Demobilisierung: Die Fortsetzung der Straflosigkeit

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Demobilisierung: Die Fortsetzung der Straflosigkeit
Demobilisierung: Die Fortsetzung der Straflosigkeit
Im Fall Kolumbiens „…geht es um die Zukunft des Landes: darum, ob seine Institutionen in der Lage sein
werden, sich aus den Fängen derjenigen zu befreien, die mit Hilfe des organisierten Verbrechens und furchtbaren Menschenrechtsverletzungen ihre Macht zu erhalten suchen, und ob sie in Zukunft ihre verfassungsgemäße Rolle frei von Angst, Gewalt und Betrug ausfüllen können.“1[1]
A
llein zwischen 1996 und 2004 haben paramilitärische Gruppen in Kolumbien schätzungsweise 13.000 Menschen ermordet[2]. Ende
2002 nahm die Regierung Uribe Gespräche mit dem
paramilitärischen Dachverband Autodefensas Unidas
de Colombia (AUC) über einen Demobilisierungsprozess auf. Dabei galt es auch zu verhandeln, wie die
Justiz mit den Verantwortlichen für Verbrechen gegen
die Menschlichkeit umgehen würde. Die Ergebnisse
fanden im Gesetz 975 (Ley de Justicia y Paz) vom Juli
2005 ihren gesetzlichen Rahmen. Dreizehn der 59 in
Kolumbien inhaftierten AUC-Kommandanten wurden 2008 an die USA ausgeliefert. Dort sind sie ausschließlich wegen Drogendelikten angeklagt. Wahrheit und Gerechtigkeit in Kolumbien werden dadurch
erschwert. Der Chefankläger des Internationalen
2
grund des Drucks von Menschenrechtsorganisationen
und Opposition erreicht.
Massive Kritik von Opferund Menschenrechtsorganisationen
Bereits während der Gespräche wurde der Verhandlungsprozess von Menschenrechtsorganisationen wegen seines „Monolog-Charakters“ kritisiert: Seit Jahren dokumentieren Menschenrechtsorganisationen,
dass staatliche Stellen mit Paramilitärs zusammenarbeiten oder sie dulden. Dies bestätigen Urteile des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs und
der Para-Politikskandal: 2006 wurde öffentlich, dass
PolitikerInnen gemeinsam mit führenden Paramilitärs
bereits 2001 im „Pacto de Ralito“ eine Neuordnung
des Landes vereinbart hatten.
Der rechtliche Rahmen des Demobilisierungsprozesses weist erhebliche Mängel bezüglich der Rechte der Opfer auf Wahrheit,
Gerechtigkeit, Entschädigung und NichtWiederholung auf. Neben Menschenrechtsorganisationen weist das Büro des UNHochkommissariats für Menschenrechte
darauf hin, dass das Gesetz 975 internationalen Standards nicht genügt[3].
Kritikpunkte am rechtlichen Rahmen:
Verbindungen von staatlichen Akteuren mit Paramilitärs werden nicht thematisiert;
Er ist nicht geeignet, die Auflösung
der
paramilitärischen
Strukturen und so eine
© Surimages
Nicht-Wiederholung zu gewährleisten;
Gesetz 975 erfasst nur die AUC-FühStrafgerichtshofs zeigte sich aufgrund der drohenden rungsebene;
Straflosigkeit besorgt. Seit Inkrafttreten des Gesetzes Mehr als 19.000 Paramilitärs werden nach Dekret
975 ist kein Mitglied der Paramilitärs rechtskräftig ver- 128/2003 behandelt und in Freiheit entlassen, ohne
urteilt worden. Verbesserungen am Gesetz 975 hin zur Wahrheitsfindung beizutragen[4];
zu mehr Wahrheit und Gerechtigkeit wurden nur auf- 3
4
[3]
Human Rights Watch, “Breaking the Grip?”, Oktober 2008.
[2]
Colombian Commission of Jurists (CCJ), “A Metaphorical Justice and
Peace,” 21.06.2005.
[1]
www.hchr.org.co, Juni 2005: „Consideraciones sobre la Ley de Justicia y Paz“.
Paramilitärs, gegen die kein Strafverfahren anhängig ist, werden weder
umfassend befragt, noch werden Untersuchungen über mögliche Straftateneingeleitet.
[4]
Acht Jahre Gefängnis als Höchststrafe sind für
Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gering;
Er ist nicht in einen umfassenden Friedensprozess
eingebunden, obwohl das Gesetz 975 prinzipiell auch
für Guerillagruppen gelten soll.
ersten Anhörung informiert werden können. Nahezu
ein Drittel derjenigen, die unter Gesetz 975 schwerster
Menschenrechtsverbrechen angeklagt sind, hat also
nach vier Jahren noch keine Aussage gemacht und die
Staatsanwaltschaft kennt ihren Aufenthaltsort nicht.
2006 wurden durch ein Urteil des Verfassungsgerichts
(C-370/2006) entscheidende Verbesserungen im Gesetz 975 angeordnet. Sie stärken die Bereiche Wahrheit[5], Gerechtigkeit und Entschädigung. Die weiteren
Kritikpunkte bleiben jedoch bestehen.
Fallbeispiel: Kommandant Hazbún
5
Seit August 2006 ist der Demobilisierungsprozess laut
Regierung abgeschlossen. Einige Blöcke der AUC
haben sich jedoch überhaupt nicht an dem Prozess
beteiligt. Inzwischen sind sogenannte neue Gruppen
entstanden[6]. Diese werden teils von der früheren
mittleren Führungsebene der AUC angeführt, teils
sind paramilitärische Strukturen erhalten geblieben.
Sie üben soziale, politische und wirtschaftliche Kontrolle dort aus, wo sie präsent sind. Sie widmen sich
Drogenhandel, organisiertem Verbrechen oder sind
Auftragsmörder. Sie bedrohen und ermorden weiterhin GewerkschafterInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen. Statt einer Verbesserung ist für die Zivilbevölkerung in vielen Regionen eher ein Wechsel der
Kontrollmechanismen spürbar. So werden z.B. weniger Massaker verübt, stattdessen aber mehr selektive
Morde. Anfängliche Erfolge bei der Reduzierung von
Gewalt in einigen Regionen sind inzwischen in Frage gestellt, wie etwa durch die seit Mitte 2009 wieder
stark ansteigende Gewalt in Großstädten.
6
Raúl Emilio Hazbún, Kommandant des Bloque Bananero, wurde bei seiner Demobilisierung 2004 nach
Dekret 128 behandelt. Auch ab 2005 wurde er nicht
durch das Gesetz 975 verfolgt, da kein Verfahren gegen ihn anhängig war, obwohl mehrere paramilitärische Kommandanten aussagten, dass er der AUCFührungsebene angehörte. Erst nachdem zivilgesellschaftliche Organisationen diese Situation öffentlich
machten, leitete die Generalstaatsanwaltschaft Untersuchungen ein. Sein Fall macht deutlich, wie durchlässig das Gesetz 975 in seiner Umsetzung ist, fallen die
zehn Jahre seiner Befehlsgewalt doch mit den massivsten Vertreibungen in der Region zusammen.
Zahlen und Fakten
Ü 99 PolitikerInnen sind in den Para-Politikskan-
dal verwickelt.
Ü Gegen 53 PolitikerInnen laufen Untersuchungen.
Ü 12 PolitikerInnen wurden verurteilt.
Ü 12.000 Paramilitärs gab es schätzungsweise vor
dem Demobilisierungsprozess[7].
Ü 31.671 Paramilitärs wurden demobilisiert.
Ü 10.000 Paramilitärs sind heute in „Neuen Banden“ organisiert.
Ü 3.854 Demobilisierte fallen unter das Gesetz
975[8].
Ü Bis 2009 gab es keine einzige rechtskräftige
Verurteilung nach Gesetz 975.
Ü13 Paramilitärs wurden an die USA ausgeliefert.
1
Eine Anzeige in der Tageszeitung El Tiempo vom 20.
September 2009 macht Schlupflöcher bei der Umsetzung des Gesetzes 975 deutlich. Die Staatsanwaltschaft fordert dort 1.301 Demobilisierte (1.290 Paramilitärs, 11 Guerilleros) auf, ihre Kontaktdaten bekannt zu geben, damit sie über Datum und Ort ihrer
2
[5]
Die Aussagen der Paramilitärs müssen nach dem Urteil vollständig und
wahrhaftig sein, sonst verlieren sie ihr Anrecht auf Strafminderung. Die
Opfer haben das Recht, an den Prozessen teilzunehmen, alle betroffenen Angehörigen müssen entschädigt werden, die Staatsanwaltschaft bekommt mehr
Zeit für ihre Untersuchungen zugesprochen. Die Paramilitärs müssen sich mit
ihrem gesamten Besitz an Entschädigungszahlungen beteiligen, nicht nur mit
dem illegal angeeigneten Besitz. Vgl. CCJ, 19. 5. 2006.
[6]
Nuevo Arco Iris spricht von 10.000 Kämpfern, ca. die Hälfte „alte“
Paramilitärs, die andere Hälfte neu rekrutiert. www.nuevoarcoiris.com.co,
Nov. 2009.
[7]
Die widersprüchlichen Zahlen machen deutlich, dass sich Personen dem
Prozess angeschlossen haben, die keine Paramilitärs waren sowie dass massive Neurekrutierungen vorgenommen wurden. Zum Demobilisierungsprozess
kursieren vielfach widersprüchliche Zahlen.
[8]
CNRR, Boletín Nr.10, Oktober 2009 und www.verdadabierta.com
Empfehlungen an die Bundesregierung und die EU
Die kolumbianische Regierung soll aufgefordert werden, die früheren und jetzigen paramilitärischen
Strukturen grundlegend aufzuklären und aufzulösen sowie deren politische, wirtschaftliche und militärische
UnterstützerInnen zur Verantwortung zu ziehen.
Zivilgesellschaftliche Opferorganisationen sollen für ihre Initiativen der Wahrheitsfindung in den Regionen
politische Unterstützung und Förderung erhalten. Programme für den Zeugenschutz sollen ausgebaut werden.
Zivilgesellschaftliche und Opfergruppen, die sich dafür einsetzen, dass die Paramilitärs und ihre Verbündeten
zur Verantwortung gezogen werden, sollen unterstützt werden.