manns Tod in

Transcription

Tod und Ästhetik Ein Vergleich von Thomas Manns Tod in
Växjö Universitet
Institution för Humaniora
Tyska
Betreuerin: Bärbel Westphal
TYC 160
HT 2005
Tod und Ästhetik
Ein Vergleich von Thomas Manns Tod in Venedig
und Patrick Süskinds Das Parfum
Sanna Myrttinen
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
[...]Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!
Tristan, A. von Platen (1825)
2
Inhaltsverzeichnis
1.
EINLEITUNG ................................................................................................................ 4
2.
THEORETISCHER ÜBERBLICK................................................................................ 6
2.1 Nietzsches Ästhetik ........................................................................................................ 6
2.2 Tod und Ästhetik in der Psychologie Freuds ................................................................. 7
2.3 Schopenhauers Theorie zur Ästhetik.............................................................................. 8
3.
DIE ROMANE IN DER FORSCHUNG ....................................................................... 9
3.1 Synopsis von Thomas Manns Tod in Venedig ............................................................... 9
3.2 Synopsis von Patrick Süskinds Das Parfum .................................................................. 9
3.3 Thomas Manns Tod in Venedig.................................................................................... 10
3.4 Patrick Süskinds Das Parfum....................................................................................... 16
4.
KONTRASTIVE WERKANALYSE .......................................................................... 21
4.1 Darstellung der Ästhetik in beiden Werken ................................................................. 21
4.2 Darstellung von Todesmotiven in beiden Werken ....................................................... 26
4.3 Das Verhältnis zwischen Ästethik und Tod in beiden Werken.................................... 31
5.
ZUSAMMENFASSUNG............................................................................................. 34
LITERATURVERZEICHNIS.............................................................................................. 36
3
1. EINLEITUNG
Die Schönheit ist ein zentrales Thema in Thomas Manns Tod in Venedig (TIV) und in
Patrick Süskinds Das Parfum (P). Schönheit ist ein Leitmotiv für die Hauptfiguren beider
Werke, die als Genies und Ästheten dargestellt werden. Das Schöne verleitet sie in einen
Zustand des Rausches, der sie zu destruktiven und wahnsinnigen Taten drängt und sie
letztendlich zum Tode führt. Die äussere Schönheit verblindet sie; macht sie
unberechenbar und wird zu ihrem Verhängnis.
Der Tod und die Schönheit stehen im engen Verhältnis zueinander. Schon in der
Antike befasste man sich mit diesem Thema. Zum Beispiel muss Narzissus wegen seiner
Schönheit und Eigenliebe auf tragische Weise sterben.1 Da der Begriff „Ästhetik“
(Aisthesis in Griechisch: Wahrnehmung, Empfindung, Sinneserkenntnis) damals aber
noch nichts mit dem Kunstbegriff zu tun hatte, wurde nur vom Schönen gesprochen.2 In
Platons Symposium ist die Rede von einem Stufengang, wonach man die Wahrnehmung
des Schönen in verschiedene Stufen eingliedern kann; von der rein körperlichen Schönheit
bis zur geistigen Schönheit und der Erkenntnis des Schönen an sich.3
Später in der deutschen Klassik im 18. Jahrhundert wurde diese antike Schönheit zum
Begriff in der deutschen Kultur. Beitragend für diese von Harmonie und Schönheit
bestimmte Entwicklung der Künste war der Einfluss von Winkelmanns Gedanken über
die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauer Kunst (1755).
Diese, von der Antike beeinflusste Kunst- und Literaturepoche, hatte das apollinische
Schönheitsideal als Vorbild. Die Künste und alle menschlichen Kräfte sollten in eine
harmonische Form gebracht werden. Nichts sollte übertrieben werden; nicht zu viel
Gefühl aber auch nicht zuviel Verstand. 4
Durch das im 18. Jahrhundert von Gottlieb Baumgarten publizierte Werk Aesthetica,
wird die Ästhetik auch zu einem philosophischen Gebiet.5 Unter Ästhetik war nun eine
Theorie zu verstehen, die die Wissenschaft mit einer neuen, von menschlichen
1
Moormann/Uitterhoeve 1995, S. 469.
Steenblock 2003, S. 238.
3
Steenblock 2003, S. 254-256.
4
Baumann & Oberle 1996, S.101.
5
Schneider 2002, S.7.
2
4
Weltverhältnissen geprägten Dimension ergänzen konnte.6 Nietzsche (1844-1900), dem
das philosophisch ästhetische Denken nahe lag, enwickelte ein von Schopenhauer
beinflusstes Strukturprinzip und eine Theorie über den Kampf zwischen dem ästhetisch
Schönen und dem „Verfall“.7 Auch Sigmund Freud befasste sich mit der Ästhetik und mit
dem Tod, in dem er die Ästhetik aus der Perspektive des Künstlers und seines Lust- und
Realitätsprinzipes studierte und den Todestrieb als eine allherrschende Kraft deklarierte.8
Dieser Aufsatz wird sich dem Thema Tod und Ästhetik mit Hilfe von Schopenhauers,
Nietzsches und Freuds Theorien annähern. Es handelt sich hier um eine kontrastive
Literaturstudie, wobei die Themen Ästhetik und Tod in den Werken Manns und Süskinds
aus einer philosophischen und psychologischen Perspektive analysiert werden.
Der Grund für diese Betrachtungsweise liegt darin, dass vor allem Thomas Mann sich
mit den Werken obengenannter Philosophen und Psychologen befasste, und diese
Betrachtungsweise deshalb einen günstigen Ansatz für die kontrastive Werkanalyse geben
dürfte. Auch bei Süskind sind die Theorien Freuds und Nietzsches aktuell, obwohl hier
das Thema zusätzlich aus einer Genusperspektive analysiert werden sollte, um des Werkes
Polarität: weibliche Schönheit und männlicher Lustmord, gerecht zu werden. 9
Der Vergleich der beiden Romane wird sich auf folgende Fragen konzentrieren: Aus
welcher Perspektive wird Schönheit in den beiden Werken dargestellt? Welche
Todesmotive gibt es in den Werken? Wie ist das Verhältnis zwischen Ästethik und Tod in
den beiden Werken? Welche Parallelen und Unterschiede gibt es in der Thematik? Und
welche möglichen Deutungsvorschläge können an Hand der beiden Romane
nachvollzogen werden?
6
Steenblock 2003, S. 241.
Schneider 2002, S.119.
8
Schneider 2002, S. 203.
9
Mehr über das Thema Genus in Kulturwissenschaften in Bussmann und Hofs Genus - Zur
Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Mit der Thematik Tod, Weiblichkeit und Ästhetik befasst
sich auch Elisabeth Bronfens Nur über ihre Leiche. Auch Manns Tod in Venedig eignet sich für eine
Genusstudie, besonders da die homoerotische Anlage ein zentrales Thema ist. Nach Bahr in Erläuterungen und
Dokumente. Thomas Mann Der Tod in Venedig, hat Mann sogar selbst in 1930 einen längeren Aufsatz über
Platens Tristan „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen[...]“ erfasst, wobei er u.a. die homoerotische Liebe
direkt anspricht. (Bahr. 2005, S. 30-31)
7
5
2. THEORETISCHER ÜBERBLICK
2.1 Nietzsches Ästhetik
Nietzsche, der Philosoph der Moderne, ist geprägt von einem ästhetischen Denken.10 Er
kritisiert Winkelmanns klassisch-humanistisches Griechenlandideal, aber steht selbst unter
Einfluss der griechischen Mythologie, und entwickelt demnach auch ein von Schopenhauer
beeinflusstes Strukturprinzip, wonach zwei Prinzipien, das Dionysische und das Apollinische
die Kunst und das Schaffen beeinflussen. Seine Werke Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik und Griechentum und Pessimismus, befassen sich unter anderem mit diesem
Strukturprinzip, aber auch mit Schopenhauers Thesen über den Willen des Menschen.11 Für
Nietzsche symbolisert Apollo den Gott des Traumes und Lichtes, den Gott „der bildnerischen
Kräfte“, der eine Welt des schönen Scheins, der Harmonie, der Nüchternheit, der
Selbstgewissheit und des nachdenklichen Lebens repräsentiert.12 Dionysos dagegen
verkörpert die Welt des Entsetzlichen, des Rausches, der den Menschen zu vollständiger
Selbstvergessenheit aber auch zur Versöhnung, Vereinigung, Verzückung und zum Heiligen
verleitet.13 Hierzu vertritt Dionysos auch die Welt der Triebe, „der enthusiastischen Ekstase
und der existenziellen Erschütterung“.14
Nietzsches Auffassung von Dionysos ändert sich aber im Laufe seines Lebens. Beeinflusst
von Schopenhauer, beginnt er Dionysos als den Bösen und Vernichtenden zu betrachten, bis
er durch die Auslesetheorien Charles Darwins wieder etwas optimistischer wird und Dionysos
als die „Quelle der Lebensenergie“ erkennt.15 Für Nietzsche ist Kunst der grösste Stimulus
des Lebens, denn im Schaffensprozess treffen sich Apollo und Dionysos, das „Schöne und das
Gute“ und die „Lebenskraft“ und kämpfen miteinander.16 Für Nietzsche ist der Künstler, wie
er sich in Zarathustra ausdrückt: „der Magier, der aus der nächsten Nähe des Todes den
Zauber des ewigen Lebens holt.“17 Weiter meinte er in Götzendämmerung und in
Nachgelassenen Fragmenten, dass der Rausch etwas Positives ist, da er zur Kraftsteigerung
und zu einem Gefühl der Fülle beiträgt.18 In dionysischen Festen vergessen die Menschen
ihren Kummer und Leid und lassen ihren Trieben ihren freien Lauf. Für Nietzsche führt dies
10
Schneider 2002, S. 116.
Baumann & Oberle 1996, S. 156.
12
Grosse 2003, S. 38.
13
Grosse 2003, S. 38.
14
Schneider 2002, S. 122.
15
Schneider 2002, S. 122-123.
16
Schneider 2002, S. 124.
17
Schneider 2002, S. 117.
18
Schneider 2002, S. 124.
11
6
zwar zu einen vorübergehenden Machtverlust, aber der „Befreiungsprozess“ kompensiert für
den Machtverlust und schenkt den Menschen neue Kraft.19
2.2 Tod und Ästhetik in der Psychologie Freuds
In Freuds Forschung wird das Thema Ästhetik aus der Perspektive des Künstlers und
dessen Lust- und Realitätsprinzip angesprochen.20 Unter Lustprinzip ist das menschliche
Streben nach Lustgewinn und das Meiden von Unlust zu verstehen. Das Realitätsprinzip
dagegen hindert den Menschen am direkten Streben nach Lustgewinn, da es nach Anpassung
in der realen Aussenwelt strebt.21 Das Realitätsprinzip schränkt ein, hindert und verschiebt die
Lustgefühle des Menschen.22 Diese zwei Polaritäten stehen im ständigen Streit miteinander,
wobei der unterdrückte Lusttrieb Kompensation verlangt.23 Nach den Theorien Freuds, kann
die Kunst oder das künstlerische Schaffen aber ein Ausweg sein, um diese beiden Kräfte ins
Gleichgewicht zu bringen. Was den Künstler betrifft, so meint Freud in ihm einen introverten,
zur Neurose neigenden Menschen zu sehen, der sich von der Realität und der Aussenwelt
abwendet um seinen Lusttrieben nachgehen zu können. Denn für den Künstler ist die Kunst
ein Ausweg für das Ausleben seiner Lustriebe.24
Ausser dem Kampf zwischen Lust und Realität, ist der Mensch laut Freud auch von einem
starken Todestrieb beinflusst. Diese Theorie des Todestriebes, wonach das Ziel alles Lebens
der Tod und die Zurückführung ins Leblose ist, wurde schon zu Lebzeiten Freuds als sehr
kontroversiell empfunden, da sie auch den Sexualtrieb und den Selbsterhaltungstrieb
überschattet.25 Nach innen gerichtet, wirkt der Todestrieb selbstdestruktiv, mit anderen
Worten; das Individuum strebt nach Selbstdestruktion.
Dagegen gestaltet sich ein nach
aussen gerichteter Todestrieb in Form des Aggressionstriebes oder Destruktionstriebes.26
Die Theorie des Todestriebes geht davon aus, dass der Mensch nach einem Zustand des
absoluten Nichts strebt.27 Betrachtet man den Tod als einen Zustand des Nichts, so könnte er
auch ein Zustand der Erlösung oder aber auch der absoluten Harmonie sein. Diese
Veranschaulichung des Todes, als ein Zustand des Nichts, führt auch dann zu Schopenhauers
Theorie der Ästhetik.
19
Schneider 2002, S.125.
Schneider 2002, S. 203.
21
Tögel 2005, S. 76.
22
Schneider 2002, S. 203.
23
Schneider 2002, S. 204.
24
Schneider 2002, S. 205-206.
25
Lohman 2002, S. 52-53.
26
Tögel 2005, S. 78.
27
Lohman 2002, S. 52-53.
20
7
2.3 Schopenhauers Theorie zur Ästhetik
Der Philosoph Schopenhauer (1788-1860), war gegen jeden philosophischen Versuch, das
Leid der Menschen irgendwie zu rechtfertigen. Seiner Ansicht nach, gibt es keinen grossen,
allmächtigen Plan, sondern es ist unser irrationaler, zielloser, blinder und wütender Wille,
welcher uns beherrscht und uns leiden lässt.28 Nach den Theorien Schopenhauers, sind Taten,
Begierde und Wünsche, Äusserungen des Willens, wobei der Sexualtrieb die grösste Begierde
ist.29 Die Taten der Menschen und ihr Wille sind miteinander verbunden.30 Ein Zustand von
Frieden und Harmonie kann nur dann erlangt werden, wenn das Bewusstsein nicht mehr vom
Willen erfüllt ist. Da aber der Mensch, so lange er lebt, dem Willen unterstellt ist, wird ein
Zustand der vollkommenen Harmonie kaum möglich sein. Die Erfüllung einer Begierde führt
nur zu neuen Begierden, so dass es ein endloser Kampf ist.31
Für Schopenhauer gibt es eine direkte Verbindung zwischen seiner ästhetischen Theorie
und dem Erlangen von Harmonie und Erlösung, denn für ihn führt die ästhetische Tätigkeit
oder das ästhetische Erlebnis (insbesondere die Musik) zu einem geistigen Freiraum, wo der
Mensch von Willen und Begierden befreit ist.32 Anders ausgedrückt: mit Hilfe der Ästhetik
kann der Mensch versuchen, die Macht des Willens zu überwältigen. Die zweite und andere
Weise, diese Erlösung zu erlangen wäre der Tod, der durch seinen Zustand des Nichts, die
vollkommene und endgültige Harmonie repräsentieren könnte.
Weiter meint Schopenhauer, dass der Wille und der Intellekt des Menschen Polaritäten
zueinander sind, und dass nur ein Genie die Möglichkeit besitzt, über seinen Willen zu
herrschen und ein Gleichgewicht zwischen Willen und Intellekt erlangen kann. Seiner Ansicht
nach hat nur das Künstlergenie das Vermögen, das Universelle in konkreten Tatsachen zu
sehen und diese wiederum in ästhetische Erlebnisse und Produkte umzugestalten.33 Für
Schopenhauer verkörpert das Genie das Ideal der Menschlichkeit; Gleichgewicht zwischen
Willen und Intellekt, Entfremdung vom physischen Körper und Verzicht auf materielle
Bedürfnisse.34
28
Steenblock 2003, S. 259.
Trigg 2004, S. 4.
30
Trigg 2004, S. 2.
31
Trigg 2004, S. 4.
32
Trigg 2004, S. 7.
33
Trigg 2004, S. 11.
34
Trigg 2004, S. 12.
29
8
3. DIE ROMANE IN DER FORSCHUNG
3.1 Synopsis von Thomas Manns Tod in Venedig
In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig, geht es um den erfolgreichen, genialen
Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der während eines Spazierganges in München und
nach einer Begegnung mit einem Fremdling, plötzlich aus seinem geordneten Leben in die
Ferne fliehen will. Nach einem kurzen Aufenthalt in Pola, wo er nicht zur inneren Ruhe
kommt, entscheidet er sich für Venedig. Hier auf dem Lido, trifft er Tadzio, einen 14 jährigen,
polnischen Jungen der mit seiner Schönheit Aschenbach geistlich und gefühlsmässig berührt.
Nach einem kurzen Aufenthalt entscheidet sich Aschenbach Venedig zu verlassen, da ihm das
Wetter gesundheitlich nicht bekommt, aber kehrt gleich wieder zurück um einzusehen, dass er
nicht ohne Tadzio leben will. Es folgt nur ein missglückter Annäherungsversuch von
Aschenbach. Seine Beziehung zu Tadzio verbleibt also distanziert, nur sein Blick folgt dem
Jüngling ununterbrochen. Verliebt in Tadzio, unterzieht er sich Schönheitsbehandlungen um
jünger und begehrenswerter zu erscheinen. Mit der Zeit wird Aschenbach immer besessener
und lebt in einem immer grösser werdenen Gefühlsrausch. Dies zu Folge bestimmt er sich,
Tadzios Familie nichts über die in Venedig herrschende Cholera zu erzählen. Am Tag von
Tadzios Abfahrt sehen sich die beiden noch einmal am Strand. Tadzio geht durch Sandbanken
weit hinaus auf das offene Meer zu. Er dreht sich um, ihre Blicke treffen sich, Aschenbach
will aufstehen und ihm folgen, aber stirbt im gleichen Augenblick.
3.2 Synopsis von Patrick Süskinds Das Parfum
Grenouille wird in Patrick Süskinds Roman als ein ungebildeter, kaum die menschliche
Sprache beherrschender, hässlicher Unmensch beschrieben. Geboren am „allerstinkendsten
Ort“ (P, S. 7) der Welt in Paris, wächst er als Waisenkind unter harten Umständen auf, die er
aber Dank seiner Genügsamkeit und seiner zurückhaltenden Art übersteht. Allmählich wird er
sich seiner olfaktorischen Begabung bewusst und fängt an, Gerüche und Dufte zu sammeln.
Die Begegnung mit dem Duft eines schönen, jungen Mädchens wird ausschlaggebend für
Grenouille; er macht ihn bessessen zu dem Grade, dass er das Mädchen ermordet und sich
entschliesst, der grösste Parfumeur aller Zeiten zu werden. Seine Vision führt ihn von Paris
nach Grasse, aber während seiner Reise beginnt er immer mehr die Menschen und den
Menschengeruch zu hassen. Er zieht sich zurück und verbringt sieben Jahre in vollkommener
9
Isolation in einer Berghöhle auf dem „Gipfel eines zweitausendmeter hohen Vulkans namens
Plomb du Cantal“ (P, S. 152). Hier lebt er wie ein Tier und durchgeht eine starke, innere
Entwicklung. In Träumen schafft er sich ein inneres Imperium, wo er als Gott;
Weltenerzeuger und Zerstörer herrscht. Er betrinkt sich mit den Gerüchen aus seiner
Erinnerung und lebt im Rausch bis er eines Tages merkt, dass er keinen eigenen Geruch
besitzt. Dies führt zur inneren Katastrophe, er verlässt die Isolation und begiebt sich zurück in
die Zivilisation mit folgendem Ziel: einen Geruch für sich zu entwickeln und wie Gott die
Menschen zu beherrschen und durch die Entwicklung des ultimaten Duftes endlich geliebt zu
werden.
Sein Ziel führt ihn nach Grasse, wo er die Techniken des Parfumeurs zu meistern lernt. Der
Geruch eines bildschönen Mädchens soll die Basis des ultimaten Parfums bilden. Aus Angst,
dass eines Tages das Parfum zu Ende gehen wird, bildet er eine Art Duftdiadem bestehend
aus den Düften 24 schöner, junger Mädchen. Seine Serienmorde führen letztendlich auch zum
Tode des bildschönen Mädchens Laure, wonach er unter dem Jubel der Bevölkerung
hingerichtet werden soll. Der ultimate Duft Grenouilles hypnotisiert sie jedoch, sie verfallen
in Ekstase und eine Massenorgie entsteht. Grenouille wird freigegeben und der Vater Laures
will sogar den Mörder seiner Tochter adoptieren. Grenouille ist entsetzt, er sieht ein, dass
nicht einmal die Liebe der Menschen und seine Macht über sie ihn dazu bringen kann, sie
zurückzulieben. Grenouille sieht keinen Grund mehr zu leben. Er kehrt zurück nach Paris und
geht zu einem bekannten Treffpunkt von Dieben und Mördern. Dort besprenkelt er sich mit
seinem Duft; mit der Schönheit selbst, wirkt plötzlich wie ein Engel unter den Kriminellen,
wird dann ermordet und aufgegessen, aber aus Liebe, denn auch die Kriminellen haben sich in
seinen Duft, in die Schönheit, verliebt.
3.3 Thomas Manns Tod in Venedig
In diesem Kapitel werden einige für die Thematik wichtigsten Forschungsergebnisse in
folgender Reihenfolge präsentiert: Gary Johnsons Death in Venice and the Aesthetic
Correlative, Dylan Triggs From the Divine to the Dissolute: Schopenhauer and Death in
Venice, Jerry Cleggs Mann contra Nietzsche und Frederick Beharriells ´Never without Freud':
Freud's Influence on Mann. Hierzu werden die obenerwähnten Forscher mit einigen
Ergebnissen aus Wilhelm Grosses Thomas Mann. Der Tod in Venedig kontrastiert.
Während Gary Johnson Tod in Venedig aus einer rein ästhetischen Perspektive mit u.a. den
Thesen Winkelmanns aus der Klassik schildert, stellt Trigg das Werk aus einer
schopenhauerischen Perspektive dar und zeigt, wie sich Mann den Thesen Schopenhauers
10
widersetzt. Die nietzscheansiche Forschungsperspektive wird dagegen von Grosses und
Cleggs vertreten, während Beharriell für die freudianische Forschungspersektive steht.
Obwohl Gary Johnson sich Nietzsches Bedeutung für Tod in Venedig bewusst ist, wählt er
das Werk aus einer klassisch, ästhetischen Perspektive, geprägt von u.a. Schiller, Winkelmann
und Lessing, zu analysieren. Johnson meint, dass Aschenbachs Betrachtungen von Tadzio zu
Beginn
rein
klassisch
ästethisch
sind,
welches
zur
Ausschliessung
von
den
schopenhauerischen Kämpfen zwischen Willen und Intellekt führt.35 Aschenbach versucht,
Tadzio zu objektifizieren und als eine abstrakte Idee zu behandeln. Johnson behauptet, dass
Tadzio eigentlich ein Liebesobjekt sei, und eine Versuchung für Aschenbach darstellt, die er
aber durch die Abstrahierung Tadzios zu einer ästhetischen Allegorie zu überwinden versucht.
Dieser Versuch leitet ihn zu seiner Schreibarbeit, die, wie Johnson meint, zu einer „perversen,
professionellen Herausforderung“ wird. Es ist der Wunsch Aschenbachs seine Gefühle und
Taten allegorisch zu verarbeiten und auf etwas anderes projezieren zu können.
The successful transformation of Tadzio into an aesthetic allegory would
represent the ultimate artistic achievement for the intellectual Aschenbach,
for Tadzio seems to represent the kind of life force that stands in opposition
to the intellectual artist who labors for years to create a single work.36
Auch den Verwandlungsprozess Aschenbachs beschreibt Johnson aus der Perspektive der
Ästhetik, in dem er meint, dass der Protagonist sich vom intellektuellen Schriftsteller zum
klassischen Dichter verwandelt.37 Und tatsächlich wird Aschenbach im Laufe der Handlung
nicht mehr als Schriftsteller, sondern als Dichter dargestellt. (TIV, S. 134) Weiter behauptet
Johnson, dass Aschenbachs anfängliches Verlangen in die Ferne eine Sehnsucht in die Klassik
darstellt. Diese Idee der Klassik findet er dann auch in Tadzio; in seiner sentimentalen,
klassisch natürlichen Schönheit.38 Aschenbach überträgt die Ideen der Klassik, wie wir sie
von Winkelmann kennen, auf Tadzio. Für Winkelmann ist die natürliche Schönheit der
Griechen keineswegs etwas Oberflächliches, sondern sie symbolisiert das Konzept der
Schönheit und gilt gleichzeitig als Merkmal für die feine, innere Natur des Menschen.39
Im Laufe des Entfremdungsprozesses, scheint Aschenbachs klassische Rhetorik und die
ästhetische Tradition aber nur noch ein Vorwand für seine Besessenheit und Begierde nach
Tadzio zu sein.40 Der physische und moralische Verfall Aschenbachs beginnt, nachdem er aus
35
Johnson 2004, S. 84.
Johnson 2004, S. 85.
37
Johnson 2004, S. 86
38
Johnson 2004, S. 87.
39
Johnson 2004, S. 89-91.
40
Johnson 2004, S. 92.
36
11
seinem dionysischem Traum erwacht. Obwohl er durch Schönheitsbehandlungen versucht,
eine jugendliche, apollinische Schönheit wiederzuerlangen, gelingt ihm dies nicht. Seine
Versuche sich selbst zu einer Art Allegorie zu machen, scheitern und er stirbt.41
In Triggs Forschungsartikel, From the Divine to the Dissolute: Schopenhauer and Death in
Venice, wird dagegen ein schopenhauerischer Ausgangspunkt gewählt, und Aschenbach wird
schon zu Anfang mit Apollo verglichen. Aschenbach verkörpert aber auch das SchriftstellerGenie, das den schopenhauerischen Kampf zwischen Intellekt und Willen führt.42 Aschenbach
ist der distanzierte Zuschauer des Schönen, der apollinischen Ästhetik, welches, wie auch
schon Johnson erwähnt, durch Tadzio verkörpert wird. Da Aschenbach ein Genie ist, der für
den Intellekt lebt und ein distanziertes Verhältnis zu seinem Körper und zum Willen hat, kann
er sich zunächst Tadzios Schönheit auf eine distanzierte, intellektuelle Weise nähern. Tadzio
ist für Aschenbach eine schopenhauerische, abstrakte, universelle Idee der Schönheit.43 Nach
der Meinung Triggs, steht die polnische Sprache, die Aschenbach nicht versteht, symbolisch
für die herrschende Distanz zwischen Aschenbach und Tadzio. Die Tatsache, dass die beiden
nicht miteinander kommunizieren können, befestigt die Idee, dass das Genie auch das Schöne
nur als eine Idee oder eine intellektuelle Übung betrachten kann. Diese Distanz geht aber
verloren, als Aschenbach einen Versuch macht, mit Tadzio zu sprechen.44
Während Aschenbachs Transformation verwandelt sich Tadzio von der universellen Idee
der Schönheit zum Konkreten. Aschenbach ist nicht mehr das Genie, welches Intellekt und
Willen auseinander und im Gleichgewicht halten kann. Die Transformation wird auch
dadurch erkennbar, dass Aschenbach von der Gestalt des kühnen Apollos zu Dionysos wird.
Er unterwirft sich seinem Willen und damit seinen Begierden.45 Aschenbachs Einsicht, dass
nicht einmal Tadzio vollkommen ist und die abstrakte Idee der Schönheit verkörpert,
befriedigt ihn, denn es verleiht ihm Hoffnung Tadzio näher zu kommen.46
Er hatte jedoch gemerkt, dass Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren:
etwas zackig und blass, ohne den Schmelz der Gesundheit...wie zuweilen bei
Bleisüchtigen. Er ist [...] kränklich, dachte Aschenbach. Er wird
wahrscheinlich nicht alt werden. Und er verzichtet darauf, sich Rechenschaft
von einem Gefühl der Genugtuung oder Beruhigung zu geben, das diesen
Gedanken begleitete. (TIV, S. 66)
41
Johnson 2004, S. 96.
Trigg 2004, S. 12.
43
Trigg 2004, S. 14.
44
Trigg 2004, S. 16.
45
Trigg 2004, S. 15.
46
Trigg 2004, S.18.
42
12
Nach Trigg will Mann an Hand Aschenbachs Annäherungsversuch die Thesen Schopenhauers
in Frage stellen. Denn Mann meint, dass die Neugier und der natürliche Wissensdrang,
wichtige Bestandteile jedes Menschens sind.47 Mann lässt also hier die Neugier als neuen
Faktor eintreten; einen Faktor, den Schopenhauer nicht ausreichend beachtet hat. Trigg
behauptet, dass es Manns Absicht ist zu zeigen, dass ein Genie sich nicht mit der Rolle des
Betrachters begnügen kann. Er will sich der Idee von Schönheit nähern und sich mit ihm
gleichstellen, denn nur dann ist er befriedigt und kann ein Zustand der Harmonie erlangen.
Nach Schopenhauer kann die Harmonie jedoch nur durch die Nullstellung von Begierden und
des Willens erfolgen (wobei die Kunst und insbesondere die Musik zur Hilfe kommen kann).
Thomas Mann dagegen zeigt, dass zwar das ästhetische Erlebnis den Willen und das
Verlangen momentan unterdrücken kann, aber dass das Geniessen ästhethischer Erlebnisse
eine Neugier verlangt, welche wiederum sogar das Genie in einen Zustand des Willens und
der Begierde leiten wird.48 Den Tod Aschenbachs erklärt Trigg also mit der Erschöpfung
durch einen zu grossen Genuss von Begierden.49 Betrachtet man das Werk aus einem
nietzscheanischen und freudianischen Standpunkt und analysiert zusätzlich Manns Kritik an
Nietzsche, mag die Antwort auf den Tod Aschenbachs nuanciert werden.
Grosse und Clegg vertreten beide die nietzscheanische Perspektive, obwohl es
Unterschiede zwischen ihnen gibt. Denn während Grosse in Der Tod in Venedig nur kurz auf
das Dionysische und Apollinische als zwei Kunstformen eingeht, und Aschenbach als
apollinisch betrachtet und Tadzio sowohl apollinisch als auch dionysische Züge zuschreibt,
lässt er sich nicht auf tiefere, nietzscheanische Analysen ein. Hiergegen geht Clegg in Mann
contra Nietzsche erheblich weiter und beachtet auch Manns Kritik an Nietzsche.
Obwohl Apollo und Dionysos Antagonisten sind, meint Clegg, dass Mann nicht davon
überzeugt war, dass es sich hier um einen Kampf zwischen ihnen handelt. Nach Clegg handelt
es sich für Mann bei Dionysos um die Ekstase und die Kraft, die für die ursprüngliche
weltliche Einheit stehen. Für Mann ist der in Ektase und Rausch stehende Künstler also
vereint mit einer grossen Einheit in die er eintaucht und aufhört, als Mensch zu existieren. Er
wird ein wahres Wesen und Eins mit der Urkraft. Als Gegensatz zum Dionysischen steht der
zurückhaltende, nüchterne, apollinische Künstler, der den „höheren Zustand“ nicht erleben
kann. Da diese Antagonisten parallel zueinander existieren und zwei verschiedene Kräfte
47
Trigg, 2004, S. 16.
Trigg 2004, S. 18.
49
Trigg 2004, S. 18.
48
13
repräsentieren, ist hier nicht die Frage von einem Machtkampf, sondern von zwei
notwendigen Kräften, die für ein Gleichgewicht sorgen.50
Der eigentliche Machtkampf in Tod in Venedig spielt sich also zwischen dem dionysosappolinischen Pakt und Sokrates; also zwischen der Klassik (Apollo und Dionysos) und der
Moderne (Sokrates) ab. Zu Beginn verkörpert Aschenbach Sokrates in Nietzsches Die Geburt
der Tragödie. Sein Leben besteht aus hoher Moral und Ordnung, und bis zum Anfang der
Novelle hat er während seiner literarischen Laufbahn nichts mit Appollo und Dionysos zu tun
gehabt.51 Als sokratischer Künstler repräsentiert Aschenbach zwar die Moderne, aber er will
aus dieser Welt fliehen. Auch Johnson und Grosse betrachten den Protagonisten zu Beginn als
Vertreter der Moderne.52 Aschenbachs Flucht geht in die Antike, in die Welt des Schönen;
also in die Welt, wo noch Apollo und Dionysos für Harmonie sorgen.53
In Italien angekommen, trifft er dann Dionysos in Tadzio. Aschenbach beginnt sich zu
verändern; der Stellvertreter für die Moderne wird immer übermütiger und spontaner. Seine
bisweilige Vorstellung von Moral verschwindet; anstatt Tadzios polnische Familie über die
Cholera Seuche zu warnen, fällt er in Schweigen, da er sich ein Leben ohne Tadzio nicht
mehr vorstellen kann. Aschenbach wird zum Mitwisser und Mittäter und beginnt seine
sokratische Identität zu verlieren. Seine Schönheitsbehandlungen sind Versuche um selbst der
apollinischen Schönheit näher zu kommen. Aschenbach, nun Apollo, verfällt zuerst nicht den
subtilen Einladungen Tadzios/Dionysos. Am Schluss aber, wo Tadzio im Meer steht und
Aschenbach zuwinkt, scheint Aschenbach jedoch die Einladung zu akteptieren. Im gleichen
Moment, wo Aschenbach sich aber erheben will, stirbt er.54
Das Meer, meint Clegg, ist Synonym mit der grossen Einheit, mit dem Nichts, mit der
endgültigen Harmonie. Aschenbach darf demnach nicht die Tiefe; das schopenhauerische
Nichts erleben. Der eigentliche Kampf herrscht nicht zwischen Dionysos und Apollo, sondern
zwischen Sokrates und den Göttern. Aschenbach muss sterben um zu beweisen, dass zwar der
Mensch mit der Moderne kämpft, aber dass ein Zurückgang in die Klassik nicht die erhoffte
Harmonie bringen kann. Denn wenn es nicht einmal Apollo, einem Gott, gelingt, so kann es
auch nicht den Menschen gelingen, die endgültige Harmonie auf Erden zu erlangen. Es
scheint, dass Mann auf der Seite der Moderne steht, und in dem Sinne nicht Nietzches
50
Clegg 2004, S. 158.
Clegg 2004, S. 161.
52
Grosse 2003, S. 36.
53
Clegg 2004, S. 161.
54
Clegg 2004, S. 161-162.
51
14
Wiederkehr zur Antike unterstützt.55 Oder wie es Grosse ausgedrückt: „Thomas Mann hatte
offenbar die Überzeugung gewonnen, dass er diese Richtung [die Neuklassik] nicht weiter
verfolgen durfte“. 56
Eine Übertragung der freudianischen Ideen auf Tod in Venedig, findet sich dagegen in
Beharriells ´Never without Freud': Freud's Influence on Mann. Über Freuds Einfluss auf
Thomas Manns frühere Werke ist viel diskutiert worden. Obwohl Mann einmal gesagt hat,
dass er vor 1925 (Tod in Venedig erschien 1912) sich nicht gründlich mit Freud befasst hatte,
so hat er selbst in einem Zeitungsinterview im italienischen La Stampa im Jahre 1925
gemeint, dass Tod in Venedig unter dem direktem Einfluss Freuds entstanden sei. 57
In seiner Schrift analysiert Beharriell systematisch die freudianischen Züge der Novelle. Es
beginnt schon als Aschenbach den exotischen Fremdling in München trifft. Seine Reaktion
zeigt auf ein sehr aktives Unterbewusstsein. Aber statt einzusehen, dass es sich um seine
inneren Begierden handelt, missdeutet er die Gefühle auf eine typisch freudianische Weise.58
Auch die unterdrückte Sexualität als typisches Thema Freuds ist in Tod in Venedig
wiederzufinden. Schon am Anfang, als Aschenbach sich den indischen Djungel vorstellt, sind
die Assoziationen sexuell geprägt.59 Auch Trigg stimmt hier zu und meint, dass die
Verwandlung Aschenbachs und die plötzliche Bejahung seiner Begierden, mit einer
unterdrückten Sexualität erklärt werden können. Denn die Unterdrückung von Gefühlen
nimmt viel Kraft in Anspruch, und wenn plötzlich diese Kraft sich nicht mehr finden lässt,
nehmen Gefühle ihren freien Lauf.60 Aschenbachs Entsetzen gegenüber dem alten Mann mit
Knaben auf dem Schiff, ist nach Beharriell Beweis dafür, dass es sich um unterdrückte
homoerotische Gefühle handelt, die sein Bewusstsein nicht akzeptiert.61 Was die
homoerotische Neigung Aschenbachs betrifft, so hat Mann in 1930 einen längeren Aufsatz
über Platens Tristan „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen[...]“ erfasst, wobei er u.a. die
homoerotische Liebe direkt anspricht. 62
Auch Freuds Traumdeutung ist nach Beharriell ein zentrales Thema in Tod in Venedig.
Aschenbachs Traum von Dionysos sei typisch freudianisch, in dem es chaotisch, absurd und
stürmisch zugeht, und die Erfüllung seiner unterdrückten sexuellen Wünsche darstellt.63 Was
55
Clegg 2004, S. 162.
Grosse 2003, S. 37.
57
Baharriell 1978, S.5.
58
Beharriell 1978, S. 6.
59
Beharriell 1978, S. 8.
60
Trigg 2004, S. 16.
61
Beharriell 1978, S. 8.
62
Bahr 2005, S. 30-31.
63
Beharriell 1978, S. 11.
56
15
das Thema Tod betrifft, so wirkt zwar Freuds Theorie über den Todestrieb äusserst aktuell in
Tod in Venedig, aber Freud hat seine Theorie erst 1920 in Jenseits des Lustprinzip
veröffentlicht, also erst acht Jahre nach Erscheinung Tod in Venedigs.64 Nach Angaben
Beharriells, handelt es sich eher um eine schopenhauerische Sehnsucht nach vollkommener
Entspannung; nach einem Zustand ohne Pflichten; nach Freiheit von inneren Kämpfen.65
Dennoch ist der Tod ein zentrales, übergreifendes Thema in Tod in Venedig. Aschenbach
besitzt, wie Beharriell meint, einen starken Todestrieb, was durch den Totenkopf ähnelnden
Fremdling in München erwacht. Aschenbachs Todestrieb wird im gleichen Augenblick aktiv,
als seine innere Wandlung eintritt. Die Tatsache, dass der Protagonist sich seines Todestriebes
nicht bewusst ist, lässt sich freudianisch deuten. Nach Beharriell ist es der Todestrieb, der
Aschenbach veranlässt, ausgerechnet Venedig zu wählen. Denn es war dort, wo er schon das
letzte Mal todkrank wurde.66
Wie die Forschung veranschaulicht, befasst sich Thomas Mann laut Trigg und Beharriell
bewusst mit philosophischen und psychologischen Theorien, widersetzt sich ihnen und stellt
sie in Frage. Dies macht eine Analyse von Tod in Venedig äusserst interessant, aber auch
komplex. Die Meinungsunterschiede in der Forschung darum, wer den Apollo und wer den
Dionysis darstellt und zwischen welchen Mächten sich der Kampf in Tod in Venedig
eigentlich abspielt, tragen auch zur Komplexität bei. Dagegen gibt es eine Einstimmigkeit
betreffend wann Aschenbachs innere Wandlung einsetzt: der Entfremdungsprozess beginnt
nach der Begegnung mit dem Fremdling in München. Aber auch hier werden verschiedene
Gründe angegeben. Ähnlich steht es mit dem Tod Aschenbachs, wo die Meinungen weit
auseinander gehen.
3.4 Patrick Süskinds Das Parfum
Patrick Süskinds Das Parfum ist im Gegensatz zu Tod in Venedig bedeutend schwerer in
Hinsicht auf die dahinterliegende Philosophie und Psychologie zu analysieren. Der Grund
hierzu ist zweifach; erstens sind, im Gegensatz zu Mann, Süskinds eigene Absichten eher
unbekannt, und zweitens scheint Süskind nicht eine philosophisch, psychologische
64
Beharriell 1978, S. 7.
Beharriell 1978, S. 6.
66
Beharriell 1978, S. 7.
65
16
Bearbeitung der Thematik Ästhetik zu haben. Hiergegen werden u.a. die Themen Drittes
Reich und totalitäre Führer dem Werk häufig zugeschrieben.67
In diesem Kapitel werden die folgenden, für die Thematik wichtigen Forschungsergebnisse
in folgender Reihenfolge dargestellt: Reinhard Wilczeks, Zarathustras Wiederkehr - Die
Nietzsche-Parodie in Patrick Süskinds Das Parfum, Jeffery Adams Narcissism and Creativity
in the Postmodern Era: The Case of Patrick Süskind’s Das Parfum, Serap Altinisiks
Psychologisches in Patrick Süskinds Das Parfum und Manfred Jacobsons Patrick Süskind’s
Das Parfum: A Postmodern Künstlerroman. Hierzu werden die obenerwähnten Ergebnisse
mit Forschungsergebnissen aus Bernd Matzkowskis Patrick Süskind. Das Parfüm und
Wolfgang Delseits und Ralf Drosts Erläuterungen und Dokumente. Patrick Süskind Das
Parfum ergänzt.
Nach Reinhard Wilczek, der in Zarathustras Wiederkehr - Die Nietzsche-Parodie in
Patrick Süskinds Das Parfum, eine Reihe stilistischer und inhaltlicher Parallelen zwischen
Zarathustra und Das Parfum vorführt, spielen die Theorien Nietzsches auch bei Süskind eine
wichtige Rolle. Nicht nur sind der Geruch und das Olfaktorische zentral in beiden Werken,
sondern auch die Überzeugung beider Protagonisten, „dass es nicht die Welt ist, die schlecht
riecht, sondern die Menschen“.68 „Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, liess
sich leben“. (P., S. 149) In Zarathustra symbolisiert der schlechte Geruch der Menschen u.a.
den dekadenten Moralbegriff. Beide Figuren wählen die Berge als Zufluchtsstelle, wo sie in
Träume versinken. Wilczek zitiert Zarathustras Traumepisode, die über den Tod handelt: „
[...] allem Leben hatte ich abgesagt, so träumte mir. Zum Nacht- und Grabwächter war ich
geworden, dort auf der einsamen Berg-Burg des Todes [...] den Geruch verstaubter
Ewigkeiten atmete ich [...]“.69
Der Plomb du Cantal könnte eine Stelle des Todes symbolisieren. Jedenfalls ist es die
Stelle, wo Grenouille neue Kraft holt und sich entschliesst, einen neuen Lebensweg
einzuschlagen und die Liebe der Menschen, aber auch die Herrschaft über sie zu erlangen. Es
scheint als ob er aus dem Tode, aus dem nietzscheanisch/schopenhauerischen Nichts, neue
Lebensenergie holt. Vielleicht ist es aber auch der ständig anwesende, freudianische
Todestrieb, der Grenouille ironischerweise neue Triebkraft schenkt und ihn zurück ins Leben
schleudert. Auch die Tatsache, dass Grenouille ein übermenschliches Parfum kreieren will,
67
Jacobson 1992, S. 201.
Wilczek 2000, S. 250.
69
Wilczek 2000, S. 252.
68
17
meint Wilczek sei nietzscheanisch und referiert auf Nietzsches Theorien über den
Übermenschen.
Er würde einen Duft kreieren können, der nicht nur menschlich, sondern
übermenschlich war, ein Engelsduft, so unbeschreiblich gut und
lebenskräftig, dass, wer ihn roch, [...] Grenouille [...] von ganzem Herzen
lieben musste (P, S.198).
Grenouilles Bosheit erklärt Wilczek mit Nietzsches Theorie über den bösen Menschen, der
eine Notwendigkeit für die Entstehung des Übermenschen ist.70 Dies könnte bedeuten, dass
das Schöne nicht ohne das Böse/Schlechte entstehen kann. Weitere Gleichnisse gibt es in
Bezug auf die Feierlichkeiten, die nach der gemeinten Hinrichtung Grenouilles folgen. Auch
die Schlussszene erinnert nach Wilczek stark an Nietzsches Werk, denn beide Protagonisten
wählen den freien Tod.71
Als Komplement zu der nietzscheanischen Darstellung Wilczeks, bietet Jeffery Adams in
seinem Artikel Narcsissism and Creativity in the Postmodern Era: The Case of Patrick
Süskind’s Das Parfum, eine post-freudianische Perspektive auf Das Parfum, wobei auch kurz
auf das Thema Schönheit eingegangen wird. Adams meint, dass Grenouilles melancholische
Art, seine Unlust auf das Leben und seine Fixierung auf den Geruch von Mädchen mit seiner
traumatischen Geburt und dem Tod seiner Mutter zusammenhängt. Nur der Geruch der
allerschönsten Mädchen kann den Verlust seiner Mutter kompensieren. Grenouille ist fixiert
auf die verlorene Mutterliebe, die sich durch seine Besessenheit am Schönen äussert. 72 Auch
Bernd Matzkowski deutet auf Grenouilles „Mutterkomplex“ in Patrick Süskind Das Parfum
hin. Er behauptet, dass die Höhle in den Bergen, in der er sich zum ersten Mal im Leben
sicher fühlt, den Bauch der Mutter symbolisiert; sie ist „tief“, „finster“, „feucht“, „salzig“ und
„eng“, und wie Matzkowski es ausdrückt; „für eine Embryonalstellung“ (P, S. 156) gedacht.
73
Aus Adams post-freudianischer Hinsicht, kompensiert das künstlerische Schaffen für eine
verlorene Schönheit und Perfektion. Künstler arbeiten, um eine in ihren Augen verlorene
Schönheit wiederherzustellen.74 Grenouilles Schaffen des ultimaten Duftes könnte als
Versuch gelten, das Elend seiner Kindheit zu kompensieren. Adams weist auch auf Julia
Kristeva hin, die das Parfum als eine Metapher für die erste Wiedererkennung der Mutter
70
Wilczek 2000, S. 252.
Wilczek 2000, S. 254.
72
Adams 2000, S 269.
73
Matzkowski 2004, S. 51.
74
Adams 2000, S. 269.
71
18
sieht. Denn der Geruchssinn ist der erste Sinn, der nach der Geburt benutzt wird, und mit
Hilfe welcher die Mutter erkannt wird.75 Nach Adams sind die traumatischen Erfahrungen aus
der Kindheit Grenouilles auch der Grund dafür, dass er nicht aus seinem primären
narzisstischen Stadium weiterkommt.76 Stattdessen wird das Kind wie eine „Zecke“, ein
„Parasit“, der kaum Nahrung und Liebe braucht.
Ähnlich wie Adams, nimmt auch Altinisik in Psychologisches in Patrick Süskinds Das
Parfum, einen eher psychologischen Ansatz vor. Altinisik meint, dass das Fehlen der
mütterlichen und väterlichen Beziehung und die andauernde Abscheu und der Veracht anderer
Menschen gegenüber Grenouille ihm nicht die Möglichkeit zur Entwicklung einer
harmonischen Persönlichkeit geben. Obwohl das Fehlen eines Sozialnetzes für ihn am Anfang
kein Problem sei, trage es doch zu seiner inneren Katastrophe bei. Die Katastrophe führt zur
Entscheidung, nicht mehr als Aussenseiter behandelt werden zu wollen.77
Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur
ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur
Selbstaufgabe, zittern vor entzücken sollten sie, schreien, weinen vor
Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollte sie sinken, [...] wenn sie
nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen (P, S. 198).
Nach Altinisik ist die Libido jedes Menschens ein natürlicher Teil des Lebens. Da jedoch sie
bei Grenouille fehlt, versucht er dies durch das Töten der Mädchen zu kompensieren.
Hierdurch versucht er also alles was die Mädchen verkörpern; Schönheit, Liebe, Libido,
Weiblichkeit; durch sie zu erhalten. Auch behauptet Altinisik, dass Süskind durch Grenouille
Gesellschaftskritik ausübt: denn trotz seiner Talents wird er verstossen und kann also nur
durch das Töten von anderen die scheinbare Akzeptanz der Gesellschaft erlangen. Er wird
nicht akzeptiert für das was er eigentlich ist, sondern muss zum „Bösen“ greifen, um ein Teil
der Gesellschaft zu werden.78 Auch Matzkowski teilt Altinisiks Gesellschaftskritik. Er meint,
dass Grenouilles Untergang nach seiner Einsicht, dass die Menschen nicht ihn, sondern nur
seine Duftmaske, „seinen Schein“ lieben, folgt. Sogar während seiner grössten Stunde, der
Stunde des Baccanals, wird er zum Aussenseiter reduziert. Grenouille wird nicht Teil des
Festes und sein „Liebesduft“ bezwingt die Menschen nur zu einem physischen Sexualakt
ohne Liebe. Oder wie es Matzkowski ausdrückt:
75
Adams 2000, S. 275.
Adams 2000, S. 270.
77
Altinisik 2000, S. 4.
78
Altinisik 2000, S. 4.
76
19
Nicht er [Grenouille] ist das libidinöse Objekt der Massen, sondern nur seine
Aura. Die Menschen begehren ihn nicht, sondern ein Surrogat. Hinzu
kommt, dass die Liebe zwischen den Menschen auf dem Richtplatz auf einen
sexuellen Akt animalischer Triebbefriedigung reduziert ist. Eine wirkliche
Liebe zwischen Menschen scheint also nicht möglich.79
Es handelt nicht nur unbedingt um Grenouilles Unvermögen zu lieben, sondern auch das der
Menschen.80
Die
grösste
Stunde
seines
Lebens,
der
„Gipfelpunkt
seiner
Machtvollkommenheit“ wie sich Matzkowski in seiner Analyse ausdrückt, wird gleichzeitig
auch der „Gipfel“ seiner Einsamkeit.81 Die Enttäuschung führt zu Selbsthass und Selbstekel,
er versteht, dass er für immer der Aussenseiter, der Verstossene sein wird, und wählt den Tod
als seine Erlösung.82
Manfred Jacobsons Artikel Patrick Süskind’s Das Parfum: A Postmodern Künstlerroman,
bearbeitet zwar nicht die Thematik Tod und Ästhetik, aber er zieht u.a. eine Parallele mit
Thomas Manns Tonio Kröger, in dem die Thematik Bosheit und Ästhetik vorkommt. Ähnlich
Jacobson, erinnert Grenouille an die Figur Tonio Krögers. Beide sind Künstler und haben ein
Bund mit dem „Bösen“. Für Kröger kann „richtige“ Kunst nur dann entstehen, wenn der
Künstler sein Herz und das Menschliche unterdrückt.83 Mit anderen Worten, das Ästhetische
kann nur durch die Unterdrückung des Guten (sprich nur durch das Böse) kreiert werden.
Vielleicht ist dies auch die Erklärung dafür, dass alle Figuren, welche Grenouille auf seinem
Weg zur Vollendung seines Lebenswerkes „der ultimaten Schönheit“ trifft, kurz nach der
Begegnung sterben. Zwar sind diese Figuren überaus nicht Vertreter des „Guten“ (ausser
vielleicht die Mädchen), denn jede dieser Figuren hat Grenouille zuvor in irgendeiner Weise
missbraucht oder benutzt. Auf der anderen Seite haben sie auch Grenouille wertvolle
Erfahrungen oder neues Wissen geschenkt. Es scheint, als würde Grenouille den Tod
ausstrahlen und den Tod mit sich bringen. Jacobson behauptet, dass Grenouille seiner
Beschreibung als Zecke gerecht wird, in dem er seine Opfer bildlich trocken saugt und sterben
lässt, während er selbst mit neuem Wissen frisch davongeht. 84
Nach Jacobson ist die Begegnung Grenouilles mit dem ersten Mädchen ausschlaggebend
für seine kommende Kreativität und sein künstlerisches Schaffen. Ohne den Duft des ersten
Mädchens „ohne die Schönheit“ hätte Grenouille ähnlich Jacobson nicht seine künstlerische
79
Matzkowski 2004, S. 69.
Matzkowski 2004, S. 91.
81
Matzkowski 2004, S. 69.
82
Matzkowski 2004, S. 71-72.
83
Jacobson 1992, S. 204.
84
Jacobson 1992, S. 205.
80
20
Grösse gefunden.85 Grenouille interessiert sich aber nicht für die Mädchen als Liebesobjekt,
sondern sie faszinieren ihn als Duftquelle; als etwas Abstraktes.86
Im Gegensatz zu den obenerwähnten Forschern, nimmt Claudia Liebrand eine
feministische Perspektive ein. Sie ist der Ansicht, dass für Grenouille die Mädchen nur als
Mittel zum Zweck dienen und sie ihn gleichviel interessieren wie z.B. Blütenblätter.87 Die
toten Mädchen werden zu Kunstobjekten, aus welchen der männliche Künstler die
Weiblichkeit auslöscht: „Die Konstiution des männlichen Künstler Subjekts macht die Frau
zum toten, zum Kunst-Objekt, basiert auf der Aneignung und Auslöschung des
Weiblichen“.88 In dem Grenouille sich ihrer Weiblichkeit annimmt, wird er zum
olfaktorischen Transvestiten und Doppelgänger der getöteten Mädchen/Jungfern.89
4. KONTRASTIVE WERKANALYSE
4.1 Darstellung der Ästhetik in beiden Werken
Die Musik als Form der Ästhetik spielt eine besondere Rolle sowohl für Schopenhauer als
auch für Mann und Süskind. Nach Schopenhauer ist die Musik eines der wichtigsten Wege
zur inneren Harmonie, also zu einem Zustand Jenseits des Willens. Auch Thomas Mann ist
von der Musikwelt in Tod in Venedig beeinflusst, denn während Manns Italienaufenthalt stirbt
der Freund und Kompositör Gustav Mahler. Aus diesem Anlass schenkt Mann seinem
Protagonisten den Vornamen Gustav und verleiht ihm die Gesichtszüge Mahlers.90 Der
Vergleich mit Mahler könnte bedeuten, dass Aschenbach zu mindest das Potenzial und die
innere Kraft eines Künstlergenies besitzt. Mit anderen Worten, er hat die Möglichkeit ein
Gleichgewicht durch künstlerisches Schaffen zu erlangen. Auch in Das Parfum werden
Grenouilles Duftkreationen als Symphonien beschrieben und seine Begabung mit dem eines
musikalischen Wunderkindes verglichen91: „Am ehesten war seine Begabung vielleicht der
eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das den Melodien und Harmonien das
Alphabet der einzelnen Töne abgelauscht hatte und nun selbst volkommen neue Melodien und
Harmonien komponierte“(P, S. 35). Die Musik spielt zweifellos eine ästhetische Rolle in
85
Jacobson 1992, S. 206.
Jacobson 1992, S. 207.
87
Delseit & Drost 2000, S. 53-54.
88
Delseit & Drost 2000, S. 54.
89
Delseit & Drost 2000, S. 54.
90
Grosse 2003, S. 41.
91
Jacobson 1992, S. 202, 206.
86
21
beiden Werken und könnte symbolisch für den Zustand der schopenhauerischen Harmonie
stehen. Grenouille kreiert durch seinen Duft eine Art von Musik und Aschenbach hat das
Potenzial eine Harmonie entweder durch sein eigenes Schaffen oder durch Tadzio (Musik) zu
erlangen.
Auch Schopenhauers Theorie, dass Genies das Vermögen besitzen, etwas Universelles in
konkreten Tatsachen zu sehen und diese wiederum in ästhetische Erlebnisse und Produkte
umzugestalten, trifft bei beiden Protagonisten zu. Für Aschenbach verkörpert Tadzio, „die
wahrhaft gottähnliche Schönheit“ (TIV, S. 57):
Seine [Aschenbachs] Augen umfassten die edle Gestalt [...] und in
aufschwärmenden Entzücken glaubte er mit diesem Blick das Schöne selbst
zu begreifen, die Form als Gottesgedanken, die eine und reine
Vollkommenheit, die im Geiste lebt und von der ein menschliches Abbild
und Gleichnis hier leicht und hold zur Anbetung aufgerichtet war (TIV, S.
84).
Für Grenouille dagegen symbolsiert der absolute Duft die Schönheit und die
Liebe:
Hundertausend Düfte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft.
Dieser eine war das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die anderen
ordnen mussten. Er war die eine Schönheit. Für Grenouille stand es fest, dass
ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte (P, S. 55).
Beide Protagonisten sind zu Beginn auf schopenhauerische Weise mehr an ihren Ideen als an
der Wirklichkeit interessiert.92 Oder wie Jacobson es ausdrückt:
Further, he [Grenouille] is not at all interested in young virgins as people [...]
nor is his interest [...] in any way to be understood as an act of love, but
rather [...] it is the [concept of] love that these girls irresistibly attract that
Grenouille wishes to capture for himself.93
Für beide führt die Idee der Schönheit zum Wunsch, die Schönheit in Form der konkreten
Liebe zu erleben. Aschenbach verfällt in einen Liebesrausch und begehrt nach Tadzio,
während der totalitäre Grenouille die Liebe der Menschen als seine Untertanen spüren will.
Der Unterschied zwischen ihnen ist, dass Aschenbach im zunehmenden Liebesrausch sein
Vermögen zur Abstrahierung verliert. Anfangs noch als „Autor der klaren und mächtigen
Prosa-Epopöe“ und als „geduldiger Künstler“ (TIV, S. 18) beschrieben, wird er zum Schluss
92
93
Delseit & Drost 2000, S. 57.
Jacobson 1992, S. 207.
22
als „Verirrter“ (TIV, S. 110), „Liebhaber“ (TIV, S. 132) und als „Verliebter“ (TIV, S. 100)
gestaltet. Der Gedanke an Heimkehr und „Nüchternheit“ (TIV, S. 124) widert ihn an und
seine Verwandlung vom Schriftstellergenie zum Dichter zeigt wie er sein Vermögen zur
Abstrahierung verliert:
Denn du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen
können, ohne dass Eros sich zustellt und sich zum Führer aufwirft; ja,
mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige Kriegsleute sein, so
sind wir Weiber, denn Leidenschaft ist unsere Erhebung, und unsere
Sehnsucht muss Liebe bleiben  das ist unsere Lust und unsere Schande
(TIV, S. 134).
Aschenbach sieht ein, dass er seinen Gefühlen unterworfen ist, aber erkennt auch die
Paradoxe in denen er sich befindet. Denn ohne Schönheit, keine Leidenschaft und Sehnsucht,
welches widerum für sein ästhetisches Schaffen ausschlaggebend ist. Johnson, der die
Verwandlung Aschenbachs als eine zum „naiven“ und fühlenden klassischen Dichter
beschreibt, behauptet: „Aschenbach’s move away from intellectualism and moral skepticism
and towards ingenuousness and classicism, in fact, describes not only a move from
Schriftsteller to Dichter but also brings into play the crucial distinction between the
sentimental (modern) poet and the naive (classical) one”.94 Grenouille hiergegen verliert
selten sein Vermögen zu Abstrahierung. Er sehnt sich zwar auch nach Liebe und kreiert den
ultimaten Duft um dies zu empfinden, aber er bleibt sogar im Augenblick des Baccanals
distanziert. Stattdessen fühlt er Enttäuschung und Hass und das Verlangen sterben zu
wollen.95
Für beide Protagonisten ist die Begegnung mit dem Schönen ausschlaggebend für die
Kreativität. Es ist diese göttliche, apollinische Schönheit, die in ihnen die Lust des Schaffens
weckt. Aber anstatt durch künstlerisches Schaffen innere Harmonie zu erlangen, werden beide
auf verschiedene Weise von dionysischen „Todeskräften“ in den Tod geleitet. Das Schöne als
Inspirationsquelle und die daraufhinfolgende ästhetische Tätigkeit schafft weder die
schopenhauerische Harmonie noch das freudianische Gleichgewicht. Stattdessen führt sie
zum dionysischen Fest und in den Tod.
Grenouilles und Aschenbachs Verhalten gegenüber der Schönheit ist ähnlich. Während
Grenouille eine vollendete Schönheit (die Schönheit des ersten Mädchens verstärkt durch
94
95
Johnson 2004, S. 86.
Delseit & Drost 2000, S. 61-62.
23
Laures Duft) durch ein ultimates Parfum zu verewigen versucht, wünscht Aschenbach die
apollinische Schönheit Tadzios durchs Schreiben zu bewahren.
Er wünschte plötzlich, zu schreiben [...] Der Gegenstand war ihm
[Aschenbach] geläufig, war ihm Erlebnis; sein Gelüst ihn im Licht seines
Wortes erglänzen zu lassen unwiderstehlich. Und zwar ging sein Verlangen
dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des
Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers
folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu
tragen [...] Nie hatte er die Lust des Wortes süsser empfunden, nie so
gewusst, dass Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen
Stunden [...] (TIV, S. 86-87).
Obwohl sich die beiden Protagonisten in der Behandlung und im Verhalten gegenüber der
Ästhetik ziemlich nahe stehen, so gibt es auch Unterschiede. Für Grenouille bedeutet die
Fertigstellung des Parfums das Schaffen einer fehlenden Identität.96 Damit hilft sein
„künstlerisches“ Schaffen und die darauffolgende Schönheit ihm eine Identiät zu verleihen.
Für Aschenbach führt die Bekanntschaft mit dem Schönen zum Gegensatz, denn für ihn
bedeutet es einen Identiätswandel oder vielleicht die Entblössung seiner bisweilen
unterdrückten Identität. Auch ist Grenouille sich seiner Bosheit und seiner Motive, die
Menschen durch Liebe beherrschen zu wollen, sehr bewusst, während sich Aschenbach
seinem unterdrückten Libido/seinem aktiven Unterbewusstsein nicht bewusst ist. Vielleicht ist
es dieser Unterschied, welches Grenouille, im Gegensatz zu Aschenbach, einen freiwilligen
Tod ermöglicht. Für beide ist der Tod eine Erlösung vom Willen, vom Todestrieb, von den
Lustgefühlen und von der schicksalshaften Schönheit, obwohl auch hier, Aschenbach sich
dessen nicht bewusst ist.
Ein weiterer Unterschied ist die Art von Schönheit, die in den beiden Werken
angesprochen wird. Für Aschenbach handelt es sich um ein Streben nach klassischer
Schönheit:
[...] die lebendige Gestalt, vormännlich hold und herb, mit triefenden Locken
und schön wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und
Meer, dem Element entstieg und entrann; dieser Anblick gab mythische
Vorstellungen ein, er war wie Dichterkunde von anfänglichen Zeiten, vom
Ursprung der Form und von der Geburt der Götter (TIV, S. 64).
Für Grenouille dagegen handelt es sich wahrscheinlich weniger um ein philosophisches
Schönheitsideal, sondern eher um eine psychologische Schönheit, eine Metapher für die
verlorene Mutterliebe. Aus einer feministischen Perspektive gesehen, könnte es sich bei
96
Jacobson 1992, S. 207.
24
Süskind aber auch um ein westerländisches, von den Männern diktiertes, weibliches
Schönheitsideal handeln. Wie Claudia Liebrand deutet, beschreibt Süskind die toten Frauen in
der „traditionellen Blüten und Blumenmetaphorik“ und meint, es handelt sich um eine
Objektifierung von Frauen, wobei die Weiblichkeit ihnen entsaugt wird.97 Für Grenouille ist
die Schönheit der Mädchen ein Mittel zum Zweck, wobei für Aschenbach Tadzios Schönheit
(und seine Liebe für den Jungen) allmählich den Grund seiner Existenz bildet. Hierzu sollte
man jedoch sagen, dass auch Aschenbach anfänglich die Schönheit nur als Mittel zum Zweck
sieht: „So ist die Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste,  nur der Weg, ein Mittel
nur [...]“ (TIV, S. 86). Auch die durch die Schönheit ausgelöste Liebe unterscheidet die
beiden Protagonisten. Für Aschenbach handelt es sich um die homoerotische Liebe, während
Grenouille die Liebe der Massen, der Menschen im Allgemeinen begehrt.
Beide
Protagonisten
sind
zurückhaltende,
eher
introverte
Gestalten.
Sie
sind
Künstlergenies und Einzelgänger, die sich als Opfer betrachten; Grenouille sieht sich als
Opfer der ganzen Menschheit und Aschenbach als Opfer der Disziplin und der Kunst. Für
beide Künstlergenies handelt es sich um die post-freudianische Suche und die
Wiederherstellung einer verlorenen Schönheit. Für Grenouille geht es, wie Adams zeigt, um
die Suche nach einer nie erlebten Mutterliebe, wobei die Schönheit des Duftes als Metapher
für diese Liebe steht. Für Aschenbach als Vertreter der Moderne, könnte es sich dagegen um
die Wiederherstellung einer verlorenen Klassik; einer verlorenen Schönheit handeln, oder
aber auch um die Suche nach der homosexuellen Liebe. Das grundliegende Verlangen nach
Liebe vereint sie jedoch: „Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener äusserst
seltenen Menschen nämlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer“ (P, S. 240).
Doch sind die beiden unfähig zu lieben. Für sie besteht die Liebe aus einer abstrakten Idee
der Schönheit, die sie aber konkret erleben wollen. Das Schöne, das die Liebe verkörpert,
wird zu einer Droge. Sie sind von ihr abhängig. Bei Aschenbach äussert sich dies, in dem er
nach Venedig und zu Tadzio zurückkehrt und bei Grenouille, indem er das Ende des ultimaten
Duftes als auch sein Ende beschreibt:
Es würde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens,
ein qualvolles allmähliches Hinausverdunsten seiner selbst in die grässliche
Welt [...] Es überkam ihn das Verlangen, [...] in seine alte Höhle zu kriechen
und sich zu Tode zu schlafen (P, S. 243-244).
97
Delseit & Drost 2000, S.54.
25
Was die eigene Schönheit der Protagonisten betrifft, so gibt es auch hier eine Ähnlichkeit
zwischen ihnen; denn beide unterziehen sich äusserlichen Änderungen um schöner zu wirken.
Grenouille, weil er hierdurch den Menschen näher zu kommen hofft und Aschenbach Tadzios
wegen. Nach Trigg unternimmt Aschenbach diese kosmetischen Änderungen aber erst dann,
als er einsieht, dass nicht einmal Tadzio perfekt ist. Dies verleiht Aschenbach Hoffnung, der
sonst unerreichbaren, vollkommenen Schönheit doch vielleicht näher zu kommen.98
Aschenbach geht zu Schönheitsbehandlungen und Grenouille (Frosch auf französisch) lernt,
wie man sich gut anzieht und durch verschiedene Düfte sich vom „Frosch“ zum schönen
Prinzen verwandelt. Für keinen der Beiden hilft aber diese physische Änderung. Grenouille
sieht ein, dass nicht er, sondern nur der vergängliche Duft von ihm geliebt wird, während
Aschenbach im Augenblick wo er Tadzio folgen will, stirbt.
Wie oben festgestellt wird, ähneln sich die zwei Protagonisten in puncto Schönheit in
mehreren Punkten. Sie behandeln zu Beginn die Schönheit als eine abstrakte Idee und sie ist
ausschlaggebend für ihre Kreativität. Das Schöne wirkt lockend auf sie, sie weckt Gefühle der
Begierde und Liebe in ihnen und sie legen grosse Mühe darauf, diese Gefühle mit dem Schein
der eigenen Schönheit zu erwidern. Dennoch gibt es auch Unterschiede, denn während
Aschenbach sich in einen Liebesrausch verliert, verliert Grenouille kaum die Fassung. Seinen
Rausch erlebt er während seiner Schaffungsprozesse, aber er verfällt nicht, zu seiner grossen
Enttäuschung, den Gefühlen der Liebe.
4.2 Darstellung von Todesmotiven in beiden Werken
Der Todestrieb scheint in beiden Werken eminent zu sein, doch gibt es Unterschiede, in
wie weit die beiden Protagonisten ihrem Trieb folgen. Grenouilles Todestrieb scheint ein nach
aussengerichteter Todestrieb in Form von Aggression und Destruktion zu sein, während
Aschenbachs Trieb eine nach innen gewendete Selbstdestruktion ist. Grenouilles Todestrieb
ist von Anfang an präsent. Er entsteht wie aus dem Tode, fühlt sich am wohlsten in der Höhle,
die einem Grab ähnelt, vernichtet alles Lebende durch Destillieren, wird ein Mörder und
begeht am Ende Selbstmord. Bei Aschenbach äussert sich dagegen die Selbstdestruktion u.a.
in dem er einen Ferienort wählt, wo er schon früher todkrank war, und indem er nicht vor der
Cholera flüchtet, sondern sogar nach Ausbruch der Seuche sich nach Venedig begibt um dort
verseuchte Erdbeeren zu essen.
98
Trigg 2004, S. 17-18.
26
Wie Beharriell meint, wird bei Aschenbach der starke Todestrieb durch den Totenkopf
ähnelnden Fremden in München angeregt. Der Anblick des Fremden weckt in ihm Gefühle,
die er als Reiselust missdeutet: „[...] er sah ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem
Himmel [...] eine Art Urweltwildnis aus [...] Morästen und Schlamm [...]“(TIV, S. 14). Da die
Cholera aus den Tropen stammt, könnte seine Sehnsucht nach den Tropenwäldern als ein
indirekter Todeswunsch betrachtet werden. Sein Entsetzen und Verlangen, dass er bei der
Vorstellung von kauernden Tigern fühlt, zeigen vielleicht die Zwiespältigkeit gegenüber dem
Verbotenen und gegenüber dem Tod. Nach Erhard Bahr sind es Tiger, die in Nietzsches
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik den Wagen Dionysos von Indien nach
Griechenland ziehen. Bahr behauptet, dass die Tiger das Dionysische, das DämonischRauschhafte symbolisieren.99 Für Clegg dagegen ist es Tadzio und die Cholera die das
Dionysische darstellen: „The East has come in two forms, the physical and the psychological.
The first one is the baccilus from the Ganges delta that is causing the plague. The second is
Dionysos himself in the form of Tadzio [...]“.100
Obwohl Aschenbach und Grenouille beide von einem starken Todestrieb beeinflusst sind,
scheint Aschenbach sich dessen unbewusst zu sein, während Grenouille aktiv Sterbehilfe
sucht. Süskind und Mann unterscheiden sich auch in ihrer Darstellung der Todesmotive. Für
Grenouille lauert der Tod sichtbar an jeder Ecke. Es beginnt schon mit Grenouilles Geburt,
wobei er besser tot als lebendig gewesen wäre und in einer Umgebung des Verfalls geboren
wird: „[...] er [Grenouille] hätte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende
Möglichkeit ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne Umweg
über das Leben wählen können [...]“ (P, S. 28). Es scheint also fast, als würde Grenouille aus
dem Tode entstehen. Auch wird er nicht mit Leben, sondern mit dem Teufel, also mit den
Kräften Jenseits des Lebens, verglichen. Hierzu scheinen alle Figuren nach ihrer
Bekanntschaft mit Grenouille zu sterben. Alles was mit Leben zu tun hat, tötet er durch
Destillation oder Mord. „Der blöde Rest: Blüte, Blätter, Schale, Frucht, Farbe, Schönheit,
Lebendigkeit und was sonst noch an überflüssigem in ihnen steckte, das kümmerte ihn nicht
[....] das gehörte weg“ (P, S. 125). Lebendiges und Vitales führt ihn ins Leiden. Was er nicht
töten kann, verzweifelt ihn zu dem Grade, dass er sogar „lebensbedrohlich krank“ wird (P, S.
130). Nur der Tod anderer, wie Jacobson meint, gibt ihm paradoxer Weise neue Lebenskraft.
Auch der Menschengeruch, also das Leben an sich, erinnert ihn an verfaulte Eier,
99
Bahr 2005, S. 15.
Clegg 2004, S. 162.
100
27
Kloakengeruch, Verwesen und Friedhof (P, S. 192). Dass Grenouille sein Leben auf dem
Friedhof enden will, ist also kaum überraschend.
Da Grenouille offenbar teuflische und tödliche Qualitäten besitzt, könnte man davon
ausgehen, dass Grenouille den „bösen“ Dionysos und sogar den Tod personifiert, denn er
besitzt keinen Menschengeruch; die Menschen merken „nichts von seiner Existenz“ und er
hinterlässt keinen Schatten (P, S. 194). Mit Hilfe von menschlichen Gerüchen begibt er sich
unter die Menschen um sie zu beherrschen. Da er weiss, dass die Liebe die stärkste aller
Kräfte im Leben ist, will er die Menschen durch die absolute Schönheit, die in Menschen das
Gefühl der Liebe erweckt, manipulieren. Als der personifierte Tod übersteht er alle tödlichen
Krankheiten wie Milzbrand (P, S. 113) und lebt durch das Töten anderer weiter. Als Tod und
Teufel, wird Gott (das Gute; das Leben) zu Grenouilles Gegenspieler, den er u.a. „als
stinkenden Betrüger“ betrachtet (P, S. 199-200).
Karabekova stellt eine weitere, durchaus interessante Todesymbolik vor. Sie deutet darauf
hin, dass Grenouille (= Frosch) in der Mythologie einiger Kulturen, durch das Verschlucken
des Mondes die Mondfinsternis verursacht. Da der Mond in einigen Kulturen als eine
weibliche Göttin betrachtet wird und Fruchtbarkeit und Leben symbolisiert, so könnte
Grenouille als „Mädchenverschlucker“ oder „Mädchentöter“ beschrieben werden. Oder wie
es Karabekova ausdrückt: „Grenouille, der einen mythologischen Mädchentöter verkörpert,
erscheint somit als Sinnbild einer kosmischen bösen, zerstörenden Kraft. Er personifiziert das
Böse selbst“.101
Im Gegensatz zu Süskind sind die Todesmotive Thomas Manns eher subtil. Ein Grund
hierfür könnte sein, dass Aschenbach sich seines Todetriebes nicht bewusst ist, und demnach
der Tod auch zwar eine deutliche, aber eine eher zurückhaltende und symbolische Rolle
spielen muss. Mann lässt mit Hilfe von Metaphern und mythologischen Todesgestalten den
tödlichen Ausgang Aschenbachs vorahnen. Schon der Name Aschenbach führt die Gedanken
zu Asche und Tod.102 Alle Figuren, der Fremde am Nordfriedhof, der Schiffszahlmeister, der
Alte auf dem Schiff, der Gondoliere, ja sogar Tadzio, werden zu Aschenbachs Todesgeleitern
und mehr oder weniger mit Attributen des Todes und Verfalls beschrieben.103 Grosse und
Bahr erwähnen auch, dass sich die obenerwähnten Begleiter kleidungsmässig ähneln, und an
Hermes, den griechischen Beschützer der Reisenden, und Totengeleiter, erinnern.104 Die
Gondel wird mit den Farben eines Sarges verglichen und die Fahrt als eine letzte
101
Delseit & Drost 2000, S. 59.
Grosse 2003, S. 42.
103
Grosse 2003, S. 39.
104
Bahr 2005, S. 12.
102
28
schweigsame Fahrt ins Hause des Aides geschildert. (TIV, S. 41,45) Und nicht zuletzt geleitet
Tadzio Aschenbach als „bleicher und lieblicher Psychagoge“ (TIV, S. 139) zur letzten Ruhe.
Was die Todesmotive betrifft, so gibt es aber auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden
Werken. Zum Beispiel wird das Meer von beiden als das grosse, schopenhauerische und
nietzscheanische Nichts geschildert:
[...] da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er [...] flöge dahin durch
den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich kein Geruch war,
sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Gerüche, und löse sich auf
vor Vergnügen in diesem Atem [...] aber dahin sollte es nie kommen [...] er
[...] sollte das Meer [...] in seinem Leben niemals sehen und sich mit diesem
Geruch vermischen dürfen (P, S. 46-47).
Aus nietzscheanischer Perspektive gesehen, könnte es bedeuten, dass Grenouille, trotz seines
Todestriebes und Todes, nie die wirkliche, endgültige Harmonie erleben wird. Er wird zwar
sterben, aber nicht das Nichts, das Jenseits des Willens, das Jenseits des Guten und Bösen,
erreichen. Dies könnte auch eine Anspielung auf seinen Selbstmord sein. Denn dem
christlichen Dogma nach kann Selbstmord nicht zur Erlösung der Seele führen.
Auch in Tod in Venedig steht das Meer für das unendliche Nichts, für das Dionysische und
das nihilistisch „Auflösende“:105
Er [Aschenbach] liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem
Ruheverlangen des schwerarbeitenden Künstlers [...] aus einem verbotenen
[...] verführerischen Hange zum gegliederten, Malosen, Ewigen, zum
Nichts. Am Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um
das Vortreffliche müht [...] ist nicht das Nichts eine Form des
Vollkommenen (TIV, S. 60)?
Das Nichts, von dem Aschenbach träumt, ist der Tod, also der Zustand, von dem nach Freud
alle träumen, und der ähnlich Schopenhauer die Erlösung vom ewigen Willen gibt. Obwohl
nach Schopenhauer die ästhetische Tätigkeit zwar ein kurzweiliges Gefühl der Harmonie
geben kann, so ist es nur das absolute Nichts, der Tod, der die endgültige Harmonie schenken
kann. Auch Tadzio hat die gleiche Symbolik wie das Meer. Denn er verkörpt nicht nur das
Schöne, sondern auch das ewige Nichts, den Aschenbach zu Beginn aus der Ferne aus dem
Wasser sehen kommt und auch am Schluss im Meer erblickt.106 Da die Stadt Venedig am
Meer liegt, könnte sie auch die dekadente Stadt des Todes symbolisieren.107 Die in der Stadt
105
Grosse 2003, S. 28.
Grosse 2003, S. 29.
107
Grosse 2003, S. 30.
106
29
herrschende Epidemie und der faule Geruch verstärken diese Todessymbolik, wie auch die
Tatsache, dass dies die Stadt ist, wo Aschenbach schon zuvor ernsthaft krank wird.
Interessant ist auch die Rolle des Friedhofes in beiden Werken. Wo Süskinds Roman am
Friedhof endet, ist es bei Mann eines der ersten Schauplätze der Handlung. Der Friedhof trägt
zur Atmosphäre bei und kann als Vorbote des Todes betrachtet werden. Aber auch hier tritt
der Unterschied zwischen Süskinds und Manns Erzählweise hervor. Während Süskinds
Beschreibung des Friedhofes einer Gruselgeschichte ähnelt und die Ermordung Grenouilles
natürlich nach der Geisterstunde, also nach Mitternacht geschieht, geht es bedeutlich subtiler
bei Aschenbachs Ende zu. Indem Mann seit der ersten Friedhofsszene den Todesweg
Aschenbachs veranschaulicht, scheint der letzendliche Tod Aschenbachs am Strand fast
natürlich. Dieses scheinbar undramatische Ende am hellichten Tag ist aber auch von grosser
Todessymbolik umgeben. Die Atmosphäre ist plötzlich von „Herbstlichkeit“, „Überlebtheit“
und „Verlassenheit“ geprägt, das Wasser „schauert kräuselnd“ und das „schwarze Tuch eines
Photoapparates klatscht und flattert im kalten Wind“. Fast symbolisch sitzt Aschenbach „in
der Mitte zwischen dem Meer (Tod) und der Reihe der Strandhütten (die Wirklichkeit, das
Leben) in seinem Liegestuhl“ (TIV, S. 137).
Eine zentrale Frage betreffend die beiden Werke ist die Todesursache der beiden
Protagonisten. Aus einer nietzscheanischen Perpektive gesehen, könnte gemeint werden, dass
Grenouille sterben muss, um zu beweisen, dass die Menschlichkeit der Macht des Bösen im
Leben nicht entkommen kann. Auch könnte Grenouilles Tod Beweis dafür sein, dass nur
durch das Böse etwas Schönes, sprich Liebe, entstehen kann. Aschenbach, zu Beginn ein
Vertreter der Moderne, muss dagegen sterben weil er seinen Gefühlen zu weit folgt. Zwar ist
die Schönheit und die Klassik eine Quelle der Inspiration für den Künstler, aber um zu
überleben, muss die Nüchternheit siegen, dass heisst, die aschenbacherisch geballte Faust darf
sich nie völlig auflösen.
Grenouille sowie Aschenbach scheitern in ihrem Streben nach dem Schönen. Das Schöne
ist nur ein Schein welches ihre Sinne betrügt und sie an Liebe glauben lässt. Sie ist der
Auslöser vom Willen, von Begierden und Lustgefühlen, dass durch ästhetisches Schaffen nur
kurzweilig befriedigt werden kann. Der einzige Ausweg zur vollkommenen Erlösung ist der
Tod.
30
4.3 Das Verhältnis zwischen Ästethik und Tod in beiden Werken
Betrachtet man die Thematik Ästhetik und Tod in den beiden Werken aus einer
nietzscheanischen Perspektive, kann auf zwei Ähnlichkeiten gedeutet werden. Erstens ist für
Nietzsche der Künstler ein „Magier, der aus der nächsten Nähe des Todes den Zauber des
ewigen Lebens holt“.108 Betrachtet man die vollkommene Schönheit als den Zauber des
ewigen Lebens, so könnte diese Behauptung auf Grenouille und Aschenbach zutreffen. Denn
beide sind während ihres künstlerischen Schaffens umgeben vom Tode und Grenouille tötet
sogar um seinen Zauber herzustellen.
Zweitens scheinen beide Protagonisten mit dem nietzscheanischen Strukturprinzip des
Apollinisch/Dionysischen zu kämpfen, wobei es sich symbolisch um einen Kampf zwischen
Schönheit und Tod handelt. Grenouilles Mädchenopfer und ihre Düfte verkörpern das
klassisch Schöne, das Apollinische, während Grenouille, in der Gestalt des Bösen und des
Todes, den Dionysos symbolisiert. Tatsächlich bezeichnet auch Süskind die Liebesorgie der
Hinrichtungsszene als den grössten Baccanal (Bacchanal=dionysisches Fest), welcher wegen
Grenouille ausbricht. (P, S. 303) Auch die Schlussszene, wo Grenouille aus „Liebe“ ermordet
und aufgefressen wird, könnte aus einer apollinisch/dionysischen Perspektive gesehen
werden: der eigentlich böse und dionysische Grenouille, der von „(apollinischer) Schönheit
übergossen“ (P, S. 319) ist, wird von den im dionysischen Liebesrausch stehenden
Kannibalen ermordet und aufgefressen. Die magische Kraft Grenouilles lässt sie aber keine
Reue spüren, sondern nur Liebe empfinden. Das Böse hat durch die Kraft Apollos, durch das
Schöne, den schlimmsten Kriminellen ein Gefühl der Liebe gegeben. Dionysos hat mit Hilfe
Apollos etwas Gutes für die Menschheit getan. Aber das Gute und Schöne scheint nicht ohne
das Böse und den Tod möglich zu sein.
Bei Aschenbach stellt der apollinisch/dionysische Kampf das ewige Dilemma des
Künstlers dar. Das apollinisch Schöne  die Grundlage für ästhetisches Schaffen  inspiriert
zwar, aber verführt auch die Sinne, lässt den „Geist und die Bildung ins Wallen geraten“, die
„Aufmerksamkeit von intellektuellen auf sinnliche Dinge wenden“ und „Verstand und
Gedächtnis betäuben und bezaubern“ (TIV, S. 84):
[Sokrates] sprach ihm [Phaidros] von dem heissen Erschrecken, das der
Fühlende leidet, wenn sein Auge ein Gleichnis der ewigen Schönheit
erblickt; sprach von den Begierden des Weihlosen und Schlechten, der die
Schönheit nicht denken kann, wenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht
108
Schneider 2002, S.117.
31
nicht fähig ist; sprach von der heiligen Angst, die den Edlen befällt, wenn
ein gottgleiches Antlitz [...] ihm erscheint [...] (TIV, S. 85).
Die Schönheit erschreckt, denn sie weckt Gefühle und bezwingt die Wahl, entweder in
Nüchternheit oder im Gefühlsrausch zu leben. Zugleich ist sie jedoch auch „der Weg des
Künstlers zum Geiste“ (TIV, S. 134). Die Wahl steht jedem frei, aber der Preis für ein Leben
in der Welt der Götter ist hoch:
Glaubst du nun aber, mein Lieber, dass derjenige jemals Weisheit und wahre
Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die
Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle die die Entscheidung frei),
dass dies ein gefährlich-lieblicher Weg sei, wahrhaft ein Irr- und
Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre leitet? (TIV, S. 134).
Da beide, Grenouille und Aschenbach ein Leben im dionysischen Gefühlsrausch wählen,
werden ihnen folglich dionysische Eigenschaften zugeschrieben. Hier gibt es jedoch den
Unterschied, dass Aschenbach die dionysischen Kräfte bejaht und selbst in den Rausch
verfällt, während Grenouille zwar am Ende das Volk in einen dionysischen Rausch bringt,
aber sich selbst davon distanziert. Auch folgt der Tod beider Protagonisten nach einem
nietzscheanisch dionysischen Fest. Für Aschenbach geschieht das Fest in seinem Traum:
Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten einander mit geilen Gebärden und
buhlenden Händen, lachend und ächzend, stiessen sie die Stachelstäbe
einander ins Fleisch und leckten das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen,
in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gotte gehörig (TIV, S.
127).
Johnson sieht einen Zusammenhang zwischen Aschenbachs Traum, seinem Bündnis mit
Dionysos und seinem physischen Verfall. Er meint, dass Aschenbach nach dem Traum die
Gesichtszüge eines ungesunden, modernen Menschen erhält.109 Die daraufhin folgenden
kosmetischen Behandlungen, die sich Aschenbach unterzieht, helfen ihm jedoch genauso
wenig wie Grenouilles „Parfum-Maske“. Auch Grenouille erlebt etliche dionysische Feste,
bevor er seinen freien Tod wählt. Das erste Fest begeht Grenouille in seiner Isolation in den
Bergen, wo er sich mit seinen Düften in einem Rauschzustand „betrinkt“. Das zweite
Bacchanal folgt nach der gedachten Hinrichtung und das Letzte ist seine Ermordung auf dem
Friedhof in Paris.
109
Johnson 2004, S. 96.
32
Betrachtet man die Ästhetik und den Tod aus einer schopenhauerischen Perspektive, so
erkennt man auch hier Parallelen zwischen den beiden Protagonisten. Beide sind
Künstlergenies, die mit Hilfe der ästhetischen Tätigkeit, obgleich unbewusst, nach einer
inneren Harmonie streben. Sie interessieren sich, auf schopenhauerische Weise, nur für die
abstrakte Idee, die universelle Schönheit. Das tödliche Schicksal Aschenbachs und
Grenouilles beweisen jedoch, dass Schopenhauers Behauptung, dass Genies über ihren Willen
herrschen können und somit in einem Gleichgewicht zwischen Willen und Intellekt leben
können, hier nicht zustimmt. Auch vermögen sie nicht aufs Materielle zu verzichten und
legen, im Gegensatz zu Schopenhauers Genie-Ideal, viel Mühe auf ihr Äusseres:„
[Aschenbach] brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine Toilette und kam geschmückt,
erregt und gespannt zu Tische [...] es trieb ihn, sich körperlich zu erquicken und
wiederherzustellen [...] (TIV, S. 128-129). Dies geschieht parallel mit ihrer inneren Wandlung
vom Genie zum neugierigen Aussenseiter, der sich mit der abstrakten Welt nicht vergnügen
kann, sondern ein Teil der Wirklichkeit werden will. Mit anderen Worten, sie wollen die Lust,
bzw. die Liebe die durch das Schöne ausgelöst wird, empfinden und erleben. Auch träumen
sowohl Aschenbach als auch Grenouille von dem schopenhauerischen Zustand des Nichts, der
Erlösung, obwohl aus unterschiedlichen Gründen. Für Aschenbach handelt es sich vermutlich
um eine Erlösung von den Pflichten seines Künstlerlebens oder von einer unerfüllten Liebe,
während Grenouille von seiner Enttäuschung erlöst werden will.
Hier sollte man wieder auf die Figur Tadzios eingehen. Denn wie schon erwähnt, gestaltet
er beides; die Schönheit aber auch das Meer, das nietzscheanische Nichts, den Tod. Auch
wirkt seine Stimme wie Musik (Musik = Weg zur Harmonie) in Aschenbachs Ohren: „So
erhob
Fremdheit
des
Knaben
Rede
zur
Musik,
eine
übermütige
Sonne
goss
verschwenderischen Glanz über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer
seiner Erscheinung Folie und Hintergrund“ (TIV S. 82). Es scheint fast als würde Tadzio das
Gedicht Tristan von A. von Platen verkörpern. Denn er ist die Schönheit von dem
Aschenbach betroffen ist, und der Aschenbach in den Tod führt. In Das Parfum könnte das
erste Mädchen und Laure Tadzios Entsprechung darstellen. Ihre Düfte symbolisieren die
Schönheit, von der Grenouille besessen ist. Aber im Gegensatz zu Tadzio haben die Mädchen
keine aktive Rolle als Todesgeleiter, sondern sie sind Opfer.
Eine freudianische Betrachtung der Thematik könnte wie folgt aussehen. Der Todestrieb
Aschenbachs und Grenouilles übersteigt das Lustprinzip beider, obwohl sie auch mit der Lust
kämpfen. Der unterdrückte Lusttrieb Aschenbachs und Grenouilles, obwohl von sehr
unterschiedlicher Natur, verlangt nach Kompensation. Als Künstler versuchen sie ihr
33
künstlerisches Schaffen, ihr Streben nach Schönheit zu nutzen um ins Gleichgewicht zu
kommen. Die Lustgefühle die bei der Betrachtung des Schönen bei Aschenbach ausgelöst
werden, können jedoch nicht durch ästhetisches Schaffen kompensiert werden, mit der Folge
dass der Todestrieb siegt. Auch bei Grenouille hilft das künstlerische Schaffen nicht um ins
Gleichgewicht zu kommen, und dies führt ihn zum Tode.
Welche philosophische oder psychologische Betrachtungsweise auch gewählt wird, so
steht fest, dass es sich in den beiden Werken um ein enges Verhältnis zwischen Schönheit und
Tod handelt. Das Schöne lockt, weckt die Liebe und führt in den Absturz. Die Schönheit löst
innere Kämpfe aus, aber lässt die beiden Protagonisten auch ihrer eigentlichen
Identität/Identitätslosigkeit näher kommen. Doch hilft all dies nicht um auch der Liebe bzw.
der Schönheit näher zu kommen, denn die vollkommene Schönheit, die klassische griechische
Schönheit wie auch die objektifierte, weibliche Schönheit, sind nur ein Schein und daher
unerrreichbar.
5. ZUSAMMENFASSUNG
Seit der Antike inspiriert und fasziniert die Thematik Schönheit und Tod. Obwohl die
Schönheit auf den ersten Blick wenig mit dem Tod zu tun haben scheint, ist das Verhältnis
eng, welches hier an Hand Das Parfum und Der Tod in Venedig veranschaulicht wurde. Diese
kontrastive Literaturstudie näherte sich der Thematik aus der Sicht Schopenhauers, Nietzsches
und Freuds und konzentrierte sich auf verschiedene Perspektiven der Schönheit und des
Todes. Parallelen und Unterschiede wurden aufgezeichnet und das Verhältnis zwischen
Schönheit und Tod analysiert.
Die Protagonisten beider Werke sind zwar äusserlich unterschiedlich, aber beide sind
zurückhaltende, einsame Künstlergenies mit starkem Todestrieb, die sich ausserdem als Opfer
betrachten; Grenouille sieht sich als Opfer der ganzen Menschheit und Aschenbach als Opfer
der Disziplin und der Kunst. Das Schöne wirkt lockend auf sie und weckt Gefühle der Liebe
in ihnen. Zwar handelt es sich um Liebe von sehr unterschiedlicher Natur; unterdrückte
homosexuelle Gefühle bei Aschenbach und eine nie erlebte Mutterliebe und Anerkennung
von Mitmenschen bei Grenouille, aber das grundliegende Bedürfnis beider ist gleich und
verlangt nach Kompensation. Als Künstler versuchen sie ihr künstlerisches Schaffen zu
nutzen um ins Gleichgewicht zu kommen und sich der Liebe zu nähern.
Die Lust, bzw. die Liebe, die durch das Schöne ausgelöst wird, kann jedoch nicht durch
ästhetisches Schaffen kompensiert werden, mit der Folge, dass der Todestrieb siegt. Das
Schöne als Inspirationsquelle und die daraufhinfolgende ästhetische Tätigkeit erschafft also
34
nicht das erwünschte schopenhauerische, freudianische Gleichgewicht von Freiraum und
Harmonie, sondern das nietzscheanisch dionysische Fest und den darauffolgenden Tod. Beide
scheitern in ihrem Streben nach dem Schönen. Das Schöne ist nur ein Schein, welcher ihre
Sinne betrügt und sie an wirkliche Liebe glauben lässt. Sie ist der Auslöser von Gefühlen, die
durch ästhetisches Schaffen nur kurzweilig befriedigt werden können. Der einzige Ausweg
zur vollkommenen Erlösung ist der Tod, von dem beide, bewusst bzw. unbewusst, als von
einem Zustand des Nichts träumen. Für Aschenbach handelt es sich vermutlich um eine
Erlösung von den Pflichten seines Künstlerlebens oder von einer unerfüllten Liebe, während
Grenouille von seiner Enttäuschung, als Identitätsloser nicht geliebt werden zu können, erlöst
werden will. Die Komplexität und Vielseitigkeit der Thematik die hier veranschaulicht wurde,
zeigt wie auch diese Studie neue Fragen aufwirft. Das Spannungsfeld zwischen Schönheit,
Liebe und Tod übt ständig seine Faszination aus.
35
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