Vita activa - Bruchlinien.de

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Vita activa - Bruchlinien.de
Alexander Schminke
Berlin, 07.12.2004
http://www.bruchlinien.de
Vita activa: Hannah Arendts Theorie des Handelns
Einleitung
Auf dem Höhepunkt der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung mit
Hannah Arendts politisch-publizistischen Veröffentlichungen und ihrer politischen Philosophie,
rieben sich einige Theoretiker verwundert die Augen, um sich die Begeisterung und das Spektakel
an Arendts Denken genauer zu besehen. Sie fragten sich: Warum Hannah Arendt?1 Oders anders
gefragt: Woher rührt die Begeisterung, die jetzt im deutsprachigen Raum in weiten Intellektuellenkreisen für die Schriften Hannah Arendts herrscht?
Konzentrierte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Schriften zunächst auf ihre Darstellung der Ursachen und Mechanismen totaler Herrschaft, begann erst zu
Beginn der 1990er Jahre in Deutschland die Rezeption ihrer politischen Theorie. Mit dem Ende
des Ost-West-Konfliktes zerfiel nicht nur der Sozialismus, sondern auch das ideologische Umfeld,
das eine Auseinandersetzung mit Hannah Arendts politischer Theorie verhinderte. Erst das Bedürfnis nach Neuorientierung, der Wunsch, andere, unkonventionelle Denkwege einzuschlagen,
um die Wirklichkeit zu deuten, machte viele Intellektuelle auf ihr Denken neugierig.2 Dieser Neugier ist es zu verdanken, dass Hannah Arendts Denken endgültig aus dem Schatten ihrer beiden
Lehrer, Martin Heidegger und Karl Jaspers, heraus treten konnte. Sie wurde und wird seitdem als
eigenständige Denkerin betrachtet. Sprichwörtlich ist in diesem Zusammenhang ihr „Denken ohne
Geländer“ geworden.3 Aber gerade dieses Denken macht Schwierigkeiten: es fühlt sich keiner
Schule verpflichtet, gibt seine Ursprünge nur selten preis, ist manchmal so wechselhaft wie das
Bewusstsein selbst, so dass es unzusammenhängend und an einigen Stellen sogar chaotisch ist.
Eine Rezeption ihres Werkes ist somit eine schwierige und langwierige Angelegenheit. Dafür
1
Michael Weingarten (Hrsg.), Warum Hannah Arendt? Aufklärungsversuche linker Missverständnisse, 1. Aufl.,
Bonn 2000
2
Vgl. Sigrid Weigel, Jenseits der Systeme. Denkbewegungen Hannah Arendts, in: Daniel Ganzfried/Sebastian
Hefti (Hrsg.), Hannah Arendt. Nach dem Totalitarismus, Hamburg 1997, S. 13-20.
3
„Zwischen den platt gewordenen Regeln des gesunden Menschenverstandes, die keinem modernen Ereignis
mehr adäquat sind, und der Verstiegenheit der Ideologien muss der Geschichtsschreiber seinen Weg zu finden
versuchen, und das heißt auf viele liebgewordene Gewohnheiten und Methoden verzichten. Er muss lernen,
gleichsam ohne Geländer zu denken.“ Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 6. Auflange,
München 1998, S. 42. Vgl. Claudia Althaus, Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur
politischen Theorie, Göttingen 2000, S. 176-192.
wird man jedoch von einer klaren, beinahe poetischen Sprache entschädigt. Vielleicht sind es ja
gerade diese Charakteristika ihres Denkens, die zu falschen Annahmen bei der Interpretation ihres
Werkes führen. Vielleicht ist es aber auch der Wunsch und das Bedürfnis nach Orientierung, das
einmal Entdeckte trotz aller Widersprüche festhalten zu wollen.
Hier geht es nun um eine dieser Fehlinterpretationen, die sich scheinbar im kollektiven Wissen
der Intellektuellen eingegraben hat. Gegenstand ist in dieser Hinsicht Hannah Arendts Theorie des
Handelns, die sie in ihrem Buch über die „Vita activa oder Vom tätigen Leben“4 entfaltet hat.
Von der Analyse totaler Herrschaft zur „Vita activa“
Erwähnen wir aber zunächst ihre bedeutsame Studie über die „Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“, die sie 1951 veröffentlicht und ihr internationale Anerkennung einbringt.
Mit diesem Buch hat Hannah Arendt versucht, die Entstehung und das Wesen des Nationalsozialismus zu erklären. Ferner handelt es sich dabei um ihr Bestreben, die bereits wissenschaftlich
erfassten Staatsformen (Monarchie, Diktatur, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie und Ochlokratie) um eine weitere zu ergänzen.
In ihrer Analyse gelangt Hannah Arendt zu dem Ergebnis, dass totale Herrschaft die extremste
Dysfunktion der Gesellschaft darstellt. Sie ist der radikale Versuch, die Menschen auf bloße Reaktionsbündel zu reduzieren, um das Funktionieren des gesellschaftlichen Bewegungsprozesses
abzusichern. Was also in einer totalen Herrschaft geschieht, ist die radikale Entpolitisierung der
Menschen, durch die die Möglichkeit auf Freiheit vernichtet und somit die Existenz einer pluralistischen Struktur der Welt negiert wird.
Die Frage, die Hannah Arendt im Anschluss an „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zu
einer theoretischen Beschäftigung mit dem Handeln veranlasste, war, wie es den Menschen überhaupt möglich sei, totalitären Prozessen, die auch weiterhin die Welt durchherrschen, entgegenzutreten. Sie suchte nach einer Regel, mit der herausgestellt werden kann, dass der Mensch nicht
grundsätzlich den Strukturen in der Welt ausgeliefert ist. Im Vordergrund stand also die Frage
nach den Bewegungskräften, die sowohl die Menschen als auch ihre Welt zu dem machen, was
sie sind. Und in diesem Sinne, sozusagen als Vorgriff auf ihre Theorie des Handelns, provoziert
4
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München 1994.
diese Frage „geradezu die Suche nach einem obersten Prinzip, nach einer letzten Bewegungskraft,
die anderen Momenten überlegen oder uneinholbar voraus ist“5.
Doch stellt Hannah Arendts Theorie des Handelns eine Handlungstheorie dar? Diese Frage ist
berechtigt, haben wir doch zuvor erwähnt, dass sich das Verständnis von Hannah Arendts theoretischen Schriften auch dem Bedürfnis nach einem theoretischer Halt in Zeiten politischer Haltlosigkeit verdankt. Die politische Philosophie Hannah Arendts soll also genau so verstanden werden, wie sie tatsächlich gemeint ist und sich anderen Denkern verdankt. Doch welche Kriterien
muss eine Theorie erfüllen, um als Handlungstheorie zu gelten?
Handlungstheoretische Grundbegriffe
Was denn nun eine Handlungstheorie sei, darüber sind sich Philosophen und Theoretiker auch
weiterhin uneinig. Trotzdem herrscht unter ihnen die allgemeine Auffassung, dass Theorien, die
sich mit dem menschlichen Verhalten auseinandersetzen, bestimmte Voraussetzungen erfüllen
müssen.
Handlungstheoretiker gehen zunächst davon aus, dass Individuen soziale Strukturen bewusst oder
unbewusst „als Bedingungen ihres Handelns nach ihrer Relevanz für bestimmte Ziele“ definieren, dabei die jeweiligen Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele auswählen und schließlich als
aktiv Handelnde „neue Strukturen als Bedingungen weiteren Handelns“ kreieren.6 Diese Überzeugung widerspricht also jenen Auffassungen, die den Menschen ausschließlich durch äußere
Strukturen determiniert begreifen. Indem die Individuen aufgrund sozialer Strukturen und eigener
Fähigkeiten handeln, machen sie Geschichte, insofern sie neue Strukturen und individuelle Bedingungen ihres weiteren Handelns in die Welt setzen. Gemeinsam erschaffen sie dabei Gesellschaft, folgert Anthony Giddens, jedoch „unter bestimmten historischen Bedingungen und nicht
unter den Bedingungen ihrer eigenen Wahl“.7 Folgt man diesem Erklärungskonzept sozialen Handelns, stellt Uwe Schimank fest, muss der Gegenstand einer Handlungstheorie die „fortlaufende
wechselseitige Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen“ sein.8
Wer sich wissenschaftlich mit dem Handeln des Menschen auseinandersetzt, muss sich von vornherein um eine nähere Bestimmung des Handlungsbegriffes bemühen. Dabei sei zu berücksichtigen, so der Philosoph Wilhelm Kamlah, dass dem potentiell Handelnden mehrere Handlungsmög-
5
Peter Gross, Reflexion, Spontaneität und Interaktion. Zur Diskussion soziologischer Handlungstheorien, Stuttgart 1972, S. 11.
6
Heinz Abels, Einführung in die Soziologie, 2. Aufl., Bd. 2, Wiesbaden 2004, S. 174.
7
Anthony Giddens, Interpretative Soziologie, Frankfurt am Main 1976 (1984?), S. 197f.
8
Uwe Schimank, Handeln und Strukturen, München 2000, S. 9.
lichkeiten offen stehen, die er (zumindest rudimentär) vergleicht, um sich letztendlich für die
Verwirklichung einer bestimmten Handlungsalternative zu entschließen.9 Dieses Abwägen bedarf
der Voraussicht der sicheren, wahrscheinlichen und möglichen Folgen der einzelnen Handlungsmöglichkeiten.
Eine moderne Handlungstheorie muss berücksichtigen, das „das Leben der Menschen und die
Existenz ihrer sozialen, natürlichen und materiellen Lebensgrundlagen von der Politik“ abhängt.10
„Denn die Wirkung der Politik“, schreibt der Politikwissenschaftler Michael Th. Greven, „reicht
heute in qualitativ neuartigem Maße über das gesellschaftliche Leben [...] hinaus und beeinflusst
Bedingungen des Lebens und Überlebens, die vor kurzem noch als schicksalhaft erschienen.“11
Diese Stellung der Politik verdankt sich dem unaufhörlichen ökonomischen, technischen und sozialen Fortschritt, der die Ausdifferenzierung der Gesellschaften in Subsysteme mitsamt systemspezifischer Fachkommunikation vorantreibt. Gesellschaften sind also komplexe Gebilde, schreibt
Niklas Luhmann, weil „auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der
Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann“12. Durch
die Komplexität der Welt wachsen aber die Schwierigkeiten einer gelingenden Kommunikation
und Anerkennung zwischen den sozialen Systemen. Hier tritt nun die Politik in der Art eines
„Metasystems“ auf, die immer dann einschreitet, wenn eine allgemein verbindliche Entscheidung
nicht herbeigeführt werden kann.13
Weil die zunehmende Komplexität der Gesellschaft ihre geistige Durchdringung verhindert, ist
das Handeln – wie immer es aussehen mag – mit dem Problem des Risikos behaftet. Dieses Risiko wird gerade dann manifest, wenn es gilt, Neues anzufangen oder Ziele gerade nicht auf tradierten bzw. routinierten Wege zu verwirklicht. In Frage steht, inwiefern sich „vielleicht doch rational kalkulieren und berechnen [lässt], ob eine Abänderung des Bestehenden zu Erfolg oder Misserfolg führt“14. Mit dieser Frage zeichnet sich jedoch ein Moment in der Moderne ab, das durch
Kontingenz und einer zunehmenden Krisenhaftigkeit ausgezeichnet ist. Denn unter den Wissenshorizonten der Handelnden kann jede Entscheidung zu einer Handlung auch anders ausfallen, als
sie ursprünglich beabsichtigt gewesen ist.
9
Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Mannheim/Wien/Zürich 1972, S. 72.
Michael Th. Greven, Die politische Gesellschaft, Opladen 1999, S. 9.
11
Ebenda.
12
Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 7. Aufl., Frankfurt am Mein 1999, S.
46.
13
Vgl. Christian Schwabe, Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne, München 2002, S. 192.
14
Michael Weingarten, Arbeit als Natur? Die Fragwürdigkeit der Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und
Handeln, in: Winfried Thaa/Lothar Probst (Hrsg.), Die Entdeckung der Freiheit, a. a. O., S. 82.
10
Eine Theorie des politischen Handelns darf die Tatsache nicht unterschlagen, dass das Handeln in
einer komplexen Gesellschaft immer auf die Handlungen anderer trifft und somit Reaktionen, also
Gegenhandlungen auslösen kann. Diese Gegenhandlungen können zu gesellschaftlichen Konflikten führen, für die eine Handlungstheorie Lösungsmöglichkeiten anbieten sollte.
Schließlich ist es Aufgabe einer entsprechenden Theorie, einen Begriff politischer Praxis (Handelns) zu entwerfen. Dieser Begriff berücksichtigt, dass Handlungsfreiheit durchaus teleologischen Charakter besitzen kann, und übergeht des Weiteren nicht die Tatsache, dass der „von alten
Sicherheiten und Eindeutigkeiten“ verlassene Mensch „zur Politik verurteilt“ ist.15 Gemäß dieser
zentralen Herausforderung menschlichen Handelns, die sich aus Max Webers Diagnose der Moderne ergibt, besitzt das Handeln Entscheidungscharakter. Dieses Kennzeichen zeigt sich offensichtlich im öffentlichen Miteinanderhandeln. Denn „das Politische ist die entscheidende Zone,“
stellt Ernst Vollrath fest, „ weil es die Zone ist, von der her die maßgeblichen Entscheidungen
ausgehen. Im Politischen hat sich die Entscheidung zur Entscheidung einen eigenen Ort geschaffen.“16
Meine These zur „Vita activa“
Die hier skizzierten Charakteristika einer modernen Handlungstheorie machen zumindest eines
deutlich, dass Handeln in einer zunehmend komplexer werdenden Welt mit Problemen für den
Handelnden verbunden ist. Handeln und selbst die Erkenntnis, die diesem Handeln vorausgeht
und Gewissheit verleihen soll, sind unsicher. Denn die Welt als unendliches Universum entzieht
sich einer möglichen endlichen Beschreibung und damit einem Handeln, dass durch eindeutige
Parameter gekennzeichnet ist. Mit anderen Worten: „Wollten wir in aller Vollständigkeit wissen,
wie sich ein System entwickelt, müssten wir das System selber sein und dessen Entwicklung in
dessen eigener Zeit durchlaufen.“17
Die Frage, ob Hannah Arendts Denken diese Schwierigkeiten, mit denen gegenwärtiges Handeln
verbunden ist, berücksichtigt hat, scheint sich den meisten Kritikern nicht gestellt zu haben. Sie
übergehen geflissentlich die Tatsache, dass viele Ideen Hannah Arendts sich dem Denken ihres
Lehrers und Geliebten Martin Heidegger verdanken. Im Zentrum dieser Aneignung und Umwandlung Heideggerscher Gedanken steht sein 1927 veröffentlichtes Hauptwerk Sein und Zeit.18
15
Christian Schwabe, Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne, a. a. O., S. 191.
Ernst Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, S. 297.
17
Tor Norretranders, Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins, 1. Aufl., Hamburg 1994, S. 522.
18
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993.
16
So schreibt Hannah Arendt in einem vom 28. Oktober 1960 datierten Brief an Martin Heidegger:
„Du wirst sehen, dass das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen - ich meine zwischen, also weder Dich noch mich -, so hätte ich Dich gefragt, ob
ich es Dir widmen darf; es ist unmittelbar aus den ersten Freiburger Tagen entstanden und schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“19
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind es bislang zwei Politikwissenschaftler gewesen, die vor einer zu sorglosen Aneignung des von Hannah Arendt vollzogenen Denkens gewarnt
haben. Bereits 1993 weist Martin Braun darauf hin, dass Hannah Arendts Werk vielmehr eine
philosophische Lehre der menschlichen Tätigkeiten darstellt.20 Zehn Jahre später ist es dann Michael Greven, der in Hannah Arendts „ontologische(r) Fundierung von Seinsbereichen“ die Ursache erkennt, weshalb ihre Wahrnehmung von Kontingenz die „heutige methodische Diskussion
des Mikro-Makro-Problems“ nicht bereichern kann.21
Aus diesen Bedenken leite ich meine Behauptung ab, dass Hannah Arendts Untersuchung des
tätigen Lebens nicht auf die Konstruktion eines Handlungsbegriffes abzielt, der sich in die handlungstheoretischen Überlegungen zum Beispiel eines Jürgen Habermas einreiht. Stattdessen breitet sie eine philosophische Anthropologie aus, die sowohl eine politische Theorie als auch eine
Analyse menschlicher Tätigkeiten enthält.
So analysiert Hannah Arendt die menschlichen Tätigkeiten, weil es ihr vordergründig um die ontologischen Bedingungen geht, durch die Tätigkeiten wie Arbeiten, Herstellen, Handeln erst ermöglicht werden. Der Mensch ist ihr also zum Problem geworden, insofern sie nicht nur wissen
will, welche Kräfte den Menschen zu einer Synthese zwischen Freiheit und Notwendigkeit machen, sondern auch, ob und wie Spannungen und Konflikte eine mögliche Balance zwischen beiden Welten verhindern. Durch die Analyse der menschlichen Tätigkeiten kann Hannah Arendt
schließlich eine politische Theorie ausbreiten, die davon ausgeht, dass Politik nur möglich ist,
weil es einerseits ein zwischenmenschliches Verhältnis (Pluralität) gibt und Menschen andererseits mit Sprache begabte Wesen sind.
19
Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, Frankfurt am Main 1998, S.
149.
20
Martin Braun, Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff, Frankfurt am Main 1994.
21
Michael Th. Greven, Hannah Arendts Handlungsbegriff zwischen Max Webers Idealtypus und Martin Heideggers Existentialontologie, in: Winfried Thaa/Lothar Probst (Hrsg.), Die Entdeckung der Freiheit, Berlin/Wien
2003, S. 123.
Hannah Arendts Theorie des Handelns
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun auf die Darstellung der Vita activa richten, fällt sofort die
strikte Dreiteilung des tätigen Lebens in Arbeiten, Herstellen und Handeln auf. Gegenüber diesen
Grundtätigkeiten stehen die Geistestätigkeiten, also Denken, Wollen und Urteilen. Alle zusammen
genommen charakterisieren das menschliche Leben. Hannah Arendt stimmt in dieser Hinsicht mit
Marx überein, der schreibt: „Was ist Leben (anderes) als Tätigkeit“ (MEW/Erg.-Bd., S. 515).
Die von Hannah Arendt dargestellten Grundtätigkeiten repräsentieren in aufsteigender Folge Wertigkeitsstufen, die nur durch besondere Bedingungen jeweils übersprungen werden können.
Mit diesen Grundtätigkeiten werden zugleich die jeweiligen Grundverhältnisse benannt, in die der
Mensch eingebunden ist. Wenn Hannah Arendt den Menschen zunächst als „animal laborans“
bezeichnet, so stellt sie damit sein Grundverhältnis in der Natur dar.
Eine Stufe höher steht der „homo faber“, wohin die menschliche Existenz aufgrund ihrer Möglichkeit gelangt, mit den eigenen Händen etwas zu erschaffen. So erfindet und baut der Mensch
sich seine eigene Welt als ein Ort der Heimat und die Gesamtheit aller hergestellten Dinge. Hier
stellt Hannah Arendt das Grundverhältnis des Menschen zur Natur dar.
Beide Bereiche – Arbeiten und Herstellen – besitzen eine Tendenz zur Vergesellschaftung. Für
Hannah Arendt ist die Arbeit die einzige Tätigkeit, die „ihrem Wesen nach [...] ins Kollektiv
drängt“22; auch versammeln sich die arbeitenden und herstellenden Menschen auf dem Markt, da
beide Anbieter oder Konsument einer Ware sind.
Ohne jegliche Vermittlungsprozesse sind die Menschen im Bereich des Handelns aufeinander
bezogen. Von Arbeiten und Herstellen gleichermaßen getrennt, ereignet sich an diesem Ort die
menschliche Freiheit. Seine Grundbedingung ist die Pluralität und das allen Menschen Gemeinsame: die Sprache.
Mit dieser Bestimmung der drei Grundtätigkeiten in und zur Natur bzw. in und außerhalb der
Kultur ist zugleich ein fundamentales Unterscheidungsmerkmal gesetzt: Arbeiten, Herstellen und
Handeln konstituieren drei ontologisch verschiedene Regionen, die untereinander nicht austauschbar sind.
Dieses Unterscheidungsmerkmal ist in doppelter Hinsicht bedeutsam: 1. Es erleichtert den ungetrübten Blick auf die jeweilige Erscheinung – also auf das Arbeiten, Herstellen und Handeln -, so
22
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., S. 208.
dass im Sinne der Phänomenologie eines Martin Heideggers nur das zur Sprache kommt, wie es
sich ursprünglich zeigt; und 2. ermöglicht es eine gegenwartsbezogene Kritik, ob die Menschen
tatsächlich so tätig sind, wie es die Grundtätigkeiten in ihrer ursprünglichen Erfassung nahe legen.
Ausgehend von diesem Unterscheidungsmerkmal können wir also danach fragen, zu welchen
Ergebnissen Hannah Arendts Reflexionen geführt haben.
1) Auch Hannah Arendt begreift den Menschen als ein Wesen, dass sich selbst immer aus Möglichkeiten heraus verwirklicht, weil sein Sein noch nicht endgültig festgelegt ist. Um sich jedoch
zu verwirklichen, bedarf es eines gewissen Freiraumes, in dem der Mensch von den Notwendigkeiten des Lebens befreit ist. Keinen Freiraum bietet ihrer Ansicht nach der Raum des Privaten.
Denn in diesem Bereich ist der Mensch ausschließlich dem Leben und den Notwendigkeiten zur
Lebenserhaltung unterworfen. Hier geschieht alles, was dem Leben dient. Mit der „Produktion des
Lebens“ (Marx) ist gleichzeitig das Konsumieren verbunden. „Arbeiten und Konsumieren“,
schreibt Hannah Arendt, „[sind] zwei verschiedene Formen oder Stadien in dem Kreislauf des
biologischen Lebensprozesses“23. Damit wird die Zyklus des Arbeitsprozesses deutlich. Der
Mensch „muss essen,“ zitiert Hannah Arendt einen Ausspruch Marx´, „um zu arbeiten, und muss
arbeiten, um zu essen“24. Und in dieser unaufhörlichen Widerholung kommt das Leben, das arbeiten muss, über das bloße Arbeiten nicht hinaus. Der arbeitende Mensch bleibt, ausschließlich um
seine Existenz besorgt, auf sich selbst bezogen und somit dem Raum des Privaten verbunden.
Und der „privative Charakter des Privaten“, stellt Hannah Arendt fest, „liegt in der Abwesenheit
von anderen ...“25. Aufgrund dieser strikten und abwertenden Grenzziehung zum öffentlichen
Raum, bleibt der Mensch nicht nur von den Anderen isoliert, sondern – so Hannah Arendt grundsätzlich „der höchsten Möglichkeiten und der menschlichsten Fähigkeiten“26 beraubt.
2) Das produktive Herstellen von Gebrauchsgütern stellt in gewissem Sinne eine Emanzipation
vom bloßen Arbeitsprozess dar. Der Mensch besitzt hier immerhin soviel Spielraum, um Vorgestelltes methodisch zu verwirklichen. Nur hier, glaubt Hannah Arendt, gibt es Kausalität. Indem
„homo faber“ mit seinen Händen und Werkzeugen eine eigene Idee nach seinen eigenen Plänen
materialisiert, besitzt der Herstellungsprozess grundsätzlich einen Anfang und ein Ende. Herstellungsprozesse unterscheiden sich somit von unendlich ablaufenden Arbeitsprozessen, aber auch
von Handlungsprozessen im öffentlichen Raum, weil Hannah Arendt „Kausalität und Handlungsfreiheit als ausschließende Prinzipien begriff“ (Vowinckel, S. 106). Abbild und Held des „homo
23
Ebenda, S. 91.
Ebenda, S. 130.
25
Ebenda, S. 58.
26
Ebenda, S. 39.
24
faber“ ist Prometheus, der sich der göttlichen Ordnung entgegenstellt und die Erde nach seinem
Antlitz gestaltet. Unter seiner Herrschaft formt er das der Natur entrissene Material zu einer Welt
zusammen, die ihn selbst und vielleicht sogar die Menschheit überdauern kann. Doch trotz aller
Möglichkeiten, die sich dem „homo faber“ für den Schöpfungsprozess eröffnen, bleibt er dennoch
dem Raum des Privaten verhaftet – auch wenn das Herstellen (wie bereits erwähnt) die Tendenz
zur Vergesellschaft besitzt. Denn die „unerlässliche Lebensbedingung“, schreibt Hannah Arendt,
„Material, Werkzeuge und Gegenstände“ zu meistern, ist „die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das
ungestörte Alleinsein mit [...] dem inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes“27. Deshalb ist
das Herstellen „prinzipiell unpolitisch“.28
3) Bezeichnet das Private, je Eigene den Bereich der Naturnotwendigkeiten und der Verborgenheit, so das Öffentliche, je Gemeinsame den Raum der Freiheit des Miteinander-Sprechens und –
Handelns, wo der Mensch als Person, als ein Jemand erscheint. Hannah Arendts Zeuge dieser
Grenzziehung zwischen dem Eigenen und Privaten ist Aristoteles, der das zweite Buch seiner
Politik mit der Feststellung beginnt: „Notwendigerweise haben alle Bürger entweder alles gemeinsam, oder nichts, oder einiges. Dass sie nichts gemeinsam haben, ist offenbar unmöglich.
Denn der Staat ist eine Gemeinschaft, und es ist als erstes notwendig, den Raum gemeinsam zu
haben ...“29 Der öffentliche Raum entsteht, weil nicht nur ein Mensch, „sondern viele Menschen
auf der Erde leben und die Welt bevölkern“30. Kennzeichen dieser Pluralität ist das Bedürfnis des
Menschen, unter Menschen zu sein. Mit diesem Bedürfnis, dem inter homines esse, überschreitet
das Einzelwesen seine persönliche Einzigartigkeit und ist praktisch gezwungen, handelnd und
sprechend auf die Anderen einzuwirken. In der Ermöglichung und Notwendigkeit dieses kommunikativen Handelns tritt zugleich die Einzigartigkeit der Person unter Vielen hervor. Denn auf die
Frage, wer Jemand ist, erscheint das sonst Verborgene im Rampenlicht der Öffentlichkeit: die
Personalität. Und dieses im-Lichte-der-Öffentlichkeit-stehen der Person ist zugleich die Wiederholung des Schöpfungsaktes. Mit dem Eintauchen und Sichtbarwerden unter Menschen vollzieht
das Individuums gewissermaßen eine zweite Geburt, einen zweiten Anfang. Hannah Arendt stellt
fest: „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen
die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen
absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht,
dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“31
27
Ebenda, S. 147.
Ebenda.
29
Aristoles, Politik, 7. Aufl., München 1996, S. 69.
30
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., S. 14.
31
Ebenda, S. 167.
28
Unter-Menschen-Sein bedeutet also Handeln und Sprechen und zugleich immer wieder von Neuem in eine Welt einzutauchen, die sich ohne besondere materielle Vermittlung aufgrund des
kommunikativen Anfangen-Könnens des Menschen konstituiert. Diese Welt, die „sowohl ein
Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten“ ist32, ist das „Reich der Freiheit“33. In dieses Reich tritt der Mensch ein, „wenn für die
viel vordringlicheren Lebensnotwenigkeiten gesorgt ist“34. Ohne Zwang und Gewalt und nur
durch die Macht der Worte, „die überzeugen können“35, regeln die Individuen hier ihre persönlichen Angelegenheiten. Was so zwischen die Individuen tritt, ist das, was an dieser oder jener
Person oder Gruppe interessiert. Der öffentliche Raum ist somit ein Zwischenraum, der angefüllt
ist mit einer unendlichen Vielzahl unterschiedlicher Inhalte und Absichten, die Gegenstand von
Spannungen und Interessenkonflikten auf den spezifischen Handlungsfeldern der Einzelnen werden können. Insofern die Menschen über diese widerstreitenden Interessen sprechen und sie verhandeln, also das für die eigenen Handlungsmotive Problematische lösen, ist der öffentliche Raum
eminent politisch. Aus diesen Handlungsprozessen vollzieht und gewinnt das Individuum seine
eigene Personalität. Denn das, was Hegel unter Wesen versteht – nämlich Wesen ist, was gewesen
ist -, oder Gadamer unter negativer Dialektik – nämlich die Aktualisierung des je eigenen Erfahrungshorizontes durch die Anerkennung neuer Erfahrungen –, findet ausschließlich in dieser herrschaftsfreien Sphäre menschlichen Handelns statt. Der öffentliche Raum ist also Ermöglichungsraum, insofern er die Verwirklichung und Aktualisierung des eigenen Selbst ermöglicht.
4) Wenn Hannah Arendt danach fragt, was Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung des
Menschen verhindern könnten, schließt das eine Kritik an die Moderne mitein. Zunächst benennt
sie drei Aporien, womit alles Handeln unweigerlich verbunden ist, und legt dann das eigentliche
Problem des Handelns offen, nämlich seine Prozessualität.
Die erste Aporie besagt, dass das Handeln grundsätzlich kontingent ist. Hannah Arendt schreibt:
„Die Unabsehbarkeit der Folgen gehört vielmehr zum Gang der von einem Handeln unweigerlich
erzeugten Geschichte.“36 Damit lehnt sie alle Bemühungen ab, Handlungen unter rationalen Gesichtspunkten zu begreifen.
Die zweite Aporie steht für die Unmöglichkeit, einen Einzelnen für die Handlungsfolgen verantwortlich zu machen.37 Ihre Kritik bezieht sich dabei auf die Versuche des traditionellen Geschichtsdenkens, ein historisches (Gesamt-)Subjekt zu identifizieren.
32
Ebenda, S. 52.
Ebenda, S. 33.
34
Ebenda, S. 62.
35
Ebenda, S. 30.
36
Ebenda, S. 184.
37
Ebenda, S. 182 und 214.
33
Und die dritte Aporie besagt, dass Handlungsprozesse grundsätzlich nicht rückgängig gemacht
werden können.
Im Anschluss an die letztgenannte Aporie betont und spezifiziert Hannah Arendt die Prozessualiät des Handelns. Obwohl der Bereich des Handels strikt von den anderen Tätigkeitsbereichen
getrennt ist, verlaufen dennoch alle unter dem „Gesetz der Zeit“.38 Mit dem Arbeiten teilt das
Handeln die mögliche Unendlichkeit, mit dem Herstellen die temporäre Linearität. Der Gedanke
eines unendlich fortschreitenden Handlungsprozesses verdankt sich dabei der antiken Vorstellung
menschlicher Unsterblichkeit. Das antike Denken, bemerkt Hannah Arendt, betrachte es als vornehmliche Aufgabe und mögliche Größe der Sterblichen, „dass sie es vermögen, Dinge hervorzubringen [...], die es verdienen, in dem Kosmos des Immerwährenden angesiedelt zu werden, und
durch welche die Sterblichen selbst den ihnen gebührenden Platz finden können in einer Ordnung,
in der alles vergänglich ist außer ihnen selbst“39.
Wenn Handlungsprozesse, lässt sich nun folgern, sich unaufhaltsam in die Zukunft fortsetzen,
dass möglicherweise der letzte Mensch sich ihrer noch erinnert, dann sind sie gegen äußere Eingriffe wiederstandsfähiger als selbst das stabilste Bauwerk. Bislang hat es der Mensch immer
noch geschafft, seine architektonischen Meisterleistungen auf die eine oder andere Weise zu zerstören. Doch „Menschen sind offenbar [...] unfähig“, schreibt Hannah Arendt, „die Prozesse, die
sie durch Handeln in die Welt loslassen“, zu stoppen oder „auch nur eine verlässliche Kontrolle
über sie zu gewinnen“40. Und eine weitere Konsequenz ergibt sich aus dem Sein schier unendlicher Handlungsprozesse: die Freiheit, neue Handlungsketten in die Welt zu setzen, kehrt sich „in
eine Determinierung durch die ureigensten Hervorbringungen“ um41. Sofern die Menschen „immer schon »draußen« bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt“ sind42,
wachsen sie in diese historisch gewachsenen Handlungsprozesse oder Strukturen hinein, die sie
verinnerlichen und schließlich selbst reproduzieren. So entsteht der Eindruck, dass es die Strukturen sind, die Welt konstituieren.
Angesichts der Widerspenstigkeit der einmal in die Welt gesetzten Handlungsprozesse, wie sollen
Menschen da noch frei handeln, wenn sie die „Freiheit unweigerlich verlieren, sobald sie anfangen, von ihr Gebrauch zu machen“43. Eine befriedigende Antwort kann Hannah Arendt nicht geben. Es ist vielmehr ein Prinzip der Hoffnung, durch das die Welt eher zufällig von ihren tradierten Prozessen und Strukturen erlöst werden kann. Die Erlösung liegt einerseits darin beschlossen,
„dass das Menschengeschlecht sich für immer durch Geburt, durch die Ankunft neuer Geschlech-
38
Vgl. Manfred Reist, Die Praxis der Freiheit, a. a. O., S. 237.
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., S. 24.
40
Ebenda, S. 228.
41
Manfred Reist, Die Praxis der Freiheit, a. a. O., S. 161.
42
Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 62.
43
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., S. 227.
39
ter erneuert“44; andererseits ist der Mensch aufgrund seiner Natalität selbst das „Prinzip des Anfangs“45, d.h. in jedem Neuankömmling steckt der Kern und die Möglichkeit initiativ zu werden,
als »Neuer« etwas Neues anzufangen und die Welt zu verändern.
Soweit zu Hannah Arendts Begriff des Handelns. In ihrer von mir skizzierten politischen Philosophie können also zwei bedeutsame Kennzeichen festgestellt werden:
1) Hannah Arendts Darstellung verdankt sich wesentlich dem theoretischen Rahmen, den Martin
Heidegger in Sein und Zeit entwickelt. Auch sie geht von der vor-wissenschaftlichen, alltäglichen
Erfahrung des Daseins als In-der-Welt-sein aus. Im Gegensatz zu Heidegger, der um dieses Inder-Welt-sein die wesentlichen Kategorien, wie z.B. „Mitsein“, „Sorge“, „Alltäglichkeit“ oder
„Verstehen“, gruppiert, ist nach Hannah Arendt das Leben des Menschen primär durch Tätigkeitsweisen ausgezeichnet, die entsprechend ihrem Modus spezifische Qualitäten aufweisen. Mit
Hilfe ihrer Tätigkeitsbegriffe versucht sie also die Tätigkeitsweisen darzulegen, in die der Mensch
sich während seines Lebens verlegt, und zugleich die darin enthaltenen Modi zu berücksichtigen,
wie der Mensch sich jeweils auf Objekte bzw. auf Andere bezieht.46 Das bedeutet, Hannah Arendt
thematisiert in erster Linie das Menschsein, versucht also den Menschen als solchen und im ganzen zu verstehen und festzustellen. Und dazu gehört, dass der Mensch ein eminent politisches
Wesen ist, weshalb dieser philosophischen Anthropologie eine politische Theorie immanent ist.
2) Auch in der politischen Theorie geht es Hannah Arendt primär um die Feststellung des politischen Wesens des Menschen. So erfasst sie spezifische Kennzeichen menschlichen Handelns, wie
z.B. die Kontingenz und Prozessualität des Handelns, doch Thema einer auf Veränderung angelegten Praxis werden sie nicht. Das bedeutet, eine Theorie, wie der Mensch angesichts der von
ihm selbst verursachten und ihn während seines Lebens beeinflussenden Prozesse und Strukturen
die Wirklichkeit verändern kann, legt Hannah Arendt mit ihrer Vita activa nicht vor.
Für die Politischen Wissenschaften, die sich angesichts zunehmender gesellschaftlicher Verflechtungen, Spannungen, Konflikte und Zerstörungen um Lösungsmöglichkeiten bemühen, kommt
eine Theorie, die über eine Definition menschlichen Daseins nicht hinaus gelangt, nicht in Betracht. Damit soll keinesfalls der Stellenwert geschmälert werden, den Hannah Arendts „Vita activa“ in der bisherigen Theorie- und Rezeptionsgeschichte gespielt hat. Sowohl ihre Methode als
auch ihre Annahmen haben in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu geführt, die Men-
44
Hannah Arendt, Über die Revolution, 4. Aufl., München 2000, S. 271.
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 166.
46
Vgl. Martin Braun, Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff, a. a. O., S. 19.
45
schen selbst und ihre Organisations- und Verhaltensweisen als Ausgangspunkt aller gesellschaftlicher Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten wieder in den Blick zu nehmen.