Predigt über die Jahreslosung 2011 am Silvestertag 2010 in der

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Predigt über die Jahreslosung 2011 am Silvestertag 2010 in der
Predigt über die Jahreslosung 2011 am Silvestertag 2010 in der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche
in Heidmühle
Liebe Gemeinde!
In den 70er Jahren lief im Fernsehen eine Werbung. Da waren zwei Frauen zu sehen, die sich angeregt
unterhielten. Plötzlich hörte man jemanden husten. Die Frauen fuhren zusammen, schauten sich
erschrocken an und eine sagte: „Olaf hat Husten!“ Daraufhin die andere: „Das darf er nicht!“ Im
Hintergrund sah man einen glatzköpfigen Mann husten. Dann folgten Informationen über einen
Hustensaft, der sehr wirksam sei und deshalb zum Kauf empfohlen werde. Die nächste Szene zeigte
dann den besagten Olaf wieder – dieses Mal konzentriert auf einem Hochseil balancierend. Na klar,
wer auf einem Seil tanzt, der kann keine Störungen verkraften. Zu groß ist die Gefahr, das
Gleichgewicht zu verlieren, herabzustürzen und sich gehörig wehzutun.
In der Hand halten Sie einen kleinen Taschenkalender für das Jahr 2011. Er ist ein Geschenk für Sie.
Auf der Rückseite finden Sie die Jahreslosung für 2011, ein Vers aus dem Römerbrief (Römer 12,21):
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Darunter sieht
man jemanden auf einem Seil balancieren. Offensichtlich sieht der Mensch, der diese Karte gestaltet
hat, den Grad zwischen Vergeltung, Böses gegen Böses, und Überwindung, Gutes statt Böses, als sehr
schmal, als sehr wackelig an. Wer sich da entscheiden muss, kann womöglich keine Störung
verkraften. Besteht vielleicht sogar die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, herabzustürzen, sich
gehörig wehzutun?
Ich glaube, wir alle haben Erfahrung mit Situationen, in denen uns jemand in einer Weise begegnet
ist, die wir als böse bezeichnen würde. Das waren vielleicht verletzende Worte. Das waren vielleicht
Gesten der Ablehnung, des Ausgrenzens. Das waren vielleicht Ungerechtigkeiten, Nachtragendes.
Vielleicht war es auch körperliche Gewalt. Genauso haben wir wohl alle Erfahrungen mit Situationen,
in denen wir selber böse gehandelt haben. Wir haben verletzt, bewusst oder fahrlässig. Wir haben uns
grob, nachtragend oder gehässig verhalten. Vielleicht haben wir sogar die Hand gegen jemanden
erhoben. Und ich glaube weiterhin, dass die meisten Reaktionen auf so ein böses Verhalten von uns
oder anderen in ähnlicher Weise grob, verletzend oder gewalttätig waren. Und wenn das Gegenüber
nicht unmittelbar reagieren konnte, weil es körperlich oder von der Stellung her unterlegen war, dann
wird es zumindest entsprechende Gedanken gehabt haben: „Warte nur, eines Tages …“ oder „Ich
wünschte, du wärest tot …“
Wer sich nun ein wenig mit Biologie und Evolution befasst hat, der wird schnell eine Erklärung zur
Hand haben. Da wird von Reflexen und Adrenalin die Rede sein, von Leben und Überleben, von
Fressen und Gefressenwerden. Das ist alles nicht falsch. Aber es hilft auch nicht, wenn es darum geht,
unser Leben zu bestehen und einigermaßen anständig mit den Menschen um uns herum
auszukommen. Wir verstehen weder uns noch die Menschen um uns herum als Wilde. Wir haben
doch längst andere Ansprüche an uns und unser Leben als Fressen und Gefressenwerden. Wir suchen
den Sinn unseres Lebens doch nicht allein im Essen oder in der Fortpflanzung, wenn überhaupt.
Wir Menschen sind verletztlich und verletzend. Und manchmal tun Worte mehr weh als Schläge.
Deshalb halten seelische Verletzungen noch an, wenn die blauen Flecken längst verschwunden sind.
Deshalb kann Böses auch nicht nur einzelne Tage verderben, sondern ein ganzes Leben. Und das gilt
für den, der Böses erleidet, genauso wie für den, der Böses tut.
An dieser Stelle möchte ich einmal auf das sogenannte Böse schauen. Was ist das eigentlich? Ist es
eine eigenständige Macht? Ist es das Tun eines Gegenspielers zu Gott?
Zunächst würde ich sagen, dass das Böse eine Schöpfung der Zivilisation und der Kultur ist. Dieses
nicht in dem Sinne, dass diese beiden es hervorgebracht hätten, sondern allein in dem Sinne, dass
Zivilisation und Kultur gezwungen waren, bestimmte Handlungen und Erfahrungen unter einem
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Begriff zusammenzufassen. Wer würde schon sagen, dass eine Katze böse ist, wenn sie eine Maus
fängt und tötet? Wer würde sagen, dass ein Blitz böse ist, wenn er ein Haus in Brand setzt? Wenn aber
ein Mensch einen anderen umbringt oder auch nur eine Maus aus Langeweile tötet, wenn er anderer
Leute Häuser in Brand setzt, dann sagen wir: „Das war böse. Das darfst du nicht.“
Aber auch das ist keine einhellige Meinung: In den USA und in anderen Staaten, die die Todesstrafe
haben, gilt es als Recht, einen wehrlosen Menschen unter bestimmten Umständen zu töten. Im Krieg
schicken wir gezielt Menschen los, um Häuser in Brand zu stecken. Gehen wir Jahrzehnte und
Jahrhunderte durch die Geschichte, dann stoßen wir immer wieder auf Handlungsweisen und
Begebenheiten, die wir heute als böse bezeichnen würden, die damals aber nicht als solche galten –
und umgekehrt.
Deshalb sage ich auch nicht, dass ein Mensch oder der Mensch als solcher böse ist, sondern dass ich
oder Sie böse handeln. Was als böse gilt und was nicht, das ändert sich in der Bewertung je nach Zeit,
je nach Kultur, je nach Situation. Aber solange mir meine Psyche nicht den Zugang zu einer von der
jeweiligen Gemeinschaft akzeptierten und vertretenen moralischen und ethischen Urteilsbildung
verwehrt, solange muss ich die Verantwortung übernehmen für mein Handeln. Solange muss ich mir
gefallen lassen, dass jemand sagt: „Das, was du da getan hast, ist böse. Das darfst du nicht.“
Schon in den mythischen Geschichten des Alten Testaments wird das Böse nicht als eigenständige
Macht angesehen. Im Buch Hiob, in dem geschildert wird, wie der fromme und rechtschaffende Hiob
mit Leid und Gewalt nur so überhäuft wird, ist der Satan, der das veranlasst, ein Untergebener Gottes.
Er hat nur die Rolle des Anklägers und muss Gott um Erlaubnis für sein Tun fragen. Gott erlaubt ihm,
den Hiob in Versuchung zu führen, verbietet ihm aber, dessen Leben anzutasten.
Im Neuen Testament wird Jesus einmal direkt gefragt, wer denn wohl Schuld daran sei, dass ein Mann
blind geboren worden ist – er oder seine Eltern? Jesus weist die Frage barsch zurück. Die Krankheit
sei nicht die Folge von Sünde von irgendwem, sondern das Wirken Gottes solle an dem Menschen
erfahrbar gemacht werden. Und dann heilt Jesus den Blinden. Ich verstehe diese Szene so: Jesus
erkennt im Leiden genauso wie im Bösen einen ganz normalen Teil des Lebens – einen Teil aber, an
dem sich entscheiden kann, wes Geistes Kind du bist.
Unser Maßstab als Christen ist das Handeln und die Verkündigung Jesu Christi, in dem wir uns in
besonderer Weise Gott gegenübergestellt sehen. Wenn die Jahreslosung uns dazu auffordert, das Böse
mit Gutem zu überwinden, dann geht sie im Prinzip weiter mit den Worten: „… so wie Jesus es
vorgelebt hat.“ Es wird uns damit zugemutet, diesen Anspruch auch einzulösen; es wird damit
ausgedrückt, dass wir auch in der Lage sind, diesen Anspruch in die Tat umzusetzen.
Ich habe vor einigen Tagen ein Zitat des Psychologen Alfred Adler gelesen, das mich berührt hat. In
diesem heißt es: „Überhaupt[,] der böse Wille ist niemals der Beginn, [sondern] immer die Folge der
Entmutigung. Wir haben keinen Anlass, diesem bösen Willen zu zürnen, es ist ein letztes Aufraffen,
wenigstens auf der schlechten, unnützen Seite des Lebens sich irgendwie hervorzutun, sich
unangenehm bemerkbar zu machen.“ Noch einmal mit anderen Worten: Wenn ein Mensch Böses tut,
dann ist dem immer schon eine Entmutigung, eine Verletzung vorausgegangen. Das böse Handeln ist
der verzweifelte Versuch, eine klaffende Wunde zumindest oberflächlich zu verschließen, auf
irgendeine Weise – und sei sie noch so lächerlich oder entsetzlich – etwas wie Würde, zumindest in
den eigenen, verheulten Augen, wiederzugewinnen.
Im Kleinen begegnet uns das tagtäglich in den Schulen, wo ein Klassenkaspar versucht, die
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dafür ermahnt, am Ende bestraft wird. Der Grund für sein
Verhalten ist aber nicht die Lust am Stören, sondern die fehlende Möglichkeit, sein Scheitern beim
Lernen konstruktiv zu verarbeiten. Erst kam das Scheitern und damit die Verletzung, dann das Stören.
Im Großen sind das die Amokläufer, bei denen eine Sicherung durchbrennt, so dass sie alle Welt zu
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strafen versuchen für etwas, das sie selbst nicht in ihr Leben einordnen können. Erst kam die
Verletzung, dann der Amoklauf. Im Globalen sind das die Kriegsherren und -damen, die sich –
rational oder irrational – bedroht sehen und entsprechend aufrüsten und Drohgebärden einüben.
Manches Mal sind es eher Gesten der Hilflosigkeit.
„Der böse Wille ist niemals der Beginn, sondern immer die Folge der Entmutigung.“ Wenn Sie oder
ich oder irgendjemand Böses tut, dann ist dem immer schon etwas vorausgegangen – etwas, dass den
Menschen dazu gebracht hat, in dieser Situation so grob oder gewalttätig zu handeln oder zu
reagieren. In der konkreten Situation ist es ein Einfaches zu sagen: „Der hat angefangen, ich habe nur
reagiert.“ Wahrscheinlich wird der Widersacher auch einen Grund nennen können, warum er denn
nun dieses oder jenes gesagt oder getan hat. Und so geht es weiter bis in die Steinzeit. Am Ende hauen
wir mit Keulen aufeinander ein: Wie du mir, so ich dir.
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Wie kann das nun
gelingen? Eines will ich vorweg sagen: Es gibt Menschen, die haben traumatische Erlebnisse gehabt,
unter denen sie bis heute schwer leiden. Ich glaube, dass wir es diesen Menschen schuldig sind, ihr
Leiden ernstzunehmen und sie nicht mit guten Gebeten und dem Hinweis auf den lieben Gott abzutun.
Manch einer braucht fachliche Hilfe von Therapeuten und Ärzten. Aber wenn wir diese Menschen aus
einer Haltung der christlichen Nächstenliebe heraus begleiten und sie auch in den schlimmsten Zeiten
nicht allein lassen – auch dann nicht, wenn sie uns nicht den Gefallen tun, sich von uns oder unseren
Gebeten trösten zu lassen – dann stehen wir schon in der Nachfolge Jesu.
Ich glaube auch, dass vielen Menschen viel Leid erspart geblieben wäre, wenn sie die frühen
Entmutigungen besser hätten wegstecken können, wenn damals schon jemand gewesen wäre, der
gesagt hätte: „Und egal, was passiert, und egal, wie häufig du noch an deinen Aufgaben scheiterst, ich
stehe zu dir, du bist mir ein unendlich wertvoller und liebenswürdiger Mensch.“ Sprich: Wir alle
können viel Böses schon im Vorfeld verhindern, indem wir dafür sorgen, dass die Menschen in
unserem Umfeld erst gar nicht entmutigt werden oder aber von uns so viel Zuspruch bekommen, dass
sie erlittene Entmutigungen wegstecken können. Christlich zu handeln bedeutet auch präventiv zu
handeln.
Noch einmal: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Wie
kann das gelingen? Wenn ich etwas habe, das Entmutigungen und Verletzungen relativiert, weil es
weiter reicht als jedes böse Wort; wenn ich etwas habe, das dafür sorgt, dass ich keine Angst mehr
habe, dass mir irgendjemand meine Würde nehmen könnte; wenn ich mir selber die Erfahrung
ermögliche, dass Gutes das Böse überwinden kann, dann müsste es doch möglich sein, es einfach
einmal darauf ankommen zu lassen – ohne Angst, vom Seil zu fallen und mir dabei wehzutun. Wenn
ich das Seil dann auch noch so tief setze, dass ich als Anfänger auch wirklich hinaufkommen kann, so
tief, dass es als guter Vorsatz für das neue Jahr taugt, dann soll es doch möglich sein, dass ich
irgendwann erstaunt feststelle: „Hoppla, ich bin gerade ruhig und freundlich geblieben, ich bin oben
geblieben, es hat geklappt.“
Was ich Ihnen anbieten möchte, ist der Satz Jesu, den er den Menschen entgegnet, die ihn nach der
Ursache für die Blindheit ihres Nachbarn fragen: „Gottes Werke sollen an ihm offenbar werden.“ Jetzt
nehmen Sie es bitte nicht als Prüfung, sehen Sie es bitte nicht als Ausdruck eines himmlischen
Prozesses, in dem der Satan mal wieder den Herrgott bittet, Unheil anrichten zu dürfen – das sind und
bleiben Geschichten, mythische Geschichten einer anderen Zeit, eines anderen Weltverständnisses.
Sehen Sie es als Ihr eigenes Spiel, als ein Spiel, das vielleicht den Titel trägt: Lebensfreude,
Zuversicht, heitere, christliche Gelassenheit. Sehen Sie es als Übung an für sich auf dem Weg, so
etwas wie heitere, christliche Gelassenheit zu erreichen. Aber sehen Sie es immer als Übung mit
gleichberechtigten Partnern an, denn Überheblichkeit dem Widersacher gegenüber ist wieder Gewalt
und von bösem Wesen.
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Wenn der Nachbar also seinen Schnee auf Ihren Gehweg schippt, dann ist das keine Frage, die über
die Ewigkeit entscheidet; es ist auch kein Problem, das Sie später Ihren Enkeln erzählen wollten, weil
es Sie dann immer noch umtreibt. Es ist die Gelegenheit, den Nachbarn einzuladen, um ihn kennen zu
lernen, denn Sie wissen nicht, warum er es tut. Bei Tee oder Glühwein kann man leichter fragen, wie
man gemeinsam mit den Schneemassen fertig werden kann. Wenn die Kollegin beißt und zickt, dann
ist das eine gute Gelegenheit, ihr für irgendetwas einmal ein freundliches Lob auszusprechen. Denn da
gibt es etwas, das diese Frau verunsichert, das ihr Angst macht. Sie ist kein böser Mensch, genauso
wenig wie Sie. Das, was sie tut, empfinden Sie als böse. Provozieren Sie das Gute. Spielen Sie ein
Spiel und lassen Sie sich nicht in einen Kampf ziehen. Und wenn Ihnen in Ihrer Kirchengemeinde
etwas fehlt, dann bieten Sie Ihre Hilfe an, um ein Angebot aufzustellen. Unterstützen Sie diejenigen,
die Sie als die Verantwortlichen ansehen, indem Sie auch denen Hilfe anbieten. Nicht warten und
schimpfen, dass niemand Oma besucht. Anrufen und sagen, dass Oma sich freuen würde, Sie würden
auch einen Termin verabreden.
Wir werden hier aus unserem Schortens heraus weder die Todesstrafe in fremden Staaten abschaffen,
noch die Abrüstung aktiv vorantreiben können. Wir können weder mit dem amerikanischen noch mit
dem iranischen Präsidenten direkt und offen reden. Aber wir können in unserem Umfeld und damit in
unserer Gesellschaft ein Klima schaffen und eine Kultur fördern, die bei allen zukünftigen Wahlen
dazu führen, dass bei uns nur friedvolle Politiker und Politikerinnen eine Chance haben, nur solche,
die den Dialog suchen und nicht die Keule, nur solche, die alle Menschen im Blick haben und nicht
nur die eigene Lobby.
Jesus hat einmal gesagt: „Arme werdet Ihr immer bei Euch haben.“ Das darf keine Entschuldigung
sein für unser Nichtstun, sondern ist als Entlastung gemeint: Du kannst und sollst die Welt nicht von
allem Bösen erlösen. Du kannst aber dafür sorgen, dass nicht durch dich noch mehr Böses geschieht.
Man kann das Böse nicht nur bekämpfen, man kann es auch austrocknen lassen. Wir beide können uns
nicht streiten, wenn einer von uns beiden nicht mitmacht. Und ob ich mich streiten muss, entscheide
doch nur ich – nicht mein Nachbar und nicht meine Kollegin. Lieben Sie das Leben, lieben Sie die
Menschen – ob die es wollen oder nicht.
Ich wünsche Ihnen ein friedvolles und von guten Erfahrungen geprägtes Jahr. Und ich bitte Sie:
Fassen Sie noch heute Abend einen Vorsatz, welchem Menschen Sie gleich in der ersten Woche des
neuen Jahres mit Gutem begegnen wollen: in Form eines Besuches, in Form von Blumen, in Form
eines freundlichen Briefes. 60 oder 70 freundliche Gesten – diese Chance sollte man nicht ohne
zwingenden Grund tatenlos vertreichen lassen.
Amen.
gez. Axel Kullik, Pastor